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Ich habe die Abschnitte durchgelesen, die ich in den letzten zwei Monaten geschrieben habe, und viele von ihnen kommen mir recht leer und abstrakt vor. Ich habe den Wandel des wirtschaftlichen Lebens beschrieben, die Abschaffung der Schulen und höheren Lehranstalten sowie der heutigen Methoden, Einrichtungen und Formen der Regierung, und schließlich den Konflikt zwischen den verschiedenen Traditionen menschlicher Beziehungen. Ich mußte mich dürr und knapp in allgemeinen Ausdrücken halten.

Ich gebe zu, daß ›Tradition der Beziehungen‹ eine recht trockene Bezeichnung für die Liebesangelegenheiten der Menschen ist. Ich habe das ganze menschliche Leben, so wie es sich meinen Augen darbietet, in eine schematische Zeichnung zu zwängen versucht, und es ist wohl töricht von mir, das Schematische der Darstellung nun zu beklagen. Das Teleskop ebenso wie das Mikroskop führen schließlich ins Außermenschliche. Aber unser aller Leben wird im Grunde durch den Wirtschaftsprozeß, durch erzieherische Einflüsse und führende Traditionen geformt.

Nach einem langen Fluge, der mich das menschliche Dasein und seine Wandlungen aus der Vogelperspektive sehen ließ, kehre ich wieder sozusagen in den Hafen dieses meines Zimmers zurück. Ich klettere aus dem Rahmenwerk meiner Verallgemeinerungen wieder heraus. Ich kehre vom verkleinerten Maßstab wieder zur Lebensgröße zurück. Ich entdecke, daß vieles in meiner und meines Bruders Geschichte und manches andere, was ich im Leben gesehen habe, so widersinnig, verkehrt und zufällig es scheinen mochte, sich nun ganz vernunftsgemäß den großen Umrissen meiner Untersuchung einpaßt.

Ich kann nun mein Wesentliches, den lebendigen Kern meiner eigenen Erfahrungen, wenn schon nicht loslösen, so doch ziemlich genau scheiden von dem Strome fremder Anregungen, unbewußter Reaktionen, dumpfer Ergebung, erworbener Gewohnheiten, der, durch jenen lebendigen Kern fließend, mein Wirken mitgestaltet hat. Ich entdecke hinter scheinbar beabsichtigten Taten das Gebot des Schicksals und die Zwangsläufigkeit vieler Inkonsequenzen und häßlichen Tuns.

Es mag den Anschein haben, als ob meine Ideen über eine Weltrepublik, über ein vereinfachtes Wirtschaftssystem, über eine Klärung der individuellen, sexuellen und sozialen Beziehungen die äußeren Formen des Lebens erfaßten. Ich mag hart und grausam gegen unsere alten Würden und Ehrbegriffe scheinen, gegen die althergebrachten sozialen Ungleichheiten, gegen die moralischen Vorurteile, gegen die romantische Auslegung des Lebens, gegen die feingesponnenen und verwirrenden, aber wohlgemeinten religiösen Dogmen, durch die sich die große Masse der Menschheit zum Licht hindurchkämpft; aber die Dornen und Stacheln dieses malerischen Dschungels sind nicht etwas rein Äußerliches: sie dringen in unsere Nervenzentren und verursachen uns quälende Schmerzen.

Das Innere dieser Dinge zeigt uns Hunderte Millionen von gequälten, enttäuschten, erschöpften Hirnen, zeigt uns Unterdrückung und Demütigung, unerfüllte Wünsche und das Aufflackern unvernünftigen Hasses. Wir befinden uns alle in Verwirrung; die Leute, die wir lieben, enttäuschen unsere schönsten Hoffnungen, und unsere Taten fallen in einer Weise auf uns zurück, die uns erstaunt und erbittert. Die große Herde der Menschen wandert durch seltsame, gefährliche Klüfte und Schluchten, niemand führt sie ins offene Land; Unsicherheit und Ungewißheit formen das Drama fast jeglichen Gehirns. Die schlechte äußere Ordnung spiegelt sich im Gemüt des Einzelnen.

Der Weltfrieden und die gerechte, schöpferische Gesellschaftsordnung und unser aller Seelenfrieden können nur eins durch das andere bedingt werden. Manche entgehen dem allgemeinen Lose durch die Stärke ihres Egoismus und die Kraft ihrer Philosophie; manche setzen sich in schöpferischer Arbeit über die Unzulänglichkeit der Gegenwart hinweg. Manche stumpfen durch ein Gift oder ein religiöses Dogma ihr Empfinden ab. Das durchschnittliche Menschenleben ist immer noch nicht viel mehr als ein empfindlich gewordener Komplex widerstreitender Kräfte, der ein Individuum zu sein wähnt, aber kaum eines ist. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und historischen Auseinandersetzungen dieses Buches sind durchaus nicht abstrakt, berühren vielmehr den Kern des wesentlich Wirklichen. Sie lassen sich mit der Aussortierung einer Anzahl durcheinandergemischter Puzzlespiele vergleichen: ist die Sortierung vollzogen, dann bleibt ein greifbares Problem übrig, das vielleicht gelöst werden kann.

Die Biologen sagen, daß der größte Teil unserer Körper tote Materie ist oder nur der Nahrung dient: unsere Haare, unsere Haut, unsere Knochen, unsere Zähne, unser Blut. Das einzig wahrhaft Lebendige ist das Protoplasma der Nerven und Zellen. Und im ganzen Getriebe des Daseins mit seinen Häusern und Städten, Feldern und Gärten, Märkten, Volksmengen, Fabriken und Schulen ist das einzig wirklich Lebendige der Kampf mit dem Puzzlespiel: ›Was soll ich tun?‹

Zu diesem inneren und verborgenen Leben kehre ich nun wieder zurück. Es ist das Wesentliche. Dieses Innere verbergen wir vor den Menschen und gewöhnlich auch vor uns selbst, verbergen es dem Tage. Die Nacht allein macht es offenbar. Da finden wir uns trotz alles Widerstandes unserem Selbst gegenübergestellt, aller Verhüllungen bar, und sehen den Widerstreit von Geboten und Begierden deutlich vor unserem inneren Auge erstehen. Und dann kommen Verzweiflung und Anklage. Der Engel und der Affe in uns tauchen auf. Der Morgen findet uns wieder bereit, die fürchterliche Zwiesprache mit unserem nackten Leben zu vergessen. Wir kleiden uns an, wir prüfen unser Gesicht im Spiegel, um uns zu vergewissern, daß wir gut maskiert sind und es wagen dürfen, uns der Beobachtung unserer ebenso maskierten Mitmenschen auszusetzen.

Die Straßen sind belebt von ernsten, gesitteten Menschen; sie gehen eifrig ihren Geschäften nach und geben sich den Anschein, als wüßten sie genau, wer sie sind und was sie tun. In der Nacht aber vergrub diese selbstsichere junge Dame den Kopf in die Kissen, rang die Hände und rief: ›O Gott, o Gott, gibt es denn keinen Ausweg?‹ Und jener ernste und ehrwürdige Herr mit dem schönen Spazierstock blickte im Morgengrauen aus dem Fenster seines Zimmers und war nahe daran gewesen, einem anderen den Tod zu wünschen.

Clementina war es, die mich von meinem Überblick aus der Vogelschau zur Betrachtung der Nöte des Menschenherzens zurückführte. Sie hat mir Dinge gestanden, die sie mir bis dahin verborgen hatte. Sie war eine so fröhliche und glückliche Gefährtin gewesen, daß ich nicht ahnte, wie viel Qual ihr zuweilen das Herz erfüllte. Wie blind und dumm können wir selbst gegen jene sein, die wir täglich sehen und herzlich lieben!

Wir waren die Hügel hinaufgewandert, westlich ab von der Straße nach Gourdon, wie wir es geplant hatten, und Mr. G. schenkte uns einen seiner besten Tage. Wie wenige von den tausend Leuten, die da in Automobilen die vorgeschriebene Landstraße dahinfahren, an den berühmten Aussichtspunkten stehen bleiben, den Hals über die grauen Brüstungswälle recken und in das Flußtal hinunterblicken, ahnen etwas von dem süßen, traurigen Zauber, der reinen, kühlen Lieblichkeit der abseits liegenden Höhen. Es ist, als ob Gott nicht mehr genug Material gehabt hätte, als er die Felsen, das Gras und die kleinen Blumen hier machte, und warmen Sonnenschein in das Werk hineingewoben hätte, um es zu vervollständigen. Ich lag auf einem kleinen Stückchen Rasen neben Clementina und sprach von den Traditionen der Geschlechtsbeziehungen, über die ich geschrieben hatte. Keiner, sagte ich, könne die Grausamkeiten ermessen, die sich in einer Ehe mitunter ereignen, wenn unbemittelte und an der bürgerlichen Tradition hängende Leute aneinander gebunden seien und es kein Mittel gebe, dem Zwang zu entfliehen. Ich sprach über den geheimen Haß, die raffinierten Quälereien und Demütigungen, die da zuweilen ersonnen werden.

»Und wenn die Leute frei sind,« fragte Clementina, »können sie dann nicht grausam sein?«

»Warum sollten sie grausam sein? Sie können sich ja trennen.«

Clementina antwortete nicht.

Ich wendete mich ihr zu und blickte sie an; sie saß, das Kinn in die Hand gestützt, ihr schöner, langer Nacken lag vorgebeugt, so daß ihre ganze Gestalt wie ein Fragezeichen aussah. Sie sah mich nicht an; sie grübelte über etwas, was sie mir sagen wollte.

»Clissoulaki,« sagte sie, »meinst du – meinst du, daß du mich nie gequält hast?«

Ich dachte nach. »Nein.«

»Ich möchte dir einiges sagen. Du hast da dieses große Buch geschrieben, in dem alles vorkommt, was es auf der Erde gibt, und bist dann schließlich zu den Frauen gekommen. Du bist auf der ganzen Welt herumgereist und hast vieles gesehen und vieles getan. Du weißt wirklich fast alles, mein Lieber. Aber weißt du etwas von der Liebe?«

»Ich kenne dich«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, du kenntest mich.«

Sie hatte irgend etwas für mich in Bereitschaft; ich wartete, bis sie fortfuhr. »Ich möchte dir einiges mitteilen. Manches davon ist nicht schön. Manches davon ist recht übel. Aber ich wünsche es dir mitzuteilen. Ich habe es bis jetzt verborgen ...

»Du hast mich zu dir genommen, als es mir erbärmlich ging. Ich war heruntergekommen. Der Himmel weiß, wie tief eine Frau sinken kann, wie lange ihre angeborene Feigheit sie dazu zwingen mag, Abscheuliches zu ertragen. Jedenfalls ging es mir erbärmlich. Ich wußte nicht recht, wie ich es anstellen sollte, mir das Leben zu nehmen. Aber ich wäre gerne gestorben. Und da kamst du – und warst gut zu mir. Oh, was immer du mir bereitest, ich sollte es nehmen. Das Leben begann wieder. Ich faßte neue Hoffnungen. Wie glücklich du mich gemacht hast! Welch frohe Zeiten ich hier verbracht habe! Trotzdem quälst du mich. Du machst mir Herzleid. Ich liebe dich. Ich liebe dich ganz und gar. Ich schenke mich dir mit beiden Händen. Und du lächelst. Und du schiebst mich beiseite, als ob das alles nichts wäre.«

Sie hielt inne. »Wenn du mich nicht in den Straßen von Paris gefunden hättest, würdest du mich nicht beiseite schieben.«

»Nein, unterbrich mich nicht, mein Lieber. Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen. (Ich muß jetzt eben mit dir reden, weil alles mir in diesem Augenblick so klar im Sinne ist.) Vielleicht ist dies also nicht richtig; zumindest sollst du darüber nicht weiter nachdenken. Aber ich denke es zuweilen in der Nacht. Und du sollst wissen, daß ich es denke. Wenn eine Frau einen Mann liebt, vergißt sie, was sie war und was er ist. Sie ist ihm nicht einmal dankbar, wenn sie ihn liebt. Sie bedarf seiner, nichts weiter; sie bedarf seiner mit ihrem ganzen Wesen. Keine andere Frau hat dich je so geliebt, wie ich dich liebe, und keine andere Frau wird dich je so lieben. Je mehr du mir schenkst, je glücklicher und gesünder ich mich hier fühle, je süßer mir das Leben mit dir ist, desto mehr quält mich der Gedanke, daß es für dich nichts weiter bedeutet als einen Feiertag, eine Ruhepause und daß du bald wieder fortgehen wirst. Das ganze Jahr hindurch habe ich dir das verborgen. Ich habe es immer wieder gedacht und doch verborgen. Es schien mir so unrecht, so undankbar. Warum solltest du nicht tun, was dir beliebt?«

»Rühr' mich nicht an, Liebster. Nun, da ich einmal begonnen habe, muß ich dir mein ganzes Herz zeigen ...«

»Nacht für Nacht bin ich in meinem kleinen Schlafzimmer wachgelegen – das Schlafzimmer, das so hübsch und so fröhlich aussieht mit all den Dingen, die du mich kaufen ließest – und habe mich gequält ... Wenn ich dich verlieren soll, so meine ich, es wäre besser gewesen, ich wäre in Paris gestorben, ehe ich wußte, was Glück ist. Ununterbrochen quält mich die Angst, dich verlieren zu müssen. Und besonders als du in England warst, um dort was weiß ich zu tun. Ich war überzeugt, daß du nicht mehr zu mir zurückkommen würdest. Irgend etwas würde sich ereignen: du würdest getötet werden, jemand würde dich hindern, zurückzukommen. Oder ich dachte einfach: warum solltest du eigentlich wieder zu mir zurückkommen? Du schicktest mir jene flüchtigen Briefchen, die mir nichts mitteilten. Manchmal schriebst du drei Tage gar nicht. Du warst beschäftigt, ich weiß es. Aber ich hier war nicht beschäftigt. Drei Tage können eine Ewigkeit dauern.«

»Ich machte lange Spaziergänge. Manchmal verspätete ich mich im Dämmerlicht, stolperte über Steine und fürchtete mich vor den Schäferhunden. Aber ich lief immer weiter, weil ich mich vor meinem kleinen Schlafzimmer unten noch mehr fürchtete.«

»Oh, der Kummer, der unaussprechliche Kummer! Ich habe mir das Bettuch in den Mund gestopft, damit die englischen alten Jungfern nebenan nicht durch mein Schluchzen geweckt würden.«

»Aber hattest du denn kein Vertrauen zu mir?«

»Vertrauen? In der einsamen Nacht! Und du fern von mir.«

Sie wendete ihre Augen zu mir, Augen einer Elfe in Verzweiflung. »Du nimmst die Liebe so leicht! Du nimmst sie so leicht! Liebe ist dir zuteil geworden. Viele Frauen haben dich geliebt. Und du weißt nichts von Liebe.«


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