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Neunundzwanzigstes Kapitel.
Der Rest

Alles hatte sich erfüllt. In Flammengeknatter waren die Mandelblüten des ersten Gesichtes verwandelt. Der Kessel des Nordens schwappte über von rotkochenden Glutpatzen und verbrühte das ganze Land. Die Heimkehrenden fanden kein Dorf, keinen Weiler, kein aufrechtes Haus mehr am Wege, nur qualmende Trümmer. Seitab in den Feldern lagen die Erschlagenen und die Hingeworfenen. Man roch es am leisen Pesthauch, der immer dichter wurde, je weiter man gegen Jerusalem vordrang, man sah es an der jubelschreienden Geselligkeit der Vögel, die den Himmel verfinsterten, da ihnen Nergal einen üppigen Tisch gedeckt hatte.

Wenn Jirmijah seine brennenden Augen zu den treuen Hügeln und Bergen erhob, die er kannte, da war's ihm, als ob die Berge schwankten, die Hügel sich in Bewegung setzten. Wollten die Höhen Jehudas und die Gebirge Israels ihr Land verlassen und mit ihren Söhnen in die Fremde wandern? Was sollten sie noch daheim? Das Totenlied anstimmen über die leere Weidentrift, über die verwüstete Fruchtaue? Dahin war der Kornschnitt, vorbei das Obsten und Keltern, zu Ende die Schur. Wie ein Schäfer seinen wolligen Mantel, so hatte der Herr sein Land zusammengerollt. Oder sah Jirmijah mit seinen gequälten Augen falsch? Freuten sich diese Gebirge und Hügel, von dem störrischen Volke befreit zu sein, das auf ihnen unzählige Geschlechterzeiten lang gehaust hatte? Nun würden hier wieder Menschen wohnen wie vor Abraham, Isaak und Jakob, Menschen, dumpf, schweigsam und fromm, zu denen Gott wenig spricht und die wenig zu Gott sprechen, Menschen, leichtlebend, leichtsterbend, wie sie die Erde gerne hat.

In einem grausigen Gegensatz zu der Leere des Landes und seinen rauchenden Trümmern stand die Fülle der Straßen und gebahnten Wege. Obgleich seit dem neunten Tage des Ab-Monds und dem Zusammenbruch Jerusalems bereits mehrere Wochen vergangen waren, wollte das qualvolle Ziehen und Wandern noch immer kein Ende nehmen. Nergal Nebusaradan leitete die große Umsiedlung in Person. Nicht wie bei der ersten Wegführung nach Jojakims und Konjahs Sturz durften die Vornehmen ihren Rang und die Reichen ihren Schatz in Bequemlichkeit mit sich nehmen. Was es an Geld und Gut im ganzen Lande gab, war Babel anheimgefallen. Zwischen Fürsten, Priestern der höchsten Ordnung und Leibeigenen wurde kein Unterschied gemacht. Leibeigen sollten alle sein, die von der Austreibung betroffen waren. Mardukh dachte nicht daran, sein Reich mit vornehmen Nichtstuern zu belasten, mit Schriftmeistern, Gottesdeutern, Bücherlesern, mit langschlafenden Selbstbeschauern oder mit pfiffigen Goldwechslern, Juwelenfeilschern oder sonstwie Handelsbeflissenen. Von dieser Art besaß er in Babel mehr als genug. Doch gegen zehn Myriaden Sklaven, die Ziegel buken, Schilfrohr schnitten, Sümpfe trockneten, Steppenland wässerten und an seinen tausend Baustellen im Zeichen des »Lohnarbeiters« arbeiteten, sie bildeten eine erkleckliche Bereicherung und eine schickliche Bezahlung des Kriegs. Darum sollten diese Myriaden, ob hoch, ob niedrig, sogleich beim Auszug die Faust des schonungslosen Elends kennenlernen, damit sie nach der Wanderschaft das härteste Arbeitsleben an Ort und Stelle süß und erquickend dünke. Wessen Kräfte es nicht leisteten, der mochte am Wege verrecken. Was tat es, wenn einige tausend liegenblieben? Die Wanderung war ein treffliches Sieb für die Sklavenschaft. Nur starke Arme konnte Mardukh zu seinem Bauwerk brauchen. Nergal Nebusaradan hatte in der kleinen Stadt Rama in Benjamin ein Sammellager für die Gefangenen aufgeschlagen. Dorthin wurde alles zusammengetrieben, was Babels Streifscharen nach den großen Menschenschatzungen der ersten Tage in entlegeneren Weilern, in Höhlen und Schluchten der Gebirge aufscheuchten. Nur die Alten, die Kranken, die Krüppel, die Blinden und das niedre Volk der kleinen Bauern durfte an seinem Orte bleiben. Denn an letzteren strömt der Weltlauf vorüber, ohne sie zu berühren, und wie die Katzen nicht den Hausbewohnern, sondern nur dem Hause selbst anhangen, so gehört der kleine Landmann weniger der Nation an als seiner Erde. Darum bildet er, so zahlreich seine Menge auch ist, keine Gefahr für den Eroberer. Aus dem Sammellager von Rama aber sandte Nebusaradan in klugen Abständen die Züge der Verschleppung ab. Und sie nahmen kein Ende.

Mardukh hatte in unerwarteter Milde der verlorenen Königin und ihren Begleitern gute Reittiere und genügend Dienstvolk zugebilligt. Dennoch kamen die Heimkehrenden auf den überfüllten Straßen beinahe nur schrittweise vorwärts. Alle Stunden begegneten sie neuen Elendszügen. Diese bestanden zumeist aus einer Hundertschaft von Männern, denen Weiber und Kinder im hellen Haufen nachstolperten. Die Männer waren paarweise oder auch zu mehreren aneinandergefesselt. Nach altem Kriegsbrauch trugen sie wuchtige Jochstangen auf den tiefgebeugten Nacken, so daß sie in der seit Wochen ungeminderten Sonnenglut strauchelnd einherkeuchten und der Schweiß sich mit ihren Tränen vermischte. Joch und Ketten scheuerten das dünne Gewand so schnell durch, daß die meisten in Fetzen und viele so gut wie nackt in die ewige Gefangenschaft wandern mußten. Kein freies Verschnaufen, keine willkürliche Rast wurde geduldet. Der Rhabsakh mit seiner Reiterschar, die jeden dieser Züge begleitete, fuhr mit Geißelhieben und flachen Schwertstreichen drein, wenn eine Stockung entstand, wenn einer nicht mehr weiter wollte oder konnte, wenn es diesen und jenen gelüstete, sich zum Sterben auf den Straßenrand zu betten. Um das Leiden zu mehren und den Zusammenhang der Ausgetriebenen zu mindern, waren die Sippen und Nachbarschaften streng voneinander getrennt worden. Zusammengewürfelte Seelen, einander fremd, geschieden durch Stammesart, Heimatsort und Lebensalter, trugen dieselbe eiserne Kette. Der Herr schüttelte und rührte sein Volk um wie einen Mischtrank im Becher.

Beim Anblick der Frauen aber krampfte sich das Herz noch schmerzhafter zusammen als bei dem der Männer. Diese durften Joch und Ketten tragen, sonst aber nichts. Die Frauen aber hatten all das zu schleppen, was fürs nächste Leben notwendig war und was Babel mit stillschweigendem Hohn duldete. Manches Weib wankte dahin, einen gewaltigen Sack auf dem Rücken, ein kleines Kind in jedem Arm und ein paar größere zeternde Kinder vor ihren Füßen einherstolpernd. Die helle Haut der jungen Frauen, Mädchen und Kinder schälte sich unter den Sonnenstrahlen, und ihre Füße wurden allmählich zu blutigen Klumpen. War eine der Frauen schön und weckte Begier, so lag es im Belieben der Begleitschar, um sie zu losen. Wenn ihr Schrei dann durch die öden Berge gellte, so konnten die gefesselten Männer nicht mit rettender Wut ihr zu Hilfe eilen, wie das Gesetz es heilig verlangte. Babel fand auch Vergnügen daran, seine Gefangenen mit Unreinem zu nähren und mit Fauligem zu tränken, wovor ihm selbst schauderte. Jirmijah sah einmal, wie chaldäische Bogenschützen einige aasfressende Raben erlegten und diese ihrem Schutzbefohlenen Zuge zur Speise brieten. Die Männer und Frauen Israels aber blieben stark. Nur ein Verworfener oder Seelenmatter, vom Hunger überwältigt, langte nach dem Greuel. Die andern jedoch saßen totenstill, schlossen die Augen und senkten das Haupt immer tiefer, bis in den Schoß. Währenddessen aber schnallten die Sieger ihre Weinkrüge von den Packpferden und begannen vor den Verschmachtenden singend und lachend mit einem schier unerschöpflichen Umtrunk. Da kam auch über die Frauen ein hoher Stolz und sie preßten die jammernden Kinder fest gegen ihre Brüste, damit ihr Schreien den Feind nicht erfreue.

Von zehntausend Greuelbildern, die den Heimkehrenden begegneten, war dieses nur ein einziges. Immer wieder ergriff Jirmijah hindeutend Maachas Hand, um sie zu mahnen, daß sie wahrlich nicht allein sei mit ihrem Jammer. Die Hand der jungen Frau war trotz der brennenden Tagesglut eiskalt, so wie ihr ganzes Wesen erfroren zu sein schien. Aufrecht erstarrt saß sie auf ihrer Eselin, eine ganz und gar Seellose. Seit dem Gericht von Ribla hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Nicht einmal nach dem letzten schrecklichen Abschied Jirmijahs von dem Geblendeten war ihr eine Frage über die Lippen gekommen. Baruch und Ebedmelech vermuteten, Maacha habe durch den Schmerz die Sprache verloren. Während die andern unter der Hitze zu vergehen meinten, wurde sie von heftigen Frösten befallen, so daß ihre Zähne klappernd aufeinander schlugen. Bei den Rasten und in der Nacht konnte sie sich nimmer erwärmen. Alle Decken und gehitzten Steine halfen ihr nichts. Es war, als hätte sie das ganze Blut unsichtbar in den Raum ihres Schmerzes vergossen. Zitternd lag sie unter ihrem Zeltdach. Die beiden Mägde, die ihr Mardukhs ritterliche Huld bewilligt hatte, lösten einander in der Nacht ab, um ihr unablässig die kleinen weißen Füße zu reiben, die trotz dieser Mühe starr blieben wie die Füße einer Toten. Wenn Jirmijah aber ihres Zustandes wegen eine längere Reiserast anordnen wollte, wurde Maacha sehr zornig, schüttelte stumm den Kopf und ihre Züge verzerrten sich.

Das Ziel der Heimkehrenden, war das Städtchen Mizpa, das unweit von Anathot an der Grenze Jehudas und Benjamins lag. Dort hatte sich der »Rest Jakobs« gesammelt, all jene Vornehmen, Würdigen, Besitzenden und deren Anhang, welchen die Gunst des Großherrn aus mancherlei Gründen das Verbleiben im Lande gewährte. Dahin zählten die Überläufer mitsamt ihren Familien, alle Grundeigentümer und Priester, die mit der Königsherrschaft der Davidsöhne zerfallen und während des Krieges offen auf die Seite Babels getreten waren, doch auch die Reinherzigen, die den Schaffaniden gleich bis zum letzten Augenblick daran gearbeitet hatten, den völligen Untergang abzuwenden. Von Nebukadnezar zum Statthalter eingesetzt, wohnte Gedaljah, Ahikams Sohn, diesem Reste in Mizpa vor. Sein gesegneter Ruf durchdrang das zerstörte Land. Selbst aus Ephraim und Manasse, aus Isas'char und Sebulon kamen längst Entfremdete, sich um ihn zu scharen. Gedaljah gebot über mehrere tausend Vaterhäuser, und dies war nicht wenig. Er bereitete eine weise Neuaufteilung des Landes vor. Baruch verhehlte Jirmijah seine Hoffnung nicht, daß auch die vollkommene Zerstörung nur eine schwere, doch nicht tödliche Wunde sei, die innerhalb einiger Geschlechter heilen werde. Jirmijah schwieg zu diesen Schwärmereien, die einiger guter Gründe freilich nicht entbehrten. Gedaljah war ein sehr kräftiger Mann, der Tag und Nacht, ohne ein Auge zu schließen, an dem heiligen Werke wirkte, dessen Anstrengungen der kränkelnde Zwillingsbruder Micha schon zum Opfer gefallen war. Der Statthalter obsiegte mit stählernem Willensmut über alle Widerstände und hatte es sogar zuwege gebracht, daß inmitten von Mord, Brand und Austreibung die Wein- und Ölernte nicht völlig verlorenging. Ahikams Söhne hatten, dem sterbenden Vater gehorsam, die Hürde trefflich bereitgestellt. Zu dieser Hürde aber strebten auch die Heimkehrenden. Es war die Pflicht des neuen Volkswalters, für Zidkijahs Weib auf königliche Art Sorge zu tragen.

Auf ihrem Wege gelangten sie eines Abends ganz in der Nähe von Rama zu einer mächtigen Grabstätte des Altertums. Zwölf große Steine erhoben sich über einer tief in die Erde eingesunkenen und verwitterten Mastaba. Keine Inschrift zeigte an, welchen Großen der Vorzeit dieses Begräbnis barg. Man rastete hier im Freien, da den Männern das Herz zu schwer war, Rama, den Sitz Nergal Nebusaradans und den Ort des Sammellagers, zu betreten. Maacha aber stand plötzlich auf, ging feierlichen Schrittes auf das Grabmahl zu und ließ sich auf einen der altersgrauen Steinblöcke nieder. Und da geschah es seit dem Gerichtstag von Ribla zum ersten Male wieder, daß die Verstummte und Erstarrte ihren Mund öffnete.

»Dies ist Rahels, der Urmutter, Grab«, sagte sie mit sonderbar lauernder Strenge zu Jirmijah.

»Meine Herrin irrt«, berichtigte er sie sanft, »dies ist Rahels Grab nicht, die Joseph und Benjamin gebar ... In der Ebene Rephaim vor Bethlehem liegt Rahel begraben ...«

Maacha maß ihn verächtlich von Kopf zu Füßen:

»Was sprichst du da, Unredlicher ... Ich werde doch mein Grab kennen, in das ich heimkehre nach so viel Mühen ...«

Jirmijah sah sie mit großen Augen an, worauf sich Maacha hoheitsvoll tadelnd von ihm abwandte. Nach einer Weile aber begann sie wieder vor sich hinzusprechen:

»Sie haben meine zwei Knaben getötet ... Joseph und Benjamin ... Alle Kinder haben sie mir getötet ... Und mein Schoß war doch eng ... Die schreienden Weiber tragen meine toten Kinder in den Armen nach Babel, Adajah und Jechiel ... Herr, warum tust du das an Rahels Knaben ... Der du den Müttern so schwer Kinder gibst, warum tust du das!? ...«

Sie schwieg. Die Tränen rannen ihr übers winterliche Mädchenantlitz, das wirklich an Rahel gemahnte, die Späterlöste. Doch nicht gut waren diese Tränen, nicht heilsam. Sie brachten Maacha nicht zu sich selbst zurück. Jirmijah redete ihr mit zarter Stimme zu, sich von dem Grabmahl zu erheben. Sie aber wehrte sich. Dies sei ihr Ort. Hier werde sie endlich wieder schlafen können und im Tode warm werden, wie sie es gewohnt sei. Man mußte ihr den Willen lassen. Maacha verbrachte die Nacht regungslos auf dem Malstein als ein Bild Rahels. Erst gegen Morgen glitt sie zur Erde und schlief ein. Jirmijah aber nahm Ebedmelech zur Seite und redete zu ihm:

»Widersprich doch der Herrin niemals ... Sondern tue sanft und geschmeidig ihren Willen, sofern es nur angeht ... Vielleicht wird der Herr sie heilen, vielleicht auch nicht ... Verweile mit ihr, wo und wie lange sie es wünscht ... Schutz habt ihr in Fülle ... Dann aber geleite sie nach Mizpa, wohin ich mit Baruch mich rasch wende ...«

»Der Lehrer möge beruhigt gehen«, nickte der Mohr, »denn mein Herr ist meine Herrin ...«

Jirmijah aber befahl dem Hochgewachsenen, seinen Krauskopf zu beugen. Und er legte ihm die Segenshände auf.

»Zebaoth«, murmelte er, »der so viele Diener des Königs dem Tode weihte, Söhne Jakobs allzumal, dich, den Fremden, hat er verschont ... Und mehr noch ... Du bist aufgenommen für deine Treue unter die Treuesten ...«

»Aufgenommen?« zweifelte der Neger schwermütig. »Hätte ich Kinder, sie würden keine Kinder Jakobs sein, sondern Fremde, Dunkle, Ungeprägte ...«

Jirmijah aber gab ihm, ehe er ging, die Verheißung:

»Auch die Taten unsres Herzens, Ebedmelech, haben ihre Nachkommenschaft ...«

   

Schon als sie durch das Tor der Freistadt Mizpa eingingen, schlug ihnen das Entsetzliche entgegen, das sich in dieser Nacht zugetragen hatte. Das Haus des Statthalters war von einer jammernden, fluchenden Menschenmenge belagert. Jirmijah und Baruch wurden erkannt. Die Wache ließ sie in den Hof des Palastes ein. Inmitten eines dumpf murmelnden Männerkreises lag eine in blutige Laken gehüllte Gestalt auf dem Steinpflaster. Es war Gedaljah, den der Künder in seinem Traumgesicht erblickt hatte, von vier Schwertern durchbohrt. In Wirklichkeit aber hatten nicht vier, sondern zehn Schwerter den Rücken und die Brust Gedaljahs zerfetzt. Das Allerschlimmste an diesem unsäglichen Verbrechen aber bestand darin, daß es in der Zeit vor der Jahreswende in Israel verübt worden war, in den Tagen, da Mardukh Gnade ergehen ließ und in einem eigenen Befehl an Nergal Nebusaradan jeder weiteren Austreibung ein Ende gesetzt hatte. Das Sammellager in Rama sollte unverzüglich aufgelöst und die dort Gefangenen ohne Ansehung ihres Standes und ihrer Vergangenheit freigegeben werden. Zugleich war ein Vergebungsspruch über das ganze Land erlassen worden, der alle Flüchtigen betraf, die sich diesseits und jenseits der Gemarken verborgenhielten. Von diesem Gnadenspruch war niemand namentlich ausgenommen, nicht einmal Elnathan, der alte Kriegsheld, und Prinz Ismael. So hatte es geschehen können, daß Ismael, dem einige Tropfen von Davids Geblüt durch die Adern flossen, unvermutet und ungestraft mit einer Schar seiner engsten Gefährten vor einigen Tagen in Mizpa aufgetaucht war und sein Haupt vor Gedaljah gebeugt hatte.

Unter den niedergedonnerten Männern, die den blutigen Leichnam umhockten, befand sich ein jüngerer Mensch, den Jirmijah und Baruch aus Schaffans Halle im Tempel flüchtig kannten. Er hieß mit Namen Jochanan, Sohn Karechs, und schien sich in der Verwirrung zum Wortführer und Schicksalslenker aufgeworfen zu haben. Aus seinem Munde erfuhr Jirmijah den Hergang des Verbrechens, das nun auch die Hoffnung des letzten Restes vernichtete.

Noch seien keine drei Tage vergangen, erzählte Karechs Sohn, daß Gedaljah das Volk und die Vornehmen (darunter auch Ismael und die Seinen) um sich versammelt und zu ihnen in beschwörender Rede geredet habe, sie möchten doch wegschauen von den Kriegsknechten Babels, ruhig im Lande leben und ihr Herz mit Geduld rüsten. Er aber werde immer vor ihnen wohnen und ihre Sache mit planendem Scharfsinn führen, bis das zerschmetterte Volk sich wieder erhebe. Indessen aber sollten sie alle in Frieden gehn und ihre Gefäße mit Wein und Öl und Obst auffüllen und die Felder wieder bebauen. Diese gute Rede hatte Gedaljah gehalten und das Volk sie gehört. Doch er gedachte mehr zu tun, als seine Feinde durch gute Reden zu ermahnen. Mit festen Banden wollte er sie an sich binden. Zu diesem Zwecke hatte Gedaljah für den gestrigen Abend ein Gastmahl und ein Fest zugerüstet. Zu dem Gastmahl waren Ismael und neun seiner Gefährten eingeladen, ferner der von Nebusaradan über Mizpa gesetzte Stadttartan und einige der würdigsten Gehilfen Gedaljahs. Wehe, warum hatte doch der Statthalter Jochanans Warnung nicht das Ohr geliehen, der seine Worte jetzt zum ungezählten Male an diesem Tage wiederholte:

»Sage doch dein Gastmahl ab! Weißt du denn nicht, daß sie sich verschworen haben? Ismael haßt Gedaljah und vergibt das Geschehene nicht. Daß du übergegangen bist zu Babel und groß geworden unter den Feinden! Auch hat ihn sein neuer Herr, Baalis von Ammon, aufgestachelt, dir Böses zu tun ...«

Darauf aber habe Gedaljah nur gelacht und spöttisch entgegnet, er müßte seinen Glauben an die höchsten Gaben Gottes aufgeben, an wägende Klugheit, Vernunft und Folgerung, würde er solches glauben. Welchen Grund könnte Ismael noch haben, denjenigen zu hassen, welcher ihm die straflose Heimkehr erwirkt hatte und die Hoffnung, sein Gut wieder in Besitz nehmen zu dürfen? Im übrigen wisse er aus Ismaels eigenem Munde, wie sehr dieser sein rechtes Tun segne. Und nun rückte Jochanan den Wortkampf ausführlich ins Licht, den er gegen den Toten hier geführt und der damit geendet hatte, daß ihn der zornige Gedaljah vom Gastmahl fortgebannt, damit sein Haß die Freude der Versöhnung nicht vergifte. In der tiefen Nacht aber war es dann nach seiner Voraussicht geschehen. Als der Wein die Seelen vertraulicher werden ließ, hatten sich Ismael und seine Gefährten plötzlich mit blanken Schwertern erhoben und Gedaljah wie die wilden Tiere zerfleischt, doch auch die andern Gäste niedergemacht, allen voran den Tartan Babels.

Jirmijah sah stumm auf den verhüllten Körper im blutbesudelten Laken nieder. Der letzte Stützbalken des Hauses war gefallen. Den edlen Berechner und Folgerer, den Sichersten der Sicheren, hatte das Ende mitten im vermeintlichen Neubeginn ereilt, da er gerade das Strafgericht Gottes zugunsten des Restes ein wenig zu hintergehn hoffte. Jirmijahs Seele sah plötzlich die scharfsinnigen Zwillinge vor sich, wie sie mit ihrem geschliffenen Wort ihn vor Meschullam und den andern Richtern retteten. Da wurde er von erregtem Stimmengewirr aus seinen Gedanken gerissen. Die im Hof versammelten Männer redeten schreiend auf ihn ein. Er kenne noch nicht den ganzen Frevel, dessen Beginn nur der greuliche Mord sei. Noch während der Nacht habe Ismael mit einer Bande von Wüterichen seiner Art, die sich versteckt gehalten hatten, ein scheußliches Blutbad unter Wehrlosen angerichtet. Nicht nur eine Anzahl der Würdigsten unter dem Reste seien seiner Rache zum Opfer gefallen, sondern auch eine Schar unschuldiger Pilger aus Ephraim, die zu den Trümmern des Tempels wallfahrten wollten. Erst gegen Morgen habe man Waffen und Mannschaft zum Widerstand zusammengerafft und das Mordpack gegen die Stadt Gibeon getrieben. Soeben sei Botschaft angelangt, daß sich dort vor Babels hohnlachendem Auge der Rest Jehudas in blutigem Kampfe zerfleische  ... Jochanan unterbrach mit dem stolzen Wink des neuen Wortführers das jammernde Stimmengewirre.

»Nun haben wir dir«, sprach er zu Jirmijah, »gar sehr durcheinanderschreiend, den ganzen Schrecken berichtet, der uns heimgesucht hat und noch immer heimsucht ... Was aber wird ferner geschehen? ... Müssen wir fliehen, sollen wir bleiben? ... Ein Tartan und mehrere andere Männer Babels sind erschlagen worden ... Der Großherr wird Rache an uns allen nehmen und uns töten, daran ist kein Zweifel ... Mein Rat ist deshalb, daß wir ziehen nach Ägyptenland, ehe noch Nebusaradan Meldung nach Babel erstattet hat ... Andre unter diesen Männern haben wieder andre Rats-Gedanken ... Möge daher unser Flehen vor dir niederfallen.« Karechs Sohn sagte das mit gekünstelter Unterwürfigkeit. »Bete zum Herrn, deinem Gott, für diesen ganzen Rest, denn Spärliches ist von einem großen Volke übriggeblieben, wie du mit Augen siehst ... Es mache uns aber der Herr, dein Gott, den Weg kund, den wir gehn, und die Tat, die wir tun sollen ...«

Jirmijah betrachtete durch einen Spalt seiner Augenlider diese erregten Männer, die hin und wider rannten, sich die Barte rauften, die Hüften schlugen und grimmig einander anfuhren. Bitterkeit stieg in seinen Mund, da er nun des Geblendeten dachte und des Elendvolkes, das noch immer unterwegs nach Babel war, wohin ihm selbst der Herr den Weg vertreten hatte. Doch mit großer Ruhe sprach er zu Jochanan und den andern Männern im Hofe des Ermordeten:

»Ich hab's gehört ... Und will zum Herrn, unserem Gott, beten und seine Antwort erflehen ... Euch aber werde ich kein Wörtlein der wahren Wahrheit vorenthalten ...«

Nach diesen Worten blickte er noch einmal auf die blutige Gestalt hinab, der alle Weisheit und Milde und Hoffnung nicht dazu geholfen hatte, ein wüstes Volk zu beherrschen. Dann führten ihn die Männer unter dankbaren Preisungen (alle seine Weissagung erfülle sich) in Gedaljahs Haus, damit er dort mit seinem Jünger wohne. Am Abend aber, da die Lampe noch brannte, setzte sich Baruch an Jirmijahs Lager und versuchte ihn.

»Warum willst du viel beten«, fragte er, »und den Herrn bemühen, wissen wir beide doch, was wünschenswert ist und was diesem Reste einzig frommt ... Er möge im Lande bleiben, damit dieses Volk nicht völlig verschwinde ... Wegen Gedaljahs wird der Großherr seinen Willen nicht ändern ... Er hat genug und übergenug von uns und eines nur begehrt er, nichts mehr zu hören ... Möge Jirmijah schon morgen zu ihnen sprechen: Bleibet im Lande!«

Jirmijah aber hatte sich aufgerichtet und musterte Baruch mit spöttisch-grimmiger Aufmerksamkeit.

»Du sehr Verständiger«, nickte er, »noch immer hast du nicht ausgelernt ... Wie erinnerst du mich jetzt an den Tag, da du unter Ahikams Söhnen dich meines Joches im Tempel schämtest und auf deinen eigen Klugsinn so eitel warst! ... Das war's ja, was mich von euch unterschied, von Schaffans Söhnen und dir ... Ihr wußtet immer, was morgen geschehen wird ... Nur ich, der Weissager, wußte es nie ... Würdest du etwa als mein Bote einen Auftrag vermelden, den ich dir nicht erteilt habe? ... Da siehst du es nun ... Und ich soll zu diesen Unglückseligen Worte der Botschaft aus mir selbst hervortäuschen, nur weil sie mich richtig dünken und ich mit kräftigem Herzen ihre Erfüllung herbeiwünsche!? ... Geh und lege dich schlafen! ... Weil du mich aber versucht hast, will ich heute nicht schlafen, sondern um Weisung flehen ...«

Zehn Tage und zehn Nächte nahm Jirmijah nur wenig Speise zu sich und besiegte fast gänzlich den Schlaf. Er lag auf der nackten Erde und betete um Antwort, wie er's versprochen. Der Herr aber entzog sich den Kräften seiner Seele und ihrer harten Bemühung sehr lange. Es schien ihm zu gefallen, die reine Wahrhaftigkeit des einzig Ge-Horchenden auf Erden bis zur Neige freudig zu erproben. Erst als Jirmijahs Körper zusammenzubrechen drohte, erging seinem Geiste am zehnten Abend klare Raunung.

Als die Sonne wieder hochstand, trat Jirmijah vor Jochanan, die andern Männer und das ganze Volk, den Gottesspruch zu sprechen. Zuerst aber fragte er sie:

»Habt ihr mir nicht zugeschworen, nach der Stimme des Herrn zu handeln, ob es euch gefällt oder nicht gefällt? ...«

»Das haben wir dir zugeschworen bei seiner Zeugenschaft«, riefen einige mit Biederkeit durcheinander. Jirmijah aber sah weit über die Menge hinweg, als er zu künden anhub:

»Hört die Stimme! ... Rest dieses Volkes, wenn du im Lande bleibst, spricht Adonai, so will ich dich bauen und nicht einreißen. Fürchtet euch nicht vor Babel, vor der ihr euch fürchtet ... Wenn ihr aber redet: Nicht wollen wir wohnen hier, sondern nach Ägyptenland ziehen, keinen Krieg zu sehen, keinen Hornklang zu hören, nach Brot nicht zu hungern, dann höret noch einmal die Stimme: Ziehet nicht in das Haus der Knechtschaft! ... Doch wisset, ihr Männer, Sünde gegen eure eigene Seele begeht ihr, wenn ihr zuerst zu hören verlanget und dann nicht höret ...«

Nach diesen klaren Worten trat eine betretene Stille ein, die sich jedoch schnell in einen erregten Wirbel löste, denn in den verflossenen Tagen hatte sich die Waagschale zu Gunsten Ägyptenlands geneigt, dessen eifrigster Fürsprecher Jochanan war. Dieser aber ließ den Künder hart an, nicht anders, als es die Könige zu ihrer Zeit getan hatten.

»Schwer ist es mit dir, Jirmijah«, schalt er, »denn niemals noch hast du das geredet, was du reden solltest. Der Herr, dein Gott, scheint der leibhaftige Widersprecher alles guten Beginnens und Ermessens zu sein ... Wer versichert uns, daß Babel Frieden gibt und nicht Rache nimmt? ... Das Wort des Herrn, deines Gottes? ... Es ist ein Wort, das deine Lippen bilden. Wenn Babel aber Rache nimmt, dann hast du dich nur verhört, weiter nichts ... Im schönen Hause der Knechtschaft jedoch ist sicherer Friede für uns ...«

»Das kommt nicht aus dem Herrn, deinem Gott«, schrie ein gewisser Assarjah, ein andrer Wortführer, »und nicht einmal aus dir kommt es, sondern der Vollbackige, Zausige, den du seit Ewigkeit mit dir schleppst, hat es dir eingegeben, dein Ohrenbläser ... Glaubst du, wir wissen nicht, wohin Baruch zielt, der uns alle haßt und an Babel ausliefen möchte? ...«

Jirmijah stand in dem allgemeinen Streit, ohne den Mund aufzutun, als ginge ihn dies alles nichts mehr an. Nachdem der Zorn der Männer erschöpft war, sagte er mit sonderbarer Gleichgültigkeit:

»Rest Jehudas, ich werde mit dir nicht kämpfen, denn nicht wider mich irrst du, sondern wider deine eigene Seele ... Ihr habt entschieden ... Tuet, wie es euch gut dünkt, und rüstet zur Reise ...«

Jochanan aber faßte Jirmijah mit umklammernden Händen an, als wollte er ihn gefangensetzen.

»Ja, wir rüsten gar schnell die Reise«, rief er aus, »dich aber nehmen wir mit uns ins Haus der Knechtschaft ... Als Pfand des Herrn, deines Gottes ...«

Jirmijah schüttelte ihn verächtlich ab und sagte sehr müde: »Nicht müsset ihr mich zwingen, freiwillig gehe ich mit euch, vor euch ... Dies ist ja mein Auftrag ... Denn wo ihr seid, muß ich sein ... Dort unten aber in Taphanches und in Noph werdet ihr zerrinnen und zu Schatten der Unterwelt werden, die nicht wiederkehren ...«

Damit wandte er sich ab und ließ die Verdutzten stehen. In seinem Herzen aber war eine unbekannte und schreckliche Befriedigung darüber, daß der Rest das letzte Angebot des Herrn ausgeschlagen hatte.

   

Jirmijah und Baruch saßen auf derselben Stelle, wo sie oft gerastet oder voneinander Abschied genommen hatten. Nun sollte dem Abschied für kurze Trennungen ein Abschied der ewigen Trennung folgen. In ihrem Rücken dehnten sich die Hügel Anathots. Von Hilkijahs Gehöft stand nichts mehr als die uralte Umfassungsmauer. Lange hatte an diesem Morgen Jirmijah die schadhafte Stelle in der Mauer angestarrt, als sehne er sich danach, sie zu erklettern wie einst und sein verwüstetes Eigentum zu durchwandern. Dann aber war er, als sei es ihm verboten, schnell vorübergegangen, ohne den Begräbnisplatz seiner Eltern aufzusuchen, ohne nach dem Verbleib Hanameels, seines Pächters, zu forschen.

Das volle Gold eines milden Herbsttages hüllte die Rastenden ein. Die Sonne strebte dem Mittag zu. Schwermütig veilchenfarben fielen alle Schatten im verlorenen Lande. Baruch wußte, daß es so und nicht anders sein durfte. Längst hatte ihm sein Meister eröffnet, daß er, Jirmijah, an den Rest gebunden sei, an die Hefe und Neige, die nun bald in das Haus der Knechtschaft einzog, um dort zu versinken für immer. Angesichts der Taten und Männer von Mizpa gaben sich Jirmijah und Baruch keinem Zweifel hin. Der Rest war das unrettbar Alte, die Schlacke, die im Schmelzofen zurückbleibt. In Babel war die läuternde Glut, das feuerflüssige Neue, denn der Herr wanderte mit den Ausgetriebenen. Jirmijah aber hatte er zur Schlacke geworfen. Auch sein Schicksal war es, das Neue nicht betreten zu dürfen und vom Rande zurückgestoßen zu werden. Wurde er aber schon mit dem Reste verschüttet, warum sollte auch Baruch im Zweiland versinken? Auf Baruch lag kein Verbot wie jenes schreckliche »Kehr um«, das für den, welcher voran will, wie Sterbensnot ist. Die Gefangenen in Babel bedurften solcher Männer wie Baruch, stand er doch als Jirmijahs Gehilfe in Mardukhs Gunst und konnte helfen und vorbereiten wie kein andrer. Darum hatte sich der Meister entschlossen, den Jünger aus dem Lebensbund von Jugend an zu entlassen und ihn nach Babel zu senden, damit er dort als Altschüler eines Goldscheiders an der Trennung des Edlen vom Gemeinen wirke. Baruch aber war über Jirmijahs Willen bis ins Mark erschrocken und wehrte sich bis zur letzten Stunde mit allen Herzkräften, ihn zu verlassen.

»Wohl bin ich dein Jünger«, haderte er jetzt, »aber wie viele Jahre fehlen mir zu deinem Alter? Rechne dir's doch aus, sechs oder sieben. Auch ich bin nicht mehr fürs Neue geschaffen. Laß mich doch ruhig mit dem Reste wandern, Jirmijah, damit wir beieinander bleiben wie stets ...«

Jirmijah runzelte die Brauen:

»Es hilft nichts, Baruch. Gib es doch auf, mich zu quälen, denn du quälst mich sehr. Ich muß hinab ins Vermischte und Verwischte ... Dir aber ist es verliehen, zu vollenden ...«

»Vollenden«, lachte Baruch auf, »wer bin ich, daß ich vollende, der ich nicht einmal selbst beginnen kann!? Wenn du befahlst, hab' ich gehorcht, wenn du lehrtest, hab' ich gelauscht, wenn du vorredetest, habe ich nachgeschrieben. Wem soll ich fortan gehorchen, lauschen und nachschreiben?«

»Dein Ohr wird voll sein, Baruch, bis an dein Ende!«

Da wurde Baruch blutrot und stieß mit enger Stimme hervor:

»Dies ist es ja ... Ohne Jirmijah kann Baruch nicht sein ...«

»Und Jirmijah?« fragte der andre ganz leise und errötete auch. Dann schwiegen sie sehr lange und sahen einander nicht an, sondern weit hinaus in die gebirgige Richtung Jerusalems. Als erster nahm Jirmijah wieder das Wort. Er stellte eine Frage, wie sie alte Ehegenossen oft aneinander zu richten pflegen:

»Woran denkst du?«

Baruchs Oberkörper begann zu schwingen wie der eines Betenden.

»Ich denke an jene Passahnacht«, murmelte er schmerzlich, »da ich deiner wartete am Tempeltor ... Und du kamst lange nicht, denn sie hatten dich nicht nur zum Ehrendienst, sondern auch zur Zeugenschaft im Heiligtum erwählt ... Mich aber fror, denn ein kühler Nachtwind ging um ... Als du aus dem Tor kamst, da hängtest du deinen Mantel dem Knaben um ... Wie oft hast du auch nachher mir den Mantel deiner Sorge umgehängt ... Und ich gedenke deutlich jenes mitternächtlichen Rittes ... Ascheras, der Himmelskönigin, Stern strahlte so groß ... Da sprach ich zu dir von dem, was ich tagsüber, ein müßig Wartender, gelernt und gelesen hatte ... Von Samuel, dem Knaben, und Eli, deinem Ahnherrn, der auf seinem Lager im Heiligtum schlief ... Ich weiß noch das Wort: Und wenig Weissagung gab es in derselbigen Zeit ... Hier aber, Jirmijah, wo wir jetzt sitzen, hier ist die Stelle, wo deine Eselin scheute ...«

Jirmijahs Hand fuhr sinnend über das Gras:

»Siehe, Baruch, daß du jener Nacht gedenken mußt, das hat einen gar feinen Grund ... Der Knabe, der mir nachlief, war mein Voranläufer ... Damals ahntest du mehr von mir, du Sechzehnjähriger, als ich selbst wußte ... Der Herr war es, der dich auf deinen älteren Freund hetzte ... So wurdest du, Kleiner, mein erster Weckrufer und Mahngeist in deiner Unschuld ... Und beide wußten wir nicht, was uns die Weckung bringen sollte ...«

Baruch schlug sich mit beiden Fäusten an die Brust. Laut brach es aus ihm:

»Wehe, zum Leid bietet er mir Gram ... Ich esse und trinke meine Seufzer ... Ruhe find ich nicht mehr ...«

Jirmijah wandte dem vom Abschiedsschmerz Zerrissenen sein Antlitz zu und sah ihn fest an, ehe er langsam sagte:

»Was Er gebaut hat in vielen Geschlechtern, das zertritt Er. Was Er gepflanzt hat im ganzen Lande, das reutet Er aus. Eine Gebärende ist diese Erde in ihrem Kreißbett. Mit Tod kommt sie nieder ... Und ich? Und du? Was verlangst du Großes und Eignes für dich!? Laß es dir doch genügen: Er, der über alle Wesen so viel Strafe gebracht hat, Er gibt dir dein Leben zur Beute. Denn solches ist dir verheißen: Dein Leben wirst du zur Beute haben an allen Orten, dahin du kommst ...«

»Ich will diese Beute nicht!« schrie Baruch auf, sein Weinen durch Zorn überwindend.

Darauf aber gab Jirmijah keine Antwort mehr, sondern ließ seine Hand schwer auf Baruchs Knien ruhen, bis die Zeit gekommen war. Langsam erhob er sich, nach der verwüsteten Tochter Zions und zu den Trümmern des Tempels hinaufzuwandern, ein letztes Mal vor der Reise ins Vermischte und Verwischte. Baruchs Weg aber führte über Rama ins entgegengesetzte Reich. Die beiden ergrauten Männer umarmten einander kurz und legten Wang' an Wange. Von der Erschütterung ihres Herzens wurden sie sehr verlegen. Damit aber die Gewalt des Abschieds seine Keuschheit nicht übermanne, tat Jirmijah so, als glaube er, was er nicht glaubte:

»Wer weiß, und es gefällt Gott, daß wir uns wiedersehen ...«

»Wer weiß«, flüsterte Baruch rauh, um der Verschämtheit des Abschieds willen.

Dann gingen sie auseinander, ohne sich umzublicken.


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