Frank Wedekind
Mine-Haha
Frank Wedekind

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Der alte Zauberer hatte jedoch derweil mit seinem Zauberstabe die Gitterstäbe durchfeilt und trat heraus. Er berührte uns allen, den Prinzen inbegriffen, die Füße, so daß sich niemand mehr vom Platz rühren konnte. Dann half er seiner Tochter auf, winkte das Mückenmännchen aus dem Käfig her, schnitt ihm die Flügel ab, blies ihm Tabakrauch ein und machte auf diese Weise einen Menschen aus ihm. Dem Prinzen riß er den Mantel und die Trikots vom Leibe und machte ein Zeichen in der Luft, worauf sämtliche Mücken angeschwirrt kamen, über den Prinzen herfielen und ihn blutig stachen, bis er tot war. Den Hofdamen, den Kammerherren und uns Bäuerinnen, die wir immer noch regungslos dastanden, berührte der Zauberer mit seinem Stab die Hände. Darauf stürzten wir vornüber und gingen im ganzen Umkreis der Bühne, der Rampe entlang, auf den Händen einher. Den Hofdamen fielen ihre Musselinröckchen dabei über die Taille bis auf den Boden, und sie streckten nur noch ihre Atlasschuhe in die Luft. Den Mädchen, die die Kammerherren spielten, baumelten die Frackschöße vor dem Kopf. Uns Bäuerinnen fielen die Holzschuhe von den Füßen, während unsere Zöpfe auf dem Boden schleiften. Inmitten dieses Reigens schickte der alte Zauberer seine Tochter mit dem neuen Menschenkinde zu Bett.

Der Schnee fiel dicht, die Wege leuchteten und ich hörte meine eigenen Schritte nicht, als ich spät in der Nacht allein nach Hause ging. Ich trat ins Schlafzimmer und machte Licht. Ein sonderbarer Anblick, die sechs Mädchen so ruhig schlafen zu sehen. Ich fror und schlupfte rasch ins Bett. Kaum hatte ich jedoch die Augen geschlossen, als sich das Stück weiterspann. Der Prinz schlug der Prinzessin den Kopf ab, die Mücken flatterten hoch oben zwischen den Rängen unter dem Plafond umher, und am anderen Morgen war mir schlecht und elend wie nie zuvor.

Der »Mückenprinz« wurde zweihundertmal gegeben. In den letzten dreißig Vorstellungen spielte ich den Kammerherrn von Heidebod. Als ich eines Abends in meinem Frack aufrecht auf den Stufen vor dem ersten Rang stand, sagte hinter dem Gitter eine Stimme, bei deren Klang ich plötzlich mein Herz schlagen hörte: »Dir fehlt das Beste.« Im Zwischenakt erzählte ich das den übrigen Kammerherren, unter denen jetzt auch Iris und Selma mittanzten; aber wiewohl wir unsere ersten Jahre alle mit Knaben verlebt, kam doch keine von uns darauf, was die Stimme gemeint hatte, so blindlings tanzten wir allabendlich unsere Rollen durch, so wenig ließen wir uns träumen von dem, was wir spielten.

Als der »Mückenprinz« aufhörte, das Haus zu füllen, nahm Simba das ständige Repertoir wieder auf, bestehend aus etwa zehn Stücken, alle im nämlichen Genre, die der Reihe nach abwechselten. Während dieser Zeit gab es viel zu lernen. Simba verwendete unsere Nachmittage im Weißen Hause darauf. Während eines Nachmittags studierte sie uns manchmal zwei Stücke ein. Erst im Herbst kam dann wieder eine Novität: »Der Sumpflöwe«, von einem gewissen Donald, die, solang ich tanzte, ihre Zugkraft behielt.

Filissa war im Frühling eines schönen Tages nicht wieder gekommen. Wir hatten in der letzten Zeit wenig zueinander gesagt. Mir schien, als blickte sie mit Neid auf mich, als empfinde sie, daß sie ihre schönste Zeit hinter sich habe. Sie war apathisch, ließ sich tagsüber von den anderen vortanzen, rührte selbst aber kaum mehr die Füße.

Am ersten Nachmittag im Weißen Haus, nachdem Filissa fort war, hielt Simba mir und meinen Altersgenossinnen, ehe sie mit dem Tanz begann, eine förmliche Rede. Sie sprach so feierlich, wie sie noch niemand hatte sprechen hören, mit erhobenem Kopf, die Augen in die Ferne gerichtet, ohne eine von uns eines Blickes zu würdigen.

»In diesem Jahre«, sagte sie, »hat jede von euch die heiligste Aufgabe zu erfüllen, die ihr jemals zu erfüllen haben werdet. Ihr habt sechs Mädchen zu Hause unter eurer Obhut. Daß diese Mädchen schön und groß und stark werden, wie ihr es seid, dafür seid ihr mir verantwortlich. Daß diese Mädchen tanzen und ihre Glieder gebrauchen lernen, wie ihr es gelernt habt, dafür seid ihr mir verantwortlich. Ich werde euch sagen, was an den Mädchen zu tadeln ist und wenn es nicht besser wird, so seid ihr mir dafür verantwortlich. Daß die sechs Mädchen glücklich unter eurer Obhut sind, daß sie euch alle gleich gern haben, daß es ihnen wohl ist in eurem Hause und daß die Sommer und Winter gesund und fröhlich sind, dafür seid ihr mir verantwortlich.«

»In diesem Jahr«, sagte sie weiter, ohne uns anzusehen, »werdet ihr eine große Veränderung erleben. Der Kopf wird euch brummen, ihr werdet müde und traurig sein. Wenn ihr die Veränderung wahrnehmt, sagt es mir.«

Jede von uns ging, als die Übung aus war, so rasch wie möglich ihrer Wege, nur um allein zu sein. Simbas Worte lagen so drückend auf mir, daß ich hätte in die Luft hinauf schreien mögen. Nach dem Nachtessen lief ich, was ich konnte, ins Theater, um Farben zu sehen und Musik zu hören.

Sieben Tage nachher sagte uns Kairula etwas Ähnliches. Aber ihre alberne und plumpe Ausdrucksweise trug nur dazu bei, den Eindruck, den uns Simbas Rede hinterlassen, abzuschwächen und uns mit allem auszusöhnen. Sie kam auch auf die betreffende Veränderung zu sprechen, tat aber so geheimnisvoll und brauchte so gesuchte, rätselhafte Ausdrücke, daß wir Mühe hatten, das Lachen zu verbeißen. Nachdem Kairula zu uns geredet, sahen wir Mädchen einander wieder ganz offen an.

Und dann verflossen noch einige lange Tage, während deren ich es von früh bis spät vor Ungeduld kaum aushielt, bis eines Abends richtig wieder eine Kiste in unser Schlafzimmer transportiert wurde. Mir zitterten die Arme, als ich aufschloß. Auf dem Deckel stand »Arabella«. Als das Kind aber heraustrat, wurde mir eiskalt. Starr und leblos glotzte es uns an. Die ganze Nacht durch bebte ich vor dem folgenden Morgen, wo ich anfangen mußte, ihm Unterricht zu erteilen.

Der folgende Tag war der glücklichste, den ich im Park erlebt habe. Das süßeste, reizendste, schwarzlockige, blauäugige Geschöpfchen setzte sich am Morgen mit uns zum Frühstück. Den ganzen Tag waren wir zusammen mit der Geige beschäftigt, die Blanka dagelassen, und als man abends zum Baden ging, hatte Arabella schon ein kleines Lied spielen gelernt. Beim Baden hielt ich sie mit den Händen über Wasser; und als ich zum erstenmal mit ihr ins Weiße Haus ging, war ich den anderen Mädchen und Simba gegenüber so stolz, wie ich es nie auf mich selbst gewesen war. Ich sagte mir voll Entzücken, daß Simba oder Kairula, was dieses Mädchen betrifft, jedenfalls keine Ursache haben sollten, unzufrieden mit mir zu sein. Ich mochte nicht daran denken, daß ich nur ein Jahr lang mit ihr zusammenbleiben würde.

Mit Betty, Amalie, Moilena, Barbara und Lydia war ich sehr streng. Ich ließ ihnen nicht einen Augenblick freie Zeit. Betty war mir dabei am unbequemsten. Barbara, die noch nicht gelernt hatte, ihren Rücken zu biegen, brachte ich während des Sommers dahin, daß sie, wenn sie auf den Händen ging, die Füße geradeaus streckte. Während der sechs Jahre hatte ich alle Instrumente spielen gelernt, die im Haus waren. Mit der kleinen Lydia spielte ich jetzt vierhändig Cymbal. Die anderen mußten darnach tanzen.

Der Herbst war wunderschön. Lange nachdem Amalie von ihrer Auswahl zurückgekommen, war es noch so warm, daß ich abends ohne Mantel ins Theater ging. Als der erste Schnee fiel, stand ich mit Arabella auf der Galerie vor dem Eßzimmer. Es war stille Dämmerung im Park. Arabella erzählte mir von Leona, einem großen Mädchen in langem weißen Kleid, das immer eine Rute in der Hand gehabt und sie damit an die Beine geschlagen hätte. Wunderbar genug, daß ich den Namen behalten habe. Arabellas Lippen gingen dabei so langsam auf und zu und ihre Augen sahen mich so hilflos an. Ich hob sie neben mich auf das Geländer und dachte daran, daß ich auch mal so klein gewesen.

Mitten in der Nacht, auf dem Heimweg aus dem Theater, glaubte ich einmal, es schliche jemand hinter mir. Ich brachte es nicht mehr dazu, mich umzusehen. Es war die Musik, der Lärm, die ungewöhnlichen Kostüme, alles was ich gesehen und gehört hatte, was mich in den sonderbaren Zustand versetzte. Im »Sumpflöwen« spielte Iris einen wüsten Räuber, der die Königin gefangen hatte und zu Hause in seiner Höhle an die Kette legte. Die Königin war ich. Wenn die Räuber heimkehrten, wurde ich losgekettet und mußte tanzen. Das brachte mich so um die Besinnung, daß ich mich eines Nachts, als ich in unser Schlafzimmer trat, nach Arabellas Bett hingezogen fühlte. Ihre schmächtigen Beine zeichneten sich unter der Decke ab. Ich hatte mich schon entkleidet und stand vielleicht eine Stunde so da. Den Rand ihrer Bettdecke hielt ich in der Hand. Plötzlich klopfte es von außen dreimal gegen die Scheiben, und ich schlich, so rasch ich konnte, in meine Ecke. Aber den ganzen folgenden Tag mußte ich an Arabella denken und als mich die Räuber am Abend der Reihe nach abküßten, sah ich nur Arabella und Arabella. Zu Hause zog ich mich hastig aus, um nur schnell in mein Bett zu kommen, und stand auf einmal neben ihr, und rieb die Knie gegeneinander. »Komm was will!« dacht ich und hob die Decke auf Im selben Augenblick öffnete das Mädchen die Augen und sah mich an. Ich beugte mich über sie und küßte sie. »Ich wollte dir nur gute Nacht sagen«, sagte ich. »Schlaf nur ruhig weiter!« und ging zurück und legte mich nieder.

Am anderen Morgen beim Aufstehen fühlte ich mich furchtbar schwer in den Hüften und in den Beinen. Es zog mich etwas zur Erde hinunter. Ich sagte mir natürlich, das käme von der Kälte. Sonst fühlte ich mich gar nicht unwohl. Aber gegen Abend, als ich mit Amalie tanzte, wurde es mir klar. Ich lief ins Weiße Haus. Im Vestibül stand Selma. Das war ein sonderbares Zusammentreffen. Simba fragte uns gar nicht erst lange, sie sah uns nur prüfend unter die Augen. Dann nahm sie ein Licht und ging vorauf in ein kleines Stübchen unter dem Dach. Dort gab sie uns jeder ein zusammengelegtes Stück Zeug. »Hier habt ihr jede ein Muster, aber probiert es vorher an, damit ihr euch danach richten könnt. Du, Hidalla, bringst heute abend Betty ins Theater; und du«, wandte sie sich an Selma, »du bringst Dosia mit.«

Als Selma und ich unten aus der Säulenhalle traten, stand der Himmel voll Sterne. Da fragte mich Selma, nachdem sie die Sterne betrachtet hatte:

»Glaubst du, Hidalla, daß es draußen auch Sterne gibt?«

»Ich glaube es fast«, antwortete ich. »Sie reichen so weit.«

»Nun, wir werden ja sehen«, meinte sie. Und nach einer Weile: »Die Menschen im Theater sind so munter und lachen so viel, ich glaube fast, es ist draußen noch schöner als hier im Park.«

»Wie sie wohl gekleidet sind?« fragte ich.

»Ich glaube«, sagte Selma, »sie sind so wie wir auf der Bühne. - - Schuhe haben sie jedenfalls an, wenn sie ausgehen.«

»Ja«, bemerkte ich, »sonst könnten sie nicht so trampeln.«

So sprachen wir noch lange Zeit. Dann trennten wir uns, nachdem wird uns gegenseitig das Versprechen abgenommen, wir wollten uns, wenn wir draußen seien, recht oft besuchen.

Am nächsten Abend saß ich seit einem Jahr zum erstenmal wieder mit den anderen vor dem Kaminfeuer. Amalie und Moilena tanzten mitten im Zimmer. Arabella fragte mich, als sie das weiße Leinen sah, was ich da mache. Da dachte ich an Blanka. All die Abende war es mir, als säße Blanka mit bei uns. Ich hob manchmal den Kopf, um sie anzusprechen. Arabella fand ich immer noch hübsch und entzückend, aber ich hatte nicht die Kraft, ihr in die Augen zu sehen. Jetzt hätte ich nicht mehr vermocht, an ihr Bett zu schleichen. Ich schämte mich jetzt auch, am Tag mit den anderen zu tanzen. Dazu kam noch etwas anderes. Ich war auf einmal so dick geworden in der Taille und an den Beinen, und meine Brüste schwollen. Ich war mir zum Abscheu. Überall war ich mir im Wege. Ich war keiner Bewegung mehr sicher. Beim Auskleiden belastete ich mich voll Ingrimm und konnte den Gedanken nicht fassen, daß ich das alles sein solle. Am liebsten hätte ich das dicke Fleisch genommen und in die Ecke geworfen. Nachts im Bett schlug ich mich vor Wut, wenn ich mich mit meinen dicken Gliedern nicht zurechtfinden konnte; und am Morgen war ich mir womöglich noch fremder als vorher. Der Bauch, die Waden, die Schenkel, die Brüste, die Lippen, alles strotzte an mir.

Ich sehnte eine Veränderung herbei, so glücklich wir im Park waren; aber ich gehörte nicht mehr her. Mit meinen Altersgenossinnen wurde ich jeden Tag vertrauter, je fremder mir die Mädchen in meinem eigenen Heim wurden. Wenn ich auch in Wirklichkeit die Älteste war, die ganze Aufmerksamkeit der anderen konzentrierte sich doch auf Betty, die jeden Abend zum Tanzen ins Theater ging. Ich fühlte, wenn ich eintrat, daß ich lästig war, und mir selber war ich es am meisten. Ich dachte, als die Tage länger und das Wetter sonniger wurden, auf meinen einsamen Spaziergängen oft mit Wehmut der Zeiten, da sich Blanka und Pamela meiner so treu und sorgsam angenommen. Jetzt hatte ich nicht einmal mehr jemand, dessen ich mich annehmen konnte. Mit Arabella hatte ich es verdorben. Ich begann nach und nach, sie zu verabscheuen um ihrer hübschen Augen und ihrer zarten und schlanken Glieder willen. Ich sah sie nicht mehr, wenn sie vor mir stand. Und ich wußte, daß ich ihr unrecht tat, aber ich brachte es nicht über mich, aufrichtig gegen mich zu sein. So wurde denn mein Abschied aus dem Park so ganz anders, als ich es mir vorher oft gedacht hatte. Als ich ging, ließ ich nichts zurück, ich hatte nichts zu verlieren. Mir war trocken in der Kehle. Keine Gefühle. Jedesmal, wenn ich, um zu tanzen, ins Weiße Haus ging, hoffte ich, daß es das letztemal sein würde. Und als das letztemal endlich kam, hatte ich die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, daß es jemals kommen würde.

Es war ein düsterer Frühlingstag mit warmem, erquickendem Regen. Die meisten von uns waren im Mantel gekommen. Was uns sofort über den Moment ins klare setzte, war das, daß Simba, statt in ihrem gewöhnlichen Perlenkostüm, in einem schlanken, eleganten schwarzen Seidenkleid in den Saal trat. Als wir alle sechsundzwanzig beisammen waren, führte sie uns in die Garderobe hinunter und durch den unterirdischen Gang ins Theater. Dort öffnete sie in dem Korridor eine Tür, die keine von uns jemals bemerkt hatte, und dann ging es noch eine Treppe tiefer. Zur Rechten und Linken waren die Billettschalter; wir kamen an den weiten Wendeltreppen vorbei; überall brannten die elektrischen Glühlampen, und schließlich standen wir neben den Wagen, in denen wir reichlich Platz fanden. Nachdem Simba eingestiegen war, ertönte eine Klingel und wir rollten in die Dunkelheit davon.


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