Georg Weerth
Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten
Georg Weerth

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VII.
Die englischen Arbeiter

Wir sind es bei den Buchhändlern der ganzen Welt gewohnt, daß sie die Rückseiten neu erschienener Werke mit den Annoncen ihrer übrigen Verlagsartikel behängen. So muß z. B. ein nagelneues Gebetbuch die Titel und die Preise von einem Dutzend ähnlicher Erbauungsschriften durch die Welt schleifen; die Rückseite eines Kochbuches macht uns mit den neuesten Abhandlungen über Heringsfang und Käsebereitung bekannt. Eine neue Ausgabe selig verstorbener Klassiker hat einen förmlichen Kometenschweif von noch lebenden unglückseligen Autoren hinter sich. Der »Don Quijote« hat stets den »Gil Blas« und den »Chevalier Faublas« auf dem Nacken; der Shakespeare trägt fast immer den Byron und den Milton huckepack. Der Walther von der Vogelweide hat die »Gudrun« und den »Wieland den Schmied« und den »König Orendel« und »Parzival« und »Titurel« im Schlepptau usw., und das ist ganz recht. Es ist ganz in der Ordnung, daß man ein Kochbuch mit einer Käseschrift anzeigt, daß man das Wort Gottes mit den Worten eines evangelischen Kandidaten ausposaunt, daß man die meisten unserer jüngeren Poeten stets an der Nabelschnur ihrer guten poetischen Großmutter herumlaufen läßt. Unverzeihlich ist es indes, wenn es den industriellen buchhändlerischen Käuzen auch mitunter einfällt, die Gebetbücher unter die Käserubrik zu bringen, die Poesie unter den Heringsfang oder die evangelischen Kandidaten unter den »Chevalier Faublas«. In Deutschland geschieht dies freilich seltener; in England ist es aber an der Tagesordnung; so ein englischer Buchhändler ist nun einmal determiniert, seine Bagagen an den Mann zu bringen; er druckt nicht allein sämtliche ältern Verlagssachen auf die Rückblätter seiner neuern Bücher, sondern er fertigt sich auch separat einige tausend Annoncenbogen an, und du magst bei ihm kaufen, was du willst, er dreht dir einen solchen Bogen um dein erstandenes Werk. Ein englischer Buchhändler gehört immer einer gewissen Farbe, einer bestimmten Partei an; er ist entweder ein Tory oder ein Whig, ein Freetrader oder ein Chartist, ein Anglikaner oder ein Dissenter; nicht daß er deswegen nur Tory-Bücher verkaufte, wenn er ein Tory wäre, oder nur ausschließlich chartistische, wenn er zu der Partei der Chartisten gehörte – nein, keineswegs! Ein englischer Buchhändler ist ebensogut ein Mensch wie jeder andere auch; vor allen Dingen ist er ein Kaufmann, und wie jener Birminghamer Fabrikant sich für Missionsgesellschaften verwandte, zu gleicher Zeit aber doch Götzenbilder fabrizieren konnte, so kann ein englischer Buchhändler ein entsetzlicher Tory sein, ohne es gerade zu verschmähen, unter der Hand auch einige Schillinge an einem chartistischen Buche zu verdienen.

Jedenfalls bleibt er indes stets seiner Partei getreu; er wird dir das bestellte chartistische Buch schicken, er dreht aber einen Bogen aristokratischer Bücherannoncen darum; bestelltest du bei einem Teetotaler einen Band Trinklieder, so wird er die Trinklieder in den Prospektus einer Mäßigkeitsgesellschaft binden; forderst du bei einem frommen Buchhändler ein gottloses Buch, so wird er dir zwar das gottlose Buch nicht vorenthalten, er wird dich aber jedesmal auf eine ganze Liste heiliger und erbaulicher Schriften aufmerksam machen, und wirst du umgekehrt bei einem atheistischen Krämer ein gottesfürchtiges Traktätchen erhandeln, so wird er nicht unterlassen, dir das Gift seines Verlags in Gestalt einer zierlich gedruckten Annonce beizufügen. Wenn ich manchmal im Laufe der Woche verschiedene Bücher aus allerlei Läden zusammengetragen hatte, da entdeckte ich plötzlich auf meinem Tische die unheiligsten Spottgedichte, die schlechtesten Liebeslieder und die rührendsten Missionsberichte – Sachen, welche doch alle gar nicht in mein Fach schlagen –, die wie durch ein Wunder in mein Zimmer geflogen zu sein schienen. Mit der Zeit kam ich erst hinter die Geschichte und habe mich später oft über einen sehr eifrigen Shopkeeper gefreut, der sieben Jahre lang um jeden Bleistift und um jedes Stück Siegellack, was er verkaufte, eine Abhandlung über die Notwendigkeit der Abschaffung der Korngesetze wickelte. Eine solche Manier, Propaganda zu machen, ist wirklich gar zu herrlich, und ich bin fest davon überzeugt, daß jener Shopkeeper auch seiner Zeit von der Anti-Corn-Law-League reichlich für seinen Patriotismus belohnt worden ist.

Am gewandtesten und eifrigsten sind die kleineren Buch- und Zeitungshändler in dieser Art des Annoncierens; sie haben größtenteils die arbeitende Klasse zu ihrer Kundschaft, und sie verfehlen nicht, jedem armen Teufel, der sich am Samstagabend eine Zeitung kauft, irgendeinen Vers, einen Spruch, ein Bild oder einen Aufruf mit in den Kauf zu geben. Während einer politischen Agitation kann dies Verfahren von unendlichem Nutzen für gewisse Parteien sein. Manchmal enthält der Umschlag einer Zeitung mehr als die ganze Zeitung selbst. Ich habe oft bemerkt, daß ein Holzschnitt, der die Gesichter bekannter Personen getreu wiedergab und auf Dinge Bezug hatte, welche die Arbeiterwelt im höchsten Grade interessierte, mit einem Schlage einen solchen Enthusiasmus unter den Leuten hervorrief, daß sie vor Freude laut aufjauchzten. Durch ein einziges Bildchen, durch wenige Striche, durch die winzigste Zeichnung eines einigermaßen geschickten Künstlers wurde oft eine größere Wirkung hervorgebracht als durch das längste Zeitungsräsonnement.

Von den vielen derartigen Bildern will ich nur eins erwähnen, welches mir ein Bradforder Zeitungshändler mehr wie zehnmal um meine Blätter wickelte. Es frappierte mich seinerzeit um so mehr, weil es gerade in einem Augenblick verteilt wurde, wo die Verkehrtheiten unserer heutigen gesellschaftlichen Einrichtungen wieder einmal in ihrer ganzen Scheußlichkeit ans Licht kamen; wo in Bradford, in jenem Orte des blühendsten Handels und der ausgedehntesten Industrie, mit einem Male Tausende von Menschen auf den Straßen standen, welche weder Arbeit noch Brot hatten, welche nach einem Leben voller Not und Mühe nur eine Zukunft voll Verderben und Verzweiflung vor Augen sahen.

Ach, wüßte ich es zu zeichnen, dies kleine unbedeutende Bildchen! Es wäre das beste Gegenstück zu dem Gemälde der industriellen Prosperität Englands, zu jenen kolossalen Summen, zu jenen enormen Zahlen, mit denen ich vorher die Glückseligkeit der unternehmenden Briten zu schildern suchte.

Man sah einen Baum, eine prächtige Eiche, deren Äste sich nach allen Seiten hin ausbreiteten, deren Krone hinauf in die Wolken reichte. Die Wurzeln des gewaltigen Stammes schlugen tief hinab in den Boden. Unwillkürlich blickte man zuerst hinauf nach dem Gipfel; da sproßte das junge Laub aus den saftigen Reisern, und ein Kranz von grünen Büschen umgab eine schlanke Frauengestalt, die sich leicht auf den Zweigen zu schaukeln schien. Sie trug eine Krone auf ihren Locken und ein Szepter in der Hand, und jede ihrer Mienen schien zu sagen: ich bin Victoria Regina. Neben ihr blitzten Herzogskronen, Bischofsmützen und Hermelinmäntel durch das Grün des Laubes; die Schafsnase des alten Wellington nickte einem vertraulich innig entgegen, und die karierten Hosen des Lord Brougham schimmerten deutlich hinter dem Gewirr der Zweige. Rechts hingen wie Äpfel an einem Christbaume die Minister der Königin, der eine in Akten vergraben, der andere wie in einer Rede begriffen, alle in verschiedenen Stellungen, und auf den ersten Blick erkannte man den wohlbeleibten Sir Robert Peel und den verschmitzten Sir James Graham. Links bemerkte man die Leiter der Opposition, an ihrer Spitze den kleinen Lord John Russell und den alten Dandy Palmerston; alle mehr oder weniger beschäftigt, aber wohlgenährt und lächelnd wie Leute, die ihres Glückes gewiß sind. Unter ihnen trieb sich rechts und links eine Schar Edelleute; der eine auf dem flüchtigen Renner daherspringend; der andere mit vielen Hunden auf der Jagd; der dritte bei einem Diner, das Champagnerglas in der Hand; der vierte in den Armen eines lieblichen Mädchens. Diese Gesellschaft nahm die Krone des Baumes ein. In dem mittleren Teile bemerkte man vornan einen feisten, wohlgenährten Mann, wahrscheinlich einen Bankier, umgeben von Geldsäcken und Schuldverschreibungen; neben und um ihn stattliche Handelsherren auf Ballen gelehnt, Seeleute auf das Anker gestützt und hin und wieder auch einen runden Pächter mit rosenroten Wangen. Doktoren, Advokaten und Pastoren, hübsch gekleidet, aber mit unzufriedenen Gesichtern, schwärmten in großer Menge um die in der Mitte Versammelten und schienen mit gierigen Blicken nach den Geldsäcken der Handelsleute hinüberzublicken. Dann folgten Ackerknechte hinter dem Pfluge, Weber hinter dem Webstuhl, Spinner an der Spinnmaschine und Männer in Bergmannstracht, die eben ihren Schachten entstiegen zu sein schienen. Dann Handwerker mit ihren Gerätschaften in der Hand, der fleißige Schneider, der geschickte Tischler; Holzhacker dann und Mistschieber und Nähterinnen und Lastträger, und je weiter man an den Ästen des Baumes hinuntersah, desto mehr beschäftigte, rastlos arbeitende Menschen fand man. Wo aber der Stamm anfing, da schlang sich ein solches Gewirr von sonderbaren Gestalten durcheinander, daß man nur mit einiger Aufmerksamkeit das eine von dem andern unterscheiden konnte. Hunderte von Menschen, Männer, Weiber und Kinder, die meisten in Lumpen und Fetzen gehüllt, schienen sich mit Fäusten und Bettelstöcken um die letzten Brocken des Verdienstes zu prügeln. Der eine überstürzte den andern, jeder wollte nach oben streben, und unerbittlich trat man die Schädel mit den forteilenden Füßen. Rechts und links sanken die Schwächsten und Unglücklichsten aus den Reihen ihrer Genossen, der eine die Hände faltend, der andere das Haar zerraufend, der dritte die Brust mit Fäusten schlagend, und wie Leichen nach dem Kugelregen einer Schlacht sammelten sich die Kadaver der Gefallenen zu grauenhaften, entsetzlichen Gruppen am Fuße des gewaltigen Baumes. Bleiche, fahle Gesichter, stiere Augen, krampfhaft geballte Fäuste und magere, entfleischte Beine lagen in vollem Gewirr durcheinander, und wie gierige Blutegel und Nattern schlangen sich die Wurzeln des Baumes um die halbverwesten Leiber, ja sie drangen hinab bis in die Herzen dieser Unglücklichen, als ob dort die rechte Nahrung zu saugen sei für den ganzen Baum und für alles, was in seinen Ästen und Zweigen lebe, von dem fleißigen Spinner und Weber an bis zu dem frohen Handelsherrn, bis zu dem faulenzenden Edelmann, ja hinauf bis zu den glückseligen Lords und bis zu der lächelnden Königin.

Das war der Baum der englischen Glückseligkeit; und wenn ein Arbeiter nach sechs Leidenstagen vielleicht am Samstagabend zu jenem Buchhändler in den Laden trat, um sich für seine letzten Pfennige eine Zeitung zu kaufen, damit er sehen könne, ob sich denn niemand in der ganzen Welt seiner Leiden annehme, ob niemand den Mut habe, für ihn und seine Kinder aufzutreten, ach, da mochte er auf dem kleinen Bilde, was man um seine Zeitung drehte, da mochte er in jenen zerschmetterten Kadavern nur gar zu bald die Gestalten seiner früheren Freunde wiederfinden, da mochte es ihm mit Schrecken einfallen, daß ihm wahrscheinlich nur eine ähnliche Zukunft bevorstehe, weil die lustigen Handelsherren und die seligen Lords noch so unbekümmert und so zufrieden lächelnd dort oben auf den Zweigen des schönen Baumes sitzen konnten, jenes schönen Baumes, dem das Herzblut, dem der Schweiß eines untergehenden Geschlechtes als Dünger diente.

Es ist ein leichtes Ding, sich des Großen und Schönen in der Welt zu erfreuen, aber man frage nicht nach den Seufzern und Tränen, mit denen es geschaffen wurde!

Bei meinem Aufenthalt in Bradford hatte ich die beste Gelegenheit, die Opfer aufzuzählen, mit denen der reiche Brite seine industrielle Größe erkauft. Manches hatte ich gelesen, was mir eine Idee hierüber geben konnte, aber ich wollte alles mit eigenen Augen sehen, ich wollte noch mehr sehen, als was man auf einem flüchtigen Gange durch die schlechtesten Gassen einer Fabrikstadt zu bemerken pflegt.

Ich schloß mich daher einem schottischen Doktor an, der vom Morgen bis zum Abend in allen Arbeiterhütten herumkriechen mußte. Das war das beste Mittel, um hinter die Kulissen jenes grandiosen Schauspieles zu kommen, dessen kolossale Fülle an Pracht und Reichtum uns nur gar zu oft vergessen läßt, welche Not und welche Verzweiflung den Hintergrund der Bühne ausfüllen.

Eines Abends hatten wir länger als gewöhnlich in einem Wirtshause des untern Stadtteils gesessen, da trat der Wirt zu uns herein und meldete dem Doktor, daß im »Weißen Hause« eine junge Frau eben im Begriff stehe, die Welt mit einem überflüssigen Menschen zu bereichern, der Herr Doktor also aufbrechen und helfen müsse.

Ich begleitete Mac. Die Straßen waren schon leer, nur die Nachtwächter irrten an den Häusern vorüber und untersuchten, ob Türen und Fensterläden auch verschlossen seien. »Allright!« riefen sie und eilten weiter. Am Ende der Gasse blieben sie aber aufmerksam stehen; wir ebenfalls, denn in einer Schnapskneipe schien heftiger Streit unter den Trinkern ausgebrochen zu sein. Flüche, Prügel und Gepolter folgten rasch nacheinander, und ehe wir uns versahen, stürzten ein halbes Dutzend Kerle aus der Haustür. Fünf Mann kehrten laut lachend zurück – der sechste lag vor uns auf dem Straßenpflaster und rührte kein Glied.

Mit Hilfe der Nachtwächter brachten wir den Unglücklichen in das Haus des Doktors, welches gegenüber lag. Der arme Zerschlagene kam bald wieder zur Besinnung und versicherte uns, daß er ganz verteufelte Hiebe davongetragen habe. Dies bezeugte auch eine große Quantität irländisches Blut – unser Patient war nämlich ein Irländer –, welches aus drei Löchern vom Kopf herunter auf die zerrissenen Kleider floß.

Während ihm der Doktor die Haare abschnitt, bemerkte Paddy mit wehmütiger Stimme, daß er eigentlich gar nicht wisse, weshalb er so rechtschaffen durchgeprügelt sei.

»Das hat seine guten Gründe, daß Ihr das nicht wißt!« erwiderte ihm Mac. »Ihr habt heute abend eine gute Portion Whisky aus der Welt geschafft.«

»Und das hat seine guten Gründe, daß ich dies tat!« antwortete der Irländer.

»Und welche?« fuhr der Doktor fort.

»Gar keine Gründe hat es«, seufzte Paddy, »und gar keine Gründe sind ebensogut wie die allerbesten! Aber Tom Holmes sagte, ich wäre ein liederlicher Strick; ich machte 20 Schillinge die Woche und hätte doch nie einen Penny; und meine Frau säße in Leeds, und ich kümmerte mich gar nicht um meine Frau; und das tue ich auch nicht; denn meine Frau verkauft alte Flaschen, und ich kämme Wolle; und wenn sie alte Flaschen verkaufen will, very well. Jeder hat seine Liebhaberei, jeder hat sein eignes Geschäft, jeder tue, was er will, ich kämme Wolle! Nun ist zwar die Frau der größte Komfort für den Mann, und der Mann ist der größte Komfort für die Frau; da es aber von hier bis nach Leeds sieben dicke Meilen sind, so wären sie, Frau, und ich, Mann, eigentlich nicht sehr komfortabel zusammen, wenigstens nur komfortabel in der Entfernung von sieben Meilen; aber wenn sich meine Frau komfortabel fühlt, indem sie alte Flaschen verkauft, und ich mich komfortabel im Wollkämmen fühle, sind wir dann nicht beide komfortabel? Very well, Doktor, das sagte ich auch zu Tom Holmes. ›Tom‹, sagte ich, ›laß meine Frau aus dem Spiele, und was noch viel schlimmer ist, laß das Geld beiseite. Geld sparen kann ich nicht, denn ich habe alle Taschen voll – nämlich voll Löcher; und wer wert ist, Geld zu verdienen, der ist auch wert, Geld auszugeben, und sieh, Tom, ich bin der Meinung, daß das Ausgeben viel erfreulicher ist als das Verdienen, und ich habe mich die ganze Woche mit dem Verdienen geplagt, da stärke ich mich eine Stunde lang mit dem Ausgeben.‹ – O dear me!« schrie der Irländer da plötzlich, denn eben legte ihm der Doktor einige Pflaster auf die Wunden, die dem redseligen Paddy, der mit der Zeit nüchtern wurde, plötzlich sehr weh zu tun schienen.

»Aber Tom«, fuhr er bald fort, »wollte mich gar nicht begreifen; er sagte, wir Irländer wären alle vom gemeinsten Gesindel, wir kämen nur nach England, um wie die Schurken zu leben. Why, Doktor, als wenn das anders möglich wäre. Da komme ich von Tipperary hierher nach England und habe unterwegs zehnmal das Betteln gelernt und finde, daß es mit dem Betteln gar nicht so übel ist; denn geben euch die Leute etwas, da ist es gut; geben sie euch nichts, da lacht ihr sie aus; Spaß auf beiden Seiten, Doktor! Aber ein Mensch kann auch stolz sein, und deshalb kämme ich Wolle. Entweder muß gebettelt werden oder Wolle gekämmt. Wenn ich aber wie ein Schurke lebte, als ich bettelte, lebe ich nicht ebensogut wie ein Schurke, seit ich arbeite? Gewiß! Es ist nur der Unterschied darin, daß ich als Bettler ein Schurke gegen andere bin und als Arbeiter ein Schurke gegen mich selbst. Wenn ich bettle, so ziehe ich durch Faulenzen den Leuten das Geld aus der Tasche, und das ist nicht recht; ich bleibe aber gesund und lustig dabei, und das ist recht. Wenn ich aber arbeite, da verdiene ich mein Brot durch Arbeit, und das ist recht – werde aber ein Krüppel dabei, und das ist nicht recht.

Denn sie lassen einen armen Teufel heutzutage arbeiten, daß ihm Hören und Sehen vergeht; und kommt der Samstag heran, da zahlen sie den Lohn; aber man wird nie glücklich davon, weiß nicht, wie es kommt, und ist man alt – aber man wird nicht mehr alt.«

Da schwieg der Irländer und sah uns mit seinen schwarzen Augen recht ernst und feierlich an.

»Aber halt!« rief er dann plötzlich, »Tom sagte, wir Irländer kämen nur nach England, um wie die Schurken zu leben. Never mind it, Tom! laß sehen.« Da griff Paddy in seine Tasche und dann auf den Kopf: »Löcher, nichts als Löcher!« – »Aber der Doktor braucht etwas für die Pflaster!« bemerkte einer der Nachtwächter.

»Doktor«, fuhr der Irländer fort, »Tom sagte, alle Irländer in England wären Schurken, und das konnte ich nicht vertragen; und da nahm ich alles Geld, was ich hatte; ›Tom‹, sagte ich, ›stolz bin ich, stolz bin ich dreimal auf Tipperary, und hier sind 4 Schillinge und 6 Pence, und das wollen wir vertrinken, Tom, und ich bin kein Schurke!‹ Seht, Doktor, und nun habe ich nichts für die Pflaster, ich wollte, ich hätte mehr!«

Da packten die beiden Nachtwächter den Verwundeten auf und brachten ihn in die Schenke zurück. –

Mac machte sich auf den Weg nach dem »Weißen Hause«.

Seit jenem Abend traf ich manchen Irländer, dem der Kopf entzweigeschlagen wurde, ohne daß er wußte weshalb. Paddy ist der sorgloseste Mann von der Welt. Mit Weib und Kind kommt er oft herüber nach England – in Bradford arbeiten z. B. in den Fabriken mehrere Tausend Irländer –, er denkt, in England Brot und Glück zu finden, und täuscht sich oft nur zu sehr. Ist er unverheiratet, da geht die Sache schon; hat er Familie, da gerät er fast immer, wenigstens im Anfang, in die größte Not. Denn leider weiß ein Irländer nie Haus zu halten, er lebt nur dem Augenblick, und ein folgender Tag ist ihm durchaus gleichgültig. Er tut, was das Herz ihm eingibt. In einer Zeit von zehn Minuten kann er rasen wie ein Löwe und fromm sein wie ein Lamm. Hat er kein Geld, da ist er der zufriedenste Mann bei Kartoffeln und Brot und tröstet sich über sein Schicksal mit den köstlichsten Witzen; ist sein Beutel voll, da wirft er fort, was er hat, und ist nicht lustiger und übermütiger als zur Zeit der schrecklichsten Not. Genial ist er unter allen Verhältnissen. Dunkel scheint ihm vorzuschweben, daß das Mißgeschick des Individuums in dem großen Elend seines Volkes aufgehen müsse. Deshalb keine Klage mehr! Der Humor reißt seine Seele hinweg, er lacht, er weint und weiß nicht weshalb, er stirbt und weiß nicht warum.

Die große Sorglosigkeit des Irländers in England macht ihn natürlich doppelt arm. Die englischen Arbeiter sorgen wenigstens insoweit für die Zukunft, als sie in guten Handelszeiten Kleider und Möbel anschaffen. Aber auch das ist dem Irländer einerlei; er ist damit zufrieden, daß er heute gelebt hat. In Lumpen geht er einher, schmutzig, unheimlich, nur seine Augen strahlen in ewiger Schönheit, und unwillkürlich schrickt man zusammen, wenn sie bald wehmütig-ernst, bald froh und verliebt in die Welt hinausschweifen.

Das »Weiße Haus«, welches ich mit dem Doktor besuchte, liegt in dem älteren Stadtteil, in der Nähe des Kanals, der das Land von Hull nach Liverpool durchschneidet. Es dient allen Unglücklichen als Zufluchtsort, da man für 2 Pence dort sechs Stunden schlafen kann. Es verhält sich damit so: Um 12 Uhr nachts werden aus der Bar, dem zum Rauchen und Trinken eingerichteten Zimmer, alle Stühle und Bänke entfernt. Im Kamine macht man ein tüchtiges Feuer an, fegt die steinerne Flur und legt rings an den Wänden herum Decken und Strohsäcke. Die Gäste, welche nur gekommen sind, um zu trinken und zu rauchen, müssen aufbrechen, und die sich nach Schlaf sehnen, haben für 2 Pence das Recht, sich niederzulegen. Das geschieht sans ceremonie. Männer, Weiber und Kinder ziehen ihre Kleider aus, hängen diese über die Bretterwand der Bar und geben sich gewöhnlich alle Mühe, um die verhängnisvollen sechs Stunden so gut wie möglich zu benutzen. Der Wirt ist nämlich sehr exakt in der Zeit und versäumt nicht, gegen Morgen ein allgemeines Poltern zu veranstalten. Jeder, der nicht gutwillig das Lager verläßt oder noch für weitere drei Stunden einen Penny mehr bezahlt, wird dann mit Gewalt beseitigt. Gewöhnlich stellen sich gegen Morgen neue Gäste, namentlich Betrunkene, die sonstwo übriggeblieben sind, zum Schlafen ein und nehmen das noch warme Lager der eben Erstandenen in Beschlag.

In jener Nacht war die Bar fast ganz besetzt. Bei dem Schein des hellen Feuers konnte ich achtzehn Personen zählen; auch mußten noch einige kleine Kinder unter den Decken verborgen sein, denn bisweilen hörte man ein leises Weinen und Wimmern von feinen, zarten Stimmen. Die meisten Gesichter konnte man deutlich unterscheiden; hin und wieder tauchte auch nur ein Kopf voller Haare aus den Decken. Viel Kummer und Not lag da begraben.

Gleich vornan bemerkte ich zwei Mulatten, mit denen ich schon am Tage vorher Bekanntschaft gemacht hatte. Kräftige Kerle. Sie verkauften Gebete und Bilder, wie viele Hunderte ihresgleichen, die jährlich als Matrosen oder Schiffsjungen nach England herübersegeln, einige Zeit bettelnd das Land durchirren und dann wieder verschwinden. Neben ihnen lag ein langes, hageres Gesicht, auf dem in tiefen Furchen eine lange Leidensgeschichte geschrieben stand. Es gehörte einem Manne, der ungefähr fünfzig Jahre alt war, vielleicht auch erst dreißig. Wer weiß es? Jedenfalls schien er ein Greis an Not und ein Kind an Glückseligkeit zu sein. Sein Arm lag unter dem Nacken eines Weibes, das mit weit offenen Augen unverwandt ins Feuer blickte. Ein kleines Mädchen kauerte zu den Füßen der Mutter in tiefem Schlafe.

Weiter dem Kamine zu hatte sich eine trotzige Gestalt gebettet. Der arme Teufel schien keine Lust zu haben, sich des einzigen, was ihm im Leben treu geblieben, zu entäußern. Im vollen Schmuck seiner Lumpen lag er nämlich auf dem Strohsack, die Hände über dem Kopf gefaltet, in den Mundwinkeln Spott und Hohn, an seiner Seite einen riesigen Stock. Einige gesunde Köpfe, in denen Gin und Ale fortglühten, lagen auf den Säcken der anderen Seite, auch eine kolossale Schönheit, schwarze Haare über einem roten Gesicht. Sie sang noch halb im Schlafe den Refrain eines Gassenhauers, der Bettler am Kamin lachte, der Wirt fluchte – alles war wieder still.

Während ich die Schlafenden besah, hatte sich der Doktor in ein Nebenzimmer verfügt, um einem armen Geschöpfe in der höchsten Not beizustehen. Der Wirt war untröstlich, daß die Geschichte in seinem Hause vorging. Die Frau hatte sich aber standhaft geweigert, das Zimmer zu verlassen, da sie die gräßlichste Angst vor dem Armen- oder Krankenhause hatte. Ich näherte mich der Tür, da kam mir Mac schon lachend entgegen und versicherte, es sei längst alles glücklich vorüber.

Die junge Frau war mit ihrem Manne, einem Fabrikarbeiter, sechs Wochen lang umhergewandert, ohne Arbeit finden zu können. Da kamen sie nach Yorkshire, um sich weiter nach Manchester durchzuschlagen. Das Geld war ihnen schon früh ausgegangen, und nachts suchten sie gewöhnlich in einer Scheuer oder, wenn sie etwas zusammengebettelt hatten, in einer Schenke letzten Ranges Schutz. Eine Nacht, wie mir der Mann versicherte, brachten sie sogar unter der Brücke einer Eisenbahn zu. Beide hatten diese Lebensweise aber dem Aufenthalt im Arbeitshause vorgezogen, vor dem sie sich so sehr fürchteten, daß sie schon der Gedanke daran mit Abscheu erfüllte. Wir werden später sehen weshalb.

Die Leute, welche in Schenken wie in der »Zum Weißen Hause« vegetieren, betteln entweder oder beschäftigen sich mit dem Verkauf kleiner Artikel, die sie von Haus zu Haus tragen. Sie waren genötigt, ihre Wohnungen aufzugeben; bei Tage stehen sie in den Straßen und lauern auf einen Pfennigverdienst. Frau und Kinder suchen sich selbst etwas, und abends sammelt sich die Familie an einem Orte, der zur Schlafstelle vorher auserkoren ist. Die Bettler sind am besten dran. Die Bettelei wird bald ihr Geschäft, sie kennen dann ihre Häuser, ihre Menschen. Die Schotten verstehen sich am besten auf Bettelei, da sie verschlagen und ökonomisch sind; sehr viele von ihnen sollen nach einem mehrjährigen Aufenthalt in England mit einem kleinen Vermögen ins Vaterland zurückkehren und es dort gewöhnlich sehr gut anwenden.

Die Irländer vertrinken, was sie in die Hände bekommen; arm, wie sie kamen, gehen sie zurück. Man hat daher auch in Liverpool die Einrichtung getroffen, daß jeder Sohn der Emerald Isle frei zurück in seine Heimat spediert wird. Die Schotten betteln mit untertäniger Miene, die Irländer mit lachendem Gesicht, die Engländer mit einem Ernst, der durch Mark und Bein geht. Die Hausierer sind größtenteils Schotten; mit einem Sack auf dem Rücken ziehen sie von Ort zu Ort. Engländer tun dies selten. Irländer fast gar nicht. Paddy ist ein schlechter Krämer; höchstens läßt er seine schwarzäugigen Töchter mit Orangen handeln, und die Augen sind meistens schöner als die Orangen. Einmal kam mir auch der Fall vor, daß ein irländischer Junge, etwa acht Jahre alt, zu mir hereintrat und den Vorschlag machte, ich sollte ihm 6 Pence geben, sein Vater sei sehr krank, er wolle mir auch drei schöne Geschichten erzählen. Die Geschichtenerzähler scheinen sich also nicht allein im Orient aufzuhalten. Der Irländer verstand sich prächtig darauf.

Der zurückgekommene Arbeiter befindet sich stets in der allerschlimmsten Lage. Er ist zu stolz, um zu betteln, zu rechtschaffen, um zu stehlen. In vielen Fällen erlaubt es seine Ehre nicht, sich in ein Arbeitshaus einschließen zu lassen; er verkauft, was er hat; hier und da leiht ihm ein Freund eine Kleinigkeit – das hilft nicht mehr; da verläßt er seine Hütte; Frau und Kinder suchen so gut zu leben, wie sie können; er selbst wandert durch die Gassen und wartet, ob ihm der Zufall nicht etwas in die Hände spielt, und am Abend finden wir ihn auf dem Strohsack einer Schenke zwischen Kranken und Trunkenen, zwischen Dieben und Dirnen schlafend sechs Stunden lang für 2 Pence, bis ihn der Wirt aus dem Hause jagt. Und alles das, weil etwa der Handel schlecht geht.

Ich hatte immer gewünscht, die Arbeiter einmal in ihren Wohnungen beobachten zu können. Das wollte aber lange Zeit nicht gelingen. Die Leute sind zu argwöhnisch, namentlich gegen Fremde, und nichts scheuen sie mehr, als wenn man sich um ihre häuslichen Angelegenheiten kümmert. Ein Glas Ale und eine Pfeife tuen indes Wunderdinge, und wenn man beides mit ihnen genossen hat, so werden sie sehr zutraulich. – Der Doktor Mac mußte damals wieder behilflich sein; er brachte mir eine sehr feierliche Miene bei und brauchte mich bei einer Runde durch wenigstens dreißig Arbeiterwohnungen als Gehilfen. Ich muß indes bemerken, daß die Zeit, in der wir diese Besuche machten, eine sehr günstige war. Die Arbeiter der Worsted-Manufakturen waren zwei Jahre lang vollauf beschäftigt gewesen und erfreuten sich eines hohen Lohnes.

Da wir an einem Sonntagmorgen ausgingen, so fanden wir fast alle Familien zu Hause; Männer, Weiber und Kinder; einige noch in den Betten, andere beim Frühstück, viele mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt und die letzten endlich am Schmause. Die meisten Familien haben eine besondere Wohnung, ein Hausvater, der 18 Schilling die Woche verdient, wohnt nicht leicht mit anderen Familien zusammen. An der Einrichtung der Wohnung kann man fast immer sehen, wieviel Lohn der Arbeiter wöchentlich erhält. Bei 15 Schillingen, was ein sehr mäßiger Lohn ist, bedeckt selten ein Teppich den steinernen Fußboden – nur vor dem Kamine liegt gewöhnlich ein schmaler Lappen –, die Wände sind schmucklos, das ganze Möblement besteht nur aus Tisch, Stuhl und Bett. Bei 20 Schillingen sieht es schon besser aus; auf den Stühlen liegen Kissen, der Teppich, eine in England des Klimas wegen durchaus nötige Sache, ist größer, auf dem Schrank stehen Gläser und Tassen, und an der Stubendecke hängt vielleicht ein Schinken oder eine Speckseite. Bei Leuten, die 30 Schillinge einnehmen, gewahrt man schon einen geregelten Komfort, der sich bis auf kleine Figuren, Tassen und Gläser erstreckt, die das Gesims des Kamines zieren.

Hat ein Vater bereits Kinder, die ebenfalls in Fabriken arbeiten und noch bei ihm wohnen, so ist die Summe des wöchentlichen Lohnes natürlich größer; für Essen und Trinken wird dann besser gesorgt und namentlich am Sonntagmittag etwas Besonderes auf den Tisch gebracht. Bei meinem Besuche fand ich fast überall schönes Weizenbrot zum Frühstück aufgetragen; für den Mittag Beef, Mutton oder Kalbfleisch und einen Krug Ale. Die Kleider der in den Worsted Mills beschäftigten Mädchen waren damals bei weitem besser als die der deutschen Fabrikarbeiterinnen.

Aber ach, all diese kleine Herrlichkeit dauert ja nur, solange der Handel gut geht. Ist es damit zu Ende oder brechen gar Krankheiten oder sonst Unglücksfälle über den Arbeiter herein, da verschwindet bald der Teppich von dem Boden, das Kissen vom Stuhl, der Stuhl selbst und das Bett, und auf dem Tische sucht man vergebens nach Fleisch und Ale. Tausende wandern ins Armenhaus, und die, welche zu stolz sind, sich einschließen zu lassen, und Weib und Kinder nicht aufgeben wollen, stehen in Lumpen an den Straßenecken, damit – der Reiche über sie spotte.

Jawohl, über sie spotte! Denn mehr wie hundertmal hörte ich die sogenannten »respektablen Herren« erklären, die Arbeiter verdienten, geprügelt zu werden, daß es ihnen während einer Handelskrise nicht besser ginge. Die meisten englischen Fabrikanten, welche nach derbem Profit alle schlechten Zeiten glücklich überstehen, verlangen nämlich auch von ihren Arbeitern, daß sie von 20 oder 30 Schillingen ein Erkleckliches zurücklegen, um damit den geringen Lohn einer bösen Handelskonjunktur weniger fühlbar zu machen. Der Arbeiter soll nie Fleisch, Brot oder Ale genießen – er soll wie ein Hund leben, um Handelskonjunkturen zu bestehen!

Aber so sind die meisten englischen Handelsaristokraten. Von offenbarer Schinderei kann natürlich nicht die Rede sein; aber die gesetzlich sanktionierte Scheußlichkeit, jeden Arbeiter als Maschine gebrauchen zu dürfen, ist an der Tagesordnung. Der Durst nach Geld läßt keine menschliche Regung mehr aufkommen; man sucht, die Fäuste des Arbeiters so billig als möglich zu kaufen, und jagt den Kerl zum Tempel hinaus, wenn er nicht länger konveniert. »Wir haben ja keine Verpflichtungen gegen ihn!« – so lautet die ewige Entschuldigung.

Übrigens sind es nicht allein die schlechten Geschäftszeiten, welche den Arbeiter ruinieren, nein, er leidet ebensosehr durch die Willkür seiner Herren und durch die Konkurrenz innerhalb seiner eigenen Klasse sowie namentlich durch jede neue Erfindung, die man macht, um die Hände des Arbeiters durch Maschinen zu ersetzen. Schlechte Geschäftszeiten bleiben natürlich stets die Hauptursache seines Elends, denn sobald der Warenabsatz stockt und es üble Aussichten für die Zukunft unmöglich machen, eine vielleicht schon zu große Produktion noch weiter auszudehnen, fängt man an, täglich einige Stunden weniger zu arbeiten, was eine Verringerung des Lohnes mit sich bringt, und hört endlich ganz zu arbeiten auf, was dann eben keine andere Folge hat, als daß aller und jeder Lohn aufhört und der Arbeiter geradezu auf die Straße geworfen wird, wo man es seinem Scharfsinn überläßt, sich bis zu Beginn einer günstigern Zeit durchzuschlagen.

Durch reine Willkür leidet der Arbeiter insofern, als es dem Fabrikherrn ja ganz freisteht, in seinem Etablissement die lästigsten und infamsten Reglements zu erlassen oder die Löhne selbst in den flottsten Handelszeiten herabzudrücken, sobald er weiß, daß seine Leute aus Mangel an anderweitiger Beschäftigung sich auch unter den billigsten Bedingungen verdingen müssen.

Die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst ist der dritte Grund ihres ewigen Unglücks. Es ist schrecklich, wenn man bedenkt, daß Menschen, welche schon von allen Seiten her gedrückt werden, endlich durch die Not gezwungen auch noch übereinander herfallen müssen, um sich die letzten Brocken aus den Fäusten zu winden. Man hat von dieser Konkurrenz unter den Arbeitern selbst keinen Begriff, wenn man sie nicht mit eigenen Augen sah. Ich erinnere mich noch sehr wohl, daß einst ein Leinengarnspinner seine Preise plötzlich heruntersetzte und dadurch größere Geschäfte zuwege brachte als alle seine Kollegen. Ich konnte nicht begreifen, wie es diesem Menschen möglich war, sein Garn billiger zu verkaufen als jeder andere. Aus Geldnot tat er es nicht, da er ein sehr reicher Mann war. Da ging ich gegen Abend hinaus in die Felder, und siehe da, es begegneten mir mehrere Hundert Irländer mit Sensen und Hacken auf den Schultern, um nach beendigter Ernte in den Agrikulturdistrikten jetzt in die Fabrikgegenden zu laufen, wo sie sich zu billigeren Löhnen als die bisherigen Arbeiter anboten und natürlich akzeptiert wurden, wenn die alten Arbeiter nicht zu demselben Preise tätig sein wollten.

Es war nur zu deutlich, daß jener Leinengarnspinner den ersten Strom dieser unbeschäftigten Leute erhalten hatte, die Löhne verringern, dadurch billiger fabrizieren und mehr verkaufen konnte als jeder andere.

Welchen Einfluß die Erfindung einer neuen Maschine auf die Arbeiterwelt hat, kann man sich daraus begreiflich machen, daß z. B. in der West Riding von Yorkshire 30 000 Menschen allein damit beschäftigt sind, mit der Hand Wolle zu kämmen, die also durch Erfindung einer Maschine, welche diesen Dienst versehen könnte, auf der Stelle außer Brot kommen müssen. Ich führe gerade dies Beispiel an, weil man eben damit umgeht, ein in Sachsen erfundenes System, Wolle durch Maschinen zu kämmen, durch Engländer vervollkommnen zu lassen, so daß fast kein Zweifel mehr ist, daß jene 30 000 Menschen schon in kurzem dasselbe Schicksal haben werden, was seinerzeit den Arbeitern in Manchester durch die Erfindung der Selfactors über den Hals kam.

Die Arbeiter mögen sich daher drehen und wenden, wie sie wollen – nach einer kurzen Zeit der Prosperität geraten sie stets wieder in ihr Elend hinein, in ein Elend, welches, wie es nach jeder Handelskrise z. B. der Fall ist, durch häufigere und gefährlichere Krankheiten Tausende in der Blüte des Lebens hinwegrafft.

Dieses Leiden der englischen Arbeiter ist so fortdauernd, daß man in jeder Zeitung, die sich überhaupt um solche Sachen kümmert, fast jeden Tag auf ein Drama stößt, was sich in dieser oder jener Grafschaft zugetragen hat. Wenn man nämlich eben glaubt, alles Elend müsse sich durch eine allgemeine Besserung des Wollengeschäftes z. B. verlieren, da geht plötzlich in den Baumwolldistrikten, die vielleicht bisher florierten, derselbe Tanz wieder los, der eben in den Wollbezirken endete, und so umgekehrt; und so geht es in allen Branchen, und so geht es von Jahr zu Jahr, und Geschlechter auf Geschlechter gehen zugrunde, um die Wurzeln jenes gewaltigen Baumes zu nähren, auf denen jetzt die Glückseligkeit, vielleicht aber einst auch das Verderben der Reichen wächst. Es ist rührend, wenn man sieht, wie jene den Arbeiterinteressen gewidmeten Zeitungen nie müde werden, die Leiden jeder Stadt, jedes Dorfes ans Licht zu bringen, wie sie nicht verschmähen, die kleinsten Details jener Ereignisse aufzunehmen, welche doch endlich den Arbeiter zum Bewußtsein und den Besitzenden zur Verzweiflung bringen müssen.


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