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Es war im Herbst, und die Abende wurden länger und länger. Ich hatte an Jackson geschrieben und ihm meinen Besuch angekündigt.
»Kommen Sie ja!« erwiderte er. »Meine Frau soll Ihnen einen guten Tee machen.« Gegen 5 Uhr nachmittags machte ich mich auf den Weg. Ich führte eine Flasche Portwein mit mir, ein Dutzend Zigarren und ein Paket chinesischen Tabak. So ausgerüstet, mußte ich willkommen sein. Der englische Arbeiter liebt nichts mehr als eine starke Zigarre. Das ist ihm eine Seltenheit. Er zündet sie mit einer gewissen Ehrfurcht an und gewöhnlich – an dem unrechten Ende.
Als ich einst nach einem längeren Ritt tief in das Innere des Landes geriet und in einem abgelegenen Wirtshause einige Kohlenarbeiter am Feuer antraf, da passierte es mir, daß mich diese treuherzigen Leute zu einem Glase Ale einluden. Ich nahm den Vorschlag natürlich an und setzte mich zu ihnen. Man mußte mich für einen Engländer halten, denn man erzählte mir von diesen und jenen Sachen und setzte dabei voraus, daß ich die ganze Umgegend aus dem Grunde kenne. Da hatte ich mein Glas Ale ausgetrunken und stand vom Stuhle auf. Ich wollte mich bei den freundlichen Kohlenmännern revanchieren und zog meine Zigarrenbüchse aus der Tasche, indem ich den drei Zunächstsitzenden ein Exemplar meines Vorrats überreichte.
Mit erstaunten Augen sah mich die Versammlung an. Das war noch nicht vorgekommen, daß jemand drei Zigarren auf einmal verschenkt hatte. Es wurde den ehrlichen Kerls plötzlich ganz unheimlich in meiner Gesellschaft – die Konversation stockte.
Entweder mußte ich ein sehr reicher Brite sein – und dann war es ein Wunder, daß ich mich sofort mit den ersten besten Arbeitern abgegeben und ihre Einladung so artig erwidert hatte; oder ich mußte ein Ausländer sein, und dann war es ein noch größeres Wunder, daß ich so unbefangen auf ihre Unterredung eingegangen war. Man schien noch zu überlegen, welcher Fall der richtigste sein könne, da hatte ich zum Gruß an den Hut gefaßt und wandte mich der Tür zu.
Ich weiß nicht, was die Leute über mich gesagt haben mögen; ich hörte nur noch im Davongehen, wie der Älteste der Gesellschaft einem jüngeren Kameraden ins Ohr flüsterte: »That must be a very good man!« (Das muß ein sehr guter Mann sein!)
Der treuherzig feierliche Ton, mit dem der Alte dies sprach, zeigte mir nur zu deutlich, wie aufrichtig er von meiner Liebenswürdigkeit überzeugt war. Ich glaube, er hätte sich gern für mich geboxt und meinen Feinden einige Reihen Zähne eingeschlagen – that must be a very good man.
Doch um von dem Zigarrenabenteuer auf unsern Jackson zurückzukommen – Jackson empfing mich mit offenen Armen. Er wohnte in einem Cottage, etwa zwei Meilen vor der Stadt. »Ich möchte nirgends lieber wohnen«, sagte er mir. »Sehen Sie, unter dem Fenster blühen im Sommer meine Blumen; weiter hinaus ruht das Auge auf dem Grün der Wiesen, und seitwärts an dem Abhang des Hügels stehen die großen Bäume, die gewaltigen Erlen, welche ich am meisten verehre von allem, was meine Wohnung umgibt. Denn wenn ich um Mitternacht zu Bette gehe und draußen der Wind durch die Zweige fährt, daß die riesigen Wipfel zu schauern beginnen und ein düsteres Murmeln und Rauschen vernehmlich zu mir hinübertönt, da denke ich immer an die nordamerikanischen Wälder und horche und lausche, bis ich einschlafe und träume von dem Lande der Freiheit, jenseit der unendlichen See.«
Die Wohnung Jacksons bestand aus drei Räumen. Der untere, steingepflasterte, diente zur Küche, zum Speisesaal und zum Wohnzimmer; der zweite, zu dem man auf einer schmalen Treppe emporstieg, war als Schlafzimmer eingerichtet; ein dritter, hart unter dem Dache, enthielt die Werkzeuge Jacksons, seine Bibliothek und eine Sammlung Zeitungen.
Unter seiner Bibliothek verstand Jackson eine Kollektion von etwa zwanzig sehr zerlumpten und zerlesenen Bänden, unter denen man Cobbett, Paine und Robert Burns natürlich nicht vermißte. Die Sammlung Zeitungen hatte jedenfalls größern Wert, da sie die verschiedensten englischen und amerikanischen Blätter, vom Anfang dieses Jahrhunderts bis auf die jetzige Zeit, enthielt.
Ich bin später durch einen Zufall in den Besitz eines Teiles dieser Sammlung gekommen und bilde mir nicht wenig darauf ein, daß ich ein vollständiges Exemplar des »Northern Star« in Händen habe. Für die Geschichte der englischen Arbeiterbewegungen ist dies die einzige Quelle, und außer meiner Sammlung wird es wohl nur noch eine in London geben.
Jacksons Frau, ein gutes, ehrliches Weib, das wenig sprach und viel arbeitete, hatte zwei alte Sessel an den Kamin geschoben. Dreimal füllte sie uns die Tassen mit duftendem Tee, und dreimal warf sie frische Kohlen auf das knisternde Feuer. Da winkte der ernste Gemahl bedeutungsvoll mit der großen Rechten, und still setzte sich die geschäftige Hausfrau ebenfalls an die Feuerseite, die Hände in den Schoß legend und aufmerksam nach dem Ehemann hinüberschauend, der jetzt folgendermaßen zu reden begann:
»Sie haben mich ersucht, Ihnen die Geschichte der englischen Volkspartei zu erzählen – wohlan! Ich will Ihnen mitteilen, was ich davon weiß. Ich tue es um so lieber, da dieser Gegenstand leider nur zu wenig und meistens nur zu einseitig geschildert wurde.
Die Leiden der englischen Arbeiter hatten Sie schon zu beobachten genug Gelegenheit, ihre Freuden teilten Sie an jenem Abend, als wir miteinander das Blumenfest feierten, ihre industriellen Erfolge haben Sie in jenen unzähligen Fabriken, Schmieden, Bergwerken usw. vor sich – hören Sie nun, wie wir englischen Arbeiter uns bei allen Leiden und Freuden unseres tätigen industriellen Lebens auch noch zu einer politischen Partei formierten, deren unaufhaltsam fortschreitende Entwicklung nicht allein jetzt schon unser Haupttrost in allen schlechten Zeiten ist, sondern uns auch hoffen läßt, daß wir durch zukünftige Siege einst zu dem Momente gelangen werden, wo wir den richtigen Lohn unseres Fleißes entgegennehmen.
Ich muß etwas weit ausholen, um Ihnen den Zusammenhang der ganzen Bewegung klarzumachen. Werden Sie nicht ungeduldig.
Sie wissen, es gab in England seit sehr langer Zeit zwei politische Parteien. Die Partei der Torys und die Partei der Whigs. Erst in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstand noch eine dritte, und diese nannte man die Partei der Radikalen oder der Demokraten. Die große Masse des Volkes hatte es früher einzig und allein den aristokratischen Whigs und Torys überlassen, die Geschäfte des Staates zu besorgen, und erlaubte sich nur hin und wieder ein leises Murren und Brummen, wenn die vornehmen Lenker der allgemeinen Glückseligkeit sich oft mehr mit ihren Privatstreitigkeiten als mit den Interessen der ganzen Nation beschäftigten.
Um das Jahr 1770 verwandelten sich diese unverständlichen Murr- und Brummlaute zuerst in sehr verständliche Oppositionsworte; man kam an öffentlichen Orten, auf öffentlichen Plätzen zusammen, man teilte sich seine Meinungen und Gesinnungen öffentlich mit, man hielt, was früher nie geschehen war, zahlreiche Versammlungen oder Meetings, und wie die Reden herüber- und hinüberschallten, da fand man endlich, that there was something rotten in the State of England, und die Partei der Unzufriedenen, die Partei der Demokraten war fertig.
Glauben Sie indes nicht, daß diese neue Partei so in einem Jahr plötzlich unvorhergesehen aus dem Boden gewachsen sei: – nein, die politischen Ereignisse in der Entwicklung eines Volkes stehen in genauem Zusammenhang mit der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse eines Landes; das erstere wird nur zu oft durch das zweite bedingt, und was uns als unerwartet und urplötzlich erscheint, ist meistens nur eine langsam herbeigeführte Notwendigkeit, die eine lange Reihe ereignisvoller Jahre zu ihrer Basis hat.
Die Gestaltung des modernen Städtewesens hat z. B. nicht wenig zum Entstehen der demokratischen Partei beigetragen. Zusammengedrängt in engen, schmutzigen Stadtvierteln, nebeneinanderwohnend in kleinen, niedrigen Häusern, hatten die gedrückteren Klassen des Volkes die beste Gelegenheit, ihre Ideen auszutauschen. Sie würden sich wahrscheinlich nie gegenseitig Hilfe geleistet und die Hände zu gemeinschaftlichem Kampfe gereicht haben, wenn ihre Wohnungen in weiten Zwischenräumen über einer größern Landstrecke zerstreut gewesen wären. Der Verfall der alten Gilden war ein weiterer Grund, daß namentlich die arbeitende Klasse der Bevölkerung aus ihrem Schlaf aufgerüttelt wurde. Wie Sie aus der Geschichte Ihres eigenen Landes wissen, bezweckten die Gilden durch eine Vereinigung der Meister und Gesellen ein und derselben Gewerbsbranche außer manchen andern Dingen vorzugsweise das Aufrechterhalten eines Monopols zu ihrem eignen Nutzen und zum Schaden der ganzen übrigen Gesellschaft. In England war dies ebenso, und wie überall stürzten auch bei uns diese Vereinigungen durch das die ganze übrige Gesellschaft beeinträchtigende Prinzip ihrer Assoziation. Die Gilden lösten sich. Meister und Gesellen, bisher gemeinschaftlich der Kommune gegenübertretend, bildeten jetzt zwei strenger geschiedene Klassen, und wie die erstern fortfahren mußten, sich wegen ihres Wohlergehens an die ganze Gesellschaft zu halten, so hielten sich jetzt die letztern allein an die Meister. Daher denn das Entstehen der sogenannten Trade Unions, jener Handwerkervereine, die durch ihr Bestreben, die Löhne aufrechtzuerhalten und gelegentlich zu erhöhen, nun fortwährend mit ihren bisherigen Alliierten in Konflikt kommen und durch den Einzelkampf gegen ihre Meister nach und nach zu einer allgemeinen Opposition geführt werden.
Mehr als alles andere wurde indes die plötzlich sich entfaltende industrielle Tätigkeit Großbritanniens eine Haupttriebfeder der beginnenden Volksbewegung.
Die Erfindung neuer Maschinen, die Benutzung des Dampfes und die Konzentration der Industrie auf einzelnen, von der Natur gewissermaßen dazu bestimmten Orten hatten tausend Verhältnisse über den Haufen geworfen. Der Arbeiter, der bisher in ziemlicher Entfernung von größern Städten Ackerbau und Handindustrie nebeneinander getrieben hatte, sah sich plötzlich in der letztern Beschäftigung aufs empfindlichste durch die Entwicklung der Maschinenindustrie gestört.
Täglich wurde es ihm schwerer, mit der neuen Art des Fabrizierens gleichen Schritt zu halten. Bald sah er sich total überflügelt, er verarmte, und wie der Kriegsgefangene des Altertums der Sklave des Eroberers wurde, damit er außer der Schmach des Überwundenseins auch noch die Pein einer ewigen Knechtschaft, einer erniedrigenden Arbeit fühle, so wurde auch jetzt der besiegte Handarbeiter der Leibeigene des modernen Industriellen. Die Not jagte ihn auf aus seinem ländlichen Wohnsitz; mit Weib und Kind stürzte er in die dampfumhüllten Städte der neuentstandenen Industrien, um ein Knecht der Maschine zu werden, die ihn im Kampf der Konkurrenz vernichtet hatte.
Gram und Haß führte er in seiner Brust mit sich; erstaunt blickte er umher in dem Kreis seiner neuen Umgebung. In den Augen seiner Mitarbeiter meinte er deutlich zu lesen, daß in ihren Herzen dasselbe vorgehe, was das seinige durchwühlte. Ein Seufzer, ein Schrei des Entsetzens entfuhr seiner Brust; grell tönte er in den Seelen seiner Kameraden wider – und sie reichten sich die Hände, sie schwuren sich Treue, sie schlossen Partei.
Die demokratischen Ideen, so zu gleicher Zeit ins Leben gerufen und gefördert durch eine lang vorbereitete und endlich unaufhaltsam sich vollendende Umwälzung vieler sozialer Zustände, fanden indes nicht nur in den zu Fabrikproletariern geborenen oder durch die Not dazu hinabgedrückten Individuen die aufrichtigsten Anhänger und die eifrigsten Propagandisten, nein, auch die Herren der neuentstandenen Industrien, die industriellen Parvenüs, die durch das Knorrig-Ungeschliffene und durch das Naiv-Rohe ihres ganzen Auftretens nur zu sehr an ihre plebejische Herkunft erinnerten, ließen sich fast durchgängig davon hinreißen, denn mit der Ahnung ihrer zukünftigen Größe durchzuckte sie zu gleicher Zeit schon der Haß gegen die noch allmächtige Aristokratie, und gegen diese schien man fürs erste nur mit Hilfe der ganzen Volkspartei wirksam kämpfen zu können.
Die Torys schauten von vornherein voll Verachtung auf die neue Partei nieder. Die Whigs näherten sich ihr anfangs, da sie in dem aufstrebenden Volke ein Mittel sahen, was man prächtig gegen die Torys benutzen könne. Als es sich aber nur zu bald herausstellte, daß die Whigs bloße Reformers en detail, die Demokraten aber Reformers en gros waren, daß erstere nur dann Mißbräuche anzugreifen wagten, wenn sie unerträglich wurden und ohne große Störungen abgeschafft werden konnten, daß die letztern aber allen veralteten Zuständen miteinander den Krieg erklärten und nicht davor zurückschraken, durch eine Umgestaltung alles Bestehenden ihre Prinzipien durchzusetzen, da zogen sich die Whigs immer mehr zurück; viele Begüterte der Mittelklasse, die bei einer Änderung der Dinge etwas verlieren konnten, folgten ihnen, und zurück blieb als Hauptmasse der Partei nur das Volk, welches nichts zu verlieren hatte und welches nichts besaß als ein Herz auf dem rechten Fleck.
Außer den öffentlichen Meetings, in denen sich die demokratische Partei über ihre Angelegenheiten besprach, entstanden in dieser Zeit auch jene einflußreichen, weitverzweigten Gesellschaften, welche das Gouvernement mehr als alles andere in Schrecken setzten.
Eine der bedeutendsten dieser Assoziationen wurde im Jahre 1780 durch den Major Cartwright gegründet. Sie hieß die ›Society for Constitutional Information‹. Eine andere nicht weniger bemerkenswerte war die ›London Corresponding Society‹. Die Mitglieder dieser Gesellschaften versammelten sich in mehreren Abteilungen an verschiedenen Orten der Metropole und schickten jedesmal eine Person aus ihrer Mitte zu einem General Committee, das sich mit den Zweiggesellschaften im Innern des Landes unterhielt und so einen ununterbrochenen Verkehr unter den sämtlichen Mitgliedern der Gesellschaft herstellte.
Der Wunsch einer bessern Volksrepräsentation, welche man durch jährliche Parlamente und durch freie Wahl der Parlamentsmitglieder herbeizuführen dachte, war schon stark genug, als im Jahre 1789 jene große Umwälzung in Frankreich ihren Anfang nahm und die Gemüter vollends in Feuer und Flammen setzte, so daß man bald nur geradezu von dem Umsturz der ganzen Konstitution sprach.
Das Buch Burkes: ›Reflections on the Revolution in France‹, welches seine Wirkung auf die Torys nicht verfehlt hatte und sie schließlich zu einem Kriege mit der jungen französischen Republik entflammte, hatte schon früh eine Antwort in Paines ›Rights of Man‹ gefunden. Zu Hunderttausenden ließ die ›Society for Constitutional Information‹ die Exemplare dieses Werkes unter das Volk verteilen, indem sie ihm begreiflich machte, daß man alle Ursachen habe, das kühne Auftreten der französischen Nation gegen seine Despoten zu bewundern, und daß man alle Mittel anwenden müsse, um das Gouvernement an einem Kriege mit Frankreich zu verhindern. Im Mai 1792 beschloß die Gesellschaft eine Adresse an die Jakobiner und an den Nationalkonvent von Frankreich, in der sie ihre herzlichen Wünsche für den guten Fortgang der Revolution aussprach und zwei Deputierte des Konvents, Barère und Roland, zu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft ernannte.
Nicht weniger tätig war die ›London Corresponding Society‹, welche in jener Zeit eine Adresse an das englische Volk erließ, in der sie entschieden gegen einen Krieg mit Frankreich auftrat und ferner erklärte, daß von den Freiheiten, welche die Magna Charta und die Bill of Rights in der Revolution von 1688 dem Volke gegeben hätten, keine Spur zurückgeblieben sei, daß es die schlechte Ausübung eines verwickelten Gesetzes und die ungeheuern Gerichtskosten den meisten Menschen unmöglich machten, zu ihrem Recht zu gelangen, und daß man Abgeordnete zu einem allgemeinen großen Nationalkonvent nach London schicken möge, damit man überlege, was im Interesse des Volkes zu tun sei, und als neues Volksparlament dem alten aristokratischen Parlament gegenübertrete.
Diese Aufforderungen fanden überall Anklang unter dem Volke. Viele Klubs im Innern des Landes beschäftigten sich schon seit einiger Zeit mit dem Ankauf von Gewehren und mit der Anfertigung von Piken, die namentlich von Sheffield aus zu 1 Schilling p. Stück versandt wurden. – Andere Gesellschaften übten ihre Mitglieder wöchentlich mehrere Male im Schießen, und wohin man blickte, sah man nur Leute, die ihre Pläne mit den Waffen in der Hand durchzusetzen entschlossen waren.
Während dies unter dem Volke vorging, saß der junge William Pitt, der Sohn des Earl of Chatham, am Ruder des Staates. Anfangs selbst ein eifriger Demokrat, dem sogar die entschiedensten Führer der neuen Partei trauen zu können glaubten, später ein solcher Stock-Tory, daß sogar Georg III. keinen Fehler an ihm zu finden wußte.
Im Parlamente sah man ihm gegenüber das Triumvirat der Whigs, den ehrlichen Fox, Sheridan und Burke; lange Zeit untereinander verbunden, aber plötzlich für immer getrennt, als Burke, vor der furchtbaren Entwicklung der Französischen Revolution erschreckend, seine schon erwähnten ›Reflections‹ publizierte und sich von seiner bisherigen Partei entschieden lossagte.
Der Mann, der das göttliche Recht der Könige verteidigte, führte das Wort in so fanatischer Weise, daß viele Whigs, welche noch bis vor einem Augenblick mit der neuen demokratischen Partei darin übereingestimmt hatten, daß ein Kampf mit Frankreich in jeder Weise zu verwerfen sei, plötzlich ihre Sinnesart änderten und zu den Torys übergingen.
Die Nachricht von der Hinrichtung des französischen Königs, welche die Whigs ganz daniederschlug und sogar Spaltungen unter den Demokraten verursachte, spornte die Torys noch mehr an. Viele der Besitzenden unter dem Volke begannen außerdem für ihr Eigentum zu zittern, wenn sie daran dachten, daß die Greuelszenen, welche eben jenseit des Kanals vorfielen, sich auch in England wiederholen könnten. Die Stimmung gegen Frankreich wurde immer feindlicher, und es bedurfte schließlich nur einer fulminanten Rede Burkes, um das Parlament mit 270 gegen 44 Stimmen den Krieg gegen Frankreich beschließen zu lassen.
Pitt stand in jenem Augenblick auf dem Gipfel seiner Macht. Der König, das Parlament und das erschreckte Volk waren für ihn. Die Whigs waren vernichtet. Nur eines mußte ihn noch beunruhigen, und dies war die Tätigkeit der demokratischen Partei, welche in demselben Grade ihre revolutionäre Bewegung steigerte, in dem die Furcht und der Abscheu der Torys vor einem Erheben der Massen im Wachsen war.
Umsturz des Bestehenden auf friedlichem Wege oder mit den Waffen in der Hand war der Plan aller Demokraten, und freie Wahl der Parlamentsmitglieder und jährliche Parlamente waren die Mittel, welche man vorschlug, um die Interessen des Volkes in Zukunft zu wahren. – Solange ein Teil des Volkes mit solchen Dingen umging und die Meetings auf Straßen und Plätzen oder innerhalb der Räume verschiedener Klubs den Demokraten Gelegenheit gaben, immer neue Anhänger zu sammeln und ihre Partei zu verstärken, konnte Pitt bei seinen Unternehmungen natürlich nie sicher zu Werke gehen. Ehe er daher den Krieg mit dem Auslande in größerem Stile begann, mußte zu Hause mit den Demokraten tabula rasa gemacht werden, und zu seinem Glück gab ihm das Jahr 1794 auch endlich alles, was er wollte.
Die Freiheiten des Volkes hatten ein Ende. Die Habeaskorpusakte wurde aufgehoben, und mit einer Kühnheit und Energie, welche dem größten Tyrannen Ehre gemacht hätte, ergriff er die Leiter der demokratischen Klubs, schloß ihre debattierenden Gesellschaften, vernichtete ihre Papiere und brachte einen Teil derselben, durch den man den wichtigsten der geheimen Verbindungen auf die Spur kommen konnte, unter großem Alarm ins Parlament. Ein geheimes Komitee von 21 der ergebensten Anhänger Pitts untersuchte diese Papiere, und man fand denn auch bald genug hochverräterische Sachen darin, um namentlich in Schottland, wo das Gesetz besser als in England zu handhaben war, die grausamsten Verfolgungen zu beginnen.
Hunderte von Unglücklichen wurden auf offener Straße aufgegriffen; die Gefängnisse füllten sich mit politischen Delinquenten, und manches Schiff schwankte der fernen Botany-Bay zu, welches eine Ladung Verurteilter an Bord hatte, die ihre Heimat niemals wiedersahen.
Pitt, nachdem er die Demokraten so zur Ruhe gebracht hatte, konnte jetzt ungeniert jenen gigantischen Kampf gegen Frankreich beginnen, der mit kurzen Unterbrechungen im Jahre 1801 und 1814 von 1793 bis 1815 in so acharnierter Weise geführt wurde, daß man nur zu sehr geneigt ist, über den gewaltigen Ereignissen, die das Glück der britischen Waffen nach außen hin mit sich brachte, die Entwicklung zu vergessen, welche indes die innern Verhältnisse Englands nahmen.
In einem so grandiosen Kriege, wie Pitt ihn vorbereitete, war vor allen Dingen Geld nötig. In gewöhnlichen Zeiten würde es schwergehalten haben, zu einer Staatsschuld, welche am 5. Januar 1793, gerade vor dem Ausbruch des Krieges, schon 260 Millionen betrug und mit 9½ Millionen jährlicher Zinsen auf dem Lande lastete, noch weitere Summen bewilligt zu erhalten.
Die Zeiten waren aber nichts weniger als gewöhnlich geworden; die Gefahr war vor der Tür; die Leute, welche im Ober- und Unterhause saßen und über neue Anleihen, neue Taxen usw. zu entscheiden hatten, waren nur zu einig darüber, daß dem herannahenden Sturm mit Aufwand aller Kräfte und jeder Kosten begegnet werden müsse, und fast niemand wagte es daher, den enormen Forderungen des Ministers entgegenzutreten.
Die alte Grundaristokratie war für den Krieg, da sie ja in der fernem Entwicklung der Französischen Revolution eine weitere Rückwirkung auf ihre eigene Umgebung und daraus schließlich den eigenen Sturz fürchten mußte.
Die Repräsentanten der Geldaristokratie versöhnten sich mit jener Maßregel, weil sie einerseits für ihr Eigentum zitterten und weil sie andernteils eben dies ihr Geldeigentum durch die stets steigenden Kriegsbedürfnisse der Finanzverwaltung gegen gute, durch die Abgaben des Volkes garantierte Zinsen aufs sicherste beim Staate zu plazieren Gelegenheit fanden.
Die übrigen Fraktionen der sogenannten Volksrepräsentation ließen sich mit wenigen Ausnahmen durch die allgemeine Furcht dazu bestimmen, mit den Grund- und Geldaristokraten Hand in Hand zu gehen, und wenn sie auch noch nicht einsahen, wie das Volk so gewaltige Anstrengungen auszuhalten vermöge, so glaubten sie doch, daß die industriellen Erfolge der Fabrikdistrikte wohl ein übriges zu leisten erlauben würden. Keck streckte Pitt daher jetzt die Hand nach den Schätzen aus, welche ihm das Land in reicher Fülle darbot. Anleihen folgten auf Anleihen, Taxen auf Taxen, und als es der Bank von England, jenem großen Etablissement, welches alle Ausgaben und Einnahmen für den Staat besorgt, länger nicht möglich war, das bare Geld herbeizuschaffen, welches man für den Krieg bedurfte und welches mancher ängstliche Privatmann plötzlich gegen seine Banknoten einforderte, da wußte es der kühne Minister im Parlamente dahin zu bringen, daß man eine Einstellung der Barzahlungen der Bank sanktionierte und ihr wie allen andern Privatbanken erlaubte, hinfort ad libitum nur in Papiergeld Kreditoren zu befriedigen und Vorschüsse zu machen – eine Maßregel, welche die Exploitation der vielen industriellen Erfindungen erleichterte und zugleich der energischen Fortsetzung des Krieges alle Hindernisse aus dem Wege räumte.
Von dem Umfange, in welchem Pitt die dargebotenen Ressourcen des Landes benutzte, kann man sich eine Idee machen, wenn man bedenkt, daß in den ersten neun Kriegsjahren allein 280 Millionen Taxen vom Volke erhoben wurden.
Trotz dieser ungeheuern Anstrengungen schien indes das Land mehr als je zu prosperieren, und wirklich gab es auch einzelne Klassen in der Gesellschaft, die sich bei der Fortdauer des Krieges ziemlich gut standen.
So z. B. die Lieferanten, welche mit dem Gouvernement Geschäfte machten; ferner die Fabrikanten und Händler aller jener Artikel, welche zu den großen Rüstungen nötig waren, und wiederum die Gewerbetreibenden, welche durch einen vergrößerten Konsumo fremder oder einheimischer Luxusartikel eben dieser prosperierenden Klassen vermehrte Beschäftigung und größern Verdienst erhielten.
Außer diesen profitierten alle Ackerbautreibenden durch den Krieg, denn solange dieser dauerte und die mangelnden Ernten nicht durch Zufuhren von außen ersetzt werden konnten, ließen sich die Preise aller Agrikulturprodukte zu einer enormen Höhe emporschrauben. Manche Kapitalisten verwandten ihre Fonds deswegen auch einzig zur Verbesserung des Landes, wodurch vielen Menschen Beschäftigung gegeben wurde. Auch stiegen die Renten in einem solchen Maße, daß die Grundbesitzer hierdurch ihren durch größere Taxen entstandenen Verlust doppelt und dreifach wieder ausgeglichen sahen.
Die neuen Industriellen endlich fingen jetzt an, die günstigen Folgen der Erfindungen Hargreaves' und Arkwrights zu spüren und prosperierten insoweit auch noch vorzugsweise durch den Krieg, als die Engländer Herren aller Meere wurden und so ihren Fabrikanten ein vollständiges Monopol auf allen amerikanischen und asiatischen Märkten sicherten.
Alle diese Vorteile gingen indes nur auf den einen und zwar auf den kleinsten Teil der Gesellschaft über. Die Masse des Volkes geriet durch die außerordentlichen Ereignisse der Kriegsjahre in die unbehaglichste Lage. Zu den großen Gouvernementsausgaben, welche durch Taxen gedeckt werden mußten und ein allgemeines Steigen der Preise zur Folge hatten, gesellte sich eine entschiedene Entwertung des immer häufiger werdenden Papiergeldes, was natürlich für alle diejenigen, welche nicht in einer außerordentlichen Weise bei den Kriegsvorfällen profitierten, sondern von Löhnen und Salären lebten, welche in frühern Zeiten nach dem gewöhnlichen Geldwerte bestimmt worden waren, von dem nachteiligsten Einfluß sein mußte.
Die schnell nacheinander folgenden schlechten Ernten, von denen man in den zwanzig Jahren von 1793 bis 1820 nicht weniger als elf zählt und welche die Preise, zum Vorteil freilich der Landbesitzer, aber zum Nachteil der ganzen übrigen Gesellschaft, von 56 Schilling in 1796 auf 180 Schilling p. Quarter in 1801 steigerten, trugen natürlich das Ihrige dazu bei, um die Lage des Volkes sehr bald unerträglich zu machen.
In manchen Fällen hatte zwar eine Lohnerhöhung statt; selten hielt sie indes mit der Preissteigerung der Lebensmittel gleichen Schritt, und nur zu oft wurde die größere Nachfrage nach Arbeitern, welche man für einen neuen, an Ausdehnung gewinnenden Industriezweig benutzen wollte, durch die alle Industrieentwicklung begleitenden Momente, nämlich durch Einführung neuer Maschinen und durch ein unverhältnismäßiges Wachsen der Bevölkerung egalisiert, so daß dann die Arbeiter nicht nur auf eine Erhöhung des Lohnes verzichten mußten, sondern auch noch gezwungen waren, zu einer Konkurrenz untereinander ihre Zuflucht zu nehmen und sich gegenseitig zu unterbieten.
Die Richtigkeit dieser Angaben findet man durchaus bewiesen, wenn man nur die Wochenlöhne der zwei Perioden von 1790 und 1800 miteinander vergleicht und sie nach der Quantität Weizen mißt, welche der Ackerbauarbeiter und der geschickte Handwerker sich dafür verschaffen konnten. Es stellt sich nämlich dann heraus, daß ersterer in 1790 82 Pinten Weizen, in 1800 aber nur 53 Pinten, letzterer in 1790 169 Pinten, in 1800 aber nur 83 Pinten Weizen kaufen konnte.
Die Zahl der in jedem dieser Jahre geschlossenen Heiraten gibt nicht weniger den besten Maßstab für die Entbehrungen des Volkes. Die Zahl der Ehen steht nämlich in umgekehrtem Verhältnis zu dem Preis des Weizens, und die Zahl der Heiraten, welche am 1. Januar 1798 bei einem Weizenpreis von 51 Schilling p. Quarter 79 477 betrug, fällt in 1801, wo der Weizen am 1. Januar 139 Schilling und später sogar 180 Schilling kostete, auf 67 288 Paare.
Bei einem solchen Jammer konnte es natürlich nicht fehlen, daß die große Masse des Volkes mehr als je eine Änderung der Dinge herbeiwünschte. Die Zeiten sollten indes noch schlimmer werden; der Krieg gegen Frankreich begann aufs neue, und wenn die Taxen bisher drückend gewesen waren, so wurden sie jetzt wahrhaft vernichtend, indem die laufenden Ausgaben einiger Jahre bis auf 100 Millionen stiegen – Ausgaben, welche die Staatsschuld schließlich bis zu der Summe von fast tausend Millionen hinaufwälzten. Alles dieses würde indes noch zu ertragen gewesen sein, wenn die immer größer werdende industrielle Tätigkeit Englands fortwährend Absatz für ihre Fabrikate gefunden hätte. Leider stockte dieser aber endlich, und es entwickelte sich im Jahre 1810 eine solche Handelskrise, daß nicht allein alle unglücklichen Ereignisse des Jahres 1793 wie ein Kinderspiel dagegen erscheinen, sondern daß man auch jene Zeiten als die jammervollsten der neuern englischen Geschichte betrachten kann.
Wie schon erwähnt, hatten die englischen Fabrikanten durch den Krieg die Oberhand auf allen amerikanischen und asiatischen Märkten erlangt; da sie aber durch ihr Abgeschlossensein vom europäischen Kontinent sich nun auch einzig und allein auf diese fernen Gegenden beschränken mußten, so konnte es nicht fehlen, daß sie dieselben allmählich wahrhaft mit Fabrikaten überschwemmten und daß ferner nur mit enormen Verlusten einige Verkäufe zu erzwingen waren. Das Kapital, welches auf diese Weise in Manufakturwaren müßig lag und fürs erste nicht wieder in den Handel zurückfloß, wurde fast noch von den Summen überboten, die zu Hause in den Vorräten von Kolonialprodukten feststeckten. Die meisten Exporteure hatten nämlich für ihre wirklich verkauften Manufakturwaren kein bares Geld, sondern nur Kolonialartikel als Retouren erhalten. Für diese fehlte nun ebenfalls der Absatz, da ja der Krieg alle Versendungen nach dem europäischen Kontinente unmöglich machte, und so geschah es denn, daß der größere Teil der Exporteure und der Fabrikanten, daheim und im Auslande mit unverkäuflichen Waren überladen, aber aller flüssigen Fonds beraubt, endlich mit ihren Etablissements zum Stillstande kamen.
Bankrotte folgten auf Bankrotte. Das Vertrauen in der Handelswelt hatte ein Ende. In Lancashire standen die Baumwollmanufakturen fast sämtlich still. In Manchester fallierten nicht nur täglich, sondern stündlich Häuser. In Birmingham und Sheffield stockte die Fabrikation durchaus, und wohin man blickte, sah man nur ruinierte Industrielle und Jammer und Verzweiflung.
Einen seltsamen Anblick bot England daher nach dem definitiven Friedensschluß dar. Die Aristokratie jauchzte, als endlich der kaiserliche Riese Frankreichs überwunden war und ihre fernere Gewalt in Großbritannien gesichert schien. Die Kapitalisten freuten sich nicht weniger, denn sie hatten ja bei der Not der Zeiten ihr Schäfchen geschoren; ihre Fonds waren herrlich beim Staate plaziert, und die Taxen des Volkes garantierten ihnen reichliche Zinsen. Die Industriellen, trotz ihres augenblicklichen Elends, konnten ebenfalls noch ziemlich zufrieden sein, denn sie hatten die halbe Welt ihren Fabrikaten tributär gemacht, und die fallenden Barrieren des Kontinents verhießen ihnen ja außerdem eine glorreiche Zukunft. Nur das Volk, die Arbeiter, welche aus der Hand in den Mund leben, die Unglücklichen, die sich stets an den gegenwärtigen Tag festklammern, die nicht an gestern denken und nicht an morgen, weil sie im voraus wissen, daß ihnen das eine nicht mehr bringen wird, als das andere brachte – nur sie verfluchten den wiederkehrenden Frieden geradeso sehr, wie sie den eben beendigten Krieg vermaledeit hatten.
Abwechselnd gepeinigt durch hohe Taxen und durch niedrige Löhne, durch eine Preissteigerung der Subsistenzmittel und durch eine Entwertung des Geldes, in dem man sie bezahlte, hatten sie nicht selten jenen Grad von Elend erreicht, der nur noch einen Schritt bis zum Hungertode übrig läßt. Die Krisis von 1810, die sich mit ihren Folgen auch noch durch die nächsten Jahre hinzog, hatte ihren Jammer vollendet.
Um diese Zeit war es, daß die demokratische Partei nach langer Unterbrechung zuerst wieder drohend ihr Haupt erhob.
Die Gewalt der Aristokratie hatte sie momentan vernichten können, die Not des Volkes brachte sie dauernd wieder ins Leben.
Der Krieg nach außen war kaum beendigt, da begann auch der Krieg im Innern – es begann der Kampf der Parteien.
Wie dem Ausbruch eines Vulkanes ein donnerähnliches Getöse, so ging auch ihm ein dumpfes Kochen und Brausen vorher.
Tausendstimmig, aber verworren und kaum verständlich, klingt es aus allen Dörfern und Städten. Auf den Gassen und Plätzen sammeln sich Hunderte, Tausende von seltsam zerlumpt aussehenden Menschen. Sie raunen einander in die Ohren, sie ringen die Hände, sie drängen sich um einen Redner, der plötzlich in ihrer Mitte aufgestanden. ›Hilfe, Rache!‹ tönt es von seinen bleichen Lippen, und die Masse jubelt ihm Beifall und entfernt sich wieder unter Weinen und Schluchzen, unter Flüchen und Verwünschungen.
Die Umgebung der Fabriken bietet ein noch unheimlicheres Schauspiel dar. Das Rasseln der Maschinen ist verstummt, kein Rauch steigt aus den hohen Kaminen empor, die Arbeit ruht, und rings herrscht Totenstille. Nur einige Weiber und Kinder stehen etwa auf dem freien Platz, welcher eine Faktorei von der andern trennt. Sie scheinen sich eifrig zu unterhalten, sie schauen bisweilen nach einem bestimmten Orte, sie zeigen zuletzt mit dem Finger nach einer abseits liegenden Arbeiterwohnung, deren Fenster verschlossen sind, die seit mehreren Tagen nicht geöffnet wurde. Andere Leute, junge und alte Frauen, Knaben und Männer, gesellen sich allmählich zu ihnen, der Haufe wächst, er ist fast hundert Menschen stark – er setzt sich nach dem geheimnisvollen Hause in Bewegung. Vor der Tür angekommen, ruft man den Namen der Bewohner – keine Antwort. Man ruft zweimal, dreimal – alles still. Da erbricht man die Tür, man dringt hinein, und man findet die Leichen verhungerter Kinder, einer verhungerten Frau und den Vater, wie er sich über dem Lager seiner Familie erhängt hat.
Weinen und Klagen geht durch die ganze Versammlung; man zerrt die Kadaver ans Licht – man erkennt die Züge der Freunde, der Verwandten, und man schwört Vernichtung den Unterdrückern und Tod den Tyrannen.
Auch die Reform Clubs gewinnen wieder ihre frühere Bedeutung. Durch die vielen ruinierten Arbeiter und durch die immer zahlreicher werdenden verarmten Handelsleute gewaltig verstärkt, bilden sie bald imposantere Massen als je, und mutig springen dieselben Redner, welche schon in den letzten Dezennien des verflossenen Jahrhunderts ihre Stimme zum Umsturz des Bestehenden ertönen ließen, aufs neue auf die Tribüne und verlangen aufs neue Reform, radikale Reform eines Gouvernements, das imstande ist, durch seine Unvorsichtigkeiten und durch seine Korruption das Land zu einem solchen Zustand des Jammers und der Verzweiflung hinabzuführen.
Aufstände und Tumulte waren in jener Zeit bald an der Tagesordnung. Das Passieren der Kornbill im Jahre 1815 veranlaßte zunächst Tumulte in allen Teilen Londons; in Bridport entstand eine ernstliche Revolte durch den hohen Preis der Subsistenzmittel; in Bury versuchten unbeschäftigte Arbeiter die Maschinen zu zerstören; ein Aufstand auf der Insel Ely wurde nicht ohne Blutvergießen unterdrückt. In New Castle upon Tyne erhoben sich die Kohlenarbeiter; in Glasgow fielen mehrere blutige Straßengefechte vor. In Preston rebellierten die unbeschäftigten Weber. In Nottingham fielen die sogenannten Luddites über die Maschinen her und zerbrachen deren eine große Anzahl, da sie in ihnen die Urheber aller Arbeiterleiden sahen. In Merthyr Tydfil fielen ernstliche Unruhen infolge einer Herabsetzung der Löhne vor. In Birmingham dadurch, daß man gar nicht mehr arbeitete und die Leute aus den Fabriken auf die Straße jagte. In Walsall rotteten sich Massen von Bettlern zusammen, und in Dundee plünderte man infolge der hohen Brotpreise fast die sämtlichen Bäckerläden der Stadt.
Es ist nicht abzusehen, zu welchen Exzessen der große Haufe noch übergegangen wäre, wenn sich nicht die Leiter der radikalen Partei der Volksbewegung bemächtigt und die in vereinzelten, wirkungslos vorübergehenden Tumulten vergeudete Volkskraft zu einer kompakten Opposition zusammengeschmiedet hätten.
Vor allen andern glänzen hinfort drei Männer als Führer dieser demokratischen Opposition. Der alte Major Cartwright, William Cobbett und Henry Hunt.
Der erstere, schon im Jahre 1780 als Stifter der ›Society for Constitutional Information‹ bekannt, hatte seinen ganzen Einfluß auf das Volk zu behaupten gewußt. Fast vergessen und übersehen während dem Geräusch der Kriegsjahre, setzte er die Agitation gegen das Gouvernement ruhig fort, bald in den Räumen eines Klubs an die Gelübde der alten Demokraten erinnernd, bald Broschüren austeilend, in denen alle Mißbräuche der Regierung beleuchtet wurden, bald auf offener Straße auftretend, um seine Meinungen unter das Volk zu bringen, und immer Respekt und Liebe gebietend durch die ruhevolle Würde seines ganzen Auftretens.
Noch bedeutender als der alte Cartwright zeigte sich bald William Cobbett. Als Redner und Schriftsteller im höchsten Grade scharf und treffend in seiner Argumentation, humoristisch lebendig in seiner ganzen Darstellungsweise und zutraulich freundlich in allem, was an das Volk gerichtet war, verschaffte er sich bald einen ungemein großen Anhang. Fast in jeder Hütte der Manufakturdistrikte von Lancashire, Leicester, Derby, Nottingham und aller schottischen Fabrikstädte fand man Cobbetts Schriften. Billige Ausgaben machten sie allen zugänglich, und da die eigentlichen Schattenseiten der Staatsverwaltung und die Mittel zu einer radikalen Reform anschaulicher als je darin gemacht wurden, so entsagten die meisten Tumultuanten ihrem bisherigen ungewissen Treiben und schlossen sich den schon bestehenden Klubs an, in denen die Meinungen Cobbetts bereits praktische Vertreter und Verbreiter fanden.
Der dritte hervorragende Repräsentant der Demokraten war Henry Hunt. Weniger würdevoll in seinem Auftreten wie Cartwright und weniger geistreich und humoristisch als Cobbett, erlangte er nichtsdestoweniger bald durch das derb Plebejische seiner Erscheinung den entschiedensten Einfluß auf die Masse des Volkes. Hunt redete das Volk in seiner eignen Sprache an; er kannte die Stichworte des Pöbels – wie alte geliebte Töne durchklangen sie seine Reden, und es bedurfte oft wohl nur der halben feurigen Beredsamkeit, deren er fähig war, um sämtliche Zuhörer zur Bewunderung, zum Enthusiasmus fortzureißen, um die Menge zum Tanzen, um die Masse zum Erheben zu bringen.
Der Einfluß solcher Männer brachte bald die ganze Bewegung auf einen andern Fuß; man merkte, daß die gewöhnlichen Arbeiter, die sich ihr hingaben, unwillkürlich geschickter und systematischer in allem wurden, was sie unternahmen.
Auch fehlte es nicht an Leuten aus ihrer eignen Mitte, um die Neubekehrten zu leiten und anzuspornen. Die Sonntagsschulen der vorhergehenden dreißig Jahre hatten manche Arbeiter so weit gebracht, daß sie als Vorleser, Redner oder Sekretäre bei den Dorfmeetings nützlich sein konnten; bei einigen entwickelte sich auch eine entschiedene poetische Anlage, die zu populären Ergüssen Gelegenheit gab und die Zusammenkünfte verschönte.
Durch so verschiedene Mittel wurden denn die Leute zuerst aufmerksame Zuhörer und dann eifrige Proselyten; sie kamen aus ihren Hütten in ruhigen Tälern und Winkeln zu den wöchentlichen Meetings, lauschten dem, was vorging, und stifteten nicht selten neue Gemeinschaften und neue Klubs.
Einer der ersten sogenannten ›Hampden Clubs‹ bildete sich im Jahre 1816 in der kleinen Stadt Middleton bei Manchester, wo man die Meetings in einer Kapelle der Kilhamite-Methodisten hielt. Von dort aus wurden Abgeordnete nach Yorkshire geschickt, welche die Bewohner der großen Städte bald für die Sache der Reformers gewannen. Am 1. Januar 1817 hielt man in derselben Kapelle ein Meeting von Abgeordneten vierundzwanzig verschiedener Distrikte, bei dem man die gewöhnlichen Resolutionen der gemäßigtem Reformers – daß nämlich jeder Wähler ist, der Taxen bezahlt, daß jeder mit 18 Jahren wählen darf, daß immer 20 000 Menschen ein Mitglied zu einem jährlichen Parlamente senden, daß keine Pensionäre im Parlament sitzen dürfen und daß Talent und Unbescholtenheit die einzigen erforderlichen Qualitäten eines Vertreters sind – den weitern Bestrebungen zugrunde legte. Eine weit größere Zusammenkunft hielt man bald darauf an dem klassischen Ort der englischen Volksmeetings, in der ›Crown and Anchor Tavern‹ in London, bei der nicht nur die Repräsentanten sämtlicher Klubs der Metropole, sondern auch der des ganzen Landes und namentlich die drei berühmten Leiter der Partei zugegen waren.
Der Major Cartwright, der dem Meeting präsidierte, war damals ungefähr siebzig Jahre alt. Er war von mehr als gewöhnlicher Größe, gerade für sein Alter, und sein ganzes Erscheinen verkündete Würde und Festigkeit. Als er sich niedersetzte, überflog sein Gesicht ein mildes, gutmütiges Lächeln, und das Meeting brach in einen unendlichen Jubel aus.
Zur Rechten Cartwrights stand Cobbett. Lustig und guter Dinge, wohl mehr als sechs Fuß hoch, sein Äußeres war im höchsten Grade ansehnlich. Seine Wangen waren rot, und seine kleinen grauen Augen schimmerten recht launig. Er trug einen blauen Rock, eine gelbe Weste und hohe Stiefel. Cobbetts Haar war grau. Seine Wäsche, Krawatte usw. waren vom feinsten Linnen und sehr weiß. Kurz, er repräsentierte vollkommen, was er immer zu sein wünschte, an English Gentleman-Farmer.
Hunt, eine kräftige, gedrungene Figur mit einem unternehmenden Kopfe darauf, nahm die linke Seite Cartwrights ein. Die Resolutionen dieses Meetings lauteten einstimmig für allgemeine Wahl und jährliche Parlamente und veranlaßten eine Deputation Hunts an Lord Cochrane und Sir Francis Burdett, welche sich auch beide verpflichteten, die Sache der Reformers im Hause der Commons verteidigen zu wollen.
Während die Abgeordneten der Klubs und die Koryphäen der Partei auf diese Weise in London kaum ihre Mission vollendet hatten, bereitete ein Haufen Unglücklicher im Innern des Landes ein anderes Unternehmen vor, dessen klägliches Scheitern wohl mehr Entsetzen bereitete und ein deutlicheres Bild von der grenzenlos unseligen Lage der arbeitenden Bevölkerung lieferte, als wenn die Sache wirklich zu dem beabsichtigten Resultate gekommen wäre.
Auf einem freien Platz in Manchester sammelten sich nämlich etwa 4000 bis 5000 Menschen in der Absicht, von dort zu Fuß nach London zu wandern, um dem Regenten in Person ihre Not auseinanderzusetzen. Viele der Anwesenden trugen Bettücher, Bettdecken oder große Röcke, aufgerollt und festgebunden, wie Knappsäcke auf dem Rücken. Andere bemerkte man mit Bündeln unter dem Arm; einige mit Papierrollen in den Händen, wahrscheinlich Petitionen oder dergleichen, und fast alle trugen dicke Stöcke.
Ehe man die Reise antrat, wollten sich noch verschiedene Redner vernehmen lassen, und schon schickte man sich an, dem ersten zuzuhören, als der Magistrat auf dem Platz erschien und nach Vorlesung des Riot Act die Versammlung durch Militär und Konstabler auseinanderjagen ließ. Nur etwa 300 Personen schienen trotzdem entschlossen zu sein, ihren Plan auszuführen, und zogen von dem Ort des Meetings, dem später zu so trauriger Berühmtheit gelangten Petersfield, durch Mosley Street Piccadilly hinauf, indem sie von Zeit zu Zeit noch einige aus den Nebenstraßen Herbeieilende in ihre ungeordneten Reihen aufnahmen. Bei Ardwick Green sammelte sich zuletzt der ganze Haufen.
Der Anblick dieser Leute war bejammernswert. Einige schienen noch Kraft in den Gliedern zu haben und sahen ziemlich fröhlich aus; bei andern zeigte sich dagegen schon Zweifel in den Mienen, und sie folgten mit zögerndem Schritt. Nur sehr wenige waren erträglich angekleidet und gut für die Reise ausgerüstet; die meisten gingen in Lumpen, durch die der kalte Wind strich und die ein feiner, unaufhörlich niedertropfender Regen schon total durchnäßt hatte. Der jüngere Teil der Reisenden schien alle Sorgen abgeschüttelt zu haben und hoffnungsvoll der Zukunft entgegenzuschauen; die Gedanken anderer schweiften wohl schon zurück nach den kaum verlassenen Hütten, wo Weiber und Kinder ihre Rückkehr abwarten wollten. Manche nahmen auch erst unterwegs von ihren Familien Abschied.
Ein Trupp Yeomanry folgte den Unglücklichen und nahm Beschlag von der Brücke zu Stockport, um ihnen den Weg zu versperren. Viele kehrten da zu ihren Wohnungen zurück, und nur der kleinere Haufen setzte unterhalb der Stadt über den Fluß und drang in Cheshire ein. Durch die Yeomanry bald wieder eingeholt und mit Gewalt auseinandergetrieben, erhielten manche der Armen Säbelhiebe, und einer wurde sogar auf Lancashire Hill erschossen. Von denen, die den Marsch fortsetzen konnten, erreichten ungefähr 200 Mann gegen 9 Uhr abends den Marktplatz zu Macclesfield. Manche blieben die Nacht über unter freiem Himmel und kehrten am frühen Morgen nach Hause zurück. Einige wurden von Freunden gastlich aufgenommen; andere zahlten für ein Quartier, und die, welche man gerade auffangen konnte, wurden von den Konstablern ins Gefängnis geführt. Wenige setzten am Morgen ihre Reise fort. Ungefähr zwanzig kamen in Leek an, und nur von sechsen weiß man, daß sie Ashbourne-Brücke passierten.
So endete, was man spöttischerweise die Blanket (Bettuch) Expedition nannte.
Ebenso unglücklich, wie sie endete, ebenso großes Aufsehen machte sie aber auch. 4000 bis 5000 Menschen vereinigen sich, um zu Fuß nach London zu reisen, ohne Geld, ohne Kleider, im Monat März, wo die Wege noch schlecht, wo die Witterung noch keineswegs einladend war – sie wollen 200 Meilen weit wandern, um dem Regenten in Person ihr Leid zu klagen – – die Unglücklichen mußten in einer sehr ratlosen Lage sein, um auf solche Pläne zu kommen.
Das Gouvernement sah, wie immer in solchen Demonstrationen, nur den angeblichen verderblichen Einfluß der demokratischen Partei. Schon seit einiger Zeit hatte man mit Schrecken bemerkt, daß die Meetings der Reformers immer zahlreicher wurden und daß sich Leute aller Klassen dazu einfanden. Ein Insult, den der Regent auf seinem Wege zur Eröffnung des Parlamentes von einem Pöbelhaufen zu erdulden hatte, setzte endlich allem die Krone auf, und mit vielem Lärm brachte man die Agitation der Reformers vor das Parlament. Ein geheimes Komitee, welches die darauf bezüglichen Dokumente zu prüfen hatte, drückte bald im Oberhause wie im Unterhause seine Meinung dahin aus, daß in der Metropole und in andern Teilen des Reiches gefährliche Konspirationen entstanden seien, welche den Umsturz des Gouvernements beabsichtigten und einen Angriff auf das Eigentum von Privatpersonen damit zu vereinigen suchten, öffentliche und geheime Meetings, das Erlassen von Adressen, Einkäufe von Waffen, Bannern und Kokarden, Bestechung von Soldaten, häufiges Korrespondieren der Londoner Verschworenen mit denen des Inlands sowie feierliche Eide zu gegenseitiger strenger Verschwiegenheit schienen einen allgemeinen und gleichzeitigen Aufstand der Massen zu ihrem Zweck zu haben.
Man machte auch namentlich auf die unter den Namen ›Hampden Clubs‹ und ›Spencean Philantropists‹ bestehenden Gesellschaften aufmerksam, von denen namentlich letztere durch ihre irreligiösen Versammlungen gefährlich erschienen, und schloß damit, daß die gewöhnlichen Gesetze nicht hinreichend seien, um solche Vorgänge wirksam unterdrücken zu können.
Lord Sidmouth beantragte dann im Oberhause die Suspension der Habeaskorpusakte, eine Motion, die nach kurzem Widerstände einiger liberaler Mitglieder angenommen wurde und bald darauf die königliche Sanktion erhielt. Einige andere strenge Maßregeln in betreff aufrührerischer Meetings, korrespondierender Gesellschaften usw. erließ man ebenfalls.
Diese Schritte des Gouvernements trafen die Hoffnungen der Reformers mit einem unerwarteten Schlage, denn ohne vorher einer Untersuchung unterworfen zu werden, konnte jetzt wieder jeder Verdächtige auf offener Straße ergriffen und ins Gefängnis geschleppt werden. Sir Frances Burdett und Lord Cochrane, die Verteidiger der Reform im Parlamente, hatten genug zu tun, sich selbst sicherzustellen.
Cobbett, der nur in zu unzweideutigen Worten den Arbeitern auseinandergesetzt hatte, daß eine Besserung ihrer Lage in ihren eignen Händen ruhe, hielt es für gut, sich einstweilen nach Amerika zurückzuziehen und von dort aus seine ›Weekly Registers‹ weiter erscheinen zu lassen.
Hunt blieb noch immer etwas ungestüm; da aber Cobbett nicht mehr an seiner Seite stand, so brach auch er endlich machtlos zusammen.
Nur der alte Major Cartwright blieb auf seinem Posten, tapfer wie ein Löwe und heiter wie ein Kind; es war, als wenn er gewußt hätte, daß es niemand wagen würde, sich an ihm, dem würdigen, ergrauten Revolutionär, zu vergreifen.
Die Reformers im Innern des Landes verschwanden fast ganz und jagten wie scheues Wild von einem Ort zum andern. Mit dem Meetinghalten wurde es auch etwas schwieriger; Hunderte von Arbeitern, die sich sonst regelmäßig eingestellt hatten, blieben jetzt zu Hause. Nur wenn es Abend wurde, schlichen sie von einer Tür zur andern, um die Neuigkeiten des Tages zu erfragen. Leute, die schon verdächtig waren, verbargen sich bei guten Freunden und Verwandten und eilten nur bisweilen bei Nacht und Nebel zu ihren Familien zurück, bei welchen Gelegenheiten sie dann aber auch gewöhnlich ergriffen und eingesteckt wurden.