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Jählings überfällt die kalte Regenzeit das babylonische Land. Hinter endlosen Wolkentüchern liegt unsichtbar die Sonne, nur beim Untergang rötet sie den Saum, der Himmel und Erde scheidet. Ungeheure Schwärme wilder Enten ziehen nach Norden, der Euphrat verwandelt sein sanftes Grün in tückisches Gelb, die Kanäle schwellen gegen ihre Dämme empor, und die Herden, die sommersüber in den Grasflächen des oberen Stromlandes geweidet, werden in die Stadt getrieben.
Alexander irrte Tag und Nacht mit wenigen kleinen Booten durch die Sümpfe und übernachtete an ihren öden Ufern. Oft gelangte er an den Fuß der Mauern und lauschte den langgezogenen Signalrufen der Zinnenwächter. Botschaften über Botschaften kamen aus der Stadt, die Baumeister, die Schiffsbauer, die Gesandten, die Führer suchten ihn – er floh jede Rede, jedes Gesicht. Ihn selbst erstaunte sein Zögern, das unselige Verweilen, das dem Tasten eines im Finstern Verirrten glich. Hin und her ging die Fahrt, von den Sümpfen in die Kanäle, von den Kanälen in die Sümpfe. Das Lagern und Zeltaufstellen im durchweichten Boden wurde immer beschwerlicher, aus der kleinen Anzahl seiner Begleiter erkrankten einige und starben einen schweren Tod, das Ohr gefüllt mit dem Tosen der Stürme, während der Regen ihre noch warmen Glieder näßte.
In solch einer stürmischen Nacht, wo der Wind den Regen wie Peitschenschnüre an die Wand des Zeltes hieb, hatte Alexander einen Traum. Er träumte, er säße nackend auf dem Thron, da kamen vier junge Adler und trugen ihn weit in die Lüfte empor und weit fort in eine unermeßliche Ebene. Und plötzlich war alles voll von Adlern, vom Himmel flogen sie herab, den Schlünden der Erde entstiegen sie und jeder einzelne trug einen abgerissenen blutigen Menschenkopf zwischen den Fängen. Ihre blitzenden Augen glichen Millionen Funken, wie eine fürchterliche schwarze Wolke näherten sie sich, und auf einmal rauschte ein Wesen daher, das ganz unsichtbar war bis auf ein schrecklich geöffnetes Maul. Alexander fühlte seinen Körper ergriffen und durch den Sand geschleift, der ihn mit nadelgleichen Stichen verletzte, und ein Mann stand am Weg, der still und friedlich aus einem Sykomorenstamm breite Bretter sägte. Der Anblick dieses Menschen nun war aus irgendeinem unbegreiflichen Grund so fürchterlich, daß Alexander in ein langes Geschrei ausbrach, und nicht nur er selbst erwachte davon, sondern auch alle Leute in den benachbarten Zelten. Sie stürzten herein. Schweißbedeckt, zitternd saß er aufrecht und stierte mit verloschenen Augen vor sich hin.
Als er in der Abendstunde auf dem Wasser weilte, kam ein Boot gefahren, in dem ein phrygischer Hauptmann mit seinen Sklaven saß. Er kam aus dem Königspalast in Babylon und brachte wenige Zeilen von Roxanes Hand – eine Frage, einen Seufzer, einen schüchternen Vorwurf. Alexander las. In tiefem Besinnen schaute er über die ungekräuselte Fläche des Wassers.
Er gedachte einer Vergangenheit, die entrückt schien wie das tausendste Jahr. Der sogdianische Felsen, in den sagenvollen Wolkenhimmel Baktriens getaucht; rauschende Urwälder an unbekannten Strömen; in einem Märchengewand Roxane, ein Gebild aus dem goldnen Mondschein ihrer Berge, so schön, daß die Natur, die sie hervorgebracht, neidvoll zu erschauern und dieser Gestalt aus Fleisch und Bein das verliehene Leben zu mißgönnen schien. Er hatte sie ergriffen, wie er damals alles ergriff und an sich preßte: Länder und Meere und die unbekannte Zukunft. Ein Liebestraum! ein Glück von vierzig Tagen, ein Traum von vierzig Nächten! Er hatte seine Pläne vergessen, das wartende Heer, die Gesichter und Namen seiner Freunde. Ein Garten war die Welt gewesen, an dessen Pforten die Stürme sich niederlegten und das Schicksal vorüberging . . .
Mitten in der Nacht zog Alexander mit seinen Begleitern durch das Ischtartor in die löwengeschmückte Prozessionsstraße, und es öffnete sich ihm der lichterflammende Palast der Könige Babylons.
Wenige Tage später kam Meleager von seinem Zug gegen die Kossäer zurück. Er hatte das aufrührerische Volk in zwei Schlachten völlig vernichtet. Er hatte dabei nur sechshundert Leute verloren und ihm selbst war die linke Hand abgeschlagen worden. Freudig kam der Siegreiche nach Babylon, der Anerkennung seines Herrn gewärtig. Doch sonderbar, Alexander weigerte sich, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen. Und nicht nur das, er überschickte ihm den demütigenden Befehl, eine Horde von Sträflingen auf die Insel Rosala im Persischen Meer zu bringen.
Meleager war verzweifelt und wollte sich töten. Seine Freunde versammelten sich und hielten Rat; wenn das der Lohn der Treuesten war, dann war die ganze Zukunft auf Wasser gebaut. Perdikkas erbot sich noch einmal mit Alexander zu reden. Eumenes warnte umsonst. »Hephästions Schatten steht vor Meleager,« sagte der Seelenkundige. Aber Perdikkas ging dennoch.
Ihn erschreckte ein Ausbruch wildesten Zorns, als er mit seiner Bitte fertig war. »Habt ihr schon verlernt zu gehorchen?« schrie Alexander. »Sind meine Befehle die eines Wahnsinnigen, daß jeder kommen darf, sie ungeschehen zu machen? Soll ich geleistete Dienste nach euern Ansprüchen oder nach meinem Ermessen belohnen?«
Perdikkas schwieg. Draußen tobte ein Morgengewitter, der Sturmwind heulte um das Dach des langgestreckten Saals. Die goldgelben Figuren auf dem himmelblauen Grunde der Wand leuchteten auf in den Strahlen der Blitze, und es erglühten die Edelsteine, mit denen das Holzwerk der Türen verziert war.
Auf einmal wurde das Gesicht Alexanders starr. Er hatte sich erhoben und der schweifende Blick der entflammten Augen war durch ein Unerklärliches festgehalten worden. Er gewahrte mitten unter den vielen Gesichtern eines, das ihm sein eigenes zu sein schien, nur in einer grauenhaften und widerlichen Verzerrung. Ja, es war seine eigene Stirn, nur daß sie von der lebendigen Kraft der Tat verlassen war; sein eigenes Auge, nur müde von Träumereien, sein Mund, aber auseinandergezogen und unentschieden durch Trägheit des Gefühls.
Mit fieberhafter Gebärde packte Alexander einen der schönen Knaben am Arm, die um ihn standen. »Wer ist der dort?« fragte er, doch im selben Augenblick erkannte er ihn. Es war Arrhidäos. Mit zitternder Hand bedeckte Alexander seine Stirn, die voll von perlengroßen Schweißtropfen war, und sank wie vernichtet auf den Sitz zurück.
Was war das?
Als die notwendigen Geschäfte erledigt waren, ließ er Arrhidäos Namen rufen. Doch jener hatte den Saal schon verlassen. Perdikkas machte sich anheischig, ihm Botschaft zu überbringen; er habe ihm Wohnung im alten Palast auf der andern Stadtseite angewiesen.
»Von der Straße habe ich ihn aufgelesen,« sagte Perdikkas, »es ist gut ihn zu beaufsichtigen, schließlich ist er doch der Sohn Philipps. Er leidet an wirren Einbildungen, schreit nachts im Schlaf, ist bald verdüstert, bald übermäßig lustig und spielt sehr gut die Flöte. Niemand kann aus ihm klug werden.«
»Der Sohn Philipps,« wiederholte Alexander kopfnickend mit bösem Lächeln und schloß die Augen. »Wenn ein Löwe und eine Äffin das Lager teilen,« fuhr er fort, »dann entsteht eine Lüge der Natur. Man gebe dem Menschen Geld, so viel er braucht, und Sklaven, so viel er verlangt. Den Anteil an seinem Blut will ich bezahlen; er kann nicht teuer sein, und wenn jeder Tropfen eine Satrapie kosten würde.«
Alexander verließ den Saal durch einen Seitenausgang. Auf den Treppen, Terrassen, in den Hallen, Sälen, Höfen und Vorgemächern herrschte unaufhörliches Hasten, Drängen, Fragen, Rufen, Kommen und Gehen. Da waren Hauptleute, Gesandte, Eilboten, Bettler und Bittsteller; da spazierten kostbar geschmückte Dirnen lächelnd auf und ab, warteten vornehme Babylonier mit unerschütterlicher Geduld, bis sie den Palastobersten sprechen konnten, rannten Sklaven hin und her, lehnten hohlgesichtige Eunuchen erloschenen Blicks an den Wänden, hockten Schwärme von Wahrsagern, Zeichendeutern und Traumkundigen und weissagten aus dem Flug der Schwalben, der Störche, der Wildgänse, aus den Flammen und dem Rauch der Fackeln, den Zacken der Baumblätter, den Strahlen der Diamanten, aus geometrischen Figuren, den Äderungen des Marmors, den Rissen in getünchten Mauern, dem Sichheben oder -Senken der herbstlichen Nebel, dem Zug und der Gestalt der Wolken, aus den Tönen, die eine vom Wind bewegte Ledergeisel auf kupfernen Becken hervorbringt, und aus dem kaum sichtbaren Schatten, den die Träume auf dem Gesicht zurücklassen.
Alexander betrat ein Rundgemach und nahm von einem vergoldeten Ebenholztisch, der mit Salbflaschen, Dosen voll wohlriechender Pulver, Büchsen aus Chalcedon und Vasen aus gefärbtem Glas bedeckt war, einen Metallspiegel. Lange betrachtete er in dem unsicheren Licht seine eigenen Züge. Dann richtete sich sein Blick mechanisch auf den düster leuchtenden Kupferbelag der Türschwelle.
O Gott, betete er verworren vor sich hin, gib mir Klarheit. Laß mich wissen, warum ich ein Anderer werden mußte. Gib mir zurück, was ich verloren habe. Wie steht es mit mir, großer Vater, bis wohin ist mein Maß gefüllt? Sei mir günstig, und ich will dir opfern wie nie ein Sterblicher geopfert hat. Denn was wäre mir dazu versagt? Willst du Menschen haben, so will ich dir Menschen opfern, hundert, zehntausend, hunderttausend, so viel du verlangst. Begnade mich, hoher Herr des Himmels.
Die Tage liefen, liefen . . . Für Alexander gab es keine Rast. Es war, als peitsche er die Zeit und halte sie zugleich mit beiden Fäusten an sich, wie man ein feurig-wildes Roß hält: vorgebeugten Halses, die Stirnadern angeschwollen, den vertrockneten Mund geöffnet, die Haare schweißnaß, die Lider weit aufgerissen und den Blick mit einer der höchsten Gefahr entspringenden Festigkeit nur gerade auf das nahe Tier geheftet.
Bei einem Gastmahl, das Nidintubel, ein vornehmer Babylonier veranstaltete, erhielt Alexander die Nachricht, daß eine Statue Hephästions, von einem samischen Bildhauer verfertigt, in Babylon angelangt sei. Alexander hatte viel getrunken. Er befahl, die Statue sofort hierher zu schaffen.
Es geschah. Auf einem von Ochsen gezogenen Karren wurde der von seiner Holzrüstung schon befreite, nur noch in Wolle und ungegerbte Haut eingehüllte Marmor gebracht und von zwanzig äthiopischen Sklaven vorsichtig in den Saal des Gelages getragen.
Unter dem Schweigen der Gäste näherte sich Alexander der formlosen Masse, hinter der Hephästions Bild schlummern sollte. Einige Führer eilten herbei, um mit ihren Schwertern die Hülle zu zerschneiden. Alexander hielt sie ab. Er zauderte. Mit einem verdämmerten Blick streifte er die große Versammlung, die vielen ihm zugewandten Gesichter, in denen der Ausdruck heuchlerischer Demut lag, und er bereute was er getan. Er fürchtete das Emportauchen des Marmorgesichts. Es war ihm, als zöge er die Seele aus dem Schattenbereich, und er fürchtete sich, von ihr gesehen zu werden. Er fürchtete sich.
Da erschallte vom oberen Ende der Tafel eine jähe und schrille Stimme: »So bekränze ihn doch mit dem Diadem, Alexander, wie damals in Susa! Was zögerst du? Was dem Lebenden recht war, wird dem Toten billig sein.«
Die lautlose Stille, die jetzt folgte, wurde noch peinlicher dadurch, daß Alexander dastand, als habe er nichts gehört. Er wußte nicht, wessen Stimme die Worte gerufen, noch begehrte er es zu wissen. Er ließ den verhüllten Marmor wieder fortbringen, begab sich an seinen Platz bei der Tafel zurück und blieb finster und in sich gekehrt.
Sein Körper war etwas beleibter geworden, besonders der Hals war auffallend verdickt. Der dunkelschmachtende Blick war derselbe geblieben, solange er ruhig saß oder lag; doch bei der geringsten Bewegung, beim Gehen, bei jedem Wort, das er sprach, flammte es schwül auf hinter den langbewimperten Augen, deren Weißes stärker als bei einem Türkis ins Bläuliche schimmerte. In der obersten Reihe der Zähne war eine Lücke entstanden; vor wenigen Tagen war ihm ein Vorderzahn plötzlich ausgefallen. Wenn er sprach, sah man es, und es wirkte um so unheimlicher, als die übrigen Zähne von großer Schönheit waren.
In der Nacht kamen die Frauen. Schüchtern traten sie ein, ihre unschuldigen Blicke und Gebärden hielten jede Annäherung fern, die Augen waren niedergeschlagen, der Mund streng geschlossen. So reizten sie die Künste der Verführer zu äußerster Anstrengung. Langsam verwandelte sich ihr Wesen, die Wangen röteten sich, die begehrlichen Lippen öffneten sich, die Augen erstrahlten in einem krankhaften Feuer, sie lösten die Haare, streiften die Gewänder ab, mit tückischer Berechnung Stück um Stück, dann war jede Scham verschwunden und unter dem Lärm der Musik riß ihre Lust alles mit sich fort.
Alexander schaute eine Weile gleichgültig in das Gewühl. Endlich erhob er sich und ging. Vor den Toren warteten gedeckte Sänften. Es regnete in Strömen.
Lautlos lag Alexander und starrte nach der Hornlaterne, die von der Mitte der Sänfte herabhing. Das rötlichbraune Licht übergoß die silbergestickten Decken und Polster, daß es unruhig flimmerte wie bewegtes Wasser im Mondschein. Er horchte auf das Brausen und Klatschen des Regens. Es war ihm so einsam, als ob er sich mitten im Meer, in der Tiefe des Meeres befände. Sein Herz war zusammengeschnürt. Der Kopf schmerzte, die Lippen brannten ihm. Er lauschte angestrengt auf menschliche Laute von draußen. Nichts war zu hören als der eintönige Ruf des Verschnittenen, der den Trägern und Sklaven voranging. Ein lange andauernder Schauder überflog seinen Leib, vom Scheitel über den Nacken und die Schenkel lief es wie eiskaltes Öl bis zu den Fußsohlen hinab.
Auf der Trümmerstätte des Marduktempels arbeiteten mehr als zwölftausend Menschen: Sklaven, Gefangene und Freie, Syrer, Baktrer, Ägypter und Hebräer, um den Sand, das zerbrochene Ziegelwerk, die Ton- und Alabasterplatten, die Basalt- und Granitblöcke, die vermorschten Zedernbalken und die ausgegrabenen Gefäße zu entfernen. Eine ungeheure Staubwolke lag über dem Platz, der so groß war wie eine griechische Stadt. Zweimal kamen Abgesandte der Hebräer zu Alexander. Sie flehten um ihren heiligen Festtag, den Sabbat; an diesem Tage wollten sie vom Frondienst befreit sein. Aus uralten Schriften bewiesen sie, daß ihr Gott selbst, den sie für den mächtigsten aller Götter hielten, am Sabbat geruht habe, nachdem er in sechs Tagen die Welt erschaffen.
Diese Behauptung erregte schallende Heiterkeit unter den anwesenden Philosophen aus Griechenland. Aber die Chaldäer nahmen sich der Verhöhnten an. Sie leugneten nicht den Gott der Juden, sie leugneten nur seine Allmacht. Sie betrachteten ihn als einen dienstbaren Gott der großen Götter Babylons.
Die Bitte der Hebräer war umsonst.
Sie kamen zum drittenmal. Sie schickten ihre ehrwürdigsten Männer. Alexander hörte sie ruhig an, und als sie geendet hatten, sagte er finster: »Wenn ihr so fest an diesen Gott und seine Gesetze glaubt, so wendet euch doch an ihn und nicht an mich. Vielleicht vermag er etwas über mich.«
Darauf trat der Älteste vor und spie zum Entsetzen aller Zuschauer verächtlich auf den Schemel vor dem Thron. Er riß sein Gewand vom Leib und verfluchte Alexander und sein Geschlecht.
Er wurde den Löwen im königlichen Palast zum Fraß hingeworfen. Die übrigen wurden in Ketten gelegt und in eiserne Käfige gefangen gesetzt, die sich im Tore Beltis neben der großen Halle befanden. In Schmutz und Unrat kauernd, verbrachten sie Tag und Nacht mit glühenden Gebeten, das Gesicht gegen Westen, gegen Jerusalem gewendet, eine kleine Stadt in Syrien, wo ihr heiliger Tempel stand.
Am nächsten Sabbat weigerten sich alle Hebräer, die Arbeit aufzunehmen. Die Aufseher schlugen mit Peitschen und Knütteln auf sie los; man hetzte die wilden baktrischen Hunde auf sie; lydische Söldner rückten mit gesenkten Speeren gegen sie an – es war vergebens. Sie ließen sich schlagen, stoßen, beißen und niederstechen, und kein Klageschrei kam aus ihren dichtgedrängten Scharen. Stamenes, der Statthalter, wurde benachrichtigt und erschien auf dem Platze, und der Tumult zog mehr und mehr Leute herbei, Söldner, Krämer, Schiffer und eine Menge müßigen Gesindels. Stamenes schickte nach Alexander, der am Sonnentor war, wo ein Teil der Stadtmauer niedergerissen wurde, denn das Ziegelwerk diente zum Scheiterhaufenbau für Hephästions Totenfeier. Alexander kam.
Es war ein klarer Tag. Kalter feuchter Wind wehte. Der Boden war mit welken Blättern bedeckt, unter denen sich viele buntschillernde Pfauenfedern befanden. Alexander blickte hinunter auf das menschenüberfüllte Trümmerfeld. Dicht unter ihm, zwischen zwei verfallenen, vom Rauch der einstigen Feuersbrunst geschwärzten Mauern lagen Tote und Verwundete. Von den Bissen der Hunde zerfleischt, wälzten sie sich wimmernd in breiten Blutlachen. Ein Jüngling rannte mit weitoffenem Mund, doch ohne zu schreien, wie toll im Kreis herum. Er trug seine herausgequollenen Eingeweide in beiden Armen. Ein anderer, dem das Blut über das Gesicht lief, feuerte seine Brüder an, mutig zu dulden.
Der Statthalter hatte von unten her Alexander gesehen und lenkte sein Maultier den Hügel hinan. Voll Ekel wandte sich Alexander von ihm ab. Dieser Stamenes war ehemals schlank, groß, kräftig, schön gewesen. Jetzt war sein Körper aufgequollen und formlos, so daß er weder gehen noch ein Pferd besteigen konnte. Sein Gesicht war ein weißer Klumpen Fleisches, worin Augen und Lippen hilflos versunken waren, die Haut war mit Geschwüren überzogen und aus Ohren und Nase rann der Eiter. So hatte ihn Babylon verwandelt.
Mit dünner Stimme fragte er, was nun geschehen solle, und streckte lachend den nackten, keulenartig dicken, mit breiten Goldringen besetzten Arm hinunter. Alexander schwieg düster, doch plötzlich zuckte sein ganzer Körper heftig zusammen. Aschenfahl im Gesicht starrte er hinab. Der hebenden Hand entfiel der Zügel.
Er erblickte Arrhidäos, der unter einer Schar von Söldnern auf die wehrlosen Juden losstürmte. Er hatte das Schwert gezogen, und ein fortwährendes Geschrei kam von seinen Lippen, wodurch er sich selbst zur Tat befeuerte. Von einer sinnlosen Leidenschaft war sein Gesicht, sein ganzes Wesen verzerrt. Er gebärdete sich wie ein Kind, das durch die Empfindung seiner Grausamkeit berauscht, mit dem Stock in einem Ameisenhaufen stochert. So war es auch. Arrhidäos wollte sich stählen durch den Anblick von Blut. Sorgfältig hatte er alle Eigenschaften zergliedert, die zur Ausführung großer Taten gehören; er wollte den schwankenden Willen befestigen, die sanfteren Stimmen der Seele töten und achtete den Schmerz nicht, den ihm dies bereitete.
Wieder glaubte Alexander, in diesem hageren, zuckenden, eifervollen Gesicht mit dem halboffenen, zahnlückigen Mund sich selbst zu sehen in aberwitziger Verzerrung, als ob ein Schatten die Züge seines äußeren Wesens entlehnt hätte, um ein geheimnisvolles und trauriges Spiel zu treiben.
Mit überstürzter Hast befahl er, das Gemetzel zu beenden und den Hebräern ihr Fest zu geben.
In den Palast zurückgekehrt, schickte er Leute aus, um Arrhidäos holen zu lassen. Erst gegen Abend fand man ihn im Susaquartier inmitten einer Meute von halbverhungerten Hunden, die er, einem milden, weltfernen Hirten gleich, mit Weizenbrot fütterte. Man sagte ihm, Alexander wolle ihn sprechen. Er horchte hoch auf. Die Sklaven bewogen ihn, sich auf einen zufällig in der Nähe grasenden Esel zu setzen, damit er rascher in den Palast gelange. Und bald ritt er auf dem Rücken des Grautiers dahin, unerstaunt, mit einem leisen Lächeln verzückter Träumerei auf den Lippen.
Von unerträglicher Qual getrieben, irrte Alexander durch die Räume des Palastes. Sein erschöpftes Gefühl vermochte die Wirklichkeit nicht mehr mit ganzer Kraft zu fassen, so daß ihm all diese Hallen, Höfe, Torgänge, Turmzimmer und Gewölbe wie von einem törichten Traum erzeugt schienen. Nur mit Traumsinnen, ferner, ungreifbarer, nahm er alles wahr, kam in ein Gemach, wo eine goldene Palme war und ein Weinstock von Gold, dessen Trauben aus wunderbaren Smaragden und indischen Karfunkeln bestanden, schritt eine gelbe Treppe hinab in ein anderes Gemach mit Stühlen, Betten und Tischen aus lauterem Golde, erblickte die Wandmalereien wie wirkliches Leben: die Figur eines Weibes mit dreifacher Krone und Diener mit silbernen Kelchen und paarweise galoppierende Reiter, den Falken auf der Faust, fliehend vor geflügelten Greifen, und eine göttliche Gestalt, die sich von einem Halbmond erhob, als ob es eine Lagerstätte sei. Er kam in einen Saal, dessen Wände mit wunderlichem Schriftwerk bedeckt waren; Könige der Vergangenheit eröffneten der Nachwelt Kunde ihrer Taten und Werke – ruhmvolle und ungewöhnliche Dinge zu ihrer Zeit, doch nun verschollen und bedeutungslos. Mit Augen, die vom Schmerz desselben langen Traums erfüllt waren, ging er vorbei an Statuen aus Ebenholz und Silber und schwarzem Basalt, an reichverzierten Pilastern und Bogenfriesen, an Zedernsäulen, mit Goldschuppen beschlagen, an bronzenen Toren, die sich in männerschenkeldicken Angeln bewegten, an kostbaren Teppichen, die mit Figuren mythischer Tiere bedeckt waren, an herrlichen Geweben und Stickereien, an Opfertischen aus Gold und Elfenbein. Frierend ging er durch die mächtige Halle der Bibliothek, wie Eiseshauch wehte ihn der Geist der Zauberei und Weisheit an, der hier in Gräbern lag.
Es wurde Nacht. Alexander kam in die Höfe vor den Frauenwohnungen. Ihn drängte es einem Menschenangesicht entgegen, in Menschenaugen wollte er blicken, ruhen wollte er und vergessen und nicht denken. Die Verschnittenen warfen sich zur Erde. Junge Sklavinnen trugen Fackeln. Schwere Teppiche hoben sich, düster blitzte das Licht auf den purpurnen Wänden, noch wenige Schritte, und er stand vor Roxane . . .
Sie war geisterhaft schön.
Sie war schlank und hochbeinig und ihre Bewegungen hatten etwas Ungefähres, schlafend Schwermütiges wie bei edlen gefangenen Tieren. Ihr Haar, gelbrot wie Eidotter, mit Goldstaub bestreut, war nach griechischer Art in einen Knoten gesteckt, und ein Lederstreifen, mit einer Stephane verziert, war um den Kopf geschlungen. Sie hatte große, graublaue, weitgeschlitzte Augen, in denen die wartende Trauer der langen Einsamkeit lag. Sie trug eine Kette von hundertfünfundsiebzig verschiedenfarbigen Edelsteinen, die ihr Olympias als Morgengabe geschickt. Auf siebzehn lange Schnüre gereiht, hingen von den Schultern bis zu den mit goldnen Bändern geschmückten Knöcheln der Füße die riesigen, rosengleich schimmernden Perlen aus den Fischereien von Bahram über das unendlich feine Gewebe ihres Kleides.
In ihrem Wesen war etwas so Verhaltenes und Verstörtes wie bei einem Weib, das nackt vor einer Versammlung steht und dem die Scham alle Besinnung verdunkelt. Die wunderbare, alabasterglatte Stirn zitterte.
Ehedem war sie den Leuten ihres Volkes wie eine Göttin des Lachens erschienen. Ein griechischer Künstler, der zu Baktra in der Verbannung lebte, hatte eine Statue geformt, in der Roxane, den hocherhobenen Kopf von Traubenbündeln beschwert, einen Ausdruck erhabener Sorglosigkeit in den Zügen, als Genius der Freude verherrlicht war. Jetzt war ihr mattgeweintes Herz finster. Ein Leben hinter Mauern zu führen, fern von Wald und Berg, ohne Sommer und Sonne, dazu war sie nicht geschaffen. Sie fühlte sich vereinsamt und verstoßen, mit wilden Gelüsten war sie im Kampf, und alles, was in ihr gut und licht hätte werden können, war schlecht und dunkel geworden.
Alexander zog sie auf das Lager nieder. Was war geschehen? So hatte sie ihn nie erblickt. Auf seinem bläulichweißen Gesicht lag eine solche Trauer, daß sie ihn zum erstenmal als Mann und Menschen zugleich nahe fühlte. Sie begriff, daß er nicht sprechen konnte, und als sein Blick sie berührte, so lebensuchend, so fest, so starr, so flammend und so dunkel, daß die Lippen, die sie ihm entgegenhielt, sich vor Schrecken mechanisch schlossen, da wußte sie, daß in seinem Innern etwas Furchtbares vorging, und sie ergab sich und vergaß ihr eigenes Leiden. Niemals hatte sie die Größe seiner Natur so empfunden wie in dieser Stunde seiner hilflosesten Schwäche. Und nun fügte es der unerforschliche Ratschluß von oben, daß die Flamme des Lebens sich um beide Seelen schlang, als ihre nackten Leiber zusammentraten, und daß im Schoß des erbarmenden Weibes der Keim sich löste und hinausfloß in den Raum der belebten Geschöpfe, der in allen früheren Stunden der bloßen Sinnenlust unberührt im Nichts verblieben war.
Der Mond stand rein am stahlblauen Himmel, als Alexander wieder einsam auf der Mauerbrüstung des Palastes gegen die hängenden Gärten schritt. Die schwarzen Gebäudeblöcke zur Rechten schienen in Schlaf versunken. Zur Linken in der Tiefe schimmerte das Wasser des Königskanals. Allmählich traten die Mauern rechts zurück, und ein Wald dunkler Zypressen trat an ihre Stelle. Bei einer Wendung des Wegs lag das ganze Babylon zu den Füßen Alexanders. Es blitzten die Wasser im grünlichen Licht, weit hinaus flimmerten Lichter, eilten auf und ab wie vom Wind getragen, wie von unsichtbaren Armen entführt. In den Gärten und auf den Feldstücken brannten die Feuer der Soldaten gelbrot wie Roxanes Haar in der Dämmerung ihres Gemachs. Alexander blickte über die unzähligen Dächer, aus denen hier und dort ein Sternenturm aufstieg. Er sah die Tempel ruhig im leuchtenden Mondnebel liegen und die Götter wohnten darin, Amu und Nebo, Ischtar und Ea, Schamasch und Dibbara, Anahita und Zirpanitu, Astarte und Moloch: Götter im Kampf gegen Götter, und daneben atemlos lauschend die Nationen, halbgläubig und unentschieden.
Eine Eidechse schlüpfte vorbei, eine Kröte schnellte auf. Trotz der Kühle der Nacht hatte Alexander Begierde nach einem Bad. Er kam in die Parkanlagen, die sich bis ans Euphratufer hinunterdehnten. Zwanzig gewaltige Steinwände trugen diesen Wald von Pinien, Zedern, Palmen, Granatbäumen, Zypressen, Akazien, Lorbeer, Ulmen, Oliven und Pappeln. In den offenen breitschaligen Betten der Leitungen sauste das Wasser grünschäumend von Terrasse zu Terrasse. Die mächtigen Marmor- und Alabasterstufen, die in verschlungener Ordnung zur Tiefe hinabführten, leuchteten glühend im Mond. Aus silbernen Brunnenrohren rann das Wasser friedlich in löwengestützte Steinbecken. Mit Wein und Efeu waren die farbigen Mauern bewachsen, schmeichelnde Vogelstimmen drangen von überallher, der Geruch der kleinen Kamille erfüllte bei dem geringsten Windhauch die Luft mit Süßigkeit. Zauberhaft sahen die Säulen aus, die die Mauern stützten, es war eine Bewegung in den regen Lichtern und mystischen Schatten, die alle toten Dinge lebendig machte.
Alexander schritt die helle Terrasse hinab, und hinter den Wipfeln der Zedern tauchte die Fassade des Palastes empor, sie schien von selbst höher zu werden, und die vielgliedrige Mauer mit ihren vergoldeten Zinnen und Türmchen ähnelte der schimmernden Wand eines Gletschers hoch in den Gebirgen Armeniens.
Mitten in der tiefsten Stille, rings von dichten Lorbeerbüschen umgeben, lag ein Wasserbecken. Fünf Schwäne schwammen mit phantastischer Lautlosigkeit auf dem Spiegel. An der schmalen Krümmung des Teiches stand ein Throngestühl aus schwarzem Marmor, rechts und links zwei junge Lärchenbäumchen wie Wächter. Alexander entkleidete sich. Er nahm den Waffenrock ab und das Kleid, schnürte die Schuhriemen auf und legte alles samt dem Schwert auf den Marmorstuhl. Zuletzt band er das Diadem ab und legte es ebenfalls dorthin, über den Knauf des Schwerts. Völlig nackt, schritt er langsam über die weißen Platten zum Wasser, und langsam, nicht ohne einen Kälteschauder, stieg er hinein.
Es war, als ob das Element nur unwillig seinem Körper wiche, es war als schliefe es. Die schwachen Wellen, die sich erhoben, glitzerten in den Mondstrahlen wie jene Silberstickerei in der Sänfte, als er vom Gastmahl der Babylonier aufgebrochen war.
Die Schwäne flohen in weitem Bogen geräuschlos auseinander. Ihr werdet leben, fuhr es Alexander durch den Kopf. Du wirst leben, sprach er zum Wasser. Der Himmel wird sich wölben, Jahrhunderte, Jahrtausende lang. Der Mond wird sein Angesicht immer wieder herniederbeugen, die Bäume werden ihre Zweige dehnen und Ring auf Ring ansetzen, millionenmal wird es Tag und Nacht werden, und Tier und Mensch und Gras und Stein und Luft und Feuer, alles ist mit Leben begabt, nur ich allein, – werde ich sterben?
Das Wasser reichte ihm schon bis zur Brust. Die wiedergewachsene Lockenfülle wurde naß. Von unten, von der Stadt her, wurde ein Gesang vernehmbar, dumpf und schwer, fern und traurig gleich dem Linosgesang, mit dem der Grieche die hingegangene Blüte des Jahres beklagt. Es war Babylon, das im Schlummer sprach. Eine rötliche Lohe schlug empor und bedeckte den untern, bräunlich glänzenden Teil des Himmels, färbte die obersten Spitzen der Pappeln. Vielleicht war es eine Feuersbrunst im Kaufmannsviertel, vielleicht vergnügten sich die Soldaten damit, die Erdpechquellen in Brand zu setzen, vielleicht hatte ein zweiter Kondanyo dort sein Flammenbett errichtet, um zu sterben
Wieder ertönte der Gesang, fern und leer. Die Lohe verblaßte. Ihr alle, die ihr singt, werdet leben, dachte Alexander. Er hob den Arm, nahm eine Handvoll Wasser und ließ es herablaufen, daß es wie eine Kette mit Geschmeide im Mondlicht glühte. Er begriff, daß es unmöglich war, dies Unerklärliche, Leben genannt, nach eigenem Willen festzuhalten, wie es unmöglich war, daß seine Finger das Wasser hielten. Keine trostvolle Möglichkeit mehr; vielleicht bevor der Sommer kam, war dieses Herz dahin. Und wozu ausgezogen, Reiche erobert, Männer gemordet, Städte gegründet, Gesetze gegeben, Könige entthront, Freunde verloren, Götter beleidigt, wozu Nächte durchwacht, Pläne gesponnen, wozu Ruhm, wozu Reichtum, wozu Schönheit, wozu Haß und wozu Liebe, warum gelacht und warum geweint, wenn alles dies so war, wie es eben war?
Ihm zerging die Welt, nach der er gestrebt, in diesem geheimnisvollen Augenblick wie dem Ixion die lebendige Gestalt in seinen Armen. Und dennoch strahlte aus dem schwarzen Schlund der Zweck- und Sinnlosigkeit wie ein Diamant das Bewußtsein von der Macht und Kraft des bloßen nackten Daseins, und jeder Atemzug war ein Bürge der Gegenwart und eine Brücke zur Zukunft . . .
Ein Windstoß trieb dürre Blätter auf das Wasser, darunter ein großes Palmblatt, das wie der abgebrochene Flügel eines Geiers aussah. Plötzlich kamen Sklaven mit hocherhobenen Fackeln gelaufen. Ein Aufseher der Gärten hatte den Badenden bemerkt und, vorsichtig näherschleichend, Alexander erkannt. Er stieg gerade aus dem Wasser, als die Sklaven aus dem Gebüsch traten. Von Schrecken gelähmt blieben sie stehen: auf dem marmornen Thronstuhl saß ein Mensch, der das Kleid Alexanders über sein eigenes geworfen hatte und das königliche Diadem um die Stirne trug . . .
Alexander selbst stieß einen gellenden Schrei aus. Vor den Stufen des Steinsessels blieb er wie angewurzelt stehen.
Es war Arrhidäos, den er sah, Arrhidäos, der das Diadem trug. Ein verträumtes und heiteres Lächeln bewegte die Lippen des Menschen, während in seinen Augen eine furchtbare, tierische Traurigkeit lag. Der zahnlückige Mund öffnete sich, und Arrhidäos sagte: »Auch ich bin Alexander.«