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Viertes Kapitel

Der Gesang des Krüppels

I

Andrea Geminiano Marchese Gritti pflegte um acht Uhr morgens aus jenem Zustand vollkommener Lebens-Abwesenheit zu erwachen, der bei ihm den Schlaf vertrat. François wartete immer schon auf den Augenblick, wo die Atemzüge seines Herrn sich vermehrten und die halboffenen Augen nicht mehr künstlichen Augen glichen, sondern in ihrer runden Fassung wie bei einem scheuen Vogel wieder zu kreisen begannen.

Der Kammerdiener reichte dem Hundertjährigen dann sogleich ein Glas mit einem seltsam ausgeklügelten Getränk, einer Mischung von hellem Wermut, Kaffee und Zitrone, das sehr belebend wirkte. Eine halbe Stunde später trank Gritti zwei Gläser Milch, doch war es natürlich nur ein Märchen, daß dies Ammenmilch sei.

Pünktlich um neun Uhr trat Doktor Carvagno ein. Das Verhältnis des Arztes zu seinem Patienten war ebenso originell wie das Verhältnis des Patienten zu sich selbst. Beide, Gritti und Carvagno, waren von dem spleenigsten und sachlichsten Ehrgeiz erfüllt, dem hundertjährigen Leib, dessen Eigentümer Gritti war, über alle Grenzen der Natur hinweg zu einer bizarren Zahl von Jahren zu verhelfen.

Den hochbegabten Arzt beschäftigte die Sache als wissenschaftliches Problem ersten Ranges, als Experiment von unabsehbarer Bedeutung. Den venezianischen Aristokraten seinerseits erfüllte auch keineswegs der Wunsch, zu leben, um nur zu leben, sondern es war die Spiel- und Wettwut seiner Kaste, die ihn zu immer neuen Heldentaten in seinem Feldzug gegen den Tod anspornte.

Doktor Carvagno war ein Mensch kurz angebundener Art. Der formenstarre Uralte mußte oft der guten Sache zulieb die Wut darüber verbeißen, mit welcher barschen Gradheit der Arzt ihm, der Exzellenz, dem Ambassadeur seiner Heiligkeit gegenüber sich gehenließ.

Der Doktor glich in seinem Äußern dem untersetzten gallischen Typus, der einen Kopf mit kleinen, verschleierten Augen und großen Backenknochen trägt, was auf verborgene Gefühlsmacht und gefährlichen Jähzorn schließen läßt. Heute – es ist der Tag nach des Maestro Ankunft in Venedig – schien die Laune Carvagnos besonders unzugänglich und zerbrechlich zu sein. Er begrüßte den Marchese ohne alle Umstände und besah sogleich mit prüfend-kaltem Blick die rotumränderten Augen des Greises:

»Sie haben den hundertundfünften Geburtstag gut überstanden, Marchese!«

»Ah, schweigen, schweigen ...« rief der Marchese, der sich in dieser Beziehung einigen Aberglauben bewahrt hatte.

Der Arzt prüfte nun Gritti. Da dieser unermüdlich über alles Buch führte, erübrigte sich jede Untersuchung.

»Puls?«

»Zweiundfünfzig!«

»Wir werden ihn um zehn Schläge höher bringen. Das Herz wird keine Geschichten machen. Dieses Herz ist Ihr Mirakel. – Temperatur?«

»Sechsunddreißig!«

»Das Kältegefühl?«

»Immer noch da. Muß fort!«

»Dann werden wir eine Anleihe nehmen! Ich verordne eine leichterhöhte Fleischnahrung, und außerdem schreibe ich Ihnen etwas auf.«

Carvagno machte dem Marchese eine Einspritzung mit einem von ihm selbst erfundenen, blutbildenden Präparat. Zum Schluß rieb er diesen fett- und fleischlosen Körper, dessen Haut wie braunes Leder übers Skelett hing, mit einem feinen Frottierhandtuch leicht ab, wodurch der Blutumlauf in besseren Schwung kam. Als der Arzt schon in der Tür stand, fragte die helle Stimme Grittis:

»Wie lange garantieren Sie?«

»Ein halbes Jahr, wenn nichts dazwischen kommt.«

»Ein halbes Jahr ist Stümperei. Mehr, mehr!!«

Carvagno ließ sich nicht erweichen und verschwand. Nach der Anstrengung dieser Behandlung legte sich der Greis, das einzige Mal im Tag, in ein Bett. Doch auch jetzt lag er nicht, sondern saß gegen viele Kissen gestützt. Um zehn Uhr endlich fing die Zeremonie an, die eine Stunde in Anspruch nahm.

Ging Gritti des Abends im Allerweltsfrack ins Theater, so hatte sein Anzug tagsüber doch jene wohlberechnete Eigenart, die der Menschheit zeigen sollte, daß er nicht daran denke, Zeitgenosse zu sein, sondern aus ganz besondrer Großmut die Gnade habe, die Noblesse herrlicher Tage mit dieser kleinbürgerlichen Gegenwart zu vertauschen. So geht überlegen-kaustisch ein großer Schauspieler der Residenz durch die armselige Provinzstadt, der er das Geschenk eines Gastspiels widmet.

Er allerdings war gesonnen, die Gnade dieses Gastspiels sehr lange auszudehnen, und er wollte sich nicht sperren und dem letzten Auftreten immer wieder ein allerletztes nachfolgen lassen. War auch alles Kreatürliche längst erloschen, alles Feuchte (das ja Sinnbild des Lebens ist) längst ausgetrocknet, so herrschten doch die beiden fixen Ideen über sein Ich, die niemals Langeweile, Ekel, ahasverische Todessehnsucht aufkommen ließen: Alter und Oper. Die allermeisten Menschen besitzen nicht einmal eine halbe Leidenschaft. Also war er, der Hundertfünfjährige, doch weit emporgehoben über diese Welt der Jungen, Feuchten, Begattungslustigen und Nahrungsfrohen. Kannte er keine Lust mehr, die befriedigt sein wollte – diesen einzigen blöden Inhalt der Gewöhnlichen, ohne den sie sich in Nichts auflösen mußten –, so hatte er doch ein Ziel, ein ungeheures Ziel, das alle Lust und alle Befriedigung aufwog. François, die gebrechliche Folie seines Herrn, brachte nun höchst behutsam Kleidungsstücke, die aussahen, als seien sie noch niemals getragen worden. So sparsam, so genial berechnend ging Gritti mit seinen Kräften um, daß sich der geringe Verbrauch an Zufälligkeit in der durch keine Lebensspur gestörten Glätte seiner Kleidung zeigte.

Er legte das durch Strupfen gestraffte, sehr breit karierte Beinkleid an, das ganz dem Vormärzstil entsprach, ein gemustertes Gilet, den kaffeebraunen, frackartigen Gehrock. Dazu trug er einen ausgeschnittenen Kragen, der dem arbeitenden Kehlkopf Raum gab, und eine bauschige Plastronkrawatte. François reichte ihm das Lorgnon, das, wie alles andere, seiner Erscheinung vortrefflich zu Gesicht stand und nicht wie bei einem Gecken als Theaterrequisit der Vornehmtuerei wirkte.

Gritti durchstelzte die Galerie seiner Sammlung, verweilte besonders lang im Zimmer der Sänger und Sängerinnen, betrachtete dies und jenes Porträt aufmerksam und ließ unter seiner Aufsicht alles vom kleinsten Stäubchen reinigen. Auch im Saal der Theaterzettel gab er Anweisungen. Einige der Plakate mußten ohne ersichtliche Ursache ihren Platz vertauschen. Solch nutzlose und unbegründete Veränderungen befahl er allmorgendlich an, als wolle er der eigenen Sammlung damit beweisen, daß seine Herrschaft noch lange nicht zu Ende sei.

Sein Leben war schön. Er sah nicht ein, warum er vor der Zeit die Geschichte aufgeben sollte.

Die Stunde des Ausgangs war gekommen. François brachte einen großen breiten Mantel mit weitem Kragen, der die Eigenwilligkeit des Kostüms noch verstärkte, dazu den Ebenholzstock mit dem Elfenbeinknopf. Zum Schluß stülpte der Marchese einen hohen dunkelgrauen Zylinder, einen Stößer, wie ihn die Österreicher nennen, auf seinen glatt-emporgetürmten Schädel.

Die Gondel mit zwei livrierten Ruderern wartete unten. Der Uralte ließ heute das schwarze Coupé entfernen. Dann stieg er in diesen urtümlich schönen, metallbeschlagenen Wassersarg, den einzigen, den er gelten ließ.

Die Seitenkanäle wurden vermieden; von langen Stößen getrieben, strich die Gondel durch das grüntrübe Wasser des Canal Grande. Die Landung erfolgte an der Piazzetta. Alle Gondolieri, die alten münzengierigen Tagediebe mit dem Enterhaken, die Lungerer, das Volk, begrüßten den Marchese, dieses Denkmal ihrer Stadt, mit diensteifrigen Zurufen. Die wenigen Fremden, die es zu dieser Jahreszeit hier gab, kamen neugierig näher, als könnten sie eine neue Sehenswürdigkeit in ihre arm und lüstern durch kurze Wochen gejagten Reiseerlebnisse einverleiben.

Der Hundertjährige stieg mit dem Bewußtsein, weniger denn je Schwäche zeigen zu dürfen, straffen Schrittes aus und begann, von François' unsicherem Greisengang wirksam gefolgt, seinen täglichen Triumphzug.

Die Kanone von San Giorgio jagte der aufwirbelnden Wolke ihren Mittagsschuß nach. Wie alltäglich prasselten die tausend Tauben dicht im Todesschreck empor; ihr Gedächtnis reichte nicht aus, sich an die Gefahrlosigkeit des Knalles zu gewöhnen. Wild aufgeweht rauschte dieser Vorhang von Tauben in schlagenden Falten überm Geviert des Platzes, so gestern wie heut und morgen. Nicht anders peitscht der Krieg die gedächtnislosen Völker, die sich von einem Tag der Geschichte zum andern beruhigt haben.

Heute und täglich, genau wenn der Schuß krachte, trat der Marchese zwischen der ersten und zweiten Fahnenstange vor der Basilika auf den offenen Platz. Ehe die Tauben noch beruhigt waren, schwenkte er nach rechts, den Procuratien zu.

Diese Stunde hatte die feine Welt von Venedig und ihr Anhang gewählt, den Sonnenstrahl auf dem Platz zu genießen. Viele junge und ältere Herren saßen in den vier klassischen Cafés der Piazza und tranken ihren Wermut oder ein anderes Aperitif. Die Damen, denen es die Sitte verbot, in diesen damals noch sehr männlichen Lokalen Platz zu nehmen, promenierten mit jener aufreizenden Lässigkeit, mit der die Venezianerin zu verwirren weiß. Diese Mittagsstunde galt als Modekonkurrenz einer Weiblichkeit, die noch ganz unverdorben durch das angelsächsische Ideal nicht daran dachte, Vornehmheit durch spröde Sportlichkeit der Eleganz kundzutun.

Gritti wurde mit jenen angeregt-erfreuten Lauten begrüßt, wie sie jeder Virtuose der Kunst oder des Lebens kennt, der in einer Gesellschaft erscheint. Mit Widerwillen betrachtete er das längst entzauberte Frauen-Geschlecht, von dem zu wissen, daß es zeitweilig unpäßlich werde, ihm ein verächtliches Bewußtsein war. Mit ungerührter Miene, wie ein Held nur das Ziel im Auge, hoch erhoben über diese dem Monat, der Geilheit und Zerstörung unterliegenden Körper, ließ er sich feiern. Gruppe auf Gruppe bemächtigte sich huldigend seiner Anwesenheit. Er sprach kaum, sah starr drein, lüftete niemals den gewaltigen Zylinder und stand, wenn man ihm nahte, steif wie ein Souverän, der die Rede des Ortsvorstehers entgegennimmt. François, in geraumer Entfernung, ahmte die starre Geste seines Herrn nach, aber so – (es mußte wohl studiert sein) –, daß er zum Erbarmen hinfällig wirkte.

Einmal schien sich der Marchese für ein Gespräch sogar zu interessieren, denn länger als es seine Art war, hielt er sich bei der betreffenden Gruppe auf. Es war die Rede von der Karnevalsstagione in La Fenice, sowie von einer zweiten Operntruppe niedrigerer Ordnung, in der jedoch eine einzigartige junge Sängerin, Margherita Dezorzi, mitwirkte. Plötzlich fing irgendein junger Conte an, irgend etwas von Richard Wagner zu erzählen. Gritti wurde nach seiner Meinung gefragt.

»Wer ist Wagner?«

»Aber teurer Marchese!«

»Ah! Ich weiß schon. Das ist der Kauz, der für die kaiserliche Oper in Paris kein Ballett im zweiten Akt komponieren wollte. Kenne den Skandal! Kaprizierte sich auf das Ballett im ersten Akt. – Nun, in meiner Sammlung habe ich nichts von diesem Wagner.«

Der Name war damit abgetan. Gritti ging davon.

 

Die ein wenig überspannte Mittagssonne eines neblig-adriatischen Wintertages brach hervor und überströmte üppig die Kuppeln und die ganze Buntheit der Kirche des heiligen Markus, dieser russischen Jahrmarktbude Gottes. Als schiene nicht die Sonne, sondern als bohre ein überirdischer Scheinwerfer seinen Kegel in die Mattigkeit des Tages, stand allein die Kirche und der kleine Raum vor ihr in Strahlenflammen. Und wie an einem dunstig-fahlen Sommertag die ungemähte Wiese tot daliegt – aber auf einmal sticht ein einziger Strahl hinab und der Tod ist überwunden, denn tausend Fliegen, Mücken, Wespen, Hummeln taumeln mit ihrem lobpreisenden Orgelakkord im ätherisch-erquickenden Leib des Lichts –, so auch tanzten jauchzend jetzt, von Tauben umflogen, viele Kinder im grellen Sonnenkreis.

Es waren dies Kinder aller Arten, Klassen und Altersstufen. Die Kinder der Fremden, kleine Engländer und Engländerinnen, durchwegs ruhig und abweisend. Sie kauften dem Maiskornhändler wortlos seine Tüten ab, indem sie langsam und ohne sie zu berühren in seine offene Hand die Münze legten. Dann fütterten diese Kinder gelangweilt und nur, weil es sich so gehörte, die dickgefressene Schar dieser sorgenfreien Vögel.

Ganz anders benahmen sich die wohlhabenden Knaben und Mädchen Venedigs. Das Taubenfüttern galt ihnen als eine Kunst, die ihre besonderen Gesetze und ihre Ordnung hat. Die schweren Tauben hingen ihnen schlagenden Flügels auf der Hand, saßen auf ihren Schultern und pickten in landsmännischer Zutraulichkeit die Nahrung.

Abseits vom Treiben der Glücklichen drängte sich der Haufe armer Kinder. Sie schauten mit dem feindlichen, zugleich beleidigten, zugleich wunschbesessenen Blick erwachsener Proletarier auf das Treiben der Wohlgekleideten. Manch einer dieser Buben hatte die Taschen voll Brotbrocken, aber ein Jahrtausende altes, in jedem Blutstropfen kreisendes Verbot verhinderte die Elenden, den Bannkreis der Auserwählten zu überschreiten und ihn durch ihre verfluchte Gegenwart zu beschmutzen. Erst viel später, nachdem die Glocke der Hotels oder Palazzi die Reinlich-Duftenden, ewig Milch- und Zuckergesättigten zur Colazione gerufen hatte, eroberten die Kinder der Straße die verlassene Stellung und streuten nun ihrerseits den gleichgültig-gefräßigen Tieren ihr hartes Brot.

Wie der Marchese all die vielen Kinder inmitten des auflohenden Sonnenschwalls bemerkte, strebte er im eiligen Takt mit seltsam gestreckten, fast begehrlichen Schritten dem Orte zu. Er suchte die Sonne.

Oh Sonne, du Medium der Gottheit, durch das sie ihre Materialisationsphänomene vollbringt!

Auch den Hundertjährigen materialisierte sie immer wieder, ihn, dessen stoffliche Teile schon empört über die widernatürliche Dauer der Verkörperung auseinanderstrebten. Gritti wußte, daß eine Weile dieser Bestrahlung die lauernden Todesmächte besser bannte als Doktor Carvagno.

Wie ein nackter Kreidefels in brennender Mittagsmacht fühlte er sich da, in dessen längst vertrockneten Ritzen und Rillen plötzlich ein Hälmchen, ein Gras, eine Kletterblume zu prickeln beginnt. Und dann die Kinder!

Obgleich der uralte Junggeselle gewiß nicht das war, was man einen gütigen Kinderfreund nennen kann, so waren es einzig die Kleinen, welche die letzten Reste erotischer Gefühle in ihm weckten.

Er trat unter das spielende Volk, das ihn schon gut kannte und auszunützen verstand. Dann verteilte er täglich eine Anzahl von Zuckerwerktüten, die François immer nachmittags in einer mäßig guten Konditorei zu besorgen pflegte. Nach der Verteilung der Süßigkeiten nahm der Marchese eines der Kindchen bei der Hand, fragte nach seinem Alter, lachte in langsamer Art, und erklärte mit befriedigtem Stolz regelmäßig:

»Siehst du, ich bin rundweg um hundert Jahre älter ...«

Worauf ihn dann das Kind verständnislos ansah. In seiner verschrumpften braun-kalten Hand hielt er die zärtlich-schwache des Kindes. Dies war die einzige Form von Wollust, die er noch empfinden konnte.

Er prüfte all diese süßen Kinderhändchen, ihre Unterschiede und Arten, die auf den künftigen Charakter, die Entwicklung schließen lassen.

Ob die Hand einem Knaben oder Mädchen gehörte, war gleichgültig. Darauf, wie sie sich anfühlte, kam es an. Beglückend aber waren sie alle. Ob weich und schon scheubeseelt, oder patschig und voll drolliger Grobheit, ob warm oder kühl, trocken oder feucht, es ging von diesen Händen ein belebender Strom aus.

Gritti quetschte, quirlte, streichelte die Fingerchen, der hochmütige Todbesieger plapperte und knurrte dabei, verzückt pfiff der Atem durch seine riesige Nase. Es war ein heiteres, erfrischendes Gefühl, das dem Blutumlauf wohltat, die notwendige Dosis Freude, die jedes Leben braucht.

 

Heute stand in einiger Entfernung von den taubenfütternden Kindern der Reichen und der Plebs der kleinen Gassenjungen ein Knabe, dessen Schönheit so auffallend war, daß man hätte glauben können, sie ziehe einen Kreis von Einsamkeit um das Kind. Besonders engelhaft erschien das lange metallblonde Haar in der Sonnenglorie. Der Knabe war sehr gut, ja vornehm gekleidet im dunklen Anzug und Mäntelchen, darüber der weiße spitzengesäumte Kragen vorstieß. Nur die Schuhe des Kleinen waren in merkwürdig abgetragenem Zustand und schienen an der Kappe geflickt zu sein.

Denselben wohlgekleideten Eindruck machte die Mutter. Wenn man aber näher hinsah, konnte man unschwer die Zeichen des Selbstgeschneiderten und Zusammengestellten erkennen. Die junge Frau war durchaus nicht hübsch. Ihrem Gesicht konnte man im Augenblick nicht ansehen, ob es verhärmt sei, oder nur durch irgendeinen Umstand erbost.

Gritti, dem das schöne Kind ins Auge stach, trat näher:

»Wie heißt du?«

Erst auf die wiederholte Frage antwortete der Knabe abgewandt und leise:

»Hans Fischböck.«

»Ah! Ein deutsches Kind. Ich kenne dein Vaterland. Willst du deutsch sprechen?«

»Ich spreche italienisch ...«

Ganz leise sagte es die Kinderstimme und wie um eine Annäherung abzuweisen.

»Und wie alt bist du?«

»Seit voriger Woche fünf.«

»Seit voriger Woche? Ah, bravo, bravo! Da bin ich genau auf den Tag hundert Jahre älter als du!«

Der Marchese Gritti ergriff das scheue Händchen des kleinen Fischböck und prüfte es. Welch ein Genuß! Dies war an Feinheit und Wärme das richtige.

»Willst du etwas, Giovanni, willst du die Tauben füttern?«

Im Auge des Kindes zeigte sich ganz schwach die verschluckte Sehnsucht. Wahrscheinlich hatte vorhin seine Mutter sich geweigert, das Geld für die Maistüte herzugeben.

Gritti führte den Knaben mit wohlig gesteigertem Lebensgeist an der Hand, dann kaufte er für mehrere Soldi, die der Kammerdiener auszahlte, Maiskörner. Hans begann die Tauben zu füttern. Aber mochte er traurig sein oder sich schämen, er verzichtete auf alle Feinheiten und Freuden der Fütterung, schüttete eilig die Tüten zu seinen Füßen aus, und lief zur Mutter.

Der Marchese folgte dem Kind. In der ihm seit je vertrauten Regung, daß man alles Schöne bezahlen müsse, zog er einen Dukaten hervor und drückte ihn ins Händchen des Kleinen. Frau Fischböck beobachtete diesen Vorgang scharf, entriß mit einem zornigen Ruck dem Kinde das Goldstück und gab es dem Greis, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, zurück.

Dann zog sie schnell ihren Knaben fort und verschwand mit ihm im Torbogen des Uhrturms. Doch plötzlich, als ob zu spät die Reue käme, verzog sich ihr Gesicht mit der glattgestrichenen Mädchenstirn, und unbändige Tränen ließen sich nicht halten. Aus gequältem Herzen wiederholte immer die leiernde Kinderstimme:

»Aber, Mammi, was ist dir denn?«

 

In der gleichgültigen Untreue des Greisenalters gegen den Augenblick vergaß der Marchese sogleich den schönen Knaben. Er ergriff eine andere Kinderhand, um sich schadlos zu halten. Man sah noch eine ganze Weile die lange aufrechte Gestalt in fast theatralisch-altmodischem Aufzug mitten im Schwarm von Kindern und tanzenden Vögeln hoch emporragen.

Eine Stunde später, nachdem die Sonne schon längst wieder gewichen war, saß der Hundertjährige vor seinem Tischchen und speiste, indem er mit eiserner Energie auf jeden Bissen dreißig Kaubewegungen verwendete. Er aß auf Anordnung Doktor Carvagnos ein Beefsteak von ausgezeichneter Sorte. Nachdem das Stück Fleisch sorgfältig durchgebraten worden war, wurde es noch durch eine Faschiermaschine getrieben, damit der Alte nicht zuviel Kraft beim Essen verliere. – In ganz kleinen Schlucken trank Andrea Gritti zu seinem Mahl ein halbes Glas Bordeaux.

II

Gegen elf Uhr war Giuseppe Verdi, ohne die neugierig diskreten Blicke des Hotelpersonals zu beachten, aus dem Haus getreten.

Die Verwunderung, sich in Venedig zu wissen, etwas wider den geraden Strom seines Lebens getan zu haben, hier fremd, unbekannt, nicht er selbst, ohne Atmosphäre wie ein Anfänger zu sein, diese Verwunderung war noch nicht von ihm gewichen. Er mußte an einen biographischen Aufsatz denken, den man ihm geschickt hatte. Auf diesen Seiten war er als ein Patriarch geschildert, der, »eins mit sich und seiner Kunst, der reichen Ernte sich freuend, in friedlicher Beschaulichkeit die Tage der wohlverdienten Ruhe hinbringt«. Wie war das doch gleich allem Gedruckten faustdick erlogen!

Nach einer Nacht qualvoller Selbstzergliederung, verschmachteten Ehrgeizes, unsinniger Träumerei ging er wie ein Schiffbrüchiger durch die Gassen dieser Laguneninsel, neunundsechzigjährig und doch mit jugendlichem Körpergefühl, unsicher wie nach irgendeiner Niederlage seiner beginnenden Laufbahn, noch immer ein Schüler, als läge nicht ein Viertelhundert großer Werke hinter ihm und mehr, sondern ein kaum sichtbarer Anfang.

Und noch etwas kreiste wie ein Krankheitsstoff mit seinem Blut, ein verschämtes Fieber, das nicht schwinden wollte.

Trotz der gewaltigen Arbeitsleistung seines Lebens, davon allein schon die landwirtschaftlichen Taten ihn zu einem Unikum unter den italienischen Grundbesitzern erhoben, war der Maestro keine fleißige Natur. Seine höchste Wonne wars, im großen Schlafzimmer von Sant Agata stundenlang auf und ab zu gehen, ohne etwas Rechtes zu tun, unklaren und wilden Träumen hingegeben.

Nicht wie die Menschen des Alltags, die in geheimer Vergänglichkeitsangst ihre Unrast in jede Sekunde stopfen, trieb es ihn zur Tätigkeit. Im Grunde floh er die Arbeit. Denn ehe sie ihn nicht niederwarf, mußte er sich mit Ekelgefühlen und unnatürlichem Energieaufwand zu ihr zwingen. Und die ganze Verzweiflung des letzten Jahrzehnts war ja dies, daß sie ihn nicht niederwarf, daß er mühsam erdichten wollte, was nicht da war, anstatt wie früher nur zu erlauschen und festzuhalten, was ihn herrlich durchdrang.

Je karger eine Begabung ist, um so früher gewöhnt sie sich daran, hauszuhalten, sich zu organisieren, sich auszuschroten, all die andern Kräfte im Brennpunkt des schwachen Talents zu versammeln. Ihm, dem vortrefflichen Ökonomen eigenen Landbesitzes, war es nicht gelungen, seine innere Quelle aufzusparen. Zu reich war sie ein ganzes Leben lang, zu stürmisch hervorgeschossen, als daß ihm je eingefallen wäre, es könnte einmal anders sein. Ohne je Not zu haben, hatte er mit klarem und mit trübem Wasser die stets überlaufenden Krüge gefüllt. Dieses so naheliegende Gleichnis von den Quellen steht nicht ohne Grund hier. Verdi, der eben die Piazza vermeidend auf irgendeinen Seitenweg in die Merceria einbog, dachte es selbst. Er dachte es eigentlich nicht, denn das früher ach so reiche Quellen, das heutige Versiegtsein war fast ein Körpererlebnis. Geheimnisvoll stellte Erkenntnis sich ein: ›Es gibt viele Orte auf Erden, wo Quellen entspringen, aber nur ein bestimmtes Maß von Wasser. Wenn eine der Quellen reicher, stärker fließen soll, muß die andere vertrocknen. Wehe ihr, wehe der, die es treffen soll.‹

Der Maestro versuchte sich einer Lebenszeit zu erinnern, da eine ähnliche Pause der Arbeitskraft ihn gequält hatte.

Ja, in klangloser Ferne lag das. Drei Särge hatte man innerhalb weniger Wochen aus seinem Haus getragen: Margherita und die beiden Kinder. Und er mußte noch seiner Verpflichtung, für Merelli die Opera buffa zu schreiben, nachkommen. Todmüde, krank, nicht bei sich selbst, hatte er aus alten Nummern, die teilweise noch Übungsstücke aus der Lehrzeit bei Lavigna waren, die Oper zusammengestückelt. Das ganze war nicht schlechter und nicht besser als irgendeine der komischen Opern im Gefolge des ›Barbiers‹. Ganz leidliche Melodien der hohen Stimmen, zu denen der Baßbuffo tausend schnelle, dumm-listige Noten stakkatiert. Diese Oper ist sein einziger großer Theaterskandal geworden. Das Publikum war an diesem Abend zum wilden Tier verwandelt.

Seither kannte er das hypnotische Gesetz des Erfolges:

›Wenn du schwach in deinem Willen, feige in der Kampflust, nachgiebig in deiner Sache wirst, bist du verloren.‹ Damals war es zu Ende gewesen wie heute. Leer und ohne Antrieb hatte er allen Ehrgeiz für immer von sich gestoßen. Jetzt schien es ihm, daß er vor vierzig Jahren in seinem rauhen Willen, einen schon bewunderten Karrierebeginn aufzugeben, höher gestanden habe als heute, wo der schmerzhafte Wahn weniger denn je überwunden war.

Zwei Dinge hatten ihn damals über die grinsend elenden Tage hinweggebracht: Das unaufhörliche Lesen stumpfsinniger Romane, wie sie die Pariser Blaustrümpfe der Zeit für den verderbten Geschmack erzeugten, und dann ein nimmermüdes, bewußtseinfernes Hasten durch die Straßen Mailands. Ganze Tage lang, außerhalb und innerhalb der Stadtmauern, ohne je einzukehren, ja ohne sich niederzusetzen, war er spazierengegangen. Und siehe: Heute wie damals lebte in seinen Beinen, die gelenkig das Alter nicht spürten, der Trieb zu gehn, zu gehn, zu gehn.

Und dieser Trieb glich nicht der Lust zu Spaziergängen oder -ritten, die ihn sonst täglich über Land traben oder von Genua nach Acquasola wandern ließ. In dem heutigen Gang war Dumpfheit, Unruhe, als müßte er etwas fliehen, etwas suchen.

Der Lärm der venezianischen Gasse umschloß den Maestro, dieser Lärm, der nicht nur von Stimmen und Geräuschen ausgeht, sondern auch von Farben und Gerüchen. Überall standen die Tintenfischverkäufer mit ihren dampfenden Kesseln und schöpften aus dem Sud die Calamari, die wie rotverbrühte Eingeweide vom Löffel hingen. In den Schaufenstern der Osterien und Viktualienhändler lag in Hügeln weißes Gewürm des Meeres, silbriges Kleinfischzeug, stachlige Seespinnen, gepanzerte Langusten und in Öl gebackene Sardinen. An den offenen Fleischhauerläden hingen rotbrüllende Ochsenkeulen, halbierte Kälber mit hohlem Innern, das die Rippenkonstruktion wie ein halbabgetragenes Haus sehen ließ, als hätte es nie einem lebendigen Wesen angehört.

In den Butiken drängten sich die Gäste der Seestadt. Über den Fässern, darin Pipe und Hahn staken, konnte man auf weißen Schildchen lesen: Aquavit, Rum, Punsch und die Namen starker Weine. In den hundert Antiquitätenläden, deren Dunkel etwas Betrügerisches, Künstliches hatte, häufte sich echtes und unechtes Gerümpel, dessen Metallbeschlag menschlich wie ein Hehlerblick lockte. In Haustüren, Höhlen, vor kleinen Kiosken riß sich das zeitungsnärrische Volk der Italiener um all die Journale, die einer der sichtbarsten Erfolge der Einigung und Befreiung waren. Die großen Gefühle und Taten, jetzt hatten sie sich in die siegestrunkene Pathetik der Leitartikel verflüchtigt, die hier wie in ganz Europa das Zeitalter des Chauvinismus einpeitschten. Die Literatur der Nation lag auf den deichsellosen Wägelchen, die der Buchhändler auf besonders belebte Kreuzungspunkte geschoben hatte. Hier türmte sich alles sinnlos über- und durcheinander: Zerschlissene und noch nicht aufgeschnittene Bücher, Bände mit grausig-koloriertem Titelblatt, das den fruchtbaren Moment der Kolportagehandlung darstellte, und daneben ein Buch über Astrologie, eine entzückende Ausgabe der Werke des Metastasio und all die volkstümlichen Autoren, die hierzulande wirkliche Dichter sein können.

In einer alten Gewohnheit blieb der Maestro vor diesen Bücherständen stehn, und er mußte lächeln, als er überall die Textbücher seiner Opern, die gewiß nicht klassischen Verse des armen Knechtes Francesco Maria Piave als sehr begehrte, nicht nur als Operntext gängige Ware vorfand.

Ohne recht zu wissen, wo er sei, hatte er den Platz durchmessen, auf dem schon der Sockel stand, der einige Wochen später die ausschreitende Figur Goldonis aufnehmen sollte, hatte den Rialto links liegen lassen und war zum Corso Vittorio Emanuele gelangt, auf die breiteste Straße Venedigs. Hier hat die Stadt alles verloren, was in ihrem Zentrum nach Fremden-Regie schmecken mag.

Dicht, in zwei Strömen, zog das Volk hin und zurück. Und über all den Menschen wallte ein Geruch von Öl, Gebackenem, Weindunst, Schwefel und Fisch dahin.

Der Maestro versuchte an ›Lear‹ zu denken, sich auf die große Gerichtsszene zu konzentrieren. Motive waren ja genug da. Nun mußte es aber in ihm erwachen, der Krampf wie früher so oft zur Gurgel emporfahren, daß der Atem aussetzt, der Blick schwindelt ... Denn nur so und nicht anders, nicht durch Denken, durch Kombination, konnte die Melodie geboren werden. Sie mußte geboren werden. Wohl reichte sein Handgelenk aus, wohl war es für ihn nicht schwer, die Notenfolge jenes Weges zu senden, der im Notenbilde der Melodie glich. Aber wenn er unehrlich gewesen war, ja auch nur etwas, was nicht innerlich, fast körperlich aus ihm hervorsprang, geistig ertüftelte, immer hatte er dann die Erfahrung gemacht, daß das Nur-Erdachte (oft sah es sich schöner an als die echte Erfindung) niemals zu wirken vermochte. Nein, wenn er auch hätte lügen wollen, er durfte es nicht, denn es wäre nutzlos gewesen. Doch in diesem Augenblick, weil er das nicht konnte, was so vielen prächtig gelang, eine Sache machen, fühlte er sich als Pfuscher.

›Es ist nicht möglich, daß ich sterben soll, ohne das einzige Glück, das es für mich gibt, wieder zu erleben.‹

Als diese Worte zu Ende gedacht waren, erfüllte aus den unbegreiflichen Ursachen, die unser Gemütsleben in Fluß halten, eine starke Hoffnung die Seele des Maestro.

Ein Trupp von Seeleuten ging vorüber. Voran ein mächtiger, rothaariger Blatternarbenmensch, unzweifelhaft der Vorgesetzte. Hinter ihm braungebrannte Kerle mit Händen, die wie Gewichte hinunterhingen, als wären sie ihnen zu schwer oder täten weh. Die Miene dieser Menschen zeigte stumpf-lächelnde Verlegenheit. Verlegenheit vielleicht, müßig im Feiertag einer Stadt umherbummeln zu dürfen. Doch dieses unsichere Lächeln war aufgewogen durch die darin verkrochene böse Bereitschaft, zu raufen, Exzesse anzustiften, und wenn es darauf ankäme, in brünstiger Volltrunkenheit Venedig von allen vier Seiten anzuzünden. Diese Gesellschaft brachte Verdi auf andere Gedanken:

›Warum schreiben wir alle Opern in Kostümen, die in unwahren Zeiten spielen und unwahre Gefühle vorspiegeln? Wenn ich jünger wäre! Wenn ich nicht fertig wäre! Dieser Zola ist ein großartiger Mensch. Sollte man nicht eine Oper schreiben, wo statt einer falsettierenden Eule im Trikot dieser schmutzige Heizer vorkäme, der im Abstand den andern nachtrottet? Wäre das nicht ein Melodram, stärker, neuer als alle Siegfriede und Nibelungen? Ach, was für leere Einfälle mich den ganzen Tag belästigen!‹

Als wäre er plötzlich angerufen worden, sah der Maestro auf und las die Straßentafel, die dicht vor ihm das enge Seitengäßchen links trug: Calle larga Vendramin.

›Hier muß der Landeingang zum Palazzo sein, in dem er wohnt. Was gehts mich an?!‹

Dennoch bog Verdi in das Gäßchen ein und ging mit einem widerwilligen Zagen weiter. Vor ihm erhob sich die Rückseite des Vendramin. Seitenflügel und Haupttrakt bildeten einen kleinen Hof, den man aber nicht sehen konnte, weil eine pyramidentragende Mauer mit hohem Renaissancetor den Einblick verwehrte. Die großen Spiegelscheiben der beiden mächtigen Fenster im unteren Stockwerk blitzten auf, denn es begab sich gerade jetzt, daß die Sonne den adriatischen Nebel durchbrach. Dem Maestro schien es, als würde hinter diesen Fenstern Klavier gespielt, aber der Klang war selbst für sein Ohr so schwach, daß er nicht wußte, ob es Einbildung oder Wahrheit sei.

Plötzlich und das erstemal ganz klar stand die Frage auf:

›Soll ich Wagner nicht besuchen? Soll ich ihm nicht meine Karte schicken? Ihm gegenüberstehn, mit ihm sprechen?‹

Kaum wars gedacht, ergriff dieses Herz ein schmerzhafter Zorn, als hätte es selbst seinen Stolz verwundet: ›Ich zu ihm, der mich verachtet, der das Wort von den dünnflüssigen Cantilenen gesprochen hat? Nie! Nie!‹

Die erste Stimme ließ sich nicht beirren:

›Bin ich nicht in Wahrheit dieses Besuches wegen hergekommen? Wird es nicht ein wunderbares Erlebnis sein, mit diesem Menschen zu sprechen? Kann es mir nicht helfen?‹

Und die andere Stimme:

›Wie sollte es mir helfen, wie, wie, da die Natur nicht hilft?‹

›Doch es könnte helfen! Da es Bitterkeit beseitigt, die Quälereien von zwanzig Jahren, die mit seinem Namen zusammenhängen. Und dann: Er wird mich sehen. Ich werde für ihn der sein, der ich bin.‹

›Ah! Bin ich noch immer dieser arme Mesnerbube, der die Ohrfeige des Pfarrers zeitlebens nicht verwinden kann? Trage ich die Maske des Menschenfressers, weil mein wundes Fleisch sich fürchtet? Was habe ich bei diesem Menschen zu suchen? Nichts! Nichts!‹

Dennoch trat in diesem Moment der Maestro näher an das Portal heran, und siehe, es wurde aufgestoßen.

Das Herz Verdis klopfte, wie das eines Knaben geklopft hätte. Heraus aber trat ein Herr in sehr formeller Kleidung, der seinen Zylinder gegen das Tor schwenkte, als begrüße er eine Standesperson. Doch es war niemand anderer zugegen als das Haus und der Portier, der träge auf die Gasse trat und den Maestro im allesdurchdringenden, langsamen Bewußtsein seiner Würde zu begutachten begann. Dieser nahm sofort die gleichgültige Miene eines Spaziergängers an, sah frei und scharf dem Portier ins Auge und schritt ruhig die Calle larga Vendramin zurück, als wäre er ungehalten darüber, in eine Sackgasse geraten zu sein.

III

Seit jener Stunde, da Italo im großen Leid zu Füßen Biancas weinend hingestürzt war, ließ er sie niemals mehr warten, brachte ihr Geschenke, war die Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit selbst. Dennoch im Tiefsten fühlte er dies alles als Überschwenglichkeiten eines schlechten Gewissens. Von Tag zu Tag mehr entfernte er sich von Bianca, ja, er begann sie, unbegreiflich warum, zu fürchten.

Sie selbst hatte sich sehr verwandelt. Es gab keine schrecklichen Szenen mehr, sie ließ ihm Freiheit, sie hatte sich sogar mit seiner Wagner-Liebe abgefunden. Manchmal, wenn sie seine Hände faßte und ihm langsam in die Augen sah, war eine wirre Tiefe in den ihren, die ihn unbehaglich erschreckte.

Ihre Heftigkeit, das Auffahrende, Gischtige ihres Wesens, nun schien es ganz verschwunden. Sie war still geworden. Sie suchte das Gefühl der nahenden Katastrophe nicht mehr durch nervöse Feste zu betäuben. Die Ahnung, ja die Gewißheit des Aufgeopfertwerdens durchströmte all ihre Bewegungen, daß sie langsam wurden und schwer von Gedanken, die keine waren. Alles Städtische, Gebildete fiel von ihr ab.

Italo fühlte auf einmal, wie ungewöhnlich groß ihr Wuchs, wie feierlich ihre Gestalt sei, und auch dies erschreckte ihn merkwürdig. Es war nicht mehr die Frau des Arztes, deren Weg er im Jubelgefühl der Jugend zu stürmisch-gefährlichem Abenteuer gekreuzt hatte. Es war die hochragende Bäuerin von Gemona, die, einen Traubenkorb auf dem Kopf, im Abendlicht den Hügelweg hinanschwankt. Irgendein klares Wesen, ganz der Erde gehörig, wirklicher als er selbst, nicht verloren an die eitlen Schatten, die ihn durch den Tag jagten, ein Wesen, das seinen unnatürlichen Räuschen nicht Kamerad sein konnte.

Wie immer er auch seine Angst bezeichnete, um sich nicht schämen zu müssen, Bianca, die Schwangere, war ein höherer Mensch geworden, und darum fürchtete er sie. Und in diese Furcht mischten sich bösartige Empfindungen wie Widerwille und Abneigung. Denn das, was höher steht als wir selbst, können wir wohl aus guter Entfernung verehren, in der Nähe aber, weil es unser Selbstgefühl bricht, wird es uns unerträglich.

Innerlich warf Italo in seiner enttäuschten Genußsucht Bianca vor, daß sie aus manchem Grund selbst daran schuld sei, daß ihre Liebschaft diesen schweren Weg gehe, daß Übermut und Rausch sich in Bleigefühl verwandelt hätten, daß jeder Kuß nun Tränen koste. War er nicht zu jung zu solchen Lasten, sollte er jetzt schon, da all seine Freunde noch flötend durchs Leben flanierten, sollte er jetzt schon ein Kreuz den Berg hinaufschleppen? Oh, während er bei Bianca saß, schön und ernst tat, juckten ihn oft alle Glieder vor Anstrengung, sitzenzubleiben, vor Lust, davonzulaufen. Wenn auch sein belesener und wohlgebildeter Geist dies alles verstehn mochte, sein Egoismus, der nie noch einen Stoß erlitten hatte, empörte sich!

Wußte sie, wie es um ihn stand? Nein, das durfte nicht sein. Dazu war sein Herz zu gut. Niemals sollte sie es ganz erkennen. Solange es nur ginge, wollte er sich diese Liebe befehlen.

Bianca war in der letzten Zeit sehr religiös geworden. Sie besuchte die Messe nicht nur am Sonntag, sie beichtete und hatte die Kommunion genommen. Ihr Urwesen, auch in dieser Frömmigkeit, trat immer reiner hervor.

Carvagno war weniger zu Hause als je, doch wenn er da war, schien er äußerst beschäftigt und vermied es geradezu, mit Bianca allein zu sein.

Eines Vormittags trat Italo in eine Kirche, in der irgendein Bild hing, das er sehen wollte. Da gewahrte er Bianca. Sie kniete vor einer buntbestickten, geschminkten Wachsmadonna. Der junge Mensch fühlte einen Stich im Herzen. Wie ferne war ihm diese Frau in ihrer Einfalt, die darin lag, daß sie den Wachsgott des niederen Volkes anbetete. Gehörte diese Geistesart zu ihm? Da geschah es das erstemal, daß er nicht auf sie zusprang, in dem süßen Heim weh des Liebenden nach der Geliebten. Auf den Zehenspitzen, um ja nicht bemerkt zu werden, verließ er die Kirche, verließ er sie.

Das Schicksal in seiner Vorliebe für unbedenkliche Kontraste wollte es, daß er am selben Abend in irgendeiner Gesellschaft Margherita Dezorzi kennenlernte.

IV

Sich selbst zum Ärger konnte der Maestro eine leichte Benommenheit der Nerven nicht überwinden, als er, ohne zu wissen wohin, seinen Weg fortsetzte. Plötzlich fühlte er, daß ihn jemand angesprochen habe. Schon wollte er über diese Dreistigkeit, die sich nicht geziemte, zornig werden. Als er aber den alten Billetteur von La Fenice, Dario, erkannte, beruhigte er sich. – Der Schwätzer besaß eine lähmende Wortgabe, der man sich schwer entziehen konnte. Der Maestro schritt weit aus und hörte nur halb und wie hinter hundert Türen diese neben ihm herhastende Redseligkeit im venezianischen Dialekt.

»Ich schweige, oh Signor Maestro, ich habe geschwiegen und werde schweigen ... Drum seid mir nicht böse ... Nun haben sie mich ... (erbarmt Euch) ... sie haben mich doch fortgeschickt ... In Pension ... wie man es nennt ... haben sie mich geschickt ... Pension! ... Das sind so die geleckten Worte, uns Arme zu betrügen ... Man ist alt, aber es nützt doch nichts, daß man alt ist, wenn man Familie hat ... Und ich habe treu gedient, vierzig Jahre lang habe ich dem Theater und der Musik treu gedient ... Der Maestro weiß es.«

Verdi sah Dario einen Augenblick lang ruhig und ernsthaft an. Es erschien ihm gar nicht verwunderlich, daß der alte Diener dasselbe sagte, was er von sich sagen konnte: Ich habe dem Theater und der Musik treu gedient. In seinem vom harten, unermüdlichen Kampf zermürbten Selbstbewußtsein war die Empfindung des eigenen Dienstes jetzt nichts Höheres. Sein herbes Wesen wich und ein Ton von Kameradschaftlichkeit lag in den Worten, die er zu Dario sprach:

»So!? Ihr habt Familie, Dario?«

Die plötzliche Wärme in der Stimme des hohen Menschen erschütterte den Alten:

»Signor Maestro, die Welt weiß es, alle wissen es, daß Ihr ein Engel Gottes seid!«

Und dann:

»Jawohl, Familie! Die Frau ... Madonna ... sie hat keinen Verstand ... Die Tochter, sie arbeitet ... Aber mein Mario, mein armer Mario, der ist ein Wunder!«

»Nun, was ist mit Mario?«

»Oh, Herr, Herr, ich habe sie alle gehört in diesen vierzig Jahren: Mirate, Guasco, Tamberlik, Coletti, sie alle, denen man mit tiefer Verbeugung das Geld auf den Tisch zählte. Ich selbst hab es im Säckchen oder in der Mappe dem Sekretär nachgetragen, wenn er nach der Vorstellung zu den Herrschaften in die Garderobe ging. Aber ... glaubet mir ... keiner hat die Stimme von meinem Mario gehabt.«

Der Alte machte sich ganz klein. Alle Vordringlichkeit verschwand und mit schamhaft stockender Stimme lud er den Maestro ein: Seine elende Wohnung sei ganz in der Nähe. Niemand würde erfahren – und wenn man ihn auch töte ... –, wer der erhabene Gast sei. Der Maestro müsse den armen Mario hören. Oh, welch ein Glück!

 

Verdi kannte dem »Volk« gegenüber nicht jene peinliche Distanz, die den Bürgerlichen zur Verlogenheit zwingt, wenn er mit einem Menschen der proletarischen Klasse spricht. Die Mischung von Herablassung, Unsicherheit, Angst, Geringschätzung und Bewunderung vor der ungebrochenen Kraft war ihm vollkommen fremd.

Seine Kindheit war ja Volk gewesen.

In der baufälligsten Hütte des elenden Roncole aufgewachsen, im finster-verräucherten Ladenraum, wo der Vater im Schurz, die Mutter mit dem Kopftuch den Bauern und Landarbeitern Wein schenkten, Salz, Tabak, Kaffee, Polenta verkauften, hatte er bis zum zehnten Lebensjahr kaum einen Stiefel am Fuß gehabt. Und später, als der scheue und schwierige Bursche dem Vater die Musik abgerungen hatte, was anderes war er denn da, als ein Musikprolet? Wohl wohnte er nicht mehr im Dorf, und der Marktflecken Busseto mochte ihm eine mächtige Hauptstadt scheinen, doch war das Lager in der Werkstatt des Holzschuhmachers Pugnatta noch weniger weich als das seine daheim.

Und sein Jünglingsleben? Um Mittemacht aus dem Bett, und drei bis vier Stunden weit nach Roncole in die Kirche marschieren, um zur Frühmesse zurecht zu kommen. Dafür bekam er zwar den hochtrabenden Titel »Organist«, hatte aber in der Finsternis der Dezembernacht, kaum dreizehn Jahre alt, sein Leben mehr als einmal aufs Spiel gesetzt.

Hochzeiten, Taufen, Begräbnisse gab es wohl jede Woche, aber der Jahresgehalt von hundert Franken bezahlte alles. Alltäglich hieß es, wieder zurück nach Busseto wandern, denn das Wenige, was man ihn lernen ließ, nur dort konnte er es lernen.

Viel später noch als sogenannter Kapellmeister der sogenannten »Philharmonischen Gesellschaft zu Busseto« mußte er von Haus zu Haus, von Bauernhof zu Bauernhof einen jährlichen Bittgang machen, um vor unwilligen Türen sein Musik-Deputat zu erfechten.

War er denn etwas anderes als jener sagenhafte Wandermusikant Bagasset, dieser verhungerte, von vollgefressenen Bauern verhöhnte Schwindsüchtige, dessen verstimmte Geige ihn, das Kind, einst beseligt hatte? Das Schicksal Bagassets, des frostbeulenübersäten Scheunengastes wars auch, womit der Taverniere Carlo Verdi, drohend, seinen Sohn von der Kunst abbringen wollte.

Und der erste Meister seiner Lehrzeit, dieser brave, einfältige und ratlose Balgtreter Baistrocchi? Hatte je ein Musiker seines bildungsbesessenen Jahrhunderts tiefer unter dem Nullpunkt angefangen? Verdi pflegte oft zu bekennen: »Ich habe mir den C-Dur-Akkord selbst erfinden müssen.« Welche ungeheure Benachteiligung, welch hoher Vorsprung liegt in diesem Bekenntnis. Wie leicht hatten es doch die andern gehabt, die in Musikschulen heranwuchsen, gefüttert mit Harmonielehren, Kontrapunktaufgaben, Formunterweisung, in der Nähe von Konzerten und Bibliotheken? Die Konvention, die sie mit Athletengebärde zertrümmerten, war die verhaßte Voraussetzung, die man ihnen aufgedrungen hatte. Sie glichen den überfütterten Kindern der Reichen, denen es vor der alltäglichen Nahrung ekelt und die deshalb gierig sich nach Näschereien sehnen.

Er hatte die Konvention erst für sich entdecken müssen, ein Kolumbus des Allergewöhnlichsten. Nichts war ihm geschenkt worden. Und darin glich sein Schicksal dem Schicksal des Volkes. Das aber war seine Kraft! Denn da er das Gewöhnliche nicht schlaff übernahm, sondern angespannten Mutes sich erstritt, war es ja nicht mehr das Gewöhnliche, sondern Konvention, von neuer, ungeahnter Tugend geschwellt. Ja, dies hatte ihn herausgehoben, in letzter Stunde zum Retter der totgesagten Oper gemacht. Rossini und Donizetti hatten für die anmutig-vermodernde Opernwelt Andrea Grittis geträllert, er, ohne sichtbaren und wortreichen Umsturz, hatte ein neues Volk herbeigesungen. Für ihn gab es nicht mehr die Gesellschaft, die Gnadenspenderin des Opernkünstlers, für ihn gab es nicht diese neue Intellektuellenkaste, die ihm fremd-peinlich wie der Teufel war, aber etwas Unübersehbares gab es für ihn, das er im klopfenden Herzen spürte.

Hoch war der Grundbesitzer von Sant Agata bei Busseto über seinen Ursprung emporgewachsen, aber er war gewachsen, dieser mächtige, dieser traurig-liebliche Baum. Einen der ganz wenigen Bürger der idealen klassenlosen Gesellschaft kann man ihn heißen, weil seine Höhe alle Stufen durchmißt. Den kühl klirrenden Sang seines höchsten Gipfels, das Volk mag ihn nicht verstehen, aber auch diese Krone wird von der Wurzel ernährt.

So einsam Giuseppe Verdi auf seinem Besitze lebte, es gab keine Bauernhütte, kein Arbeiterhaus, das er nicht von Zeit zu Zeit besucht hätte.

Während der Senator, der Mann der politischen Revolution von achtundvierzig, nur wenig Verständnis für die Arbeiterfrage besaß, zeigen die Briefe Verdis an den Grafen Arrivabene oft einen instinkthaften, prophetischen Sozialismus, wie er den wenigsten Geistern seines Zeitalters erreichbar war. Freilich, dieser Sozialismus erschöpfte sich rein in Gefühl und Praxis, hatte nichts mit politischer Weltanschauung gemein. Aber der Maestro errichtete in seinem Bezirke Meierhöfe, Faktoreien, Molkereien (die ihm schwere Verluste brachten), nur um Arbeitsstätten zu schaffen und die Auswanderung des Volkes zu hemmen. In einer Zeit tiefsten wirtschaftlichen Niedergangs konnte er triumphierend an Arrivabene berichten: »Aus meinem Dorf wandert niemand aus.« Und während die Geister der Zeit immer mehr in der ästhetischen Nichtigkeit versanken, schrieb der italienische Opernkomponist, ein älterer Bruder Tolstois, die Worte:

»Denn ihr müßt wissen, ihr Bürger der Hauptstädte, das Elend der armen Klassen ist groß, riesengroß, aber wenn nicht voraussichtige Hilfe von oben oder unten kommt, werden, wehe euch, Entsetzensdinge geschehen.«

Der Maestro sprach mit den Leuten nicht in der leeren, beziehungslosen Art der durch Abgründe voneinander getrennten Klassen. Wer den Mann in solchem Umgang gesehen hätte, dem konnte wohl der Gedanke kommen: Dieser Musiker ist ein König. Ein König, weil keiner anderen Erwählung unterworfen als der göttlichen Kraft, die ihn so hoch steigen ließ.

Vielleicht wird einmal, wenn alle unsere Irrlehren von Nation, Klasse, Staat, Wirtschaft erledigt sind, die Menschheit reif zur Monarchie solcher Königsgestalten werden, die nicht sinnlos nur von oben herabpendeln, nicht streberisch aus dem Unterholz über sich emporgreifen, sondern »so unten wie oben« Baum sind, einig und ganz.

 

Auch jetzt, da der Maestro die Einladung Darios annahm, war er ein König. Niemand hätte ihm ansehen können, daß diese Tage die schwerste Verwirrung seines Lebens bedeuteten. Im übrigen liebte er es, wie gesagt, seitdem er Grundherr war, in die Häuser der Leute zu gehen.

Verläßt man die Hauptader eines venezianischen Bezirkes, so ist man sogleich mittendrin im farbenfrischen, lärmfreudigen Leben der schmerzhaftesten Armut.

Je üppiger die Natur den Samen hervorbringt, um so weniger legt sie Wert auf ihn. Es ist die geheimnisvolle Tragik aller Völkerbewegung, daß im Norden das Individuum an Einsamkeit zugrunde geht, im Süden an Gesellschaftlichkeit. Jede Zone hat im verborgenen Wandel der Erdperioden einmal ihr produktives Klima gehabt, und dann ging die Kurve der Kultur mitten durch sie hindurch. Einst hatte es in Venedig nur reiche Menschen gegeben, Edelleute und Patrizier. Tausend Palazzi verkünden es. Auch entlang des schmalen Rio di San Fosca, auf dessen Fondamento, unterwürfiger Ehrfurcht voll, Dario den Maestro führte, stand mächtig, Seite an Seite, das dunkle Prachtgemäuer purpurner Zeiten. Aber die riesigen gotischen, von Säulchen flankierten Fenster waren mit Ziegeln ausgemauert. Wie blinde Narben, böse, starrten sie vorwärts. Offene Wunden, Hautriß und Schorfe gab es übergenug, aber unversehrt und groß wie je litten die schwarzen Portale mit Wappen, Fratzen, Karyatiden und Löwenjungen. Doch welches Leben, verwesungsbunt, hatte sich hier in dem atemlosen Leib der Steinäser eingenistet! Von einem Palast hinüber zum andern schaukelten in dichten Flaggenreihen die Stricke mit gemein-verfärbten Wäschestücken. In den ausgebrochenen Fensterlöchern tauchte, wirrverfitzten Haars, Weiberkopf an Weiberkopf auf. Und dann gellte ein Schrei, eine Gelächterkette, eine Wortkaskade und fand Echo. In den Toren hatten Kinder ganze Zigeunerlager aufgeschlagen. In unermüdlichem Gewirre balgend, kletternd, turnend, schachernd bewegten sie ihre schmutzigen Farben. Klangfetzen von Lied, Schimpf, Gruß, Fluch fuhren durch die Luft. In ihrem unermeßlichen Treiben schienen all die Tausende sich zu kennen, und selbst die Barkenführer und Baggerarbeiter, die ihre Fahrzeuge durch den Kanal lenkten, grölten mit drohenden Gurgelrufen nichts als Bekanntes aus dem Sud hervor.

Keineswegs fühlte sich der Maestro in diesem Menschenqualm unwohl, aus dem ja dereinst vor undenklichen Zeiten auch seine Flamme emporgeschlagen war. Er blieb sogar belustigt und als Kenner stehen, als sich dicht vor ihm diese Szene abspielte:

Zwei Weiber waren einander in die Haare geraten. Die Strähnen flogen um die verzerrten Masken der Gesichter und die Stimmen schrillten:

»Ah! Ah! Die ganze Welt weiß es, du Unzuchtsteufel, daß du mit dem Priester von San Marcuola eine Liebschaft hast.«

»Lüge! Lüge! Hüte dich, du Alte! Weil du alt bist, bist du neidisch. Bringst, weil du ein rostiger Topf bist, mich ins Gerede!«

»Bin ich alt, bist du eine Hexe! Hast den armen jungen Priester am Gewissen.«

»Seht das Schwatzmaul! Keiner mag sie mehr anschaun. Selbst ihr Alter ekelt sich vor ihr.«

»Wer ekelt sich vor mir, du Hündin des Satan ...?« Und im Triumph hob das Weib ihren Säugling hoch über den Kopf wie eine Trophäe, worüber der Kleine in Gebrüll, die Menge aber in Beifall ausbrach. Die andere gab sich nicht verloren. Mit der höhnischen Ruhe, mit der man am besten eine geschwächte Position zu verteidigen pflegt, maß sie verächtlich die Mutter:

»Nun, Gott weiß, womit ihr beide diesen armen Vogel zusammengekratzt habt. Aber man erzählt es ja, daß du die Milch bei andern Weibern erbetteln mußt, du trockenes Holz!«

Jetzt aber, in ihrem Lebensnerv verletzt, schrie hohl die Mutter auf, riß ihre große, träge Brust aus der Bluse und ein fetter Milchstrahl traf die Geliebte des Priesters mitten ins Gesicht. – Die Größe und Leidenschaft dieser Handlung wurde von den Zuschauern sofort begriffen. Man applaudierte ihr wie einer herrlichen Tragödin und brüllte begeistert: »Bravo! Bravo!« Ein alter, bettelhafter Mann mit geistreichen Zügen betrachtete sehr freundlich die Siegerin und nickte als wohlbehaglicher Kenner der Stammesunterschiede:

»Ja, sie ist aus der Wildnis, aus der Romagna, diese Sorecca.«

In einem der bunten Höfe voll Kinder, Wäsche, Handwerksgeklopf und Klangwirrnis lag zu ebener Erde die Wohnung des pensionierten Theaterdieners. Als er, mit dem vornehmen Herrn an seiner Seite, die klinkenlose Tür öffnete, kamen ohne Scham die eingebornen Nachbarn gelaufen und betrachteten neugierig träge wie Kinder den Eintritt des Maestro.

Der Raum, in dem er nun stand, war so finster, daß Verdi nichts anderes sehen konnte als den kleinen Herd mit dem kupfernen Rauchtrichter darüber. An diesem Herd hantierte ein schattenhaft-unlustiges Wesen, das erschreckt innehielt, als es den Besuch sah. Mit irgendwelchen unverständlichen Worten schrie der zu Tod erregte Dario seine Tochter an, worauf er blitzschnell verschwand, blitzschnell wiederkam, diesmal in seinem grünen Theaterdienerfrack:

»Beehret uns, beehret mich, Exzellenz! Oh, wo ist die Frau, wo ist mein Martyrium von Frau! Wollet dieses schwarze Lokal verlassen, beliebet, ins Zimmer zu treten!«

Immerwährend dienerte er mit verzweifelten Seitenblicken. Seine ganze Dreistigkeit hatte ihn verlassen. Mit einiger Vorsicht über eine unebene Schwelle tretend, gelangte der Maestro in dieses Zimmer, in die ihm so wohlbekannte Stube der ärmsten Kleinbürger:

Ein zweischläfiges Bett mit einer alten, farblosen Decke, zwei kleine Fenster, auf deren Brett zerbrochene Korbflaschen standen, eine ganze Galerie von Heiligenbildern an den Wänden, unter der Madonna ein Licht, ja ein kleiner Altar mit allerhand Kirchenkrimskrams.

»Hier die Frau! Kümmert Euch nicht um sie, Exzellenz! Sie ist nun schon seit zehn Jahren wirr, wirr ...«

Er machte eine bezeichnende Geste:

»Ihr versteht! Das kommt daher, daß sie schreiben und lesen gelernt hat, was solch einer doch nicht zukommt. Da hat man es jetzt ... Immer muß sie Gedrucktes haben ... Weh, weh! Was ist mir nur eingefallen, eine Gelehrte zu heiraten?«

Eine wahrhaft seltsame Erscheinung stand, von Dario vorwärtsgeschoben, nun dem Maestro gegenüber. Die Frau war durch Alter oder Krankheit so sehr gebeugt, daß ihr Hüftknochen sich nach aufwärts verrenkt hatte und mit der Linie des Rückens einen erbarmenswerten Winkel bildete. Zehn einsame weiße Haare waren über die rötliche Nacktheit des Schädels gestrichen und zum kümmerlichsten Knoten verschlungen. Eine überaus dicke blaue Brille verdeckte die Augen, die aber trotz der unnatürlichen Gläserschärfe blind zu sein schienen. Die Alte begrüßte den Maestro mit einer überraschenden Feinheit der Stimme und Worte, ohne jede Demut, als fände sie nach langer Entbehrung endlich den Ebenbürtigen, mit dem ein Gespräch möglich sei. Plötzlich aber machte sie einen hastigen Knix und lachte verschlagen, um anzudeuten, sie wisse mehr über den Gast als er ahnen könne. Ihre Sätze jedoch glitten bald wieder aus und sie begann eine Geschichte von ihrem geliebten Vater zu erzählen, von einer lustigen Wagenfahrt, wobei er die Gitarre gespielt habe und die bezauberten Leute nur so aus den Häusern und Höfen getanzt seien. Sie selbst aber sei auf des Vaters Schoß gesessen. Diese Begebenheit stellte sie nicht als weitläufige Erinnerung dar, sondern als wäre das Ganze erst gestern vor sich gegangen und sie noch immer das glückliche Kind. Doch ehe sie die Erzählung beendet hatte, war sie auf einmal in die Heldin irgendeines Schundromans verwandelt und sprach von ihren und den Schicksalen fremder Personen, deren aufgeblasene Namen sie nannte.

»Genug, Alte, genug!«

Dario hielt ihr den Mund zu. Sie schwieg mit der Resignation einer ins Elend geratenen Prinzessin, nachdem ihr Blick dem Maestro wie einem Mitverschworenen zugeraunt hatte: Da sehn Sie es nun selbst!

»Alles die Bücher, Exzellenz«, versicherte Dario, als wolle er der schmählichen Krankheit eine noble Begründung geben.

»Und hier mein Mario!«

Der Maestro sah vor einem Tischchen den jungen Menschen beim Fenster sitzen. Marios Gesicht, diese überspitzte Nase, mildgeschwungene Stirn und dieser weiche Mund, war ein Gesicht von wirklichem Adel. Ein wunderschönes, durchmodelliertes Ohr, eine Muschel von reinster Vollkommenheit, mußte jeden Blick auf sich lenken.

Der Theaterdiener schrie nervös:

»Nina, Nina! Einen Sessel für Seine Exzellenz abwischen! Schnell! Und das Tuch über Marios Knie!«

Jetzt erst sah Verdi, daß der hübsche junge Mensch auf seinen gänzlich verkrüppelten, grauenhaft verkürzten, unbrauchbaren Beinen hockte. Wie eine schwere Übelkeit stieg das Elend des Lebens furchtbar zum Herzen empor.

Nina, die Arme, auf der die ganze Schwere dieser unseligen Familie lastete, kam gelb, düster, ohne Güte, breitete über den Bruder eine Decke, wischte einen Holzsessel für den Gast zurecht und ging. Dario war abermals bemüht, das häusliche Unglück zu rechtfertigen:

»Ist etwas anderes möglich? Seht doch nur sie an, die Gelehrte, dann wißt Ihr, woher seine kranken Beine kommen.«

Eifrig war er bemüht, die Schuld von sich abzuwälzen. Schweigend, wehen Herzens trat der Maestro zu Mario. Der hatte sich wieder über seine Arbeit gebeugt. Er war einer von jenen sehr kunstfertigen Handwerkern, die aus Glasmosaik die so wenig geschmackvollen venezianischen Ansichten arbeiten. Mit unheimlicher Schnelligkeit, ohne jede Vorlage, zwickte Mario mit einer Zange die vielfarbigen Glasstreifen zurecht und drückte die Plättchen mit der Schmalseite in die weiche Masse des Bildbodens. So geschwind auch seine Finger durcheinanderflitzten, unendlich langsam und kaum merklich wuchs die Arbeit, an der man vorläufig noch nicht ablesen konnte, ob sie San Marco oder etwas anderes darstellen sollte.

»Wie lange arbeitet Ihr an einem solchen Stück, Mario?«

»Zwei bis drei Tage!«

»Und für wen?«

»Für einen Fabrikanten von Murano.«

»Was zahlt dieser Fabrikant für ein Glasbild?«

»Drei Lire!«

Nachdem er still geantwortet hatte, fing Mario wieder zu arbeiten an. Von neuem zwickte er das Glas und ohne zu überlegen, versenkte er die Splitter an ihre Stelle.

Fast kriecherisch schmeichelnd nahte ihm der Vater in der grünen Livree:

»Mein Söhnchen! ... Dein Glück kannst du machen ... Sieh dir den Herrn hier an! ... Er ist eine Exzellenz! ... Nicht wahr, mein Söhnchen, du wirst singen! ... Lange schon haben wir dich nicht gehört.«

Der junge Mann schüttelte sich und wehrte wortlos mit der Hand ab. Der Alte begann zu flehn:

»Mein Mario! ... Du wirst nicht mein Unglück sein wollen ... O wüßtest du! ... Dieser Herr, dieser Gast ist eine Exzellenz, ein großer Direktor ... Deine Stunde ist gekommen! ... Singe, singe! ... Du mußt!«

Diese ungeschickten, dunklen Eröffnungen machten Mario noch störrischer.

Der Maestro wunderte sich über sich selbst. Während er sonst alle Arten dilettantischen Musizierens haßte und dergleichen Kunstübungen in seiner Nähe als Beleidigung auffaßte, jetzt bat er selbst den armen Mann zu singen. Ehrfurcht vor dem außerordentlichen Schicksal überwand ihn wie immer. Der leidende Mario, sein durch Verzicht geistig schönes Gesicht zwangen den Maestro zu einer merkwürdigen Galanterie, die er selbst noch niemals an sich entdeckt hatte:

»Was singt Ihr am liebsten, Mario?«

»Oh, es ist nichts Herr, gar nichts, Herr!«

»Sind es Lieder oder Opernstücke?«

»Nein, nein, Herr! Nur was mir durch den Kopf geht, nur Dummheiten!«

»Also Ihr improvisiert, wie man es in alter Zeit getan hat?«

»Das tut er, Madonna, das kann er, Exzellenz«, rief der Theaterdiener erregt, der ganz stolz auf dieses Wort war.

»Schweig, Vater, ich sag dir, schweig! Es ist wirklich nichts, Herr!«

Immer langsamer liefen die Finger des Krüppels über die Tafel, immer öfter hob er seinen Blick zu dem bärtigen Antlitz, das jetzt ganz das Bewußtsein seiner selbst verloren hatte und aus der Tiefe seiner Liebe den Gram durch ein reizendes Lächeln wettmachte. Mario wurde weicher und weicher:

»Die Mutter spielt und dann kommt es«, sagte er schon recht hilflos.

»Mutter, Mutter«, schrie der Alte, den Augenblick nutzend, »Mutter, nimm die Gitarre!«

Für die Irre waren die Minuten, wenn sie den Gesang ihres Sohnes begleiten durfte, überirdisches Vergnügen. Sie, die nicht mehr folgerichtig denken konnte, des Sohnes Musik dachte in ihr, so daß sie, bewußtlos, keinen Fehler machte. Es geschah dann eine mystische Wiedervereinigung von Mutter und Kind in der Musik.

So hatte sie es sich nicht zweimal sagen lassen. Und nun saß die verkrümmte, hinter ihren Brillen halbblinde Alte verzückt neben Mario und preßte wie einen Säugling das Instrument gegen ihre Brust. Sie sah zu ihm hin; aber er verzog keine Miene. Sie lauschte; aber er sprach kein Wort. Dann nickte sie mehrmals befriedigt, als wisse sie nun alles Nötige, und einige Akkorde erklangen langsam. Mario hatte das fahlgewordene Gesicht ganz zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Er fing an, etwas ohne Worte vor sich hinzusummen, prüfte zuerst pianissimo das Motiv, um es dann mezza voce zu ergreifen.

Mit seiner sicheren, langerfahrenen Hellhörigkeit für Stimmen hatte der Maestro sofort erkannt, daß dies ein sehr schöner dunkler Tenor sei, weit entfernt von der etwas meckernden voce bianca des Durchschnitts, ohne jedoch das zu sein, was man eine einzigartige, eine Bombenstimme nennt. Eine bewußte Bildung war nicht zu erkennen, doch die Register saßen sicher. Vom E aufwärts wurde eine natürliche Deckung verwendet, die Höhe strömte voll und nicht durch einen verkrampften Kehlkopf gequetscht. Alle Klangeitelkeit des Pfuschers fehlte. Die Töne berauschten sich nicht an ihrem Schmelz, gebändigt und gedämpft trat ihre schön gefärbte Kraft zutage. Was sonst in jahrelanger Mühe der Gesangsprofessor dem Schüler beizubringen sucht, die voix mixte, jene süßschwellende Registermischung aus Kopf- und Brustton, hier war sie eine Errungenschaft der Natur. Die eingeborene Genialität des Italieners, den Ton ohne Härte anzusetzen und wonnevoll zu spinnen, in dieser ungeschulten Stimme war sie zur Vollendung gediehen. Bel canto! Aber gibt es einen anderen Gesang, da nur er, jenseits und unabhängig vom Wort, von Sinn und Deklamation der Rede, das höchste, beseelteste Instrument der Gestirne, den tönenden Menschen rein erklingen läßt?

Noch immer wortlos füllte Marios Gesang den Raum. Nach und nach wurden Worte aus den leeren Silben. Diese Worte aber hatten eine andere Bedeutung als sich selbst. Die Seele des Gesanges suchte wie ein irrender Geist in der bedingteren Sprache die Verkörperung, die sie niemals vollkommen finden wird.

 

Dadurch entstanden unter anderen solche Texte:

Die Schiffe ziehen dem Meere zu.
Ich lasse sie ziehen, die Barken der Inseln.
Ist die Geliebte dort, ist sie hier?
Die Freude gebe ich ihnen mit,
Aber die Rache behalt' ich bei mir.
Ahimé! Dieser Ausruf des italienischen Gesanges läßt sich in deutschen Lauten schwer wiedergeben.
Die Schiffe, sie ziehen dem Meere zu,
Die Rache behalt' ich bei mir!

oder:

Ich habe sie alle geliebt mit meinen Küssen.
Mit meiner Stimme hab ich sie alle geliebt.
Nun schlagen die Glocken der Türme.
Der Tod tönt in Kasten und Tisch.
Ich aber rufe: Freude, Jubel, Freude!
Ahimé!
Die Glocken des Todes schlagen,
Mit meiner Stimme habe ich die Schönen geliebt!

So lockte die höhere Sprache der Musik aus dem nachtwandlerisch, seiner selbst nicht mächtigen Geiste des Sängers wirkliche Poesie hervor. Dies war der reine Gegensatz zur Wagnerschen Theorie, wonach die Dichtkunst die Musik hervorrufen müsse.

Aber wie er den seltsamen Weisen dieser schönen Stimme lauschte, erfüllte eine Erkenntnis die Seele des Maestro mit hellem Glück. Dieser gelähmte Mensch wußte gewiß nichts von Formgesetzen, viel Opernklang hatte er auch nicht im Ohr, das bewies die melodische Eigenart der Improvisation. Und dennoch: Es waren vollkommene und geschlossene Arien, die er sang. Die Melodie wurde gefunden, weitete sich aus und kehrte wie ein verirrt-sehnsüchtiges Wesen in sich selbst zurück. Einfach und ohne Überlegung fügten sich die kurzen Lieder. Ein altertümlicher Klang zitterte in ihnen, als seien sie keine Erfindung des Augenblicks, sondern ein zeitenfernes, längstvergessenes Erbe, das der träumende Improvisator weitergab. Melodie, Übergang, Rückkehr! Kein Zweifel: Die Quadratur der Arie, die verhöhnte Symmetrie, Dreiteiligkeit und wie man es auch immer nannte, war nicht irgendeine Willkür, die irgendeinmal der Welt aufgedrängt worden, sondern sie war ein Naturgesetz. Ein Naturgesetz, durch den italienischen Genius verwirklicht und geoffenbart.

Die Musik geht in der Zeit vor sich. Die Erlebnisform der Zeit heißt Erinnerung. Musik ist ein ständiges Sich-Erinnern. Die Reprise, die Wiederholung, die Antwort, die faßbare Wiederkehr zu verwerfen, ist ein Mordanschlag gegen die Natur der Musik, gegen die heilige Quadratur, welche Italien ist. Warum denn hat Italien mit Monodie und Generalbaß in Wirklichkeit die ganze moderne Musik geschaffen? Es hat doch genug andere Schulen gegeben, wie zum Beispiel die berühmten niederländischen Kontrapunktiker. Warum haben nicht sie den Sieg davongetragen? Und die Deutschen? Haben sie denn wirklich Neues geschaffen? Waren ihre Klassiker nicht dennoch und trotz allem Knechte der italienischen Form, Knechte der Arie, die schließlich schon Frescobaldi, Corelli, Vivaldi für die Instrumentalität, für die Sonata übersetzt hatten. Also was können sie denn, diese Deutschen? Zerstören!!

Den Maestro durchfuhr ein jäher Haß. Derselbe, den er nach der Schlacht von Sedan gefühlt hatte. Es war der Haß des Römers gegen die Barbaren der Völkerwanderung. Der Haß erzeugte den Funken einer sehr tiefen Erkenntnis: ›Der Idealismus dieser Goten ist ein und dasselbe wie ihre Zerstörungswut.‹ Ein uraltes Kriegsmotiv der europäischen Welt brach in Verdis Gemüt auf. Das nordische Wunder eines sehnsüchtigen, unverkörperlichten Geistes konnte er nicht verstehn. Es war für ihn ja ein zersetzender, analytischer, der Natur widerstrebender, ein böser Geist, protestantisch auch gegen die ewigen Grundtatsachen der Musik. Immer noch sang mit zurückgebogenem Haupt, geschlossenen Augen und tiefer Blässe der Wangen dieser Mensch, der sich niemals von seinem Sitz hatte erheben können, der nicht Freiheit seiner Notdurft, geschweige auch nur den leisesten Abglanz von Lebensglück kannte. Mit einer ungeheuren Leichtigkeit erfand er Melodie um Melodie, die er immer schöner fortführte, immer anders schloß. Dabei wurde die dunkel-hell schwingende Stimme von Gesang zu Gesang freudiger. Konnte diese Freude aus dem gefesselten Herzen des Krüppels kommen? Nein! Nicht sein Herz, nicht seine Person sangen. Sie waren ja nur ein Nest, aus dem die vollkommen freie Musik aufflog, eine blinde Scheibe, die der ungetrübte Strahl durchdrang.

Die Mutter, eine Wahnsinnige, schien in hypnotischen Schlaf verfallen zu sein, oder in tiefe Verklärung. Ohne zu wissen wie, verzückt unter der blauen Brille lächelnd, griff sie die Akkorde der wechselnden Tonarten immer richtig, modulierte genau und fügte hie und da zur Gesangsmelodie kleine hübsche Figuren, die sie selbst in ihrem fernatmenden Glückstraum erfand. Wie unübertrefflich waren diese sonderbaren Musikanten aufeinander eingespielt. Frucht einer Kindheit, die mit einer Fessel Mutter und Sohn verband.

Vor den Fenstern hatte sich eine Menge angesammelt, die ungewöhnlich still blieb. Wenn Mario sang (das geschah immer seltener), war es stets so. Auch der frühere Theaterportier von La Fenice, ein beruflich abgebrühter Stimmfachmann, lauschte hingerissen dem Tenor seines Sohnes. Nur Nina, die bedauernswerte Magd ihrer seltsamen Familie – ärmer als der Bruder, auf dem Gottesgnade ruhte, ärmer als die Mutter, die ihm ihre Gabe vererbt hatte, ärmer als der Vater, der wenigstens geschwätzig auf der Gasse lungern durfte – nur Nina rasselte im Nebenraum boshaft oder gleichgültig mit Geschirr.

Auch der Maestro saß still da. Ein elender, ungebildeter Krüppel sang, ein Glasarbeiter von Murano, aber die Natur, als sie sah, was sie angerichtet hatte, schien großes Erbarmen gefühlt zu haben. Niemals noch war dem Maestro die antike Einheit von Sänger und Dichter so klar geworden wie hier. Ein ganz verwandtes Lied tönte die Stimme ihm zu. Und er empfand es wie eine Tröstung, wie eine Rechtfertigung dem Übergeist, der Dialektik, Wagner gegenüber. Auf einmal schmolz aller Zweifel, alle Selbstverachtung, die er vor dem Material des ›Lear‹ gestern bis zum Todesekel empfunden hatte. Oh, er war verdorben worden von den Gefühllosen, die, wenn sie »Ich liebe Dich« sagen, an die Syntax dieses Satzes denken. Vielleicht würde er jetzt doch arbeiten können.

Mit einer letzten schönen Kadenz schloß Mario. Einen Augenblick lang sah er erstarrt vor sich hin, und dann begann er, als wäre nichts geschehen, mit schnell durcheinanderflitzenden Fingern an seinem Glasbild zu arbeiten. Die Gitarre dröhnte aus der Hand der Alten. Jetzt war sie wirklich eingeschlafen. Draußen vor dem Fenster erhob sich kein Begeisterungsschrei, aber viele zustimmende Rufe von Leuten waren zu hören, die sich dadurch ihres Erwachens vergewissern wollten.

Der Maestro brach das Schweigen. Seine Bewegung, wie immer, verbarg er hinter der trockensten Miene von der Welt: »Es wird das Notwendige geschehen, Dario! Morgen kommt ihr zu mir ins Albergo. Ihr werdet nach dem Herrn von Nummer Zwei fragen. Verstanden?! Für alles wird gesorgt werden!«

Dann trat er zu dem Improvisator, legte ihm kurz und schamhaft die Hand auf die Schulter, hielt die Augen abgewandt und sagte mit einer fast scherbigen Stimme, halblaut, als handle es sich um die trivialste Sache des Alltags:

»Es lebe unsere heilige italische Melodie! ... Das war gut, das war sehr gut!«

Die begeisterte Begleitung Darios wehrte er wortlos ab.

V

Selbstverständlich sorgte Verdi von Stund an, auf jede erdenkliche Art, für Mario. Er hatte aber keine glückliche Hand in dieser Sache. Der Gedanke, den Ärmsten musikalisch und stimmlich, ja selbst in den allgemeinen Lehrfächern ausbilden zu lassen, lag auf der Hand, aber er entsprach nicht der Besonderheit des Falles. Wenn auch nichts überliefert ist, so darf man doch mit Sicherheit annehmen, daß Marios Talent am Unterricht und an der Höherbildung zugrunde ging. Was hatte ein Improvisator in dieser Zeit des Papiers und in dieser Welt der technischen Genauigkeit auch zu suchen?

Dachte der Maestro in späteren Jahren an die finstere Stube des Theaterdieners zurück, an Marios Stimme, an die Mutter mit der Gitarre, so zweifelte er, ob er all dies wachend erlebt habe und ob des Krüppels Gesang wirklich mehr gewesen sei als das wehmütige Lied irgendeines Glasarbeiters von Murano.


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