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Seit Tagen schon lebte Jerusalem in Festestaumel. Die Erinnerung an die so glimpfliche Belagerung durch den Großherrn hatte die Stadt krampfhaft aus ihrem Gedächtnis geschieden. Sprach jemand noch davon, so wurde er unwillig zum Schweigen gebracht. Festestaumel aber war ein wohlschmeckendes Gegengift wider bittere Erinnerungen. Jerusalem hatte auch in diesen Tagen Grund genug, Feste zu feiern. Da war vor allem Zidkijah, der junge strahlende König, der selbst als Bauherr Jojakim weit übertraf, galten seine Werke doch nicht der eigenen Begehrlichkeit, sondern dem Wohl des ganzen Volkes. Noch war kaum ein Jahr seit der Unbill vergangen (von der man am besten gar nicht redete), und schon hatte Zidkijah in unermüdlicher Arbeit die Mauern Jerusalems verstärkt, durch neue Ringe ergänzt und um etliche Prachttürme und Bollwerke vermehrt. Eine Tat sondergleichen, schon als Anblick überwältigend! Wer jetzt noch Zion nicht für uneinnehmbar hielt, der sollte als Verräter gebrandmarkt werden.
Die vollendete Neubefestigung aber war der geringere Anlaß des freudigen Feierns. Dem König war Größeres gelungen, und das Volk hatte gewichtigere Gründe zum festlichen Jubel. Was sich auch zu erhabener Zeit niemals begeben hatte, durch Zidkijahs Herrscherkunst war es staunenswertes Ereignis geworden. Jehudas jugendlicher König hatte an die Könige der Nachbarländer Botschaft gesandt und sie an seinen Hof nach Jerusalem eingeladen. Das Wunder war geschehen. Sie hatten die Einladung angenommen. Selbst großmächtige Herrscher wie die phönikischen Seekönige von Tyrus und Sidon waren nicht zu stolz, dem kleinen Reiche des Herrn kurz nach seinem Unglück die Ehre zu geben. Die Könige von Moab, Edom und Ammon aber, diese feindnachbarlichen Verächter Jakobs von Urzeit her, sie schienen sich durch Zidkijahs gastfreundliche Botschaft hochgeschmeichelt zu fühlen und hatten jeder eine kostspielige Prunkreise gerüstet. Die Krone des Erfolges aber war die Zusage Hophras, des guten Gottes von Noph. Er kam zwar nicht in eigner göttlicher Person, doch entsandte er seinen einzigen Bruder, der dem Throne sehr nahestand, damit er als Pharaos Stellvertreter dem neuen Königs-, Völker- und Friedensbunde in Jerusalem vorstehe. Sechs Könige, deren Macht von den Katarakten des Nils bis zu den Inseln des Nordens reichte, von Arabiens Oasen bis zu Lybiens Küste, hatten eingewilligt, Zebaoths Stadt, die erniedrigte, als den Mittelpunkt des gegenwärtigen Weltlaufs anzuerkennen. Wenn es Zidkijah, auf dessen Seite Pharao stand, mit Weisheit gelang, all diese Könige und Völker zu einer Gewalt, zu einem Willen zusammenzuschweißen, dann war eine neue Ordnung geschaffen, vor der sich auch Babel beugen mußte. (Im übrigen war zu selber Zeit eine Botschaft Zidkijahs an Mardukh mit reichen Geschenken und Beteuerungen unterwürfiger Anhänglichkeit abgegangen.) Nun durfte kein Prophet mehr grollen, daß Davids Haus das heilige Vorhaben des Herrn durchkreuze. Die Wege Gottes waren gute Wege. Niemand konnte ihm Feindseligkeit gegen sein Volk zutrauen. Er war ganz ohne Zweifel zufrieden mit Zidkijah, seinem Knecht. Die Härenen auf den Kanzeln des Vorhofs dachten nicht im mindesten mehr daran, zu zetern und zu drohen. Längst waren die letzten Tage Jojakims vergessen, da sie die Strafreden und Bittersprüche in ihrem Herzen nicht bändigen konnten. Jetzt waren sie wieder Männer des Heils geworden und mischten ihre starken Stimmen in den allgemeinen Festestaumel.
Banner und Fahnen, Palmwedel und Ölzweig, Kranzgewind und Flitterzier schmückten die Tore, Türme, Zinnen und Häuser der Stadt. Den sechs Gastkönigen waren königliche Geschenke vorausgeeilt. Rinder- und Schafherden, jeder Jährling ein Prachtstück uralter Zuchtkunst, zum Ganzopfer für den Herrn bestimmt, den sonderbaren unsichtbaren Gott, dem die Gäste in seiner Stadt verehrende Aufmerksamkeit zu erweisen gedachten. Die Geschenke der Könige für das Haus Davids waren öffentlich ausgestellt. Mehrere Koppeln der edelsten Rosse und Rennkamele, Reihen von Streitwagen und Staatskutschen, vor denen die Menge ehrfürchtig sich drängte. Itubaal, der König von Tyrus, hatte die kunstvolle Nachbildung eines Seeschiffes in kostbarem Holze mitgebracht, das zur staunenden Begeisterung Jerusalems im ersten Wachthof der Burg Aufstellung fand. Es war aber nur das Sinnbild des wirklichen Geschenkes, das vollbemannt im Hafen von Tyrus die Befehle seines neuen Gebieters erwartete. Das Volk von Zion ging in dieser Festeszeit nicht zu Bette. Tag und Nacht flutete es durch die Gassen.
Den Gipfelpunkt der Feierlichkeiten bildete das erhabene Schaumahl, das Zidkijah seinen Gästen am Tage vor ihrer Heimkehr im Libanonwaldhaus, dem größten Palaste der Hofburg, mit hohem Glanze zubereitete. Er hatte die weite Säulenhalle des Waldhauses nicht nur wegen ihres heiligen Alters und großen Ruhmes ausgewählt, sondern mehr noch darum, weil ihre Stirnseite offenstand und dem Volke freigebig Einblick ins Innere gewährte. Es war auch mehr Volk gekommen, als der Wachthof fassen konnte. Bis jenseits der Burgmauern standen die Leute mit offenem Munde, obgleich sie nichts sehen und nicht einmal etwas ahnen konnten. Unter jenen aber, die Einlaß gefunden hatten, war auch Jirmijah eingekeilt, namenlos und unerkannt wie so oft. Nur wenige Stunden waren seit seiner Rückkehr verflossen. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich ein Quartier zu suchen, das er schließlich in der Unterstadt im Hause eines Sattelmachers fand. Sein erster Weg sollte in den Tempel führen, wo er Baruch anzutreffen hoffte. Es war aber ein aussichtsloses Beginnen, sich gegen den Strom der Menge voranzuarbeiten. Er gab es auf und ließ sich in den Wachthof des Libanon-Waldhauses spülen, wo er nun schon stundenlang, erschöpft, als ein Gefangener ausharrte.
Er gaffte wie all die andern durch die doppelte Kette der goldbeschildeten Leibwachen, welche die breiten Stufen der Säulenhalle besetzt hielten, in den dunklen Innenraum. Doch erst nach Sonnenuntergang sollte sich das stundenlange Starren und Gaffen lohnen. Nach und nach erhellte sich die Halle von vielen goldnen Siebenleuchtern mit ihren verschiedenfarbigen Lampen und Lämpchen. Es war ein rötlich goldnes Licht, das mit vollen Flammengüssen auch noch die Menschenmenge überschüttete. Aus diesem Lichte wuchs zwischen den Zedernsäulen der Halle eine mächtige Bühne hervor. Auf ihr war die Tafel der Könige aufgeschlagen wie ein Altar. Himmelblaue Tischtücher und goldnes Trink- und Eßgeschirr bedeckten sie, all dies aus dem Schatz der Davididen, den man in den Unterkellerungen der Burg vor Babel gerettet hatte. Sieben Thronsitze umgaben den Halbkreis der Tafel. Jeder Platz war von dem andern ziemlich weit entfernt. Von der Höhe hing Laubgewind herab. Mit Kränzen waren die Säulen umschlungen, mit frischen Blüten der Boden bestreut. An diesen frischen Blüten erkannte Jirmijah, daß auch Hamutal heimgekehrt war. Hinter jedem der Hochsitze harrte schon regungslos das Dienstgefolge des betreffenden Königs. Man sah die starren Purpurgewänder der Phöniker, in die der schöngeschwänzte Delphin hundertfach silbern eingestickt war. Man sah die siebenfarbigen Schulterkragen der Ägypter, die weitfaltigen Wüstenmäntel Ammons und Moabs. Man sah hohe Spitzhüte neben farbigen Zylinderhüten, juwelengeschmückten Kappen und zwiegehörnten Prunkhelmen. Nach einem langen Erzgeschmetter, das die einzelnen Wachttürme einander weitergaben, erfolgte der rasche gemeinsame Eintritt der Könige von der Thronhalle Salomos her. Vor seinem Hochsitz stand nun ein jeglicher Herrscher, in die Farbe seines Hauses gekleidet, während die Gefolgschaft hinter dem Hochsitz die Königsfarbe durch ihre Gewänder vervielfältigte. Der himmelblaue Zidkijah, blühend in Jugendschönheit, hielt als Hauswirt die Mitte unter den Gästen. Zu seiner Linken nahm Pharaos Bruder, zu seiner Rechten Itubaal von Tyrus Platz. Neben Itubaal saßen Sidon und Moab, neben Ägyptenland Amnion und Edom. Die Diener Davids eilten mit verdeckten Krügen und Schüsseln herbei, die sie den einzelnen Gefolgschaften überreichten, denn jeder König wurde von seinen eigenen Kämmerern bedient. Gleichzeitig brachte der Hohepriester im Tempel den göttlichen Anteil dieses Königsschmauses auf den Altar.
Die Könige erhoben die Hände zum Mahl, das mit dem feierlichen Brechen des Brotes begann. Es war in Wahrheit ein erhabenes Schaumahl vor den Augen des Volkes. Denn aufrecht und starr saßen die Gäste, den gierigen Zuschauern zugekehrt, denen sie ihren hohen Anblick darboten. Von jeder Speise geruhten sie nur ein winziges Stücklein zu nehmen, das sie langsam zum Munde führten und verzehrten, als läge ihnen damit eine Pflicht für ihre Völker ob und kein Genuß. Nach jedem Bissen wuschen sie ihre Finger ermattet in goldnen Handschalen, die ununterbrochen ausgewechselt wurden. Nur dem Trunke Sarons, der in hohen Bechern vor ihnen stand, sprachen sie unbedenklicher zu. Schweigen lag über der Tafel der Könige, deren Wort weittragend ist und wirksam, weshalb es besser ungesprochen bleibt. Schweigen lag auch über der Menge der Neugierigen, die wiederum die Ohren schärften, ein Königswort zu vernehmen, denn dieses erhellt ja wie ein Blitz die Dunkelheit des Weltlaufs. Die Könige aber kauten, tranken, schwiegen vorsichtig und hartnäckig. Die tafelnde Gemeinschaft, zu der sich sieben Reiche in ihren Gebietern vereinigt hatten, sprach lauter und deutlicher als jedes Wort. Nur eine zarte Musik von Psaltern, Flöten und Chorstimmen ertönte, deren Spielleute und Sänger Zidkijah verborgen aufgestellt hatte.
Jirmijah war nach der endlosen Reise und dem stundenlangen Ausharren zum Umsinken müde. Das Fieber, das er sich an den Ufern des Euphrat zugezogen hatte, rauschte in seinen Adern. Ihm vor den Augen schwankten die prächtigen Kronenträger im brennenden Lichte der Halle. Schwindel drohte ihn niederzuziehen. Der Druck auf seinem Herzen hatte sich noch nicht in Klarheit des Geistes verwandelt. Was war mit dem reinen Linnen geschehen, da er es von sich getan? Zerfallen, verdorben!
Die letzte Schüssel wurde von den Dienern abgetragen. Neben Zidkijah aber tauchte jetzt ein schlanker, hochgewachsener Mann auf, der einen mächtigen Goldbecher vor den König stellte und mit rotem Würzwein füllte. Nun hob der Schlanke seinen Kopf. Ein dunkelhäutiges Antlitz aus dem Stamme Kusch! War es möglich, dieser verhaltene, gebändigte Kammerherr mit den abgezirkelten Bewegungen sollte Ebedmelech sein, Jirmijahs andrer Schüler, der kleine Tanzmohr, der zappelnde Frageteufel?
Zidkijah hob den schweren Geschlechtsbecher Davids, setzte ihn kurz an die Lippen und ließ ihn dann zum Rundtrunk umwandern vor den Augen des Volkes. Wie ein Faustschlag gegen das Herz traf es Jirmijah. Was war das? Der Taumelbecher des Herrn? Genau wie im Traumgesicht war der Becher nach dem Rundtrunk wieder in die Mitte der Tafel zurückgekehrt. Doch nicht ein Krampf der Verwandlung verzerrte das Antlitz der Könige, sondern ein freundlich zufriedenes Lächeln zeigten sie wie nach einem gelungenen Werke. Sie erhoben sich von ihren Thronsitzen und faßten einander brüderlich an den Händen, vor der Zeugenschaft Jerusalems eine einige Reihe bildend. Das tönende Chorgesumm schwieg. Noch tiefer, noch gieriger wurde die Stille. Wäre nicht das Fieber gewesen, das in Jirmijahs Hirn wühlte, Adonai hätte es in diesem Augenblick schwerer gehabt, dem Künder sein Wort zu entlocken. Der schwere Anfall dieses Fiebers aber ließ Jirmijah alles vergessen, nahm ihm den Widerstand und machte ihn selbstlos hingegeben der Raunung. Und in die tiefe Stille drang Adonai-Jirmijahs Wort, nicht als eifernde Mahnung, nicht als bannende Beschwörung, sondern als ein eintönig-müdes Lied, wie es Bettler singen, um Erbarmen zu erregen:
»Ich habe geschaffen die Erde und Mensch und Tier auf der Erde ... durch die Kraft und mit ausgestrecktem Arm ... Doch ich gebe sie dem, welcher mir gefällt ...«
Die Menge um Jirmijah, die aus diesem Sang ein dem Schaumahl der Könige gewidmetes Segenslied zu hören vermeinte, drängte sich ein wenig auseinander, um dem Heilsänger mehr Raum zu schaffen. Gemurmel ermunterte ihn, fortzufahren. Der Fiebernde gab seiner Stimme singende Kraft:
»Ich aber gebe die Erde in die Hand meines Knechtes ... In die Hand meines Knechtes Nebukadnezar, Königs von Babel ... Auch die Tiere des Feldes sollen ihm dienen ...«
Hatte man recht gehört? Was sollte dieses Lied? Alles sah sich erstaunt an. Auch die Könige neigten ihre fragenden Häupter zueinander. Dem Fiebernden aber war es, als sehe er die Runde der Könige, die sich noch immer an den Händen hielten, mit gesenktem Kopf und vorgewölbter Brust wie ein Siebengespann von Rindern im Joche gehen. Eintönig und klagend wie vorher klang die Weise, in die er Adonais Raunung kleidete:
»Welcher König nicht dient ... Welches Reich sich nicht beugt unter das Joch meines Knechtes ... Mit Feuer und Schwert ... Mit Hunger und Pest ... Such ich es heim und reibe es auf ...«
Noch immer trauten die festfeiernden Menschen ihren Ohren nicht. So ungeheuerlich war das Lied an diesem Abend, daß sich keiner eingestehen wollte, es verstanden zu haben. Hatten die Könige die Worte des Sängers gehört? Unruhe begann sich auch in der Säulenhalle des Waldhauses auszubreiten. Die Gäste flüsterten mit Zidkijah. Aus dem Volke aber ertönte jetzt ein Ruf zu rechter Zeit, der die peinigende Spannung löste:
»Ein Besessener ist es ... ein Kranker ...«
Wahrlich, ein Kranker, dachte Jirmijah erleichtert, als die Kraft des Fiebers ihn in die Arme der Umstehenden warf.
Jirmijah aber duldete es nicht, daß die Krankheit über ihn Macht gewinne. Am nächsten Morgen erhob er sich, schüttete einen Eimer kalten Wassers über seinen fieberfröstelnden Leib, stieg hinab in die Werkstatt des Sattlers und erstand ein altes, wurmstichiges Kummet samt einem plumpen, schweren Prügel, wie ihn Ochsentreiber verwenden. Höhnisch starre Augen verfolgten ihn, als er, unter der Last des Joches fast zusammenknickend, an seinem Treiberstock aus der Werkstatt schwankte.
Jerusalem war in diesen Stunden noch lebensbewegter als gestern, denn der feierliche Abschied Zidkijahs von seinen königlichen Gästen fand heute statt. Es war kein leichter Tag für Zidkijah und seinen Hof, doch auch nicht für das Volk Jerusalems, das keines der prächtigen Schauspiele des Abschieds zu versäumen gedachte. Nur wenige Weiber bereiteten heute das häusliche Mahl. Obgleich es dem Brauch, der Würde und dem guten Geschmack widersprach, daß sich Frauen und Mädchen dem Auge der Straße darbieten, so durfte man diese einzigartige Gelegenheit, die das gegenwärtige Geschlecht nie wieder erleben würde, nicht ungenützt vorübergehen lassen. Paarweise und in kleinen Grüppchen strichen die jungen Weiber unermüdlich durch die Gassen. Siehe, die Tochter Zions wandelte in eitel Purpur. Ihre Armbänder erklirrten. Ihre Wangen waren geschminkt, ihre Augenbrauen ausgezupft und nachgemalt, ihre Fingernägel mit goldenem Lack belegt. Sie trug sehr hohe Absätze unter ihren feinen Sandalen und silberne Glöckchen um die Fußgelenke, damit ihr Schritt noch zärtlicher und verführerischer erklinge als sonst. Nicht um dem Herrn zu mißfallen, putzte sich die Tochter Zions so köstlich heraus, sondern um den Fremden zu gefallen, die mit ihren Königen in die Stadt gekommen waren.
Da die Mütter und erwachsenen Schwestern das Haus nicht hüteten wie an gewöhnlichen Tagen, so waren auch die unbeaufsichtigten Kinder entwischt. Ein Heer von Gassenjungen machte die Stadt unsicher. Diese Gassenjungen waren die ersten, die sich mit krähender Lust um den gebeugten Träger des Rinderjoches sammelten und ihm als Kometenschweif folgten. War das ein Possenreißer, von dem man spaßhafte Künste zu erwarten hatte, ein von bösen Geistern Besessener oder nur ein friedlicher Narr, der am Triumphtag wie ein pflügender Ochse im Joch ging? Dem wilden Gejohle der Gassenjungen waren alle drei Möglichkeiten gleich erfreulich. Lachendes Volk schloß sich an, das den Auflauf vermehrte, neugierig, wohin er führen werde. Ein paar würdige Männer erkannten den Künder Adonais, dessen Wort sich noch kürzlich in schweren Tagen bewährt hatte. Sie schüttelten traurig den Kopf über diesen ausgesonderten Mann, der so tief heruntergekommen war, sich zum Gelächter und Spottgezisch der Gasse zu machen. Welch ein abscheuliches Gleichnis an einem Tage des Segens! Aber dies ist ja die Weise der Propheten. Auffallen und in die Augen stechen um jeden Preis, auch um den schmählichsten. Angeekelt wandten sich die Würdigen von dem erfinderischen Wichtigtuer ab. Jirmijah aber trieb sich selbst wie ein dumpfes Opfertier vorwärts, ohne zu erwägen, ob das Opfer heilbringend sein werde oder vergeblich. Nur ein einziges schweres Gefühl lastete in seiner Seele: Es muß sein!
Am Tempeltor wurde die Spötterschar von den Riemenschwingern verscheucht. Erst ein höherer Priester mußte Jirmijah erkennen, ehe man ihm mit einiger Betretenheit Einlaß gewährte. Der Tempel war an diesem Tage des weltlichen Getriebes zumeist von Gottzugehörigen gefüllt. Nur wenige Haufen Volkes harrten auf Künderreden oder gemeinsames Gebet. Ehe Jirmijah noch die Wandelhallen erreicht hatte, stürzte ihm Baruch entgegen. Die Nachricht von seiner Heimkehr hatte sich im Tempel herumgesprochen, und der Jünger war schon durch die ganze Stadt geeilt, um den Meister ausfindig zu machen. Jetzt aber ruhte Baruchs Blick verstört auf dem Rinderjoch, das den Nacken des Heimgekehrten tief niederdrückte, und forschte mit Schreck in Jirmijahs fiebrischen Augen. Es war ein Wiedersehen voll schwermütigen Mißbehagens. Nicht nur Jerusalem, auch Baruch war ganz und gar verwandelt. Der Verständige, der in Jirmijahs Herzen zu lesen verstand wie er selbst, nun schien er gar nichts mehr zu verstehen. Beim Anblick dieses Betretenen erkannte Jirmijah sofort, daß der Herr ihm auch diese letzte Seele noch entfremdet hatte.
»Im Festeskleid geht die Stadt einher ... Und Jirmijah ... Was trägt er da? ... Was ist meinem Herrn begegnet? ...«
»Mir ist das Kommende begegnet«, sagte Jirmijah rauh, »und ich trage die Holzeslast, die mir auferlegt ist ...«
Ein eifernder Ton klang in Baruchs Worten mit:
»Ist nicht sehr Gutes geschehen? ... Hat der König nicht Großes gewirkt für Stadt und Land? ... Nicht mehr wird ein Feind es wagen, Zions Frieden zu stören ...«
»Wer weiß, was er wirkt«, entgegnete Jirmijah heiser, »das Gute kann zum Bösen dienen, wie das Böse zum Guten ...«
Der Jünger schwieg. Doch der Meister fühlte, daß er seinen Geist für verstört und übertrieben erachte wie all die andern. Nach und nach versammelten sich diese »andern« auch um Jirmijah voll Neugier, denn es hieß, daß der ewig Widerstrebende nicht einmal mit diesen Tagen des Glanzes zufrieden war und sich eine besonders überraschend-abschreckende Form der Heimkehr ausgedacht hatte. Unter diesen hochwürdigen andern befanden sich auch Ahikam, Gedaljah und Micha. Mit schmerzlich mißbilligenden Augen betrachteten die Schaffansöhne ihren alten Freund, für den sie in Jojakims Tagen so tapfer gekämpft hatten. Was sollte die aufdringliche Gleichnis-Posse mit dem Joch in der Festzeit gottgesegneten Gelingens? Sie alle dachten wie Baruch, oder besser, Baruch dachte wie sie. Sie, die scharfsinnig Folgernden, waren sich einig, daß Zidkijahs Königsbund im Sinne des Herrn die endgültige Rettung sei, und hatten an seiner Vorbereitung mit Rat und Tat mitgewirkt. Und da kam dieser Übertriebene aus Babel zurück, dieser Mann der scharfen Lauge, der nichts gelten ließ, was nicht aus seinem Geiste stammte, und wollte ihr Werk herabsetzen. Jirmijah stand allein wie noch nie. Er vermied aber jeden Wortstreit. Zuletzt gesellte sich ein älterer Hochwürdiger zu der Versammlung, der milde Jirmijahs Joch anblinzelte und sich mit fröstelnder Freundlichkeit die Hände rieb. Zephanjah, der erste Hüter der Schwelle, bildete den erdenklich schärfsten Gegensatz zu seinem Vorgänger Pasch'chur. Er schien zweifellos ein Begütiger und Beschwichtiger zu sein, wenn auch nicht ohne Tücke. Obgleich er Jirmijah, diesen hochbewährten Künder, nicht anblickte, so schienen seine Worte doch mittelbar an diesen gerichtet zu sein. Die Rasenden und Verzückten, über die er von Amts wegen gesetzt sei, erklärte Zephanjah, hätten an ihm den fürsorglichsten Freund, solange sich ihre Verzückung in würdigen Grenzen halte, keinen Anstoß errege, kurz, ihm keinerlei Ungelegenheit bereite. Ungelegenheiten durch Ärgernis vermöchten es aber, aus ihm, dem gelassen Ruhesamen, selbst einen Rasenden zu machen. Nachdem er seiner Warnung an Jirmijah diesen verhüllten Ausdruck gegeben hatte, wies er auf die Stufen der Wandelhalle, wo soeben einer der erwähnten »Rasenden und Verzückten« vor einer kleinen Volksgruppe Predigt hielt. Der neue Hüter der Schwelle nannte Chananjahs Namen, den er als glückliches Beispiel des Wohlverhaltens und der Mäßigung im Herrn lobte.
Schwer auf seinen Stock gestützt, näherte sich Jirmijah dem Platz Chananjahs. Das Gesicht seines alten Amtsbruders strahlte von Kraft und unverbrauchter Gesundheit, verstand er es doch, seine Gabe weise zu gebrauchen, ohne sich wie die Rohre im Winde jeweils ganz auf eine Seite zu schlagen. In den Tagen des Zusammenbruchs hatte sich Chananjah ferngehalten. Auf seinem Wirken lag kein Schatten. Er war auch am Herrn nicht hohläugig geworden, sondern stattlicher noch als früher. Er trug den unbehaglichen härenen Mantel wie immer überm Arm als ein leutseliges Zugeständnis an sein Künderamt. Chananjahs Stimme strahlte nicht minder als sein Antlitz.
»Nur zwei Jahre«, weissagte er, »nur zwei Jahre noch, dann habe ich zerbrochen das Joch des Großherrn von Babel. Spruch Zebaoths! Nur zwei Jahre, dann bringe ich zurück an diesen Ort den Schatz des Tempels, alle Geräte, die Nebukadnezar geraubt hat. Nur zwei Jahre noch, dann bringe ich zurück an diesen Ort Konjah und alle Verbannten Babels. Denn zerbrechen will ich das Joch ...«
Mitten im Satze stockte Chananjah. Sein Auge hatte den unter das Rinderjoch gebeugten Jirmijah erkannt. Er wurde rot. Sein Mund zuckte. Scham und Zweifel schienen sein Wort zu ersticken. Der Weltgewandte glich plötzlich einem Knaben, der vom Lehrer auf unrechter Tat ertappt wird. Jirmijah aber grüßte ihn ehrerbietig mit der Hand auf dem Herzen.
»Amen«, rief er mit ruhiger Stimme, »der Herr tue nach deinem Wort, Chananjah! Er möge heimbringen Konjah, den Hinausgeschleuderten, und die Verbannten all aus Babel an diesen Ort ...«
Chananjah atmete nach diesem aus dem Herzen geholten Stoßseufzer erleichtert auf. Beim unvermuteten Anblick des Heimgekehrten, den er ferne wähnte, war ihm kalt geworden. Beschämende Worte hatte er aus diesem Munde erwartet, bittrer Zurechtweisung sich versehen durch den Unbestechlichen, der niemals nachgab. Die Milde des Gestrengen erfüllte ihn mit Dankbarkeit. Auch er verbeugte sich mit der Hand auf dem Herzen.
»Siehe, Volk von Jerusalem«, schmeichelte er, »Jirmijah ist heimgekehrt von seiner Weltfahrt, Jirmijah, mit dem der Herr und seine Wahrheit immer ist ...«
Gemurmel begleitete diesen Gruß, das verwundert weniger dem Künder als seinem Joche galt. Jirmijah wehrte die Schmeichelei ab:
»Chananjah höre und ihr andern hört! Künder waren vor mir und dir gewesen. Und sie haben geweissagt über viele Länder und über große Königreiche von Krieg und Unheil und Pest. Doch ob Krieg oder Frieden, ob Unheil oder Heil, nicht an der Weissagung wird die Wahrheit des Künders erkannt, sondern am Geschehen, lange nach ihm vielleicht ... Schwer ist es, das Richtige zu erlauschen ... Möge doch die Wahrheit mit dir sein, Chananjah, und nicht mit mir ...«
Während Jirmijah mit der behutsamen Vorsicht und Bescheidenheit des erfahrenen Meisters die ganze Kündekunst traurig in Frage stellte, schien Chananjah in Träume zu versinken. Plötzlich aber riß er seine ein wenig fett gewordene Gestalt empor. Seine Züge spannten sich feurig, als habe die Raunung Adonais in ihn eingeschlagen. Er trat rasch zu Jirmijah herab und nahm ihm, ehe dieser sich's versah, das Kummet von den Schultern. Dann hielt er das morsche gebogene Holz hoch vor die Augen des Volkes. Sein Gesicht wurde vor Anstrengung dunkelrot. Die Adern und Sehnen am Halse traten wuchtig hervor. Der gepflegte und wohlgesalbte Mann glich einem Simson, der Säulen knickt. Das wurmstichige Joch krachte, splitterte und zerbrach endlich in zwei Stücke. Chananjah hatte mit dieser Tat nicht nur ein bedeutsames Sinnzeichen, sondern ein Wunder der Kraft vollbracht. Mit atemloser Stimme jubelte er auf:
»Zerbrechen werde ich so ... in zwei Jahren ... das Joch Nebukadnezars, Königs von Babel ... vom Halse der Völker ... Spruch Zebaoths ...«
Auch Chananjahs Gemeinde jubelte auf. Ihr Prophet hatte in dieser Tat mehr getan als nur geweissagt. Er hatte die Zukunft vorverwirklicht und ihr, nicht ohne die Hilfe des Herrn, die Richtung gewiesen. Das zerbrochene Joch war als unwiderstehliche Fortwirkung in den Weltlauf geworfen. Auch Jirmijah fühlte ein seltsames Wohlsein. Sein Herz war Chananjah immer geneigt gewesen, wenn er ihm auch niemals trauen durfte. Ach, wie namenlos war er jetzt bereit, Chananjah zu trauen, da dessen Hand ihm die abscheuliche Last abgenommen hatte. Mit Körper und Seele genoß er die Erleichterung.
In einem Wirbel von Lob- und Segenssprüchen sonnte sich der Wundertäter, wenn auch sein Auge immer wieder fragend zu Jirmijah abschweifte. Dieser sagte noch einmal »Amen« und berührte den Gefährten seines ersten Tempel- und Königsdienstes brüderlich mit seinen Händen. Dann ging er froh seines Weges, obgleich er als Künder vor den Menschen eine Niederlage erlebt hatte. Er segnete diese Niederlage. Mochte sie doch gottgerecht voll- und endgültig sein. Baruch folgte ihm mißmutig. Der Jünger litt unter dem unbegreiflichen Auftreten und dem Mißerfolg seines Meisters.
Sie wandten sich gegen die südliche Mauer des Vorhofs. Noch hatten sie diese nicht erreicht, als Jirmijah plötzlich zusammenzuckte, laut aufstöhnte und zu taumeln begann. Baruch sprang hinzu und hielt ihn fest. Schreckensweite Augen starrten ihn an. Eine heisere Fieberstimme, die er nicht kannte, ächzte vor Grauen:
»Das hölzerne Joch ist zerbrochen ... Das eiserne Joch ist geschmiedet ... Das muß ich tragen fortan ...«
Jirmijah barg sein Gesicht an Baruchs Schulter. Er sah Chananjah eines entsetzlichen Todes sterben. Der prächtige Körper, der von Gesundheit strotzte, wand sich in Feuerqualen. Große braune Würmer durchbrachen überall die platzende Haut des Schönen und wanden sich aus dem kochenden Innern. Baruch verstand nicht, was in Jirmijah vorging. Er hörte nur, daß der Besiegte immer wieder seufzte:
»Unglücklicher ... Wehe über dich, Chananjah ... Warum hast du das getan? ...«