Jakob Wassermann
Die Schwestern
Jakob Wassermann

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Truppe führte ein Melodram auf, dessen Handlung das Unglück und den schaudervollen Mord eines schuldlosen Jünglings mit Behagen in die Breite zerrte. Am Schluß des ersten Aktes trat eine als Mann verkleidete Dame auf die Bühne; sie trug einen spitzen, runden Hut und eine Maske vor dem Gesicht. Eine hastige, im Flüsterton gehaltene, von der düsteren Lampe eines Verbrecherquartiers beschienene Liebesszene mit dem Haupt der Mörderbande besiegelte das Schicksal des unglücklichen Opfers, das betend auf den Knieen lag. Im Zuschauerraum herrschte gieriges Schweigen, alle Augen brannten. Clarissa glaubte die hundert Herzen wie ebensoviele Hämmer schlagen zu hören, ihr wurde heiß und kalt, es entschwand jedes Gefühl sicherer Gegenwart und als in der darauffolgenden Pause Kapitän Clemendot in seiner halb demütigen, halb schamlosen Weise zudringlich wurde, überflog ein Schauder ihren Körper und der Weindunst seines Mundes brachte sie einer Ohnmacht nahe. Plötzlich warf sie den Kopf zurück, bohrte den Blick auf sein verschwommenes Trinkergesicht und fragte mit leiser, scharfer, eilender Stimme: »Was würden Sie sagen, Kapitän, wenn ich es wäre, ich, die im Bancalschen Hause dabei gewesen ist?«

Kapitän Clemendot erblaßte. Sein Mund öffnete sich langsam, seine Backen zitterten, seine Augen bekamen einen furchtsamen Glanz, und als Clarissa in ein weiches, spöttisches, aber nicht ganz natürliches Gelächter ausbrach, erhob er sich mit verlegenem Gruß und ging. Er war ein einfältiger Mensch, ungebildet wie ein Trommler und stand wie jeder andere in Rhodez wehrlosen Geistes unter dem Einfluß der blutrünstigen Gerüchte. Als die Vorstellung zu Ende war, näherte er sich Clarissa, die in apathischer Haltung zum Ausgang schritt, wo ihr Wagen wartete, und fragte, ob sie sich einen Scherz mit ihm habe machen wollen, und sie, mit trockenen Lippen, etwas wie neugierigen Haß im Gesicht, antwortete abermals lachend: »Nein, nein, Kapitän«. Darnach wurden ihre Züge wieder ernst, fast traurig und sie senkte die Stirn.

Clemendot ging verstört nach Hause, durchaus in der Meinung, er habe ein wichtiges Geständnis empfangen. Er fand sich verpflichtet zu reden und vertraute sich am andern Morgen einem Kameraden an. Dieser zog einen zweiten Freund ins Geheimnis, es wurde Rat gehalten und schon am Mittag wurde der Richter verständigt. Monsieur Jausion ließ den Kapitän und Madame Mirabel zu sich entbieten. Nach langem und merkwürdigem Überlegen erklärte Clarissa alles für einen Spaß und der Richter mußte sie zunächst entlassen.

Aber nicht Spaß wollten die Herren, sondern Ernst. Der Präfekt, von dem Vorgefallenen unterrichtet, erschien am Abend beim Präsidenten Seguret und hatte eine kurze Unterredung mit dem würdigen Mann, der, in tiefster Brust erschüttert, vernehmen mußte, welche Schmach seine Tochter über ihn und sich heraufbeschwor und so den Frieden seines Alters bedrohte. Clarissa wurde herbeigeholt; wie entgeistert stand sie vor den beiden Greisen und der in jeder Bewegung und Miene des Vaters sich bekundende Kummer rührte sie schmerzlich an ihrer Seele. Sie berief sich auf den unbesonnenen Augenblick, auf eine tolle Laune und Verwirrung des Gemüts; umsonst, der Präfekt legte seinen Unglauben offen dar. Herr von Seguret, der trotz einer zum heiteren geneigten Lebensführung überaus mißtrauischen Gemütes war, auch des festen und klaren Urteils über Menschen ermangelte, konnte nicht umhin, das bedrückte Wesen der Tochter als einen Beweis von Schuld aufzufassen und er erklärte ihr mit schneidender Strenge, daß er nur um den Preis der Wahrheit sie nicht von seinem Herzen stoßen wolle. Clarissa verstummte; die Worte drangen gleich würgenden Teufeln auf sie ein. Der Präsident verlor Schlaf und Ruhe und wanderte mit zerwühlten Sinnen die ganze Nacht über im Schloß herum. Seine Überlegungen bestanden darin, Clarissas Natur nach der Seite jener furchtbaren Möglichkeit hin zu erforschen, und bald genug sah er ihren undurchdringlichen Charakter mit den Flecken und Brandmalen eines romantischen Lasters bedeckt. Auch er war völlig im Bann der fanatisierten Meinung von aller Welt, seine Erfahrung hielt dem Pesthauch des verleumderischen Wesens nicht stand; die Furcht, am Ungeheuren teil zu haben, war stärker als die Stimme des Herzens; der Argwohn wurde Gewißheit und das Leugnen zur Lüge. Wenn er Clarissas Vergangenheit bedachte, ihre unbändige Lust, die vorgeschriebenen Wege zu verlassen, – eine Eigenschaft, die ihm jetzt als die Pforte zum Verbrechen erschien – dann war keine Annahme verwegen genug, und ihr Bild verwob sich von selbst in das düstere Gewebe.

Auch Clarissa schlief nicht. Im Dämmergrauen des Tages überraschte sie den Vater bei seinem verstörten Schreiten durch die Räume und schluchzend warf sie sich ihm zu Füßen. Er machte keine Anstalten sie zu trösten oder zu erheben; ihre verzweifelte Frage, was sie denn dort im Bancalschen Hause hätte suchen sollen, da ihr, als einer Witwe, keine Freiheitsfessel den Schritt verkürze und sie der Heimlichkeiten entraten dürfe, beantwortete der Präsident mit einem vielsagenden Achselzucken, und so fest war schon die schwarze Überzeugung genistet, so fern jede Milde, daß er auf ihre edle Forderung um ein gerechtes Erwägen nichts als die Worte hinwarf: »Sprich die Wahrheit.«

Die Kunde war nicht lahm. Verwandte und Freunde des Präsidenten kamen: bestürzt, erregt, lüstern, schadenfroh. Die undurchsichtig fremde, gleitend unnahbare Clarissa in den Kot geworfen zu sehen, war ein Anblick, den zu genießen alle begierig waren. Einige ältere Damen wagten ein heuchlerisch sanftes Zureden und Clarissas verachtendes Schweigen und ihr wehvolles Auge schienen Geständnisse zu geben. Der Präfekt kam neuerdings und in seiner Begleitung befanden sich zwei Beamte. Für die Regierung und die Behörde stand alles auf dem Spiel; der Racheruf, der um ihre Sicherheit besorgten Bürger, der Hohn und Groll der Bonapartisten wurden täglich ungestümer, die Zeitungen forderten die Verurteilung der Schuldigen, eine Empörung des Landvolks war im Zuge. Eine an der Tat selbst unbeteiligte Zeugin wie Madame Mirabel konnte alles schnell wenden und beenden, man redete ihr zu, versprach, was den im Bancalschen Haus geleisteten Eid anlangte, schriftlichen Dispens aus Rom und ein Jesuitenpater, den der Bürgermeister ins Schloß führte, mußte dies ausdrücklich bestätigen. Als alles vergeblich war und Clarissa dem frevlerischen Eindringen eine steinerne Ruhe entgegenzusetzen begann, drohte man ihr mit dem Gefängnis, drohte, ihre Schmach und Lasterhaftigkeit zu einer öffentlichen Sache von ganz Frankreich zu machen und bei diesen Worten des Präfekten warf sich ihr Vater vor ihr auf die Kniee, so wie sie am Morgen vor ihm getan und beschwor sie zu sprechen. Das war zu viel; mit einem Aufschrei stürzte sie ohnmächtig zu Boden.

Clarissa glaubte sich zu erinnern, daß sie den Abend des neunzehnten März bei der Familie Pal in Rhodez verbracht habe; sie glaubte sich zu erinnern, daß Frau Pal selbst am andern Tag zu ihr gesagt hatte: wir waren so lustig gestern und vielleicht ist um dieselbe Zeit der arme Fualdes ermordet worden. Als sie sich darauf berief, stellten die Pals alles mit Bestimmtheit in Abrede, sie leugneten den Besuch Clarissas, ja, in ihrer unbestimmten feigen Angst erklärten sie sogar, mit Madame Mirabel seit Jahren verfeindet zu sein.

Menschlichem Erbarmen waren die von Furcht und Wahn verblendeten Geister nicht mehr zugänglich. Hätte auch die Vernunft eines Einzelnen zu widerstreben versucht, es wäre nutzlos gewesen; die riesige Lawine konnte nicht gehemmt werden. Es wurde ein teuflischer Plan erdacht, und der Präfekt Graf d'Estournel war es, der ihn so vervollkommnete, daß er den besten Erfolg versprach. Gegen ein Uhr nachts rollte ein Wagen in den Schloßhof; Clarissa mußte darin Platz nehmen, der Präsident, der Richter, der Präfekt fuhren mit. Der Wagen hielt vor dem Bancalschen Haus. Herr von Seguret führte seine Tochter in das ebenerdige Zimmer zur Linken, einen höhlenartigen Raum, dumpf wie das schlechte Gewissen. Auf dem Ofensims brannte ein ärmliches Lämpchen, in dessen Schein lehnten zwei Huissiers und ein Schreiber mit starren Gesichtern an der Wand. Die Fenster waren mit Lappen verhängt, auf dem Alkoven äugte tiefe Finsternis, im ganzen Haus war es lautlos still.

»Kennen Sie diesen Ort, Madame?« fragte der Präfekt mit feierlicher Langsamkeit. Alle blickten Clarissa an. Um die gräßliche Spannung über ihrer Brust zu mildern, lauschte sie auf den Regen, der draußen an die Mauer klatschte; all ihre Sinne schienen sich hiezu im Ohr versammelt zu haben. Ihr Leib wurde schlaff, ihre Zunge war nur zu einem Nein oder Ja gewillt, und da jenes neue Qual und Marter, dieses aber vielleicht Ruhe versprach, so hauchte sie ein Ja: ein kleines Wörtchen, aus Schrecken und Erschöpfung geboren und kaum, lebendig, von einer geheimnisvollen Kraft beflügelt. Ihr Geist, verwirrt und von Sehnsucht durchflammt, machte ein Spukgebilde, das von tausend gärenden Gehirnen erschaffen war, zum Erlebnis. Das halbbewußt Vernommene, halbzerstreut Gelesene wurde brennendes Geschehen. Wunderbar verstrickt schien ihr Dasein mit dem jenes Mannes in Busch und Baum, der sich brünstig zum Himmel gereckt und mit dem Ausdruck eines durstigen Tieres die Luft durchschnuppert hatte. Jetzt stand sie auf der Brücke, die zu seinem Reich führte; sie sah sich zu seinen Füßen sitzen, von seiner ausgestreckten Hand fielen Blutstropfen auf ihren demütigen Scheitel. Grauen und liebliche Hoffnung faßten ihr Herz, jedes von einer andern Seite und dazwischen loderte wie eine Fackel, jauchzte wie ein Schlachtschrei der Name Bastide Grammont, ein Spiel für ihre Träume.

Erleichtertes Aufatmen flog nach dieser ersten Silbe eines bedeutungsvollen Geständnisses über die Gesichter der Männer. Der Präsident Seguret bedeckte die Augen mit der Hand. Im Innern beschloß er, der Liebe zu dem mißratenen Kind zu entsagen. Clarissa spürte es; alle Vorzüge, die sie an die bisherige Existenz geknüpft, waren gebrochen.

Sie sei also am Abend des neunzehnten März hier in diesem Raum gewesen? wurde gefragt. Sie nickte. Wie sie denn hierher gelangt sei? fragte Monsieur Jausion weiter, und er gab seiner Miene und seiner Stimme etwas Vorsichtiges und Delikates, um die noch zaghaften Geister der Erinnerung nicht bei der Arbeit zu stören. Clarissa schwieg. Ob sie durch die Rue des Hebdomadiers gegangen sei? fragte der Präfekt. Clarissa nickte. »Sprich! sprich!« donnerte plötzlich Herr von Seguret und selbst die beiden Huissiers schraken zusammen.

»Es begegneten mir mehrere Personen«, flüsterte Clarissa so leise, daß alle unwillkürlich den Kopf vorstreckten. »Ich fürchtete mich vor ihnen und aus Furcht lief ich ins erste offene Haus.«

Monsieur Jausion gab dem Schreiber einen Wink. »In dieses Haus also?« fragte er liebevoll, indes der Schreiber auf der Bank beim Ofen Platz nahm und in verkauerter Stellung schrieb.

Clarissa fuhr mit demselben klagenden Flüstern fort: »Ich öffnete die Tür dieses Zimmers. Jemand ergriff mich beim Arm und führte mich in den Alkoven. Er gebot mir stille zu sein. Es war Bastide Grammont.«

Endlich der Name! Aber wie anders war es, ihn auszusprechen als ihn bloß zu denken! Clarissa machte eine Pause, während sie die Augen schloß und die Hände ineinanderkrampfte. »Nachdem er mich eine Weile allein gelassen«, begann sie wieder, wie im Schlafe redend, »kam er zurück, hieß mich ihm folgen und brachte mich ins Freie. Da blieb er stehen und fragte, ob ich ihn kenne. Ich sagte erst nein, dann ja. Darauf fragte er, ob ich etwas gesehen hätte und ich sagte nein. Gehen Sie fort! befahl er, und ich ging. Doch war ich noch nicht bis zum Hauptplatz gekommen, als er wieder neben mir war und meine Hand in seine nahm. Ich gehöre nicht zu den Mördern, sagte er beteuernd, ich traf Sie und wollte nichts als Sie retten. Schwören Sie zu schweigen, schwören Sie beim Leben Ihres Vaters. Ich habe geschworen, darauf ließ er von mir. Und das ist alles.«

Monsieur Jausion lächelte skeptisch. »Sie wollen, Madame, von der Straße aus hier herein geflüchtet sein«, bemerkte er, »es ist aber durch einwandfreie Zeugen festgestellt, daß das Tor von acht Uhr ab verschlossen war. Wie erklären Sie das?«

Clarissa schwieg.

»Und wie ist es ferner zu erklären, daß Sie nichts gesehen haben, während Sie durch das hellerleuchtete Zimmer gingen? nichts gesehen, niemand gesehen und kein einziger hingegen, der nicht Sie gesehen hätte?«

Clarissa blieb stumm, sogar ihr Atem schien zu stocken. Der Präfekt machte Monsieur Jausion ein abwehrendes Zeichen; vorerst war genug erreicht, genug, daß Bastide Grammont von Clarissa erkannt worden war. Der Beschluß, den jede Schuld ableugnenden Verbrecher durch eine überraschende Konfrontation mit der Zeugin zum Geständnis zu zwingen, ergab sich jetzt von selbst.

Die Herren brachten Clarissa zum Wagen, da sie vor Schwäche kaum fähig war zu gehen. Zu Hause geriet sie in einen seltsamen Zustand. Erst lag sie lethargisch in einem Sessel, plötzlich sprang sie auf und schrie: »Schafft mir die Mörder fort!« Die Tür wurde geöffnet und ein erschrockenes Dienergesicht zeigte sich in der Spalte. Das ganze Gesinde stand wartend auf dem Flur, die meisten waren gewillt, den Dienst beim Präsidenten zu verlassen. Clarissa sah sich jedes Schutzes der Liebe beraubt und ausgestoßen aus dem Kreis, wo man das Herkommen achtet und gebundene Form als die geringste der Pflichten anerkannt ist. Sie war jedem Auge preisgegeben, der frechste Blick durfte ihr Innerstes betasten, sie war ein öffentlicher Gegenstand geworden, und nichts an ihr war mehr ihr eigen, sie fand sich selbst nicht mehr, nichts mehr in sich selbst, um dabei zu ruhen, sie war gebrandmarkt von außen und von innen, Speise der allgemeinen Lüsternheit, wehrlos herumgeschleudert auf den schmutzigen Fluten des Geredes, Mittelpunkt eines entsetzlichen Ereignisses, von dem ihre Gedanken nicht mehr loskommen konnten. Wehmut, Trauer, Angst, Verachtung, das waren keine Gefühle mehr für sie, dazu war ihr Blut zu sehr gejagt; Selbstungewißheit beherrschte sie, Zweifel an ihrer Wahrnehmung, Zweifel am Sichtbaren überhaupt und bisweilen stach sie sich mit einer Nadel in den Finger, nur um die Wirkung zu erfahren und den Schmerz zu empfinden, der als ein Zeugnis ihres Wachseins gelten und ihr Herz vor Verwesung bewahren konnte. Dabei die Qual, die sie von den Zudringlichen litt: Die Aufforderung zur Wahrheit, das Höhnen und Murren von unten, der Befehl von oben, die Rachsucht und Unvergeßlichkeit des einmal gesprochenen Worts; schließlich sah sie die ganze Welt erfüllt von roten, unablässig geschwätzigen Zungen, auf sie gerichteten, schlangenhaft bewegten, blutigen Zungen; jeder Gegenstand, den sie berührte, wurde zur schlüpfrigen Zunge. Die Menschengesichter verdämmerten bis auf eines, ein heldenhaft leidendes, eines das trotz Schuld und Verdammnis hoch über den andern thronte, ja ausgezeichnet schien durch seine Schuld wie durch einen Trotz. Und als der Tag kam, wo man ihr mitteilte, daß sie Bastide Grammont gegenübertreten solle, um ihn zu bezichtigen Aug in Auge, da klopfte ihr Puls zum ersten Mal wieder in freudigen Schlägen und sie kleidete sich wie zu einem Fest.

Die Begegnung sollte im Amtszimmer des Richters stattfinden. Außer Monsieur Jausion und seinen Schreibern war noch der Rat Pinaud anwesend, der wieder zurückgekehrt war. Monsieur Jausion warf ihm über die Brillengläser hinweg einen boshaften Blick zu, als Clarissa Mirabel spitzengeschmückt hereinrauschte, sich lächelnd vor den Herren verneigte und dann ihren Blick mit breiter Gelassenheit durch den ungastlichen Raum schweifen ließ. Aus einem Bilderrahmen in der Mitte der Wand schaute das fette und verdrießliche Gesicht des Königs auf sie herab, so verdrießlich, als sei ihm jeder einzelne seiner Untertanen ganz besonders zuwider. Sie vergaß, daß nur ein Bild vor ihr hing und sah mit einem kokettschmollenden Spiel ihrer Lippen hinauf.

Der Richter gab ein Zeichen, eine Seitentüre wurde geöffnet und zwischen zwei Justizsoldaten, mit aneinandergefesselten Händen trat Bastide Grammont herein. Clarissa stieß einen leisen Schrei aus und ihr Gesicht wurde fahl.

Um Bastide hauchte Kerkerluft. Das verwildert hängende Haar, der lang gewachsene Bart, der starre, etwas geblendete Blick, die leichte, an Lastenträger gemahnende Gebücktheit der Hünengestalt, die heimlich zuckende Wut auf frisch gefurchter Stirn, all das verleugnete nicht Grund und Herkunft. Ja, er schien die Mauern unsichtbar um sich herum zu tragen, die seine Brust mit Dunkelheit und Pein füllten und von Monat zu Monat mit hoffnungsloserm Glanz die Gemälde der Freiheit zeigten, bis sie sich schließlich weigerten, einen blühenden Baum, einen strotzenden Acker vorzulügen; dann glichen sie dem öden Grau eines herbstlichen Abends, wo die Luft schon nach dem Winter roch, der Leichenwagen öfter als sonst am Gartentor vorbei nach dem kleinen Kirchhof rasselte und der aufgehende Halbmond wie ein blutendes, geteiltes Riesenherz flammend über den feuchten Azur schwamm.

Und dennoch dieses stolze Auge, in dem der Entschluß funkelte, sich selbst getreu zu bleiben? Dennoch dieser seltsam knisternde Spott in den Mienen, der dem vorsichtigen und dabei majestätischen Ducken der gefangenen Tigerkatze vergleichbar war? Diese unendliche Verachtung, mit der er auf die schreibbereiten Hände der Schreiber blickte, die innerliche Freiheit und große Losgebundenheit, trotz der Handfessel und der beiden Soldaten?

Das war es, was Clarissa den Schrei entlockte und die törichte Munterkeit aus ihrem Gesicht jagte. Nicht etwa, weil sie den Waldmann und Erddämon von damals gebunden und gebrochen erblicken mußte, sondern weil sie wie unter Blitzesleuchten erkannte, daß diese Hand kein Mordmesser geführt haben konnte, daß eine solche Tat den Kreis seines Wesens nicht berührte, wenn er auch vielleicht dazu fähig gewesen wäre, und daß dies alles nun umsonst war, ein unverständlicher Rausch und Wahnsinn, das undurchsichtige Grauen selbst, ein Schauspiel von Heuchelei und Krankheit. Es packte sie ein Schwindel, als ob sie von einem hohen Turme herunterstürzte. Sie schämte sich ihres prunkvollen Gewandes, des herausfordernden Aufputzes und in leidenschaftlicher Wallung riß sie die kostbaren Spitzen von den Ärmeln und warf sie mit einer Grimasse des schmerzlichsten Ekels zu Boden.

Monsieur Jausion durfte das anders deuten. Wieder lächelte er Herrn Pinaud zu, aber diesmal triumphierend, als wollte er sagen: das Exempel stimmt. »Kennen Sie diese Dame, Bastide Grammont?« wandte er sich an den Gefangenen. Bastide wandte den Kopf zur Seite und ein Blick voll nachlässiger und bitterer Geringschätzung ging Clarissa durch Mark und Bein. »Ich kenne sie nicht«, entgegnete er finster, »ich habe sie niemals gesehen.«

Und neuerdings lächelte Monsieur Jausion, wie um einen vorübergehenden Irrtum zu berichtigen und säuselte: »Das ist nicht gut möglich; Madame Mirabel, damals in Männerkleidung und mit einem Hut mit grünen Federn, war in der Bancalschen Wohnung und ist von Ihnen selbst auf die Straße geführt worden, wo Sie ihr den Eid abnahmen. Ich bitte, sich dessen zu entsinnen.«

Bastides Gesicht zog sich zusammen wie vor der lästigen Zudringlichkeit einer Fliege und er wiederholte energisch und laut: »Ich kenne die Dame nicht. Ich habe sie niemals gesehen.« Und das Aufeinanderpressen seiner Lippen verriet den unerschütterlichen Vorsatz, von nun ab zu schweigen.

Monsieur Jausion schob seine Perücke zurecht und sah bekümmert aus. »Was haben Sie darauf zu entgegnen, Madame?« wandte er sich an Clarissa, die verloren starrte.

»Er kann es nicht wissen, daß ich ihn gesehen habe«, flüsterte sie, doch hatte dabei ihre Stimme etwas so Durchdringendes wie das Zirpen einer Zikade.

Jetzt wandte sich Bastide abermals zu ihr und in dem etwas schrägen Blick seines müd glänzenden Auges mischten sich Neugierde und Hohn, doch nicht mehr von beiden, als etwa einer sonderbaren Spielart von Pilz oder Spinne zukommt. In seinem Innern wog er gleichsam diese zarte Kindergestalt, wunderte sich flüchtig über das Bebende jeder Gebärde, das fliegende Auge, das ratlose Zucken der Lippen, wunderte sich über die am Boden liegenden Spitzen und glaubte zu träumen, als er gewahrte, daß eine flehende Bewegung ihrer Hände ihm galt.

Der Richter sprang auf und rief mit entstelltem Gesicht Clarissa zu: »Scherzen Sie nicht mit uns, Madame, es könnte Ihnen teuer zu stehen kommen. Sprechen Sie endlich! Ein abgezwungener Eid gilt nicht! Der Frieden Ihrer Mitbürger, die Ruhe des Landes steht auf dem Spiel. Lösen Sie sich aus der Bezauberung des Elenden! Ihr infames Lächeln, Grammont, wird Ihnen angerechnet werden am Tage des Gerichtes.«

Der Rat Pinaud trat vor und murmelte Bastide ein paar Worte ins Ohr, der dann die Arme erhob und die geballten aneinandergeketteten Fäuste mit einer Miene fressenden Ingrimms vor die Augen drückte. Clarissa wankte zum Tisch des Richters vor und indem sich ihre Wangen mit Leichenblässe überzogen, schrie sie: »Es ist alles Lüge! Lüge! Lüge!«

Monsieur Jausion musterte sie von oben bis unten, dann sagte er kalt: »So versetze ich Sie in den Anklagezustand, Madame, und erkläre Sie für verhaftet.«

Ein Schimmer düstrer Genugtuung überlief Clarissas Züge. Rasch, mit der blitzartigen Drehung einer Tänzerin kehrte sie sich zu Bastide Grammont, sah ihn an wie man nach einem schwülen Tag in den Gewitterhimmel schaut und nannte schmerzhaft aufatmend mit leiser Stimme seinen Namen. Er aber trat einen Schritt zurück wie bei unreiner Berührung, und niemals zuvor hatte Clarissa solchen Blick und Ausdruck der Verachtung gespürt. Ihre Kniee bebten, es ward ihr übel im Gaumen, die Wimpern füllten sich mit Tränen. Erst als sich die Türe des Gefängnisses hinter ihr geschlossen hatte, wich der kraftlose Zustand des Gepeitschtseins. Scham und Reue überwältigte sie, kaum fand sie einigen Trost in dem Geheimnisvollen ihrer Lage. Von keinem Gesetz überwacht, schien sie aus dem Gleise gehoben, wo sonst Ursache und Folge, schwerfällig aneinandergekoppelt, den langsamen Gang des Geschehens kriechen.

Ihrem Stande entsprechend, hatte sie den besten Raum des Gefängnisses erhalten. In den ersten Stunden lag sie auf dem Strohbette und wand sich in Krämpfen. Als der Wärter auf ihre dringende Bitte Licht brachte, da sie in der Finsternis wahnsinnig zu werden fürchtete, fiel der Kerzenschein auf das Bild des Gekreuzigten mit der Dornenkrone, das an der graugetünchten Wand hing. Sie schrie auf, ihre überreizten Sinne fanden eine Ähnlichkeit in den Zügen des Heilands mit jenen Bastide Grammonts. Dasselbe qualvolle Rund hatten seine Lippen gezeigt, als er die Fäuste an die Augen gepreßt.

Noch einmal lehnte sie sich auf gegen die maßlose Unbill. Mit der Welt zu leben war ihr eigentliches Element, ihr ganzes Wesen war auf ein liebenswürdiges Einverständnis mit den Menschen gestimmt. Sie verlangte Tinte und Papier und schrieb einen Brief an den Präfekten.

»Gerechtigkeit, Herr Graf!« schrieb sie. »Noch ist es Zeit das Äußerste zu verhindern. Erinnern Sie sich der Mühe, die Sie gehabt haben, das von mir zu erpressen, was die Wahrheit sein soll, erinnern Sie sich der Drohungen, durch die ich nachgiebig geworden bin. Ich bin ein Opfer der Umstände. Was immer ich gestanden habe, ist Lüge. Kein Mann von Vernunft kann an meinen Aussagen das Gepräge der Wahrscheinlichkeit entdecken. In einem Mutwillen der Verzweiflung hab' ich falsches Zeugnis abgelegt. Sagen Sie meinem Vater, daß seine Grausamkeit ihm sicherer die Tochter raubt als mein scheinbares Vergehen. Schon weiß ich nicht mehr, was ich glauben darf, die Vergangenheit entschwindet meinem Gedächtnis, meine Sicherheit beginnt zu wanken. Wenn es zuviel ist, Gerechtigkeit zu fordern, dann bitte ich um Mitleid, Herr Graf. Mein Schicksal will mich prüfen, aber mein Herz ist rein wie der Tag.«

Es war erfolglos. Es war zu spät für Worte, selbst wenn der Mund eines Propheten sie hinausgedonnert hätte. Am andern Morgen wurden viele der Zeugen und Eingekerkerten Clarissa vorgeführt. So kamen Bach, die Bancals, der Soldat Colard, Rose Feral, Missonier und die kleine Magdalena Bancal. Bousquier war krank. Der Anblick der vernichteten, schlotternden, in ein Phantom verlorenen, von hundertfältigen Martern eingeschüchterten, rachsüchtig zu allem bereiten Geschöpfe beunruhigte Clarissa bis ins Mark und gab ihr zugleich ein Gefühl unauslöschlicher Besudelung. Ist sie es? wurde jeder von den Unglücklichen gefragt und mit verwegener Gleichgültigkeit antworteten sie: sie ist es. Bloß Missonier stand da und lachte wie ein Idiot.

Clarissa war erstaunt. Solche Bestimmtheit und Selbstverständlichkeit der Antwort hatte sie nicht erwartet. Mit innerlichem Schluchzen hielt sie das Unleugbare des gegenwärtigen Zustands von sich ab und suchte in ihrem Gedächtnis schaudernd einen Weg zu jenem Vergangenen, auf den er sich gründete und den man von ihr bekräftigt wissen wollte. Ihr erschütterter Geist kroch zurück in früher gelebte Jahre, bis in die Jugend, bis in die Kindheit, um den doppelgängerischen Feind zu entdecken; was unheimlich und fremd gewesen, ward allmählich Kern und Schwerpunkt ihres Daseins und die Mordnacht in Bancals Haus wurde wie die ganze übrige Welt zu einer Vision von Blut und Wunden.

Aber durch die düstern Phantasien führte der Weg zu Bastide Grammont; ein Blumenpfad zwischen brennenden Häusern. Es dünkte ihr schön, ihn schuldig zu willen. Vielleicht hatte er seine Lippen auf die ihren gedrückt, ehe seine Hand nach dem Mordmesser gegriffen. Sie vermählte die eigene, finsterempfundene Schuld mit seiner größeren. Was ihn von der Menschheit abschnitt, knüpfte ihn an sie. Seine Gründe zu der Tat? Sie fragte nicht darnach. Sicherlich hatte die Tat damals Wurzel geschlagen, als sie ihn zuerst gesehen, als er den ganzen Wald, den ganzen Frühling in sich hineingeschluckt hatte. Gleichviel, ob er die Hände in Sonnenlicht oder in Blut tauchte, beides gehörte zu seinem Bild, zu ihrer dunklen Leidenschaft und Fualdes war der böse Dämon und das verderbliche Prinzip. Ach, dachte sie in ihrem sonderbaren Grübeln, hätte ich es gewußt, so hätte ich selbst es vollbracht und hätte eine Heldin sein können wie Charlotte Corday. Doch warum leugnete, warum schwieg Bastide? warum jener Blick zermalmender Verachtung, den sie nicht vergessen konnte und der noch immer auf ihrer Haut wie ein Schandmal brannte? War er zu stolz, sich einem Spruch zu beugen, der seine Tat nicht besser erachtete als die jedes Straßenräubers? Kein Zweifel, er erkannte seine Richter nicht an. So konnte sie ihn also zu sich niederziehen, ihn abhängig machen vom Hauch ihres Mundes, das freie wilde Tier bändigen, und sie vergaß, was auf dem Spiele stand, vergaß das eherne Entweder-Oder, vor welches hier die Geschicke gestellt waren, und gab sich hin wie ein Kind, das nichts vom Tode weiß.

Für den sechzehnten Oktober war die Verhandlung vor den Assisen anberaumt. Am Mittag des zehnten begehrte Clarissa Monsieur Jausion zu sprechen. Vor den Richter geführt, sagte sie, sie wisse um alles, sie wolle auch alles bekennen. Mit erregt zitternder Stimme rief Monsieur Jausion seine Schreiber.

»Ich kam in die Stube und sah das Messer blitzen«, gestand Clarissa. »Ich flüchtete in den Alkoven, Bastide Grammont eilte mir nach, umarmte mich und küßte mich. Er vertraute mir an, Fualdes müsse sterben, denn der alte Satan habe ihm sein Glück zerstört und das Leben unwert gemacht. Bastide war wie trunken von Begeisterung, und als ich Einwände machte, schloß er mir abermals mit Küssen den Mund, ja er küßte mich so, daß ich keinen Widerstand leisten konnte. Dann ließ er mich einen Schwur tun, dann ging er und ich hörte stöhnen, ich hörte ein schreckliches Geschrei, die kleine Magdalena Bancal, die im Bette lag, richtete sich plötzlich auf und weinte, da verlor ich das Bewußtsein und als ich wieder zu mir kam, war ich auf der Straße.«

Diese Erzählung brachte sie in einem mechanisch-abgemessenen Ton vor; ihre Stimme klang gläsern und fast verstellt, ihre Augen waren umflort und halbverschlossen, ihre kleinen Hände hingen schwer neben den Hüften und als sie schwieg, lächelte sie süßlich vor sich hin.

»Sie haben also schon vordem mit Bastide Grammont verkehrt?« fragte der Richter.

»Ja. Wir trafen uns im Wald. In der Nähe von La Morne ist ein alter Brunnen im Feld; auch dort trafen wir uns häufig; besonders des Nachts und bei Mondschein. Einmal nahm mich Bastide auf sein Pferd und wir ritten in rasender Geschwindigkeit bis an die Schlucht von Guignol. Ich fragte: wovor fliehen Sie, Bastide? denn mir war kalt vor Schrecken, und er flüsterte: vor mir und vor der Welt. Doch sonst war er stets sanft. Nie kannte ich einen bessern Mann.«

Immer silbriger klang ihre Stimme und schließlich sprach sie wie eine Verzückte oder wie eine Schlafende. Die Aussage ward ihr vorgelesen, sie unterschrieb ruhig und ohne zu zaudern, darauf erklärte ihr Monsieur Jausion, daß sie frei sei.

Im Schloß empfing sie feindselige Ruhe. Die wenigen Dienstboten, die geblieben waren, zischelten frech hinter ihr her. Niemand sorgte für ihre Bequemlichkeit, den Krug Wasser mußte sie selbst aus der Küche holen. Indes, als Herr von Seguret nach Hause kam, wußte er wie die ganze Stadt um Clarissas Geständnisse. Der Umstand ihrer verliebten Beziehungen zu Bastide erleuchtete nun mit jähem Schein das Vorhergegangene und wob eine Glorie um ihr früheres Schweigen. Doch Herr von Seguret schloß sich nur um so fester zu und als er vorüberkam, da Clarissa auf der Schwelle ihres Zimmers stand, wandte er das Gesicht ab und machte eine Gebärde des Abscheus.

Am Abend hatte der Präsident einige Freunde bei sich zu Gast. Während des Mahls öffnete sich die Türe und Clarissa erschien. Herr von Seguret sprang vom Stuhl empor, Zorn raubte ihm die Sprache. »Wag' es nicht«, stammelte er heiser und mit ausgestrecktem Arm, »wag' es nicht.«

Des ungeachtet schritt Clarissa bis an den Rand des Tisches. In ihrem Gesicht war ein strahlender, bezaubernder Ausdruck. Mit vollem Auge blickte sie auf den Vater, so daß dieser den Blick wie geblendet sinken ließ. »Schmähe nicht, Vater«, sagte sie sanft und in einem bestrickenden Ton anmutigen Werbens.

Mit alltäglicher Frage wandte sie sich an einen der Herren. Der Angeredete zauderte, schien bestürzt, verwundert, vermochte aber nicht zu widerstehen. Ihre von Gefängnisluft gebleichten Züge hatten etwas traumhaft Geistiges angenommen; das gewöhnlichste Wort aus ihren Lippen war von besonderem Reiz umglänzt.

Das Gespräch wurde allgemein; die Gäste besiegten, ja vergaßen ihr heimliches Staunen. Clarissas Witz und schalkhafte Laune übten eine hinreißende Wirkung. Dabei lag ein sinnlich prickelnder Hauch um sie, was Männern nicht entgeht, ihre Gebärden hatten etwas Schmeichlerisches, ihre Augen schimmerten in schwärmerischem Feuer. Beunruhigt, widerwillig lauschend, konnte sich Herr von Seguret doch dem Zauber, der seine Gäste gefangen nahm, nicht ganz entziehen. Eine Macht, die stärker war als sein Vorsatz, zwang ihn zur Milde, er nahm schüchtern Anteil an der Unterhaltung, trotzdem seine Brust wie von Bergeslast bedrückt war. Es wurde von Politik, von Büchern, von Kunst, von der Jagd, vom Krieg gesprochen, von allem und von nichts, ein glitzerndes Hin und Her geschliffener Sätze und funkelnder Beobachtung, von Lächeln und Beifall, Spott und Ernst. Es war manchmal wie in einer meisterhaft geführten Schauspielszene oder als ob ein leichter Champagnerrausch die Geister beflügelt hätte; jeder gab das Beste und suchte sich selber zuvorzukommen, und Clarissa hielt und spannte das Ganze wie eine Fee, die auf einem Wolkenwagen einen Zug von Tauben lenkt.

Kurz nach Mitternacht erhob sie sich, ein kurzes, sattes, wildes Lächeln blitzte über ihr Gesicht, sie verbeugte sich beinahe geziert und verließ den Raum, die Männer in einem wunderlichen, jähen Schweigen zurücklassend. Als Herr von Seguret seine Gäste hinausbegleitete, war er verstört, und jene entfernten sich still wie Diebe aus dem Schloß.

Der Präsident wandelte eine Weile in der Vorhalle auf und ab und seine Gedanken liefen nebeneinander her wie ein flüchtendes Rudel Wild. Da ihn das Widerklingen seiner Schritte unangenehm berührte, trat er in den Garten hinaus und auf den verschlungenen Wegen spazierend, atmete er erleichtert die frische Nachtluft ein. Als er die Taxusalle verließ, fiel ein Lichtschein über den Weg; Herr von Seguret stellte sich auf die Mauerbrüstung einer kleinen Fontäne und konnte so in Clarissas Zimmer sehen, dessen Fenster offen standen. Mit Mühe enthielt er sich eines erstaunten Ausrufes, als er Clarissa im losen Nachtgewand mit hingenommenem Ausdruck und leidenschaftlicher Bewegung tanzen sah. Die Augen waren ganz geschlossen, gleichsam versperrt, die Brauen kokett-angstvoll in die Stirn hinauf verzogen, die Schultern wiegten sich in einem Bad unhörbarer Töne, deren Tempo jetzt gehetzt, jetzt übermäßig langsam schien. Plötzlich griff sie nach einem Gegenstand und hielt ihn sich vor, – es war ein Spiegel; hineinblickend, schauerte sie zusammen und ließ ihn fallen, so daß der Lauscher die Scherben klirren hörte, dann trat sie ans Fenster, riß das Kleid über der Brust auf, legte die Hände auf die bloße Brust und sah gerade nach der Richtung, wo Herr von Seguret stand. Dieser duckte sich, als hätte man eine Flinte auf ihn gerichtet, doch Clarissa sah ihn nicht, sie starrte eine Weile in die ziehenden Wolken und machte dann das Fenster zu. Der Präsident stand noch geraume Weile da und wurde seiner Gedanken nicht Herr. Wen betrügt sie? dachte er mit Kummer, sich selbst, oder die Menschen oder Gott?

Seit langem zum ersten Mal hatte Clarissa wieder ruhigen Schlaf. Doch als sie sich in das weiße Bett legte, schienen die Kissen eine Purpurfarbe anzunehmen und sie fiel in den Schlummer wie in eine Schlucht. Sie träumte von Landschaften, von unheimlichen alten Häusern und von einem Himmel, der wie geronnenes Blut aussah. Sie selbst ging im Silberschein wie eine Braut und ohne daß sie eine Berührung spürte oder eine Gestalt sah, hatte sie doch auf den Lippen das Gefühl starker Küsse und in ihrem Schoß regte es sich, als ob Leben darin entstehe.

Dieselbe wunderliche Lust und Wallung verließ sie auch während der folgenden Tage nicht. Ein silberner Schleier lag zwischen ihr und der Welt. Aus Furcht ihn zu zerreißen, sprach sie leise und ging langsam; hinter ihm hatte die Sonne nicht mehr Leuchtkraft als sonst der Mond. Als sie am Vorabend des Verhandlungstages von einem Gang über die Felder zurückkehrte, sah sie am Eingangstor des Schlosses zwei Frauen stehen. Die eine eilte ihr entgegen, warf sich auf die Kniee und packte ihre Hände. Es war Charlotte Arlabosse. »Was haben Sie getan«, flüsterte das schöne Mädchen keuchend, »er ist unschuldig, bei Christi Leiden, er ist unschuldig! Erbarmen, Madame, und wenn auch nicht mit mir, so wenigstens mit seiner alten Mutter!«

Die Röte der Abendsonne lag auf den flehentlich verzerrten Zügen. Hinter Charlotte stand eine sehr beleibte Dame mit großen Warzen auf den Händen; doch der Kopf war hager und das Gesicht regungslos wie das einer Toten. Sie glich einem kraftstrotzenden Baum, dessen Krone verdorrt ist.

Clarissa machte eine abwehrende Bewegung, doch blieb ihre Miene freundlich und gelassen. Eine Sekunde lang glaubte sie in der Knieenden sich selbst zu sehen, die Doppelgängerin zu sehen und grausamer Triumph erfüllte ihr Herz. »Keine Sorge, mein Kind«, sagte sie leise und lächelnd, »was Bastide betrifft, so ist alles schon entschieden.« Damit öffnete sie das Tor und schritt ins Haus. Charlotte erhob sich und sah starr durch das Gitter.

An diesem Abend ging Clarissa bald zur Ruhe, erwachte aber schon um vier Uhr morgens und begann sich anzukleiden. Sie wählte ein schwarzes Sammetkleid und befestigte als einzigen Schmuck einen Diamantstern am Saum unter dem entblößten Hals. Ihr Herz klopfte in verdoppelten Schlägen, je näher die Stunde kam. Um acht Uhr fuhr der Wagen vor; es war eine lange Fahrt bis Alby, wo das Assisengericht tagte. Herr von Seguret war schon am frühen Morgen fortgeritten, niemand wußte wohin.

Kaum daß die Mauern der alten Stadt sichtbar geworden, zeigte sich schon so viel Volk auf den Wegen, daß die Pferde im Schritt gehen mußten. Die Leute umlagerten die Kutsche und schauten gespannt in die offenen Fenster; Frauen hoben ihre Kinder in die Höhe, damit auch sie die berühmte Madame Mirabel sehen konnten. Sie verbarg sich nicht der allgemeinen Neugier, mit einem hochzeitlichen Lächeln saß sie da, die feinen schwarzen Brauen waren weit in die Stirne hinauf verzogen.

 

Punkt zehn Uhr erschien Präsident Enjalran, der Leiter des Prozesses, im menschenüberfüllten Saal, und nach Verlesung der weitläufigen Anklageschrift wurde Bastide Grammont zum Verhör aufgerufen.

Fest wie aus Bronze stand er vor dem Tisch der Richter. Seine Antworten waren kühl, knapp und klar. Von Anfang bis zu Ende durchschaute er jetzt das unsinnige Märchen, gewoben aus Dummheit und Schlechtigkeit. Durch beißenden Spott gab er die namenlose Verachtung gegen all das zu erkennen, wessen man ihn bezichtigte, und setzte damit den Verteidiger, den das Gericht ihm in letzter Stunde bestimmt hatte und mit dem zu unterhandeln er sich hartnäckig geweigert hatte, in nicht geringe Bedrängnis.

Bisweilen wandte er den Blick gegen die kirchenartig hohen Fenster, und als er einen Vogel gewahrte, der sich auf das Sims gesetzt hatte und den gelben Schnabel in die Brustfedern grub, verlor er einen Augenblick die Fassung und sein Mund öffnete sich schmerzvoll.

Seine Vernehmung dauerte nur kurze Zeit. Sie war eine Formsache, denn sein Schicksal war besiegelt. Mit Bach, Colard und den übrigen Mitschuldigen hatte Herr von Enjalran leichtes Spiel; ihre Aussagen waren gleichsam schon versteinert. Bousquier war im Gefängnis gestorben. Von den andern suchte jeder für sich selbst ein Restchen Unschuld zu ergattern, sie machten den Eindruck von zerbrochenen und völlig willenlosen Menschen. Aufsehen erregte der alte Bancal, der während des Verhörs in einen Weinkrampf fiel und sich dann, seine Unschuld beteuernd, wie ein Rasender gebärdete. Der bucklige Missonier grinste, wenn von seiner Anwesenheit beim Mord die Rede war; er war vertiert durch die lange Gefangenschaft und das viele Verhörtwerden. Die kleine Magdalena Bancal benahm sich komödiantisch und grüßte mit Handküssen ihre Bekannten und Gönner, die unter den Zuhörern saßen. Rose Feral wurde beim Anblick der blutigen Lumpen, die auf dem Tisch des Richters lagen, totenbleich und vermochte nichts zu reden. Frau Bancal erinnerte sich, daß Monsieur Fualdes von sechs Männern in ihr Haus geschleppt worden war, daß er einige Schriften habe unterzeichnen müssen, der Länge und Quere nach, wie sie sagte. Am Tage darauf habe sie einen dieser Wechsel, auf Stempelpapier, gefunden, habe ihn aber, weil er mit Blut befleckt gewesen, verbrannt. Mehr wollte sie durchaus nicht bekennen, setzte allen Fragen ein stumpfsinniges Schweigen entgegen und äußerte schließlich, was sie noch wisse, wolle sie nur ihrem Beichtvater anvertrauen.

Die Zeugen bekundeten das Unglaublichste mit Seelenruhe. Ihr Gedächtnis war so stark, daß sie sich der geringfügigsten Dinge, die man von einem zum andern Tag vergißt, auf Stunde und Minute entsannen. In Nacht und Nebel hatten sie Menschen gesehen und erkannt, ihre Gesichtszüge, ihre Gebärden, die Farbe ihrer Kleider. Sie hatten Reden, Flüstern, Seufzen durch dicke Mauern hindurch gehört. Ein Bettler namens Laville, der in Missoniers Stall zu schlafen pflegte, hatte nicht nur die Orgelspieler und Lärm und Schreien vernommen, sondern er hatte auch gehört, daß vier Leute mit einer Last gingen, etwa wie Männer, welche ein Faß schleppen. Bastide Grammont lachte oft bei Aussagen, die er für unverschämte Lügen erklärte. Als die Bancal anfing zu gestehen, sagte er, da es so spät vor sich gegangen, habe er erwartet, daß das alte Weib noch mit mehr Umständen niederkommen werde. Einer anderen Zeugin hielt er bebend vor, wie des Himmels Hand schwer auf ihr laste und gemahnte sie an den fürchterlichen Tod ihres Kindes. Er glich einem Fechter, der gegen den Nebel ficht; niemand stand ihm eigentlich Rede, er war allein, die Widersprüche, die er nachzuweisen glaubte, blieben eben Widersprüche. Zuerst schien er zuversichtlich, bewahrte seine Haltung, blickte den Zeugen fest ins Gesicht, dann war es, als schwinde ihm der Sinn für die Bedeutung der Worte, nicht nur seiner eigenen, sondern aller Worte der Welt, oder als verliere er den Boden unter den Füßen und falle unaufhaltsam von Raum zu Raum ins grauenvoll End- und Grenzenlose hinab. Er begriff nicht mehr; er fragte sich entsetzt, ob dies noch Leben sei, noch Leben heißen dürfe, der herrliche Bau der Natur schien ihm verwüstet wie eine vom Sturm geborstene Mauer, der redende Mund all dieser Leute dünkte ihn nichts andres als ein in widerlichen Krämpfen auf- und zuklappender Schlund, sein Geist öffnete sich der Finsternis, Scham durchflammte ihn, er schämte sich im Gefühl des namenlosen Gottes und er schämte sich, daß sein Körper so gestaltet war wie der dieser Geschöpfe rings um ihn. Er hatte die Welt geliebt, er hatte einst die Menschen geliebt, jetzt schämte er sich dessen. Ihn schmerzte, daß er jemals Hoffnungen gehegt, daß er sein Herz mit Versprechungen hingehalten, daß Himmel und Sonne ihm einen frohen Blick, Scherzworte ihm ein Lächeln hatten entlocken können, er wünschte wie der Stein am Weg sein Inneres nie verraten zu haben, um nicht Schicksalszeuge sein zu müssen vor dem eigenen gebrandmarkten, gepeitschten und unerhört erniedrigten Selbst. Schon das Denken erschien ihm Schmach, um wie viel mehr erst das, was er hätte sagen können; es war nichts, war weniger als der Atem. Worauf sich stützen? worauf harren? Sie glauben nicht, nicht einmal den Hohn, nicht einmal das Schweigen. Und Bastide schloß sich zu und blickte dem Tod ins aufdämmernde Antlitz.

Es war schon gegen Abend, als endlich die Kronzeugin, Madame Mirabel, in den Saal gerufen wurde, und die ganze schon ermüdete Versammlung zuckte auf wie ein einziger Körper. Sie kam, und trotz der schwülen Luft, die den Raum erfüllte, schien sie zu frösteln. Als sie den Eid ablegte, zitterte sie sichtbar. Herr von Enjalran forderte sie auf, der Wahrheit gemäß zu berichten. Mit fremder, gleichmäßig matter Stimme, doch ziemlich hastig redend, gab sie dieselbe Aussage ab wie vor dem Untersuchungsrichter. Im Saal herrschte eine beängstigende Stille und infolgedessen wurde ihre Stimme immer leiser. Sie wußte jetzt eine Menge Einzelheiten, hatte das lange Messer auf dem Tisch liegen sehen, hatte gesehen, wie Bancal und Colard eine hölzerne Wanne hereintrugen und daß der Advokat Fualdes währenddessen neben der Lampe saß und mit tiefgebeugten Schultern schrieb. Sie hatte auch den geheimnisvollen Fremdling mit dem Stelzfuß gesehen und hatte beobachtet, daß Bach und Bousquier ein großes weißes Laken entfalteten. Auf die Frage, weshalb sie in Männerkleidern gekommen sei, gab sie keine Antwort. Und als sie dann flüsternd, mit zusammengekrampften Fingern, den Kopf geduckt, den mageren Rumpf etwas vorgebeugt, wie unter den Krallen eines Tieres sich kaum merkbar windend und doch mit jenem selig-süßen Lächeln, das ihrem Gesicht einen Ausdruck stiller Raserei gab, erzählte, wie Bastide sie im dunklen Nebenraum umarmt und geküßt habe, da sprang dieser plötzlich auf, schlug verzweifelnd die Hände zusammen und eilte ein paar Schritte vorwärts, bis er neben Clarissa stand. Alle hörten, wie schwer sein Atem ging.

Der Vorsitzende verwies ihm sein Benehmen, das er als unzart bezeichnete, Bastide aber rief mit starker, schmetternder Stimme aus: »Vor Gott, der mich hört und richten wird, erkläre ich, daß dies alles grauenhafte Lügen sind. Ich habe niemals dies Weib mit einem Finger berührt, noch mit Augen gesehen.«

Clarissa wurde weiß wie Kalk. Ihr war als höre sie jetzt erst das Klirren des zerbrochenen Spiegels, den sie nach dem Tanz zu Boden geworfen. Als der Generalprokurator sie aufforderte, fortzufahren, schwieg sie; ihre Augen verdrehten sich und der ganze Leib schauderte konvulsivisch.

»Sprechen Sie doch!« rief ihr Bastide Grammont zu, und die Empörung erstickte fast seine Stimme, »sprechen Sie! Ihr Schweigen ist noch verderblicher für mich als alle Lügen.«

Da schlug Clarissa die Augen zu ihm auf und fragte wunderlich bewegt: »Kennen Sie mich wirklich nicht, Bastide?«

»Nein! nein! nein!« brach dieser aus und nach oben blickend, stöhnte er qualvoll: »Sie ist eine Närrin.«

Innerhalb einer Sekunde wurde Clarissa glühendrot und wieder totenbleich. Und indem sie sich abermals zu Bastide wandte, sagte sie mit furchtbarem Ton des Vorwurfs: »O Mörder!«

Das Publikum applaudierte. Endlich war das Wort der Wahrheit gesprochen. Doch Clarissa wankte, ein Gerichtsdiener sprang herbei und fing sie in seinen Armen auf, mehrere Damen verließen ihre Plätze und bemühten sich um sie, und es dauerte eine halbe Stunde, bis sie wieder zu Bewußtsein kam; sie bot aber einen so veränderten Anblick, als sei sie plötzlich um zwanzig Jahre gealtert. Herr von Enjalran suchte das Verhör fortzusetzen, doch sie antwortete nur in halben Worten: sie wisse nicht; es sei möglich; sie wolle nicht widersprechen. Bastide Grammont hatte sich wieder auf der Anklagebank niedergelassen; auf seinem Antlitz malte sich unermeßliche Trauer und Bestürzung. Sein Verteidiger bat Clarissa, da sie doch nun einmal gesprochen, so solle sie weiterreden. »Ich beschwöre Sie, Madame, seien Sie deutlich«, sagte er, »von Ihnen hängt es ab, einen Unschuldigen zu retten oder ihn aufs Blutgerüst zu bringen.« Clarissa schwieg, als höre sie nicht; in ihrem Herzen wogte, wie Morgennebel über dem Wasser, ein tröstliches und bestrickendes Bild. Nun wandte sich der Rat Pinaud mit strenger Mahnung an sie; sie möge nicht glauben, daß sie ihre Aussagen nach Gutdünken machen und verschweigen könne, was sie wolle; aber darauf nahm der Prokurator für sie das Wort und sagte, man wisse, warum sie schweige, sie habe ja selbst versichert, daß sie eine Überzeugung habe, deren Gründe sie nicht darlegen könne, man möge zufrieden sein, daß man aus ihrem Munde das Wichtigste gehört habe, ja er erklärte sogar jedes weitere Drängen sei unschicklich. Er war noch nicht zu Ende mit seiner Rede, als ihn Clarissa unterbrach; sie erhob den rechten Arm und sagte feierlich beteuernd: »Ich habe keinen Eid geschworen.«

Bastide Grammont schaute empor. Er entriß sich seiner Betäubung, stand schwerfällig auf und begann mit ruhiger, doch um so mehr ergreifender Stimme: »Die Mauern der Kerker sprechen nicht. Einst aber werden sie dennoch reden und sie werden die angezettelten Heimlichkeiten mit Namen nennen, die man angewendet hat, um all diese Elenden zu zwingen, aus der Lüge die schimpfliche Schutzwehr ihres Lebens zu machen. Fualdes war nicht mein Feind, er war nur mein Gläubiger. Wenn Habsucht einen sonst anständigen und mäßigen Mann irregeleitet, wenn sie meinen Arm bewaffnet hätte, so hätte ich ihn doch nimmer gegen einen wehrlosen Greis erhoben. Wollt ihr ein Opfer haben, so nehmt mich; ich bin bereit, aber vermengt mein Schicksal nicht mit dem dieser Brut. Meine Familie, die stets auf dem Land lebte und die Sitte und Einfachheit des Landlebens übte, ist entehrt. Meine Mutter weint und erliegt. Urteilt, ob ich, in dieses Meer von Unglück gestürzt, noch Liebe zum Leben haben kann. Ich liebte einst die Freiheit, ich liebte die Tiere, das Wasser, den Himmel, die Luft und die Früchte der Bäume; jetzt aber bin ich geschändet und läge noch eine Zukunft vor mir, sie wäre klebrig von Schande und die Zeit schmeckte mir übel. Ist es ein Gericht, vor das man mich gestellt hat? Nein, es ist eine Treibjagd, der Richter ist zum Jäger geworden und richtet den Schuldlosen her zu einem Braten für den Pöbel. Ich verlange keine Gerechtigkeit mehr; es ist zu spät, mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zu spät, und wenn man mir die Krone Frankreichs anböte. Ich gebe mich euch zur Vernichtung dar, euer Gewissen soll mit dieser Bürde beladen sein, ein Schuldiger macht tausend und eure Kindeskinder werden noch dafür die lebendige Erde mit Schmach überfluten.«

Lähmende Stille folgte diesen Worten. Plötzlich aber brach ein unbeschreiblicher Tumult aus. Zuhörer und Geschworene erhoben sich, ballten die Fauste gegen Bastide Grammont, schrieen und heulten durcheinander und Herrn von Enjalrans donnernde Mahnung verhallte ungehört. Und ebenso plötzlich entstand wieder eine Totenstille. Ein matter, langgezogener Schrei, der sich im Getöse erhoben hatte und nun klagend weitertönte, machte die Gesichter versteinern. Aller Augen richteten sich auf Clarissa. Sie fühlte die Blicke auf sich herabstürzen wie Balken eines zusammenbrechenden Gebäudes.

Ihr Herz war von ungeheurem Sühnewunsch wie verbrannt. . . .

Die Rede des öffentlichen Anklägers sammelte noch einmal die Waffen des Hasses, welche die Fama gegen ihre Opfer geschmiedet; mit abgefeimter Kunst verstand er die Mordnacht in solchen Farben zu malen, daß das Grauen wie zum ersten Mal lebendig wurde. Der Verteidiger Bastides dagegen genügte sich an hochtrabenden Phrasen; ihm wurde warm, die Hörer ließ er kalt. Während er sprach, entstand ein Schieben und Drängen im Hintergrund; einige Damen kreischten, ein mittelgroßer schwarzer Hund lief durch eine Öffnung der Schranken, schaute sich mit glitzernden Augen um und kauerte sich vor den Füßen Bastides kurz aufbellend nieder. Dieser legte in tiefer Bewegung die Hand auf den Hals des Tieres und wehrte den Huissier gebieterisch ab, der es entfernen wollte.

Als der Gerichtshof sich zur Beratung zurückzog, wagte niemand laut zu sprechen. Irgendein Frauenzimmer schluchzte und man verwies sie zur Ruhe; es war die Dirne Benoit, Colards Geliebte. Sie hatte den armseligen Menschen bei den Schultern umschlungen und das in Tränen gebadete Gesicht drückte kein andres Verlangen aus, als sein Schicksal zu teilen. Ein Verwandter Bastides trat zu diesem, um mit ihm zu sprechen; Bastides schüttelte den Kopf und sah den Mann nicht einmal an. Etwas Schlaftrunkenes war in seinen Zügen, jedenfalls hatten Worte kein Gewicht mehr in seinen Ohren. Doch geschah es, daß seine Augen sich noch einmal erhoben und, nachdem sie unermessene Fernen durchlaufen hatten, denen Clarissas begegneten. Da schien ihm das fremde Weib nicht mehr so fremd. Er hörte wieder den Ton ihrer Stimme, als sie ihn Mörder genannt hatte; war es nicht vielmehr ein Hilferuf als eine Beschuldigung gewesen? und dieser flehentliche Blick, als hätten unsichtbare Fäuste sie am Hals gewürgt? und diese zarteste Gestalt, so seltsam alterslos, zitternd wie ein junger Birkenbaum im Herbst?

Zwei einsame Schiffbrüchige werden durch den unterirdischen Meeresstrom in ein und dieselbe Bahn getrieben, jeder von einer andern Welt, diesseits und jenseits des Meeres, nicht imstande das Brett zu verlassen, woran ihr Dasein hängt, nicht einmal imstande sich die Hand zu reichen, bloß hingetrieben vom allmählich erschöpften Wind zu unbekannten Tiefen. Es liegt etwas Geisterhaftes in dem Erbarmen des einen für den andern. Doch Bastides schmerzliches und finsteres Erstaunen gärte wieder in den Rausch und Traum der Müdigkeit hinüber und die aufmerksamen Augen seines Hundes erschienen ihm wie zwei rötliche Sterne zwischen schwarzen Baumkronen. Er vernahm das Todesurteil, als der Gerichtshof zurückkehrte; er war aufgestanden und lauschte den Worten des Präsidenten; es klang, als ob Regenwasser auf mürbe Blätter plätscherte. Er hörte sich selbst etwas sagen, aber was es war, wußte er kaum. Viele Gesichter sah er in ungenügender Beleuchtung gegen sich gewandt, sie machten ihm den Eindruck wurmstichiger und verwesender Äpfel.

 

Das Verdikt gegen die übrigen Angeklagten sollte erst am folgenden Tag verkündigt werden. Die Menschenmenge im Saal, in den Gängen und auf der Straße verlief sich langsam. Als Clarissa durch den Korridor schritt, wich alles scheu zur Seite.

Sie hatte in Erfahrung gebracht, daß Bastide nicht nach Rhodez zurückgeführt würde, sondern im Gefängnis von Alby bleibe. Darauf schickte sie den Wagen fort, der auf sie wartete, und begab sich in ein nahegelegenes Gasthaus, wo sie ein Zimmer forderte und einen Brief an ihren Vater schrieb, ein paar fieberdurchwühlte Sätze: »Ich weiß nicht mehr was Wahrheit ist und was Lüge; Bastide ist unschuldig, und ich habe ihn vernichtet, während mein Wille zu ihm stand; Ja und Nein sind in meiner Brust wie zwei gestorbene Flammen; würde ich dorthin zurückkehren, woher ich kam, ich würde einen beständigen Tod erleiden, darum und weil so die Menschen leben wie sie leben, gehe ich dorthin wohin ich muß.« Es war schon Mitternacht vorüber, trotzdem begehrte sie den Wirt zu sprechen. Sie bat ihn, den Brief am nächsten Morgen durch einen sicheren Boten nach Schloß Perrié zu senden, dann ersuchte sie den verdutzten Mann, ihr ein Körbchen frischer Früchte zu verkaufen. Der Wirt bedauerte höflich, er habe nichts mehr in der Kammer. Leidenschaftlich drängend, bot sie den zehn- und zwanzigfachen Preis und warf ein Goldstück auf den Tisch. »Es ist für einen Sterbenden«, sagte sie, »alles hängt davon ab.« Der Mann betrachtete ängstlich das bleich-leuchtende Antlitz der vornehmen Dame und überlegte, erklärte endlich seinen Nachbar aufwecken zu wollen und hieß Clarissa warten. Als sie allein war, kniete sie vor dem Bett nieder, wühlte die Stirn in die Kissen und weinte. Nach einer halben Stunde kam der Wirt zurück und brachte einen Korb voll Birnen, Trauben, Granatäpfel und Pfirsichen. Kopfschüttelnd sah er der Davoneilenden nach und hielt den verschlossenen Brief, den er besorgen sollte, neugierig gegen das Licht.

Die Straßen waren öde und von verdämmertem Mondschein erfüllt. Die kleinen Fenster kleiner Häuser blinzelten verschlafen; unter einem Torweg stand der Nachtwächter mit der Hellebarde und murmelte wie ein Betrunkener. Vor dem niedrigen Gefängnisbau war ein freier Platz; Clarissa setzte sich auf eine Steinbank und da nebenan ein Brunnen rann und sie Durst hatte, trank sie sich satt. Die sanftgeschwellten Ränder der unfernen Hügel flossen kaum merklich in den Himmel über und hinter einer Talsenkung lohte Feuerschein, auch glaubte sie bei gespanntem Horchen Glockenläuten zu hören. So schlief doch nicht die ganze Welt und sie durfte das bange Herz noch einmal an Menschendinge binden. Nach einer Weile erhob sie sich, schritt zu dem Gebäude, stellte den Fruchtkorb auf die Erde und pochte mit dem Türklopfer ans Tor. Es dauerte lange, bis der Pförtner erschien und unwirsch nach ihrem Begehr fragte. »Ich muß Bastide Grammont sprechen«, erklärte sie. Der Mensch machte ein Gesicht, als habe ihn eine Wahnsinnige überfallen, knurrte drohend und wollte das Tor wieder zuschlagen. Clarissa packte mit der einen Hand seinen Arm, mit der andern riß sie die Diamantagraffe von der Brust. »Da, da, da!« stammelte sie. Der Alte hob seine Laterne ein wenig und besah sich das blitzende Schmuckstück von allen Seiten. Clarissa mißverstand seine schmunzelnd-furchtsame Freude, dachte, es sei ihm nicht genug und gab ihm noch ihre Börse. »Was ist in dem Korb?« erkundigte er sich in devotem Mißtrauen. Sie zeigte ihm, was darinnen war. Da gab er sich zufrieden, dachte, es sei wohl die Maitresse des Verurteilten, und nachdem er die Tür zugeschlossen, ging er voran. Sie schritten ein paar Stufen hinab, dann durch einen schmalen Gang. »Wie lange wollen Sie drinnen bleiben?« forschte der Wärter, als sie vor einer eisernen Türe standen. Clarissa schöpfte tief Atem und erwiderte flüsternd, sie werde dreimal gegen die Türe klopfen. Der Alte nickte, sagte, er wolle oben auf der Treppe warten, sperrte vorsichtig auf, reichte der Frau seine Laterne und schloß hinter ihr zu.

Drinnen hielt sich Clarissa an der Mauer fest und schloß die Augen, um zu warten, bis sich ihre rasenden Pulse beruhigt hatten. Es schien ein mäßig großer, nicht ganz unwohnlicher Raum. Bastide lag auf einem Strohsack an der gegenüberliegenden Wand; er schlief in seinen Kleidern. Welche Stille! dachte Clarissa schaudernd und schlich nun auf den Fußspitzen bis zum Lager des Schlafenden. Welche Stille auch in diesem Antlitz, welch ein schöner Schlummer, dachte sie, und ihre Lippen öffneten sich in lautlosem Schmerz. Sie stellte die Laterne so auf den Boden, daß der Schein sein Gesicht traf, dann kniete sie hin und lauschte den festen Atemzügen. Bastides Mund war ernst geschlossen, die Lider vibrierten nicht, ein Zeichen von Traumlosigkeit; der lange Bart umkränzte Wangen und Kinn wie braunes Buschwerk, der ganze Kopf war etwas hintüber gesunken und die Haare glänzten feucht. Allmählich strömte der Frieden seines Antlitzes auch auf Clarissa über, alle Worte, alle Zeichen, die sie mit hereingetragen, schwanden hin, sie beschloß, nichts weiter zu tun, als ihr Geschenk an sein Lager zu stellen und sich zu entfernen. Sie leerte also den Korb und erschrak jedesmal und wartete, wenn nur ein Sandkorn unter ihren Füßen knackte. Als sie nun alle Früchte ausgelegt und jede einzelne wie ein lebendiges Geschöpf in ihrer Hand zärtlich befühlt hatte, ward ihr immer ruhiger und leichter zu Sinn, sie spürte sich dem Tode schon so wunderbar hingegeben, daß sie den Gedanken, diesen Raum verlassen zu müssen, fast mit Schrecken abwies und sich mit gefaßter Sicherheit anschickte zu tun, was sie tief erfüllte. Es entstand das Verlangen in ihr, den schlafenden Bastide zu küssen und sie beugte sich auch über ihn, doch eine gebieterische Ehrfurcht hielt sie ab, mehr noch als die Angst, er könne erwachen. Ihr Körper krampfte sich zusammen, sie umarmte ihn im Geiste und schien losgelöst von der Erde wie eine Perle, die aus einem Ring gefallen ist. Darauf erhob sie sich leise, ging auf den Fußspitzen auf die andere Seite des Raums, legte sich hin, nahm ein kleines Federmesser aus der Tasche und schnitt sich an beiden Handgelenken mit tiefen Schnitten die Adern auf. Innerhalb einer Viertelstunde seufzte sie noch zweimal und die Hand des Todes suchte vergeblich das trunkensüße Lächeln von ihren erblaßten Lippen zu wischen.

Bastide schlief noch eine Weile in seiner abgründigen Tiefe hin, Glieder und Geist von einem Allvergessen gefesselt und betäubt. Dann begann er zu träumen. Er befand sich in einem großen, abgeschlossenen Raum, in dessen Mitte eine kostbar gedeckte Tafel stand. Es saßen viele Menschen da; sie zechten und unterhielten sich fröhlich. Auf einmal starrten alle nach der Mitte der Tafel, wo ein Gefäß aus undurchsichtigem blauem Glase stand, das vorher nicht dagewesen war. Was ist in dem Glase? was mag es bedeuten? wer hat es gebracht? fragten dunkle Stimmen. Darauf trat ein grauenhaftes Schweigen ein; die vielen Augen starrten bald auf das blaue Gefäß, bald in düsterm Argwohn gegeneinander. Plötzlich erhoben sich die vorher so heitern Zecher und einer beschuldigte den andern, die verdeckte Schale auf den Tisch gestellt zu haben. Es entstand ein heftiges Geschrei, manche zogen ihre Dolche, andere schwangen Stühle und währenddessen wuchs aus dem Gefäß heraus ein magerer nackter Mädchenleib wie weißer Rauch. Das Gesicht war Bastide bekannt, es war das der Lügnerin Clarissa; mit schlangenhaft flimmernden Augen sah sie ihn an, immer nur ihn. Alle Männer folgten dem Blick und stürzten über ihn her. Du mußt sterben! du mußt sterben! schallte es aus heiseren Kehlen, aber indes sie noch schrien, verhallten schon ihre Stimmen, die nebelhaften Arme der Lügnerin streckten sich aus, zerteilten eine Wand und man konnte in einen blühenden Garten sehen, in dessen Mitte ein Schafott stand, behangen mit Zweigen voll reifer Früchte. Bastide war zum Knaben geworden; langsam schritt er hinaus, die Hände Clarissas schwebten über ihm und pflückten die Früchte ab und seine Todesfurcht wurde besänftigt von dem berauschenden Geruch dieser Früchte, der wie eine Wolke den ganzen Saal, ja den ganzen Weltraum erfüllte.

Da erwachte er. Sein erster schlafbefangener Blick fiel auf das flackernde Licht der Laterne, der zweite auf eine riesige Birne, die gelb wie ein kleiner Mond neben seinem Bette lag. In dumpfbeglücktem Erstaunen griff er darnach, aber indem er sie zum Mund führte, gewahrte er, daß Blut daran klebte. Er schrak empor, noch wähnte er zu träumen. Vor den Fenstern wogte schon das Grau der Morgendämmerung. Nun gewahrte er die übrigen Früchte, eine Pracht und Fülle, als wäre das Paradies geplündert worden. Doch klebte auch in ihnen Blut. . . . Ein kleiner zweigeteilter Blutbach rieselte von der Mauerecke herüber.

Und Bastide sah . . .

Er wollte aufstehen, allein der unvollendete Schlaf lähmte noch seinen Körper.

Bitterer und wilder Kummer umklammerte ihm die Brust. Ihn gelüstete nicht mehr nach dem Tag, der sich draußen so müd erhob; der Schläge seines eigenen Herzens satt und voll Gewißheit dessen was geschehen war und geschehen mußte, sehnte er das endliche Ende herbei, begehrte keine besondere Kunde mehr von dem vollbrachten Schicksal drüben an der andern Wand des Kerkers, das, von dunklen Gewalten befehligt, sich auf seinen Weg gedrängt hatte, keine Kunde mehr von den Menschen und dem was sie bauten oder zerstörten. Ein Greuel war ihm der Mensch.

Und dennoch, als sein Blick wieder auf die herrlichen Früchte fiel, da jammerte ihn die Kreatur; er wollte der Bringerin wenigstens die Augen zudrücken. Aber jetzt drehte der argwöhnisch gewordene Wächter draußen den Schlüssel im Schloß.


 << zurück