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Als ich heute vor acht Tagen, um diese Stunde etwa, nach Hause kam, wurde ich unter dem Torweg von einem Schutzmann aufgehalten, der mir den Eintritt nicht eher gestattete, als bis ich ihm durch die Adresse einer an mich gerichteten Postkarte bewiesen hatte, daß ich im Rückgebäude wohne. Auf dem Hofe standen zehn bis zwanzig Menschen enggedrängt beieinander und tauschten mit gedämpften Stimmen ihre Eindrücke und Ansichten aus. Meine Zimmernachbarin, die vierundachtzigjährige pensionierte Lehrerin Helene Engel, hatte sich aus dem vierten Stock in den Hof hinuntergestürzt. Unter den Umstehenden galt es für gänzlich ausgeschlossen, daß ein mit klarem Bewußtsein vollführter Selbstmord vorlag; die Tat wurde vielmehr für die Folge einer geistigen Störung gehalten, die sich bei der alten Dame seit mehreren Monaten in plötzlichen Anfällen von Angst, Verworrenheit und Exaltation bemerkbar gemacht hatte. Nach wenigen Minuten fuhr draußen der Sanitätswagen vor. Nachdem ein Arzt den Tod als unzweifelhaft festgestellt hatte, hielt es unsere Zimmervermieterin für das zweckmäßigste, daß die Verunglückte sofort nach dem Leichenhause gebracht wurde.
Es mögen etwa drei Wochen her sein, daß mich die nun Dahingeschiedene eines Tages auf meinen Gruß hin auf dem Korridor ansprach. Sie sagte, sie habe kürzlich ein Buch von mir »Frühlings Erwachen« gelesen; ob ich ihr erlauben wolle, mir etwas Ähnliches, das sie selber vor langen Jahren einmal niedergeschrieben, zur Einsicht zu geben. Sie lud mich in ihr Zimmer ein, holte aus dem untersten Fach ihres Kleiderschrankes eine angebrochene Flasche Rotwein hervor und füllte zwei Gläser. Das Manuskript, dem ich diese Bemerkungen beifüge, lag auf dem Schreibtisch. Sie erzählte mir dann, sie sei als Kind sehr begüterter Eltern geboren. Mit siebzehn Jahren habe sie sich gegen den Willen ihrer Familie mit einem früheren Offizier, einem Witwer, verheiratet, dem sie schon als Backfisch eine abgöttische Verehrung entgegenbrachte. In wenigen Jahren schenkte sie ihm drei Kinder, die alle zu tüchtigen Menschen heranwuchsen, heute aber längst unter der Erde ruhen. Sie selber ließ sich, als sich ihr Gatte nach fünfjähriger Ehe plötzlich dem Trunk ergab, von einem blutjungen Architekten nach Amerika entführen, kam dort aber offenbar bald in die Lage, für ihren Geliebten arbeiten zu müssen. Sie erzählte mir, sie sei zuerst Dienstmädchen, dann Krankenwärterin und schließlich Lehrerin gewesen. Als solche lebte sie mit einem augenscheinlich hochgenialen Musiker zusammen, der sich sein Brot verdiente, indem er nachts im »Melodion« und anderen Tingeltangeln Klavier spielte. Weitaus die längste Zeit ihres amerikanischen Aufenthaltes habe sie in Brasilien verlebt, wo sie Indianerkinder unterrichtete und dabei auf ungesattelten Präriepferden ebenso sicher reiten lernte wie der geborene Sohn der Wildnis. Diese Erinnerung schien mir die aus ihrem Leben ihr selbst am teuersten zu sein. In der »Gartenlaube« las sie im Jahre 1871, daß ihr erster Mann bei Gravelotte den Heldentod gestorben war, und kehrte darauf nach Europa zurück. Ihre Eltern waren längst nicht mehr am Leben. Nach der Revolution hatten sie ihr Vermögen verloren und starben fast gleichzeitig in freudloser Zurückgezogenheit. Sie selber etablierte sich zuerst als Privatlehrerin und erhielt später Anstellung an einer höheren Töchterschule. Von irgendwelchen Parteinahme für die Ziele der heutigen Frauenbestrebungen konnte ich aus ihren Worten nichts entnehmen. Dagegen ist die Entstehung vorliegenden Manuskriptes wohl auf ihre spätere Lehrtätigkeit in Deutschland zurückzudatieren.
Dieses Manuskript erscheint mir, wenn ich es nicht überschätze, seiner stilistischen Eigenart wegen einer Veröffentlichung wert. Der Untertitel »Über die körperliche Erziehung junger Mädchen« stammt natürlich von mir. Ich glaube ihn beifügen zu müssen, da mir die Aufschrift »Mine-Haha« aus den Aufzeichnungen, soweit ich sie bis heute kenne, offen gestanden, nicht verständlich wird. Ich hoffe aber, daß sich in dem Nachlaß der alten Dame noch weitere Blätter finden.