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V.
Der Präsident in Arlington

Washington, den 11. November

Ich schreibe dies gerade nach meiner Rückkehr vom Begräbnis des unbekannten amerikanischen Kriegers auf dem Nationalfriedhof in Arlington. Es war eine würdige und ergreifende Feier unter dem lichten blauen Himmel und in der klaren kalten Luft eines Virginischen Novembertages. Der Tote war aufgebahrt worden auf dem Kapitol, und der Sarg wurde an der Spitze einer großen Prozession durch Washington geleitet. Der oberste Gerichtshof, das Kabinett, die Senatoren, die Mitglieder des Repräsentantenhauses, die Kriegsveteranen und eine Menge von Korporationen und Genossenschaften gingen während fast zweiundeinerhalben Stunde zu Fuß hinter dem Sarge her. Die Prozession setzte sich aus den gewohnten Bestandteilen solcher Aufzüge zusammen, aber es waren doch einige Kontingente, die zu denken gaben. Es zogen etwa 50 bis 60 sehr alte, gebeugte, weißhaarige Männer mit im Zuge – der eine trug einen ungewöhnlich langen weißen Bart. Es waren die Veteranen eines Bürgerkrieges, der vor meiner Geburt ausgekämpft worden war. Ihnen zunächst schritten stramm und frisch jene Männer, welche im Weltkriege besondere Auszeichnungen erhalten hatten. Sie alle hatten noch nicht die Mitte des Lebens erreicht. Die älteren Männer hatten in einem großen Kriege gegen eine Trennung gefochten, die dank ihres Opfermutes heute ganz undenkbar geworden ist. Sie hatten gekämpft, um das Bündnis von Staaten zu besiegeln, die sonst in einem dauernden Kriegszustande verharrt hätten. Die jungen Leute, die vor ihnen einhergingen, hatten in einem Kriege gekämpft, der sich auf der großen Weltbühne abgespielt hatte. Es wird ein Tag kommen, an dem die Menge jener Helden auf die Zahl der kleinen Schar rührender und ehrwürdiger Greise zusammengeschrumpft sein wird.

Werden sie, diese neuen Veteranen des großen Bündnisses, das noch kommen soll, wie jene die Gewißheit erleben, daß ihre Sache für immer gesiegt hat?

Die Feier, der ich gerade in dem schönen marmornen Amphitheater inmitten der reizvollen Landschaft Virginiens beigewohnt habe, unterschied sich auf mancherlei Weise von den Begräbnisfeierlichkeiten, welche im Herzen von London, Paris und Rom stattgefunden haben. Bei aller Gleichheit des Gedankens liegt doch ein großer Unterschied in der Natur des Vorgangs.

Am Donnerstag sah ich mir die Leute an, die an dem mit Fahnen bedeckten Sarge vorbeidefilierten. Es war eine Menschenmenge, welche ebenso charakteristisch für die Bevölkerung Washingtons war wie die Menge, die man in seinen Straßen sieht; alle Klassen waren vertreten, aber am zahlreichsten erschienen jene gutgekleideten, gesund aussehenden Angehörigen des Mittelstandes, die auch das Straßenpublikum fast aller amerikanischen Städte bilden. Sie kamen, um den Nationalhelden, die personifizierte amerikanische Tapferkeit und Treue zu ehren. Wenige nur, so schien es mir, betrauerten tatsächlich einen Gefallenen. Die Leute, welche ich paarweise und in Gruppen den sanft ansteigenden Pfad zum Kapitol hinaufeilen, die Stufen zum Rundbau erklimmen und sich auf der anderen Seite wieder zerstreuen sah, schienen alle von einem gewissen freudigen Stolz beseelt zu sein.

Sie unterschieden sich sehr scharf von dem Gedächtnisbild, das ich in mir trug. Eine endlose, schweigende Kolonne trauriger Menschen erstreckte sich unter dem düstern Londoner Himmel durch Whitehall und die Northumberland-Avenue und weit am Ufer entlang. Sie bewegte sich langsam vorwärts, Schritt für Schritt, und verlor sich erst am Abend, um am folgenden Morgen durch andere Trauernde ersetzt zu werden, die gekommen waren, dem unbekannten Krieger in London die letzte Ehre zu erweisen. Diese Menschenmenge mit ihren Blumen und Kränzen setzte sich zusammen aus den Familien, den Bräuten, Schwestern, Freunden von vielleicht einer Viertelmillion Gefallener aus London und aus dem Süden und der Mitte Englands. Die Fülle stiller Tragik ihres Verlustes war überwältigend. Die Feier selbst, derentwegen sie zusammengekommen waren, schien im Vergleich dazu fast unwesentlich. Aber die weiten Entfernungen der amerikanischen Gebiete machten eine derartige Konzentration im Leid unmöglich. Es mögen die Freunde und Verwandten von etwa tausend toten Kriegern in Arlington anwesend gewesen sein. Die Verlustliste des Distriktes von Columbia betrug weniger als 600 Tote. Eine Gruppe Verwundeter im Amphitheater war die unmittelbarste Erinnerung an den Krieg. Die übrigen Mitglieder der Versammlung in Arlington waren nicht persönlich an der allgemeinen Trauer beteiligt. Sie waren Teilnehmende eher denn Leidtragende.

Infolge dieses gefühlsmäßigen Unterschiedes bot die Arlingtoner Feier sich vor allem als Zeremonie dar. Für die meisten Anwesenden war es Feiertag, ein schöner und edler Feiertag, aber eben doch Feiertag. Bei dieser Feier trauerte Amerika nicht so sehr um die Tragik des Krieges, es suchte weit eher sich zum Bewußtsein der Tragik zu erheben. Über allem wehte und flatterte das Sternenbanner, die dekorativste und fröhlichste aller nationalen Flaggen. Der unwiderstehliche Ausdruck des amerikanischen Privatlebens und der gesunden Wohlfahrt des Volkes drängte sich überall durch. Für die meisten enthielt der Sarg unter der großen Fahne nichts, das ihnen persönlich nahegestanden hätte, es war nicht Amerikas verlorene Jugend, sondern eher eine Warnung, welches Schicksal der Jugend Amerikas bereitet sein mag, wenn dem Kriege kein Ende bereitet werden soll. In Arlington konnten, als für die Dauer von zwei Minuten in ganz Amerika alle Arbeit und alle Bewegung aufhörte, eine unzählige Menge von Vätern, Müttern, Frauen und Freunden in ihren Herzen Gott danken, daß ihre Söhne und Gatten am Leben geblieben waren.

Daß in allen diesen Vorgängen sich eine soviel stärkere und frischere Willenskraft bemerkbar machte, liegt wohl daran, daß Amerika soviel weniger unter dem Kriege gelitten hat. Das Begräbnis des unbekannten Kriegers war nicht die Sache selbst, wie sie dies in London, Paris und Rom gewesen, es war das tiefernste Vorspiel zur Tat, zu jener Tat der großen Konferenz, welche der ganzen Menschheit den Frieden, einen bleibenden Frieden bringen soll. Daran gemahnte sogar die Rede des Geistlichen. Er sagte:

»Im Hinblick auf die Ereignisse des kommenden Tages, wenn in der Werkstatt der Welt ein ungewohntes Werk begonnen werden soll, flehen wir Dich an, Du mögest außerordentliche Urteilskraft, Voraussicht und den Takt des Verkehrs denen gewähren, welche bemüht sind, die Menschen und die Völker miteinander auszusöhnen, so daß die Zwietracht, welche den Krieg zur Folge hat, verschwinden möge und daß die Ruhe der Welt wieder hergestellt werde.«

Die sehr schöne Ansprache des Präsidenten Harding verfolgte den gleichen Gedanken.

Ich sah den Präsidenten zum ersten Male in Arlington. Er ist ein sehr großer, sehr stattlich aussehender Mann mit einer wundervollen Stimme. Er sprach langsam und sehr deutlich, ohne viele Gesten. Er ist – wie soll ich mich ausdrücken – repräsentativer als irgendeiner der letzten amerikanischen Präsidenten, aber ohne einen Schimmer von Eitelkeit oder Pose in seinem Benehmen. Man sagt, daß er ein wahrhaft bescheidener Mensch ist, fest entschlossen, sein Bestes zu tun. Die Lage der Welt, in der er jetzt berufen ist einen hervorragenden Posten einzunehmen, erfüllt ihn mit tiefer Besorgnis und mit dem Willen zur Tat. Nicht nur im großen, sondern auch in vielen Einzelheiten ist die Stellung eines Präsidenten der Vereinigten Staaten besorgniserregend. Der Präsident stand in der Apsis, rechts vom Sarge des unbekannten Kriegers, auf seiner anderen Seite befand sich ein schwarzer Kasten auf einem Untersatz, ein Kasten von ungefähr zwei Fuß Höhe und einem Fuß Tiefe. Dies war die Schallplatte, welche bestimmt war, seine Stimme, sehr verstärkt, zu weit größeren Versammlungen nach Neuyork, San Francisco und über die ganzen Vereinigten Staaten zu tragen. Niemals ist eine Menschenstimme so vergrößert worden. Jede Silbe, jedes Versprechen wurde festgebannt. Er versprach sich einmal bei einer Antithese und mußte seine Worte wiederholen. Vom Atlantischen Ozean bis zum Stillen Ozean wurde das Versprechen bemerkt.

Ich habe, ehe ich nach Amerika kam und auch seitdem ich hier bin, viel Nachteiliges über den Präsidenten gehört, aber ich habe hier auch ein zunehmendes und sich verbreitendes Vertrauen zu ihm bemerkt. Seine in einfacher und populärer amerikanischer Weise gehaltene Ansprache, die nicht frei von Rhetorik war, war trotzdem sehr würdig und von einem Geiste getragen, der groß genannt zu werden verdient. Ich führe ein schönes Wort an:

»Sein Patriotismus war darum um nichts geringer, weil er mehr für sein Vaterland forderte als bloßen Triumph, nein, er war um so größer, weil er einen Sieg des ganzen Menschengeschlechtes erhoffte. Wahrlich, ich verehre den Bürger, dessen Vertrauen in die Gerechtigkeit seines Vaterlandes so groß ist, daß ihm der Sieg des Vaterlandes den Sieg der Menschheit bedeutet. Dieser amerikanische Krieger zog aus in die Schlacht ohne Haß gegen irgendein Volk, aber er haßte den Krieg und er haßte die Eroberungssucht.« »Das Gesetz, unter dem Vernunft und Gerechtigkeit wohnen werden«, sollen wir suchen. Es soll sein »die gebietende Stimme einer ihrer selbst bewußten Zivilisation gegen die bewaffnete Kriegführung«, »eine neue dauernde Ära des Friedens auf Erden«. Mit gutem Instinkt für das Effektvolle beendete der Präsident seine Rede mit einem Vaterunser und mit der Bitte um ein allgemeines Gesetz für die ganze Menschheit: »Dein Reich komme!«

Klatschbasen erzählten, Präsident Harding stamme aus der Main Street, und wiederholten die Anekdote, daß Frau Harding gesagt habe: »Wir gehören zum Volk.« Wenn Präsident Harding ein typisches Beispiel dessen ist, was Main Street hervorbringt, so hat Sinclair Lewis uns noch nicht alles gesagt und Main Street ist auserkoren, die Welt zu retten.


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