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Washington, den 7. Dezember
Meine flüchtige Skizze der Washingtoner Konferenz würde mir unvollständig erscheinen, wenn ich nicht noch von einigen Gestalten und Gruppen in dieser brodelnden Versammlung berichtete, die keinerlei offizielle Stellung haben und hier die sehr unbeliebte Rolle einer Einschränkung und Komplikation der an sich einfachen Washingtoner Ziele spielen.
Es sind nicht die deutlich bemerkbaren Abwesenden, wie die Deutschen und die Russen. Sie treten auch auf die Bühne, aber sie erscheinen etwa wie das junge Weib melodramatischer Bilder, welches, den Säugling auf dem Arme, vorwurfsvoll an der Kirchentür steht und der Hochzeit zusieht. Sie sind sehr vorwurfsvoll – und unheildrohend für die Zukunft.
Neulich abends zum Beispiel habe ich bei einer angenehm wohnenden koreanischen Delegation diniert und habe mir die Geschichte einer unterjochten Nation erzählen lassen.
Korea ist ebensogut eine Nation wie Irland. Seine Unabhängigkeit ist so neuen Datums, daß sich die Vereinigten Staaten vertragsmäßig ihm gegenüber verpflichtet haben, seine Unabhängigkeit anzuerkennen und zu respektieren. Aber trotzdem wird es jetzt ergriffen, niedergehalten und behandelt, wie Posen in den Tagen der Preußenherrschaft behandelt wurde. Es wird von Japan »assimiliert«. »Was soll mit uns geschehen?« fragten meine Gastgeber.
Einer der Gäste meinte, es sei nichts zu machen, weil die koreanische Stimme in den Vereinigten Staaten nicht das genügende Gewicht besäße, um die Wahlen zu beeinflussen.
Unter dem hiesigen Stimmengewirr ertönt immer wieder die Bitte, daß etwas für Korea geschehen möge. Solche Bitten sind hauptsächlich an die öffentliche Meinung in Amerika gerichtet, aber man hat doch auch die Empfindung, daß es der Mühe wert sei, England zu informieren – wenigstens soweit, daß man bei dieser Gelegenheit mir einen Einblick gewährte. Ich wurde dem Herausgeber einer koreanischen Zeitung vorgestellt, welche kürzlich unterdrückt worden war, und ich hörte mit Erstaunen den Bericht über die Auffassung von Preßfreiheit, die man in Korea unter der japanischen Herrschaft hat.
Er klang mir aber doch recht vertraut. Tatsächlich hatte ich ungefähr die gleiche Geschichte von Unterdrückung und noch etwas schlimmeren Dingen als bloßen Unterdrückungen am vorigen Abend gehört. Ich war der Gast zweier mir befreundeter Herren gewesen, Mr. Houssain und Mr. Sapre, welche in Indien reichliche Erfahrungen in bezug auf Unterdrückung gesammelt haben. Sie befinden sich hier beide in ungefähr der gleichen Gemütsverfassung wie die Koreaner.
Jedesmal, wenn ich mich mit Mr. Houssain unterhalte, geraten wir in eine Art von höflichem Streit, in dessen Verlauf er mich mehr und mehr behandelt, als ob ich die sich verteidigende indische Regierung wäre und ich mich mehr und mehr wie die britische Übermacht betrage. Ich nehme, fast ohne es zu wissen, soviel wie möglich von der Art und Weise und dem Ton des verstorbenen Lord Cromer an und sage: »Ja, ja, aber seid ihr auch reif zur Selbstregierung?«
Diese Herren sagen offen, daß die britische Regierung in Indien bei Gelegenheiten wie den Massenmorden von Amritzar und der neuerlichen Erstickung der Mopiahgefangenen, große Torheiten begangen habe und daß die völlige Unterdrückung aller indischen Angelegenheiten in Indien so unerhört ist, daß die Dinge allmählich nicht mehr zu ertragen sind. In Indien spricht jetzt jedermann vom Aufstand; vor drei Jahren sprach noch niemand davon. Das sind die drei Jahre einer törichten »Strenge« gewesen.
Jetzt, da das Diner vorüber ist, darf ich bekennen, daß ich Mr. Houssains Argumente tatsächlich als stichhaltig anerkennen muß. Diese Argumente lauten: Indien habe unter der britischen Herrschaft keine Aussicht, seine politischen Fähigkeiten zu entwickeln, weil man die Inder daran hindere, ihre politische Meinung zu sagen, und, wenn die dortige Unzufriedenheit sich etwas unzusammenhängend und ungehörig ausdrücke, so liege dies an der vollständigen immer schärfer werdenden Unterdrückung aller Diskussion.
Indien und Britannien können sich nicht über ihre gemeinsame Zukunft unterhalten, wenn Indien geknebelt bleibt und niemals eine Gelegenheit hat, sprechen zu lernen. Wenn es in Indien zu einem Aufruhr kommt, wird es vermutlich schlimm werden, weil Indien vollständig ausgebildeter politischer Vorstellungen ermangelt. Das ist eine Folge der langen geistigen Unterdrückung, während die ganze übrige Welt von Korea bis Peru sich in politischer Selbstbestimmung geübt hat.
Es ist aber interessant und vielleicht nicht ganz so traurig hoffnungslos, wie es auf den ersten Blick erscheint, diese beiden Männer in dieser Stadt, Seite an Seite mit den Koreanern zu finden, wie sie bemüht sind, die Washingtoner Konferenz zu bewegen, »daß etwas geschehe«.
Vor etlichen Tagen besuchte mich ein anderer inoffizieller Abgesandter, ein syrischer Moslem, der mit mir über den Unterricht und die Erziehung seines Volkes sprechen wollte, das auch unter der weiten Decke des Versailler Vertrages danach seufzt, die Angelegenheiten Syriens selbst in die Hand zu nehmen.
Und noch ein anderer Fall der unterdrückten Stimmen sind hier die Vertreter der chinesischen Regierung in Kanton, welche neulich eine Szene machten, als die Vertreter Pekings sich zur geheimen Sitzung mit den Japanern zurückzogen. Eine Gruppe feindlich gesinnter Chinesen rief »Verräter« und andere Dinge – offenbar sehr unangenehme Dinge – auf chinesisch. Hier ist wieder ein solcher Ruf nach Beachtung, der von der offiziellen Konferenz kurz abgefertigt wird.
Damit aber diese unterdrückten Stimmen den amerikanischen Leser nicht etwa mit Selbstgerechtigkeit erfüllen möchten, will ich doch im Vorübergehen bemerken, daß der Eingang zur zweiten Plenarsitzung durch ein Aufgebot von Fahnen belagert war, welche daran erinnern sollten, daß der offenbar gütige, ruhige und würdige Mann, Mr. Debs, noch in der Gefangenschaft schmachtet, weil er seine ehrliche Meinung über die allgemeine Wehrpflicht gesagt hat. Ferner bemerke ich, daß ich an zwanzig Briefe erhalten habe über einen unglücklichen Engländer, einen unserer weniger bekannten Dichter, namens Charles Ashleigh, der als eine Persönlichkeit mit fortschrittlichen Ansichten nach Amerika gekommen zu sein scheint. Er ist publizistisch für die I. W. W. tätig gewesen, ist in blinder Unterdrückungswut verhaftet und um ein Nichts zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das Vergehen des Mr. Debs und das angebliche Vergehen des Mr. Ashleigh war, wie ich weiter bemerken möchte, ein vorzeitiges Verlangen nach dem allgemeinen Frieden, welches die allgemeine Kriegslust während des Weltkriegs hätte lähmend beeinflussen können.
Alle diese Unterdrückungen der freien Meinungsäußerung erscheinen mir als schwarze Versündigungen an der Kultur, die nur bestehen, wachsen und gedeihen kann durch die freie Äußerung und Besprechung von Gedanken. Die Versuchung, sich von der Hauptaufgabe der Konferenz zu entfernen, um eine abenteuerlich Don Quichottische Verteidigung der Sache Koreas oder Indiens oder Mr. Ashleighs aufzunehmen, ist darum sehr groß.
Wenn wir aber bedenken, daß diese besonderen Ungerechtigkeiten nur zufällige Einzelerscheinungen der allgemeinen Unordnung sind, die Übergriffe einer Nation auf die andere gestattet und der Gerechtigkeit durch grausame Leidenschaften und dringende Kriegsbedürfnisse die Augen blendet, so erscheinen diese Fälle in einem anderen Licht.
Korea und die verhafteten und unterdrückten indischen Liberalen und Mr. Ashleigh sind nichts anderes als Leute, die zufällig in einem großen Kampfe getroffen worden sind, und die nächste Pflicht des durchschnittlichen Kämpfers ist nicht etwa, die Untersuchung dieser Einzelfälle aufzugreifen, sondern weiter zu kämpfen um den Weltfrieden, der die Atmosphäre, aus der solche besonderen Ungerechtigkeiten entstehen, zur Unmöglichkeit machen wird.
Japan macht den Versuch, Korea zu vernichten und es sich einzuverleiben, weil Japan größer und stärker werden will, und es will größer und stärker werden aus Angst vor Krieg und Demütigung. Aus dem gleichen Grunde hält Britannien Indien nieder und zögert, Irland loszulassen; wenn es losläßt, so wird vielleicht ein anderer zugreifen und es sich zunutze machen; und auch Amerika unterdrückt den Gegner der allgemeinen Wehrpflicht nur, weil er sonst bei der Führung des nächsten Krieges hinderlich werden könnte.
Bei der gegenwärtigen Konferenz werden die liberalen Kräfte der Welt vielleicht imstande sein, einen Präzedenzfall zu schaffen, welcher eine sofortige Rückwirkung auf Korea und China haben würde, und solche Friedensaussichten zu eröffnen, daß die Befreiung der Herren Debs und Ashleigh unvermeidlich sein wird. Das kann aber nur geschehen, wenn wir die Hauptaufgaben der Konferenz fest im Auge behalten und die Dinge jetzt nicht in Verwirrung bringen, indem wir uns zuviel mit Korea oder Indien oder dem Fall Debs beschäftigen.
Der Präzedenzfall, welcher durch die Konferenz geschaffen werden kann, ist die Befreiung Chinas, und zwar nicht nur von neuen auswärtigen Angriffen, sondern von der bestehenden Fremdherrschaft, jetzt, da China militärisch machtlos und politisch in Unordnung ist. Die Aufstellung eines derartigen Präzedenzfalles ist von höchster Wichtigkeit für alle Menschen.
Wenn die Konferenz dazu gelangt, wenn es ihr gelingt, den Grundsatz aufzustellen, daß ein asiatisches Volk das Recht hat, sein eigenes Schicksal zu bestimmen und beschützt zu werden, während es seine Angelegenheiten in Ordnung bringt, trotzdem es dieses Recht nicht wirksam verteidigen kann, so wird sie tatsächlich einen sehr großen Schritt vorwärts getan haben, der nicht nur zum Weltfrieden, sondern zu einer allgemeinen Befreiung der asiatischen, unter Vormundschaft gehaltenen Völker führt.
Es ist so wichtig für die Menschheit, daß dieser Schritt vorwärts getan werde, daß ich jede Energieabgabe an kleinere Ungerechtigkeiten, mögen diese auch noch so schreiend sein, oder irgendeine Komplikation der Zwecke durchaus mißbillige.
Was die Konferenz anbelangt, so bin ich überzeugt, daß »Haltet fest an der Freiheit Chinas« die Parole aller liberal Denkenden ist.
Nach dem Grade, bis zu welchem China befreit und sichergestellt wird, soll man später die Konferenz einschätzen.
Sogar das große Problem von Indien kann dieses Ziel nicht verdunkeln.