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Der Ausbruch der Melodie
Nach dem Regen der Nacht, dem Nebel der Frühe überwältigte die Sonne den Dunst des Meeres und die Fahlheit der Stadt. Sie schallte plötzlich wild über Plätzen, Gassen, Kanälen, sie schnellte aus den Fenstern des anderen Ufers. Kein Auge vermochte zeitweise die Lagune zu ertragen, die, tänzelnd, das zersplitterte Bild des Lichtes trug.
Heute morgens war Renzo, der jüngere Sohn des Senators und unschuldige Vorwand von Italos treuloser Lüge, in Venedig angekommen. Er hatte seinen Lehrer Labriola nach Padua begleitet, wo dieser einige Tage lang an der Bibliothek der Universität gewisse Studien ergänzen wollte. Renzo benützte den ersten Tag, seine Heimat, Vater und Bruder aufzusuchen.
Den Vater aber fand er nicht zu Hause. Der war, wie der Diener behauptete, schon seit acht Uhr unterwegs. Italo, der erst um neun Uhr früh nach Hause gekommen war, schlief. Dem Studenten blieb nichts anderes übrig, als das Haus zu verlassen, und dem schönen Tage dankbar, die lichtgewandete Stadt zu durchstreifen.
Er kam auf die Piazza. Da reizte ihn, was er seit seinem zehnten Jahr nicht mehr unternommen hatte, die Besteigung des Campanile.
Als er endlich ganz einsam auf der Höhe der Glockengalerie stand, wurde er von dem unbeschreiblichen Bilde des verzückten Umkreises überwältigt, der sich aus der Wirklichkeit zum schwebenden Flor einer Fata Morgana verzaubert hatte. Einzig die Stadt war klarer, fester Leib, eine drachenhafte Tierform mit dichten rötlichen Dächerschuppen, zwischen denen an einigen Stellen metallfunkelnde Warzen und Borsten hervorstachen. Das zusammengerollte Tier der Vorwelt sonnte sich auf einer müden, gleißenden Spiegelfläche, die ohne Widerstand mit Millionen Wollustblicken die Vergewaltigung der Gottheit erduldete. Alle Weite war Weib, und immer kühler, jungfräulicher, je mehr sie zum Horizont zurückwich. Das Meer glich nur geahntem Dunst, einem schon vergehenden Hauch auf der Scheibe! Schwebend und schimmernd schien die Kette der Inseln zu spielen: Lido, Malamocco, Pellestrina. Die nahen Geschwister und Jungen schliefen wie die Mutter: Murano, Burano, Mazzorbo, Torcello. Die sumpfzerfressene Terra ferma dampfte. Die Felder der Ebene goren. Die Strahlen sogen an den Schollen, von denen der Schnee schon so zeitig weggeschmolzen war. Das Fleisch der Mutter duftete leise den frühen Schweißgeruch von Weizen, Mais, Wein und menschlichem Rauch herüber. Nur er war hier oben zu spüren und nicht der tropisch durchdringende Geruch des lastenden Tiers, dieser aufreizende Geruch, aus Öl, Bacht, feuchter Wäsche, Ammoniak, Kot und Fischfäule bereitet. Aus tausend Splittern blitzte auch die Ebene. An der Grenze des Jenseits, an der Scheide des Unsichtbaren, scharf und durchsichtig, von Engelgewölken umschwärmt, verwehrte die Kristalldruse der Alpen dem werdenden Frühling den Weg.
Renzo beugte sich weit über die Brüstung. Das schiefgezogene Rechteck der Piazza, das hockende Kuppelgebild der bunten Basilika, das erregte Gedränge der Häuser, die Inseln, die Lagune, das Meer, alles war so klein, war so nah. Ein menschlicher Schritt vermöchte den ganzen ungeheuren Durchmesser des Horizonts leicht zu überqueren.
Berauschendes Turmgefühl, Schwindel zerfallender Erdenmaße verwirrte den Jüngling. Hinter seiner schlecht vernickelten Brille schloß er die Augen. Er war ein wenig seekrank und böse darüber, daß auch ein volkswirtschaftlich geschultes Hirn solchen Einwirkungen erliegen müsse. Aber die Elemente hatten es auf Rationalisten abgesehen.
Ein Seil knarrte. Ein Gangspill begann zu ächzen, flach und ohne zu tragen schlug ein kupferner Ton an. Und dann brachen die Glocken los, Wahnsinn verbreitend! Die zerschmetterte, durchfetzte Luft heulte schwerverwundet. In trichterförmigen Wirbeln kreiste der Schall.
Renzo hielt entsetzt seinen Hut und verschwand, von Klangfurien gehetzt, durch die Falltür in der Tiefe des Turmes.
Keine Spur hatte das nächtliche Unwohlsein in dem Körper des Maestro zurückgelassen. Eine zarte Feierlichkeit beherrschte ihn, eine Empfindung, die er aus der Kindheit kannte, wenn vor dem Morgenfenster ein tiefblauer ruhevoller Sommersonntag stand.
Er vertauschte seinen täglichen, etwas ländlich zugeschnittenen Anzug gegen einen schwarzen Rock von guter Form, der die schöngebaute, magere und doch breite Erscheinung zur Eleganz hob. Dann ließ er einen Barbier kommen, der sein weiches Haar, das in dichter Locke den Nacken umschloß, ein wenig zurechtschnitt und den Bart stutzte.
Das ästhetische Wohlbehagen, das solchen Verwandlungen folgt, griff tiefer. Der Krampf der letzten Wochen, der Kampf um seine Zukunft, in dem er unterlegen war, die Unsicherheit, die Angst, die Mißempfindung seines Ungenügens, die Demütigung vor dem andern, all dies war mit dem Todesanfall der Nacht gewichen. Hier in Venedig hatte er in unerbittlicher Selbstbegegnung mit sich abgerechnet.
Auf dem Grunde der Feierlichkeit, die jetzt der Maestro empfand, ruhte das wiedergewonnene herrliche Selbstgefühl seiner besten Stunden. Mit einer neuen wunderbaren Objektivität empfand er sich selbst. Er maß sich nicht mehr an einem andern Menschen. Denn nur ein in seiner Form krankes Wesen blickt gierig umher und neidet. Der Wirkliche rüttelt an keiner Rangordnung, denn mag es auch höhere und niedrigere Wesen geben, da er in seiner Art selbst vollkommen ist, nimmt er an der Demokratie der Vollkommenheiten teil und kann niemals erniedrigt werden. Nur diejenigen, die nie zu Hause sein dürfen, müssen die Hierarchie immer wieder zerstören. (Aber auch dies ist eine hohe und notwendige Aufgabe.)
Am Weihnachtsabend, als die Gondel des Maestro neben der Richard Wagners eine Weile über den Kanal glitt, hatte er, um sich zu beruhigen, sich selber zugesprochen:
›Ich bin Verdi und du bist Wagner.‹
Jetzt, am heutigen Tage erst, waren diese Worte wahr geworden. Jetzt erst fühlte er sich selbst als das, was er war, unzugänglich, unverwundbar von jedem Urteil, jeder Vergleichung.
Mit Wärme dachte er dieses überschwenglichen Gesichts, das nicht genug Möglichkeit hatte, dem Leben, das in ihm pulste, immer wechselnde Gestalt zu geben, und das unter der Ausdrucksbeschränktheit der menschlichen Gebärde stets zu leiden schien. Wie ein Schiffskiel, der ja ein Sinnbild meerbefahrenden Willens ist, stach das mächtige Kinn vorwärts in die unterjochte Welt. Trotz der Handbewegung, die seine ›Aida‹ verworfen und die der Maestro vielleicht mißdeutet hatte, war die Erscheinung des Deutschen ihm liebenswert. Wenn er sich das heitere Antlitz vergegenwärtigte, trug es nichts vom lauernden Hochmut des Fanatikers in den Zügen. Die Stimme war schön, fast kindlich offen, ohne Rückhalt und Absichtlichkeit.
Sympathie wuchs zur Freundschaft, zu einer sonderbaren Zärtlichkeit, der ein fast väterliches Bedürfnis beigemischt war, diesen wild sich verschwendenden Menschen zu beschützen.
Ohne irgendwelche Beklemmung mehr, freute sich der Maestro, in einer Stunde vor diesem einzigen Mann stehn zu können. Er phantasierte nicht, er wußte es bestimmt:
Wagner wird ihm die halbe Freitreppe des Palazzo entgegeneilen, seine Hände fassen, glücklich über den ehrenvollen Besuch ihn in den Saal ziehn. Halb französisch, halb italienisch wird er ihn begrüßen, seinem Entzücken Worte verleihen, den vergötterten Künstler der lateinischen Stämme bei sich empfangen zu dürfen. Ein wunderbar tiefes Gespräch entspinnt sich. Er, Verdi, bekennt selbst: »Ich unterschätze nicht meine Leistung. Mit meiner ‹Aida› aber, die Ihnen, Richard Wagner, unbekannt ist, sehe ich die Entwicklung der italienischen Oper für abgeschlossen an. Unsere Jugend kehrt sich von der heimischen Tradition ab und geht zu Ihnen und Ihrem Musikdrama über. Gegenwärtig wird das lyrische Melodram im Anschluß an Ihre Theorien mißachtet und verlacht. Sie können es sich denken, daß es in meinem Leben eine Zeit gegeben hat, wo mir diese Verachtung, deren ganze Schwere mich, den Erben unserer nationalen Musik, vor allem traf, nicht gleichgültig gewesen ist. Aber nun bin ich alt genug geworden, über Fragen eines absoluten Kunstwerkes, des Ruhmes und Nachruhms sowie der sogenannten Unsterblichkeit recht heiter zu denken, gewiß nicht anders als Sie, Maestro Richard Wagner! Sehr lange versteht der Mensch weder seinen Körper noch sein Gemüt. Endlich aber kommen wir darauf, welche Speisen uns unzuträglich sind, welche Illusionen wir nicht verdauen können. Ich zum Beispiel habe nach einigen schmerzhaften Versuchen die Illusion verloren, noch einmal von vorne anfangen zu können und eine neue, unabhängige, meiner eigenen Vergangenheit gemäße Form zu erschaffen. Mir bleibt nichts mehr als die letzte Neige des Lebens. – Ich bin zwar kein Kenner Ihres Werkes. Aber die Stimme der Welt, die Stimme der besten Freunde bestätigt es, daß dieses Werk in der Geschichte der Kunst nicht seinesgleichen hat. Rotbäckig und mit jugendlichen Augen sitzen Sie mir gegenüber. Noch viele Siege warten Ihrer. Glauben Sie meinem aufrichtigen Wort! Es lebt kein Mensch, der Ihnen aus vollerem Herzen Glück wünscht. Ich selbst fühle es wie ein Wunder, daß ich jetzt ohne alle Prätentionen leben darf. Und so genieße ich, dankbar wie ein junger Mensch, diese Stunde, die ich bei Ihnen bin ...‹
Der Maestro sitzt, während sein Geist diese Rede hält, türzugewandt in einem Lehnstuhl. Er kostet die wunderschöne Vorahnung des Besuches aus. Seine Augen sind von innerer Sammlung geschlossen.
Auf einmal sieht er einen sehr großen Saal mit vielen mächtigen Spitzbogenfenstern. Dies kann Vendramin nicht sein. Und doch an einem dieser hohen Fenster steht Wagner und blickt hinaus in den Himmel oder auf ein Meer. Der Maestro hat gesprochen. Er weiß es. Wagners Gestalt wendet sich langsam ihm zu. Will der andere nun auch reden? Aber er führt nur mit ernster Bewegung die Hand an den schweigenden Mund. Dann geht er wiegend-eigentümlichen Schrittes dem Maestro entgegen. Zwei blaue Feuer nähern sich liebend. Tief taucht Verdis Auge in diese Feuer. Die Blicke verschmelzen.
Aber diese Verschmelzung ist ein unerträgliches Wunder, ein greller Strahl, der die Pupillen, die ihn erzeugen, verbrennt.
Wirr erhebt sich der Maestro von seinem Lehnstuhl. Sonne, ungeheure Sonne durchwallt das Zimmer. Im großen Lichtsturm zittert der Raum. Breit durchs Fenster stößt der unerbittliche Strahl, der draußen die Barken entzündet und die Lagune verzehrt.
Alle Glocken brachen los, als Verdi die Gondel bestieg, um zum Palazzo Vendramin zu fahren. Durch die sonnige Stunde hervorgelockt, begab sich seltsame Ausgelassenheit überall in der Stadt. Die Gassen waren voll, Lieder hörte man allenthalben singen und pfeifen. Nicht selten vernahm der Maestro Weisen aus der ›Macht des Schicksals‹. Die Gondel bog schon beim Canale del Palazzo ein, glitt unter dem Ponte bei Sospiri durch, zog an blinden Palästen vorbei, die ihre zerstörten Augen halb geschlossen hielten, an Gärten, deren Kahlheit nur von Lorbeer und Koniferenfinsternis ein wenig durchgrünt war, fuhr in den Canale Fava ein, dessen Flanken von plappernden Menschenzügen schallten. Hinter dem Rialto empfing sie der Canal Grande, der heute sehr laut war; von vielen Fahrzeugen, den fauchenden Raddampferchen durchschnitten, tanzte er mit kleinen flutübermütigen Wellen. Der Maestro glaubte überall Fahnen unter dem hellen Himmel flattern zu sehn. War wieder ein Fest in der Stadt, heute an diesem ganz gewöhnlichen Dienstag nach Karneval?
Das Feiertagsgefühl wuchs. Nicht anders war er einst den großen Stunden seines Lebens entgegengezogen, dem ersten Konzert der philharmonischen Gesellschaft zu Busseto, das er dirigierte, der Premiere seiner allerersten Oper ›Oberto, conte di San Bonifacio‹, seinem Debüt an der Opera: ›Jerusalem‹. Nur viel schöner, reiner, angstloser war seine Bewegung jetzt. Er trug ihm, dem Feinde, dem Verächter, mit dessen Namen der Haß der Welt ihn seit zwanzig Jahren vernichten wollte, er trug Wagner ein Freundschaftsherz entgegen.
Vendramin tauchte auf. Die fünf Doppelfenster in jedem Stockwerk sahen golden in die Stunde. Die beiden mächtigen Rauchfänge stiegen wie kleine Türme in die kaltzitternde Luft. Von Algen und Wassermoos umschlungen, morsch und doch für die Ewigkeit geschaffen, hielten die großen schiefgerammten Pfähle Wache vor der Front dieses Königssitzes. Der Maestro sah, als er den Ruderer bezahlt und die Gondel verlassen hatte, deutlich auf einer vom Wasser überleckten Stufe kleine Krabben, die über die Kante hinauf wollten und immer wieder zurückfielen. Das Portal stand weit offen. Im breiten Vorhaus war kein Mensch zu sehn, auch im Hof nicht. Der Maestro blickte sich um, dann trat er an eine große Glastür und zog die Klingel. Niemand schien zu hören. Die Hand, die den Glockenzug wieder ergriffen hatte, überlegte noch.
Da rannte ein Mann mit wuchtigem Lärm die Haustreppe hinab, riß die Tür auf und wollte, ohne Gruß, ohne Blick, wie von Sinnen an dem Maestro vorbei. Verdi hielt den Menschen fest, dessen Mund wie zu einem Schrei geöffnet war. Er erkannte jenen Türhüter, der vor vielen Tagen einen zylinderschwenkenden Herrn aus der Hoftür der Calle larga Vendramin entlassen und dann mit keckem Blick ihn selbst gemustert hatte. Der Maestro hielt seine Karte in der Hand.
»Ist Herr Wagner zu Hause? Ich bitte, ihm diese Karte zu übergeben.«
Der Türhüter sah lange verständnislos in das Gesicht des Besuchs, dann überwältigte ihn das Furchtbare, dessen Zeuge er vor einigen Minuten gewesen war. Seine Stimme stieß den Schrei aus, den sie zurückgehalten hatte:
»Herr Wagner!? Ah! Ah! Der Herr ist tot. Vor einer Viertelstunde ist der Herr gestorben. Ah! Der gute, gute Herr! Welch ein Elend!«
Das Gesicht des Menschen verzog sich. Er fing zu weinen an. Mit den Tränen aber schwand das Entsetzen, und das Gefühl eigener Wichtigkeit, vermischt mit dem Schwatztrieb des Domestiken, gewann die Oberhand:
»Er ist tot, der gute Herr! Und vor zwei Stunden noch hat er mich gerufen, gescherzt, gelacht der gütige Herr! Und vor ein paar Tagen, nach der Karnevalsnacht ist er mit den andern Herrschaften nach Hause gekommen: Ich öffne das Tor, ich mache meine Verbeugung, aber der gute Herr schaut mich an, mit seinen süßen Augen schaut er mich so ganz traurig an, der arme heilige Engel, legt mir so die Hand hierher auf die Schulter, – ah, ah, – ›Caro mio amico, il carnevale se n'è andato!‹ Ja, das hat er zu mir gesagt, der arme Herr! Mich, mich allein hat er ausgezeichnet! Ah! ...«
Mit rudernden Armen rennt der Mann in den Hof, durchs zweite Tor in die Stadt, die gräßliche Nachricht und seinen Ruhm zu verbreiten.
Die Hoftür bleibt offen. Ruhig verläßt durch diese Tür der Maestro das Haus. Er blickt sich nicht um. Hier ist er schon gegangen. Er sieht eine Kirche vor sich.
Der braune kahle Raum dieser Kirche öffnet sich. Der Maestro liebt die Pfaffen nicht. Die Rache für Rom lebt in seinem Blut. Der Klerus scheint ihm Italiens Unglück zu sein. Wenn Peppina und die Dienerschaft sonntags zur Messe gehen, er bleibt zu Hause und wirtschaftet unmutig in den leeren Zimmern.
Jetzt aber in seiner Betäubung, ohne Gedanken, aus einem Fluchttrieb betritt er diese Kirche. Er war ja einst Mesnerbub gewesen und Organist. Auch das lebt in seinem Blut. Schattenhaft schweifen und knicksen einige junge Kleriker um den Altar, auf dem nur wenige Kerzen brennen. Es ist die Zeit der langen Gebete und Litaneien, die das Jahr zur Passionswoche hinüberleiten. Tausend Heilige werden gruppenweise und namentlich angerufen. Dann fällt der Chor mit der liturgischen Melodie ein:
»Ora pro nobis, orate pro nobis!«
Die Stimmen der jungen Kleriker plärren mit jener geübt-heulenden Klanglosigkeit, die seit Urzeiten den Ruf des Priesters kennzeichnet. Der Maestro sieht keine Frommen. Nur die Schatten der Geistlichen huschen. Alle Schritte schlurfen übernatürlich, schleifen das Echo wie Kettengeklirr nach, wenn jemand hustet, donnern die Wände zurück.
Verdi sitzt auf einer Kirchenbank. Noch immer denkt er nicht. Der Raum scheint mit jeder Sekunde lauter zu tosen.
Langsam breitet es sich rings aus:
›Wagner ist tot.‹
Zuerst ist es wie eine Verlegenheit, als wäre er ungerufen, ungeladen Zeuge von etwas Grausigem, Heiligem, ganz Intimem gewesen. Dann denkt er an die Gondelfahrt, an seine frohe Erwartung, das Feiertagsgefühl, das er die ganze Zeit empfunden hatte. Nun ist er um die holde Begegnung betrogen. Wagner ist tot, in der Stunde gestorben, da er auf dem Wege war, ihn zu suchen. Wie ist das? Dahinter scheint sich ein Geheimnis zu verstecken. Zweimal hat er ihn gesehn. Das drittemal durfte es nicht sein. Warum? Gestern nachts wäre er selbst um ein Haar gestorben. Und heute stirbt Wagner. Hat der Tod zwischen ihnen gewählt, unschlüssig erst den einen berührt und dann sich für den andern entschieden? Wagner ist tot, der Allverehrte, der Angestaunte ist tot! Und die Welt da draußen und die Priester hier, niemand kümmert sich darum. Es scheint eine vollkommen gleichgültige Tatsache zu sein.
Aber es ist doch etwas Ungeheures geschehn. Ihm selbst ist etwas Ungeheures geschehn!
Der Maestro wartet auf den Schmerz, der jetzt kommen muß. Seit zwanzig Jahren leben seine Gedanken täglich mit Richard Wagner. Ein ganz naher Mensch war ihm also gestorben. Er hat ihn niemals gehaßt. Und seit der Begegnung in La Fenice war es ja fast eine Sehnsucht geworden, den Feind endlich zu sprechen.
›Wagner ist tot.‹
Jetzt muß der Schmerz kommen.
Aber es kommt kein Schmerz. Traurig, gleichgültig krähen die Stimmen Ketten von Heiligennamen und finden sich dann in einem monotonen Rhythmus als Chor zusammen:
»Ora pro nobis, orate pro nobis!«
Der Maestro möchte das, was jetzt finster, fest, fühlbar in ihm emporwächst, unterdrücken. Er schämt sich. Er erstaunt vor dem Kalt-Unaufhaltsamen. Kein Schmerz, wie ers meint, wie ers will, wie ers hofft, wächst auf, spendet Tränen! Nein, eine mißfarbene, prickelnde Freude ist es, die wie ein Heer von unendlich kleinen Geschöpfen jeden Muskel seines Gesichts erobert und besetzt. Das Gewissen wehrt sich. Wie scheußlich, wie verrucht ist diese Freude! Aber sie hat mehr Macht als alle Besinnung:
›Wagner ist tot. Ich lebe! Der Kampf hat mich umgebracht. Aber auch er ist gefallen. Er ist mehr besiegt als ich, denn ich lebe und er ist tot!‹
Dem Maestro scheint es, als hätte ein jahrzehntelanges Duell, ein täglicher und nächtlicher Zweikampf stattgefunden, und jetzt sei er doch Sieger geblieben, nachdem er sich schon ergeben hatte. Seine Lungen füllen sich mit der schwarzbraunen Luft dieser Siegesfreude. Er denkt das Gleichnis der Quellen wieder:
›Will die eine fließen, muß die andere versiegen.‹
Und dann:
›Wagner ist tot.‹
Er kann nicht mehr weiterwirken. Vollendet, sichtbar, ohne neues Wachstum liegt das Seinige vor aller Augen.
Der Maestro aber lebt noch. Wer weiß? Er lebt noch, folglich gibt es keine Möglichkeit, die nicht sein wäre! Er fühlt den wilden Blick, den diese Freude aus den dunkeln Eingeweiden am Herzen vorbei in sein Auge pumpt.
Ungerührt, nasal hallt die gleichmäßige Zauberformel der Anrufung.
Wohin sind die Leiden und Überwindungen dieser Tage geschwunden? Ist auch die Resignation noch Lüge? Es gibt keinen Aufstieg. Der Mensch ist ein Zickzack. Alles lebt gleichzeitig in ihm. Keine böse Regung kann getötet werden. Lachend zu seiner Stunde steigt das Schlangenhaupt aus dem Abgrund. Das Ganz-und-gar-Böse, das Viehisch-Gemeine, die Freude über den Tod des Anderen, sie ist nach all den Erkenntnissen der vergangenen Nacht die erste Empfindung, mit welcher der Maestro die befreite Seele Wagners begrüßt.
Aber schon folgt der Ekel. Seine Faust beginnt wütend auf dem Pult zu hämmern.
Die Litanei schert sich nicht um den pochenden Widerhall. Der Augenblick dieser bösen Freude scheint nun dem Maestro der scheußlichste seines Lebens zu sein. Lieber selber tot, als so gemein empfinden können! Ist dies der Mensch?? Zuerst eilt er dem Bruder mit offenen Armen entgegen und dann bejauchzt er seinen Untergang?!
Die Knöchel schlagen sich wund an dem Pult.
Der Grund der Seele, ist er wirklich Schlamm, Pest, Unrat, Verzweiflung, Bosheit? Und darüber ein buntes lächerliches Kartenhaus von Tugenden, Wohltaten, Lehren, Überwindungen? Echt nur der Grund?! Der Bau aber, der Betrug, stürzt er so schnell zusammen?
›Wagner ist tot.‹
An einem fernen Altar beginnt ein Gottesdienst. Neue Stimmen sind da. Der Maestro besinnt sich des Orts. Sein Gehirn reißt sich von den Einflüssen los, die des Körpers Nerven aufwärts senden. Jetzt ist es ihm, als lebe nur mehr der Kopf und alles andere erstarre und erkalte. Und durch den Kopf irrt ein peinigendes Gelächter:
›So ist der Mensch. Kein Gefühl, kein Gedanke hat Wahrheit. Wir bewegen uns nicht. Wir entwickeln uns nicht. Gestern wäre ich fast gestorben. Vor einer halben Stunde starb Wagner. Er und ich! Warum nehmen wir uns so ernst?‹
Die Fuge von schmerzenden Gelächterschwärmen rast planlos durchs Hirn:
›Nichts ist wahr! Wie ist das auszuhalten? Alles auf Erden ist ein furchtbarer, ein trauriger Spaß ...‹
Die Litanei, die unter andern Vorgängen des braunen Kirchenraums eine Zeitlang an Kraft verloren hatte, erhebt sich wieder:
»Ora pro nobis, orate pro nobis!«
Und jetzt wird das kreischende Gelächter zu jenem Leiden, das erst nicht hatte kommen wollen:
›Wagner ist tot. Die Begegnung ist tot.‹
Leute drängten in die Bankreihe. Der Widerhall der Kirche wächst quälend.
Plötzlich schrickt der Maestro zusammen. Er hat ganz deutlich hinter sich den Namen Fischböck gehört. Er dreht sich um und sieht zwei Bäuerinnen, die miteinander tuscheln. All ihre Flüsterworte klingen ähnlich wie: Fischböck. Schnell erhebt sich Verdi und verläßt die Kirche. Was er Wagner schuldig geblieben ist, will er an dem jungen Deutschen gutmachen.
In der Nacht hatte es Italo noch einmal versucht, Margherita Dezorzi zu stellen.
Er erwartete sie vor ihrem Haustor zur Stunde, da sie von der Vorstellung der ›Macht des Schicksals‹ heimkehren mußte. Er war dessen gewiß, sie würde nicht allein kommen. Konnte es anders möglich sein?
Vor wenigen Tagen noch hatte sie ihm süße Liebe gezeigt, die ihn von Sinnen brachte, so unverhofft kam die Umarmung. Eine Nacht nur! Konnte ein Weib so fühlen? (In Bianca hallte die kleinste Empfindung tagelang nach.) Immer dachte er an die rätselhaften Worte der Eurydice. Sie hatte ihn zu Bianca Carvagno zurückgeschickt:
»Sei ein Mann, gestehe alles!«
Ah, dies war eine raffinierte Finte, damit er ihr, Margherita, nur sicherer verfalle. Und dann:
»Ich bin Eurydice und bei den Toten zu Hause. Alles geht durch mich hindurch!«
Es ist wahr! Sie hatte ihn gewarnt. Jetzt aber verachtete sie ihn. Warum? Italo fand nur eine Antwort.
In wenigen Minuten mußten beide kommen, sie und der Mann. Er hatte, ohne daß er das Zerrbild im geringsten bezweifelte, eine feste Vorstellung von diesem glücklicheren Ritter: Ein großer breitschultriger Mensch mit dichtem Schwarzhaar und einem hinausgezwirbelten Schnurrbart, einem kühnen Denkmalsschnurrbart. Italo haßte dieses Phantasiegebilde inniglich. Seine Finger preßten einen Schlagring. Er wollte sich dem Paar entgegenwerfen, den Mann beschimpfen, angreifen, schlagen, töten, selber sterben, ein Ende machen.
Er sehnte sich nach diesem skandalösen Kampf, als wäre einzig so alle Verwicklung zu lösen.
Margherita kam allein mit der Mutter des Weges. Die Sängerin schritt weit aus wie ein Mann. Sie sah zu Boden, als überlege sie etwas. Ihr Gesicht war ganz ernst und fast reizlos. Das Vulgäre der Züge trat im Gaslaternenlicht scharf hervor. Nichts mehr von Eurydice war an der großen nervigen Gestalt im weiten Mantel zu finden. Diese Margherita war nicht bei den Toten. Die Mutter konnte nicht Schritt halten. Sie trug überdies die Ledertasche mit dem Kostüm und den Utensilien des Theaters. Manchmal warf die Tochter ein Wort zurück, kurz und genau. Es klang so unwidersprechlich, als würden die zehn Gebote diktiert.
Aber wo war der Mann?
Tief enttäuscht darüber, daß dieser Mann nicht kam, stand Italo in der Finsternis. Die Muskeln erschlafften. Er wagte es nicht, sich den Frauen zu nähern.
Später erzwang er dennoch den Eintritt. Die trübgrinsende Mutter blieb höflich. Das gepolsterte Matronengesicht, das durch sein stürmisches Auftreten keineswegs aus der Fassung kam, entmutigte ihn, brachte ihn mit unheimlicher Sicherheit ins Konventionelle zurück:
»Also ich darf Margherita nicht sprechen?«
»Ach, das arme Kind ist krank. Wir müssen sie schonen. Welche Anstrengungen, und jeden Abend! Auf Wunsch des Arztes werde ich nun auch tagsüber niemanden zu ihr lassen, niemanden!«
»So werde ich sie niemals wiedersehen?«
»Oh, oh, warum nicht gar!? Die Stagione dauert noch vierzehn Tage. Wir werden uns freuen, beide sehr freuen, den Herrn am Abend im Theater zu wissen. Margherita wäre untröstlich, wenn der Herr nicht käme. Wir bleiben gute Freunde!«
Italo ging.
Während der junge Mensch die nachtgelösten, kleingewordenen Gassen der Stadt stundenlang durchschweifte, fühlte er mehrmals die Verpflichtung zum Selbstmord. Diese Anwandlung kam jedoch nicht aus einer ausweglosen Verzweiflung, sondern aus einer Art lächerlichen Anstandsgefühls. Sie hätte nicht genügt, seinem Körper, der jenseits aller Konflikte blühte, auch nur leise weh zu tun.
Letzte Rettung:
Zu Bianca gehen, ihr Lüge und Betrug gestehn! Aber wußte sie es nicht schon längst?! Und doch! Vielleicht konnte ihre Liebe über seine Gemeinheit siegen! Aber es war zu spät, zu viel war geschehn! Feig ohne Grenzen, fürchtete er ihr Gesicht.
Italo galoppierte, blieb stehn, riß an seinen Kleidern, stieß dumme Worte aus. Ein bleierner Ekel vor sich selber ritt wie ein Mahr seinen Nacken.
Das einzige Gefühl, das er in der Leere und Lähmung seines Gemütes fand, war weinerliches Heimweh nach Bianca. Er strebte zu ihrem Haus, wollte unter ihren Fenstern die Nacht verbringen.
Eine tiefe Scheu zog aber einen Bannkreis um den Stadtteil, wo sie wohnte. Nach vielen Rundläufen fand er sich in der Calle larga Vendramin. Er lehnte sich an die Hofmauer von Richard Wagners Palast und erwartete stier die späte Morgendämmerung.
Um halb neun Uhr ging er, weil schließlich mit solchem Gehaben nichts getan war, nach Hause. Den Vater traf er nicht an. Sein Bruder Renzo erschien erst später im Haus. Italo schlief ein paar Stunden. Mittags weckte ihn ein Brief. Er war so müde und schlaff, daß er das Kuvert, ohne sich fassen zu können, lange mit einem blöden Lächeln in der Hand hielt. Plötzlich aber wurde er klar.
Sein ganzes Leben vergaß er den Augenblick nicht, diesen Stich ins Lebensmark, da er die Unterschrift des Briefes las:
»Carvagno.«
Das Schreiben bestand nur aus zwei Worten:
»Komm hierher!«
Unter dem Namen war Objekt und Stiege des Hospitals angegeben, wohin der Arzt ihn vorlud.
Biancas Schicksal hatte sich erfüllt.
Zwei Tage noch nach der Szene auf dem Ponton schwieg sie, am dritten gestand sie ihrem Gatten alles. Dieses Geständnis wurde in tiefer Ruhe abgelegt, als hätte sie keine Versündigung zu beichten, sondern ein Geschehnis des Lebens zu nennen, dafür sie niemandem verantwortlich sei.
Seit dem schweren Ohnmachtsanfall, den Bianca erlitten hatte, war die Verwandlung, die seit Wochen ihr Wesen umschmolz, vollständig geworden.
Kein Zeichen der Erregung, des Schmerzes, der Verzweiflung, der Erbitterung, der Wut, der Sehnsucht stand in ihren Zügen. Das Weib voll Rachsucht, die Römerin, die wild Liebende schien versteint. War es ein Übermaß von Haltung, das sie sich abzwang?
Die Legende erzählt, daß die Himmels- und Gottesmutter ihren geheimnisvollen Mantel jenen Frauen leiht, die in der Schwangerschaft ernstlich bedroht werden. Wie ein goldhältiger Schatten war dieser Mantel um Biancas Gestalt gebreitet. Sie schien nicht zu leiden, nicht einmal ihr Leid auszudenken. Nichts als dunkle, ergebene Erwartung war sie. Die schwere gelassene Gleichgültigkeit einer Göttin machte sie unnahbar.
Seitdem die Erkenntnis seiner Schuld über den Arzt gekommen war, fühlte er, daß er nicht den geringsten Anspruch, nicht das kleinste Recht auf die so unverständlich veränderte Frau habe. Der Bericht ihrer Untreue gab ihm nicht nur keinen Halt, sondern mehrte noch seine Reue.
Er allein hatte alles verwirkt, hatte nur sich selbst, nur den eigenen Zwecken gelebt, ein edles Wesen an sich gebunden und es niederträchtiger (täglich, stündlich) verlassen als jener alberne Geck Italo.
Daß sie sich einem eitlen Knaben in die Arme geworfen hatte, dies einzig trübte ein wenig das Bild der Frau.
Carvagno verbrachte die angestrengtesten Tage seines Lebens. Wie er in dumpfer Leidenschaft um das Heil seiner Kranken kämpfte, so wollte er jetzt die starrende Undurchdringlichkeit durchstoßen, die ihn und Bianca trennte.
Er wußte, daß seine Gegenwart sie quälte. Darum hielt er sich in andern Zimmern, ja sogar vor dem Hause auf, um sie nicht zu peinigen, aber dennoch in ihrer Nähe zu sein. Er keuchte unter vergeblichen Gedanken. Oft schluckte er ein wildes Schluchzen hinunter, so suchte er sie, so liebte er sie, so kämpfte er um ein Wiederfinden.
Er erinnerte sich jetzt jenes Gesprächs mit Giuseppe Verdi, als ihm vor einiger Zeit die Ehre eines gemeinsamen Spazierganges geschenkt worden war. Wie unendlich einfach und schön hatte der Maestro von der Frau gesprochen, die er aus dem grausamen Wunder der Mutterschaft heraus liebte und erhob.
Mitleid mit der Frau!
Aber diese Frau, die sich gegen ihn vergangen hatte, die vielleicht einen Bastard trug, sie war, unerklärlich warum, so hoch über ihn emporgewachsen, daß er kein Mitleid empfand, sondern verehrende Scheu.
Einer der tiefsten Augenblicke irdischer Erkenntnis wandelte ihn an, wie ihn nur sehr wenige Männer erleben dürfen. Denn die meisten, trüb und ohne Licht, gehen neben der Frau und helfen sich über den furchtbarsten Abgrund der Welt hinweg, indem sie aus ihr einen männischen Popanz machen, gefüllt mit ihren eigenen Mannsinteressen, Ehrgeizen, ja Ausschweifungen. Die Frauen nehmen die Gaben und spiegeln, weil das Leben so am leichtesten ist, die männliche Grimasse.
Carvagno aber erlebte mit furchtbarer Ratlosigkeit an Bianca jetzt die Wirklichkeit des Weibes, die unerreichliche. Er verstand sie nicht, sosehr er auch sein Hirn abmühte, keine Empfindung konnte er hervorbringen, die ihr Wesen zu erfassen vermochte. Weib war Fremdheit an sich.
Im Rückblick kam es ihm vor, als wäre seine Mutter ihm nicht näher gewesen, als hätte er nichts anderes von dieser Mutter erfahren, als daß sie sich um sein Heil sorge.
Nun lauschte er unbemerkt an der Tür den Schritten und Atemzügen Biancas. In solchen Sekunden wich die Scheu vor dem fremden, unbegreiflichen Wesen, und die Sehnsucht wuchs ins Unerträgliche, eins zu werden mit ihm wie in den Tagen der ersten Entzückung. Indem sich Bianca ihm ganz entzogen, hatte sie ihn, ohne es zu wissen und zu wollen, entflammt. Denn der Sinn des Gegensatzes ist der Funke und der Sinn des Funkens die Spannung. Um des Augenblicks der Liebe willen muß uns das Weib eine Ewigkeit unbekannt bleiben.
Carvagno, der ruppige, stets beschäftigte, seiner Kunst restlos hingegebene Arzt, verlor sich in der Wirrnis seiner neuen Liebe, seiner alten Schuld. Nicht eine Sekunde dachte er daran, daß nach bürgerlicher und zeitgemäßer Auffassung er selbst zu verzeihen oder zu verstoßen habe. Alles das war gleichgültig, unwesentlich.
Um eines nur mühte sich sein schlafloser Geist: Den Weg zu Bianca wiederzufinden, mit ihr ein neues, weiseres Leben zu beginnen, nachdem das erste so schmählich verpfuscht war.
Er korrespondierte mit zwei Universitätsstädten. Sie mußten unbedingt Venedig verlassen.
So sehr Carvagno litt, so sah er doch die Notwendigkeit ein, zu warten, bis die schweren unklaren Ereignisse vorbeigegangen wären. Das erstemal vernachlässigte er vollkommen seinen Beruf.
In der Nacht vom zwölften zum dreizehnten Februar trat die Katastrophe ein, die es notwendig machte, daß an Bianca eine künstliche Geburt eingeleitet wurde. Am Morgen brachte Carvagno in der kleinen Barkasse des Hospitals die Gattin in das Krankenhaus. Der Arzt, von dem seine Kollegen behaupteten, er habe die Unverwirrbarkeit eines Feldherrn, machte einen erbarmungswürdigen Eindruck. Übernächtig, unrasiert, mit blauen Tränensäcken, frostklappernd, war er um zwanzig Jahre gealtert. Er betete innerlich unaufhörlich zu den entthronten Heiligen seiner Kindheit. Den Primarius, der die Operation übernahm, umarmte er weinend. Er flehte ihn an, die Ärmste zu retten, ihn zu retten, denn keine Stunde würde er seine Frau überleben. Man wunderte sich allgemein, diesen starken und festen Menschen so unmännlich zu sehn, niemand hatte geglaubt, daß er so heiß lieben könne, die wenigsten überhaupt wußten, daß er verheiratet war.
Im Laufe des Vormittags aber gewann Carvagno nach diesem Zusammenbruch seine Fassung wieder.
Die ärztliche Kunst jener Zeit hatte noch große Angst vor der Chloroformnarkose, insbesondere bei schwierigen Fällen der Geburtshilfe. So kam es, daß Bianca von allem Anfang an unmenschliche Leiden ertragen mußte. Die Schwangerschaft hatte den siebenten Monat erreicht. Das Kind war höchst ungünstig gelagert, der Blutverlust groß. Alle Umstände vereinigten sich, die Hoffnung bis auf einen kleinen Rest schwinden zu lassen.
Die Ärzte erstaunten in Hochachtung vor dieser wunderbar leidenden Frau. Selbst in den schrecklichsten Augenblicken schrie sie nicht, sondern betete mit leisen, scharf ausgestoßenen Worten. Wenn sie nicht mehr die Schmerzen erdulden konnte, rettete sich ihr Wesen in Bewußtlosigkeit.
Schweißgebadet, vernichtet stand Carvagno an der Tür des lichterfüllten Saales. Die furchtbar geöffneten Augen der Frau waren ganz hell mit einem perlmutterfarbenen Glanz wie bei toten Tieren. Aus diesen Augen zog Carvagno die leiseste Spur eines Wunsches, den er zu erraten glaubte.
Darum hatte er auch an Italo geschrieben.
Als man ihm aber meldete, daß der Sohn des Senators draußen stehe, schlug eine Faust hohl gegen seine Brust. Er riß sich zusammen, packte den jungen Menschen bei der Hand und führte ihn, ohne loszulassen, in den Raum, wo dieser Akt des Lebens sich begab, der grauenhafter war als der Tod. Stille herrschte. Ruhig-halblaute Befehle. Das Metall einiger Instrumente klirrte gegen Glas. Die Dulderin lag in einer Ohnmacht, die dem letzten Anfall gefolgt war. Der Puls schien schon ganz verloren. Die Ärzte hofften, daß die Geburt gelingen werde, ohne daß man zu dem verzweifelten Mittel des Unterleibs-Schnitts würde schreiten müssen.
Die dritte Nachmittagsstunde war schon angebrochen.
Italo sah zuerst den steinernen Boden des Saals, der in Blut schwamm, dann sah er den aufgespreizten Leib eines Weibes, die mächtigen Schenkel, blutübergossen, schmutzig, schneeweiß, er sah den zur Seite gerückten Kopf, das hängende Haar, das leichenhafte Gesicht, er sah Bianca ... In diesem Augenblick stieß die Gebärende den ersten furchtbaren Schrei aus. Hatte sie die Nähe Italos gefühlt? Neuerdings, gräßlicher als bisher, setzte die Qual ein.
Langen, schier unendlichen Atems, folgte Schrei auf Schrei. Kein klagender, jammernder Laut, kaum Schmerz erfüllte diese Schreie, die, herrischer Kampfruf, Kriegsruf des Weibes, das Leben, die böse Gottheit anfuhren, die solche Teufelei ersonnen hat.
Italos Hand umkrallte die Hand des Mannes, dessen Frau seine Geliebte war. Ein unsagbares Stöhnen kam aus seiner Gurgel. Streng sah der leitende Arzt auf die beiden Männer, die sich widerrechtlich im Saal hielten.
Carvagno riß Italo in den Vorraum.
Rhythmisch und ungeschwächt, kaum aus einem Menschenmund, durchstießen die hellen, tönenden Frauenschreie die Luft.
Carvagnos große Hände packten die Schultern des schmächtigen Menschen. Mit furchtbarer Wucht drückten diese Hände Italo, der sich nicht wehrte, zu Boden. Der hilflos Kniende sah über sich das unkenntlich entstellte Mongolengesicht des Arztes, verschwollene Augen, tränenüberströmt alle Falten und Runzeln, einen im Wahnsinn verzerrten Mund. Er hörte dieses Menschen Stimme aufheulen. Er verstand die Worte:
»Nun siehst du, was für Bestien wir sind, wir Männer! Bestien, Bestien! Nun siehst du's!«
Auf dem Wege nach Santa Catarina bewegten tausend Gedanken den Maestro. Langsam ging das Unglaubliche in das sich sträubende Bewußtsein ein: Wagner war in der Stunde gestorben, da er, Verdi, die jahrzehntealte Last von sich geworfen und voll feierlichen Gefühls die Begegnung gesucht hatte.
Ein Machtspruch unheimlicher Gewalten lag in diesem Schicksal. Der Sinn blieb verhüllt.
Was er von Richard Wagners Leben wußte, zog in vielen phantastisch-ungenauen Bildern durch seinen Kopf. Wenn er auch die Werke des Toten bisher von sich ferngehalten hatte, eine unausweichliche Teilnahme war seit vielen Jahren in ihm rege gewesen, die jede Anekdote über den Meister, jede biographische Einzelheit, jedes Wort Wagners gierig auffaßte.
Aus der Hungerszeit in Paris, aus der balladenhaften Meerfahrt über den nördlichen Ozean, aus dem Barrikadenkampf in Dresden, den Exiljahren, der Freundschaft eines jugendlichen Schwärmerkönigs, der zweiten Ehe, aus dem wahnsinnigen Einfall des modernen Musikers, ein Theater nur für die eigenen Werke zu kreieren, aus dem Gelingen Bayreuths, – aus allen Taten und Leiden setzte sich die Geschichte dieses Lebens zusammen, dessen Spannung und Welteingriff dem zurückgezogenscheuen Maestro unermeßlich erschien.
Heute hatte er die ruhige Kraft gehabt, sich vor diesem Leben zu beugen. Und dennoch konnte er die Freude, die schwarze, niederträchtige Freude, die Freude, vom schwersten Druck befreit zu sein, noch vor einigen Minuten nicht hinunterwürgen. Welch eine dumme Sache war im Grunde diese Freude gewesen! Mochte er auch Wagner körperlich überleben, sein eigenes Werk war abgeschlossen und das des anderen wirkte ja weiter. Die Geißel war nicht von ihm genommen, nur der Mensch, dieser Mensch, dem er sich vor einer Stunde noch so sehr entgegengesehnt hatte.
Über all diese Erwägungen hinweg, fühlte der Maestro dennoch immer klarer, daß etwas in der Welt, in seiner Welt vollkommen anders geworden war.
Die Gedanken eilten in eine andere Richtung. Stürmisch tauchten alte, noch nicht verwirklichte Pläne auf. Das Spital in Villanova! Und eine sehr große Stiftung, ein Altersheim für ausgediente Musiker, dem er sein ganzes Vermögen und die Tantiemen seiner Opern zu vererben gedachte.
Eifrig wurden diese Pläne im Herzen gefördert und gewannen Gestalt.
Was bedeuten die dichtgedrängten Bettler vor der Friedhofstür? Jedes Todeslos, das den einen trifft, ist die Verschonung des andern. Dieser andere fühlt den Drang zu begleichen, durch eine freiwillige Gabe die Gnade der Oberen anzuerkennen. So ruht die feinste und gröbste Wohltätigkeit des Menschen auf einem Unterbau von metaphysischer Korruption.
In dieser Minute faßte der Maestro aus solchen menschlichen Ursachen hervor wunderbare Entschlüsse. Sie wurden später bis in den letzten Titel erfüllt, denn Verdi war treu und vermochte es nicht, sein Wort zu brechen, auch wenn er es nur sich selbst gegeben hatte.
Der Maestro fand die Wohnungstür der Fischböcks verschlossen. Sofort ahnte er, daß sich etwas Ungewöhnliches hier ereignet hatte. Waren die jungen Leute ausgezogen oder unversehens abgereist?
Eine deutliche Schreckempfindung zeigte die traurigere Möglichkeit.
Er klopfte bei der Nachbarpartei an. Eine hagere Frau mittleren Alters, im kleinbürgerlich-unerquicklichen Schlafrock öffnete. Der Maestro sah ein großes Zimmer vor sich, in dem, wie es schien, zwanzig Kinder eine Schlacht schlugen. Staub und Lärm wirbelte. Tapeten hingen herab, Heiligenbilder hingen schief und zeigten fleischige Herzen von übertriebener Farbe.
Ganz verloren unter den wüsten Rangen erkannte er den kleinen Fischböck. Die Augen des Knaben waren weit aufgerissen, er schien nicht zu verstehn, was mit ihm geschehn war. Betäubt unterm Lärm der Rohen stand er da.
Ein Kinderblick, der trotz aller Verhärmtheit aus Edelmut ein kleines Lächeln andeutete, traf den Kinderlosen. Doch Hans blieb stehn, ging nicht auf den Maestro zu, gab keinen Laut von sich, als ob die neuen Umstände ein Gefängnis wären, das er auf keine Weise verlassen dürfe.
Laut jammernd, falsch und schwatzhaft gab die Frau Bericht: Gestern in der Frühe sei das Unglück geschehn. Der junge deutsche Signor, als er seine Wohnung verlassen wollte, sei einfach auf der Schwelle zusammengefallen. Man habe ihn nicht zu sich bringen können. Ein furchtbares Übel! Sie, die Nachbarin, habe diese unwissenden Poveretti immer gewarnt. Die schlechte Ernährung! Das unregelmäßige Leben! Bald sei es ein Jahr, daß sie die liebenswürdigen Deutschen kenne. Innerhalb dieses Jahres habe sich Signor Fischböck, der rotwangig und rund hier eingezogen sei, so schrecklich verändert. Die Ärzte, dummes und aufgeblasenes Gesindel, wissen nichts. Sie selber kenne vortreffliche und von altersher unwiderstehliche Arzneien, zu denen sie geraten habe. Aber Jugend will nicht bekehrt sein. Agathe, das hilflose Geschöpfchen, habe gar keine Macht über den jungen Mann gehabt, der sich durch unsinnige Spaziergänge bei Tag und Nacht, durch unvollkommene Kleidung, Vernachlässigung seiner Krankheit mutwillig zugrunde richtete. Man denke nur: Wenn die Stube geheizt war, lief dieser Wildling im Winterrock herum, war sie aber eiskalt, dann zog er sich nackt aus. Wenn das nicht böser Wille gegen das eigene Leben ist! Nun ja, Deutsche, Abtrünnige, Protestanten!! Jetzt liegt der Ärmste im Hospital! Wird er zurückkommen? Sie hoffe fest auf die Madonna, denn sie gehöre nicht zu dem kirchenschänderischen Gesindel, das überall die Strafe des Himmels niederzieht. Ob der Herr ein Verwandter sei, ein vornehmer Verwandter der Familie Fischböck?! Er könne sich auf sie verlassen. Sie tue nicht nur mit dem Mundwerk Gutes. Der kleine Giovanni (»Komm her, du mein Engelchen!«) sei ihr mehr ans Herz gewachsen als ihre eigenen sechs (»Werdet ihr ruhig sein, ihr Teufel!«) Bälge zusammen. Sie habe es sehr schwer. Aber sie halte ihn wie einen Prinzen, obgleich sie selbst und die Ihren Hungerleider seien. Die Mutter danke ihr täglich auf den Knien.
Der Maestro bat die Schwätzerin vor die Tür und sagte mit jener Unwiderruflichkeit im Ausdruck, die ihn zum Herrscher im Gespräch mit den Leuten machte:
»Sie werden das Kind gut ernähren und betreuen. Alles wird Ihnen ersetzt werden.«
Dann eilte er, ohne sich umzuschauen, die Treppe hinab. Den duldenden Blick des Knaben glaubte er nicht mehr ertragen zu können.
In der Aufnahmskanzlei des Ospedale civile erkundigte er sich sogleich nach Carvagno. Man nannte dem ehrwürdigen Unbekannten eine Abteilung und schickte einen Wärter mit, der ihm die Stiege zeigte.
Als er einige Stufen überwunden hatte, mußte der Maestro in einem plötzlichen Schwindel stehen bleiben. Er fühlte, wie schwer ihn der Tod des großen Widersachers erschüttert hatte. Das Herz in ihm mühte sich ab.
Auf dem obersten Treppenabsatz saß ein junger Mensch, der ohne etwas zu erkennen mit erloschenem Aug vorwärts starrte. Das sonst peinlich gepflegte Haar Italos klebte verwirrt, Strähnen hingen in die Stirn. Als der Mann im Schatten der Treppe emporstieg, wandte er den Kopf zur Seite, um verborgen zu bleiben.
Der Maestro betrat den kalt schallenden Gang. Die süßlich-fauligen Gerüche der Klinik steigerten die Traurigkeit. Er mußte sich auf der Frauenabteilung befinden. Weiber, schlaff und schlampig, in grauen Kitteln und vertretenen Pantoffeln schlurften über die Steinplatten. Die große weißlackierte Tür, die, wie es schien, zu einem Operationssaal führte, stand ein wenig offen. Abgekämpft aus dem Innern des schmerzenvollen Raums drangen lange, fast melodisch heulende Schreie. Der Maestro mußte stehen bleiben und sein Herz halten. Er erkannte sogleich, daß diese mächtigen Wehrufe die einzigartigen Leidensgrüße einer Gebärenden waren.
(Oh Kriegslied, aus Blut und Kot aufschallend, dem runzlig atemlosen Rekruten vorangeschickt!)
Der erbleichende Mann sah Betteloni, den Quacksalber, wie er sich die Hände wusch und ausrief: »Das war schwer, mein Junge! Siehst du, so kommen Kinder auf die Welt!« Er dachte an Margherita Barezzi, an das wohlgekleidete helle Fräulein, das mit ihm, dem armseligen Menschen, Musikstücke von Haydn gespielt hatte, und dann während zweier Nächte in schamloser Qual, nackt und schmutzig vor ihm litt, sie, die Schamhafte, die das Licht immer löschte, ehe sie sich entkleidete.
Nicht anders hatte sie geschrien als dies arme Weib da drinnen hinter den hartherzigen Mauern. Warum war solche Grausamkeit an die Schwelle des Lebens gesetzt?
Immer wieder beugte die Tiefe dieses Gesetzes den Geist des Mannes. Er mußte in dem erbarmungsvollen Augenblick, (unerklärlich, warum), auch an den Kuß Margherita Dezorzis denken, an ihr Parfüm, das leichte Anschmiegen ihres Körpers. Aber jetzt war der Nachgeschmack dieser Entzückung ein seltsamer Ekel.
Jäh brachen die Schreie ab. War nun das Leiden der Frau zu Ende? Ein Arzt im weißen Kittel trat aus der Tür. Der Maestro fragte nach Doktor Carvagno. Der Kollege machte ein überaus ernsthaftes Gesicht. Carvagno sei nicht zu sprechen. Der Name Mathias Fischböck jedoch war ihm bekannt. Er geleitete den Fremden zu einem jungen Assistenzarzt der Abteilung für innere Krankheiten.
Sehr respektvoll gab der junge Mediziner Auskunft. Das Antlitz vor ihm – er bemühte sich unausgesetzt, eine Ähnlichkeit festzustellen – erfüllte ihn mit Ehrfurcht.
»Fischböck? Gewiß! Sehr traurige Geschichte! Er liegt vorläufig in einem allgemeinen Krankensaal. Wir hoffen aber, heute abend noch eines der privaten Zimmerchen frei zu bekommen. Primarius Carvagno nimmt sich seiner an. Ich bitte Sie! Dieser Fischböck ist ein Künstler.«
»Läßt sein Zustand Hoffnung übrig?«
»Nein! Leider nicht! Er wird kaum eine Woche mehr leben!«
»Aber wie ist denn das nur möglich! Vor zwei Tagen noch war dieser junge Mensch trotz seinem Fieber auf den Beinen?«
»Wir haben eine seltene, schleichende Form der Schwindsucht konstatiert. Eine Miliartuberkulose, die monatelang nicht feststellbar ist, aber plötzlich durch rapide Ausstreuung der Krankheitserreger in den Blutlauf innerhalb von wenigen Tagen tödlich wirkt. Die nervöse Lebensweise des Kranken hat leider den Ausbruch beschleunigt. Hier treten wir ein. Ich muß den Herrn leider bitten, auf das hohe Fieber des Patienten Rücksicht zu nehmen und den Besuch sehr kurz zu halten.«
In den weißgetünchten Krankensaal hatte sich schon die frühe Winterdämmerung eingeschlichen. Die Luft brenzelte. All dies fiebernde Menschenfleisch, mehr als der Eisenofen im Winkel, schien die Sphäre zu hitzen. Unter der Wölbung zogen dunkle Nebel von häßlichen Gerüchen.
Im Raum, die Wände entlang, standen etwa fünfundzwanzig Betten, von schwarzen Kopftafeln gekrönt.
Um all diese Betten, schweigend oder flüsternd, waren kleine Gruppen von dunkelnden Menschen postiert, die im scheuen Kreis auf ihre Kranken blickten. Die Besuchsstunde ging zu Ende. Ein unheimliches Bild boten all diese finster-wispernden Verwandtenhäuflein, die unbekümmert um einander und doch in einer Art Scham wie Verschworene zu ihren gleichgültigen, von Sekunde zu Sekunde fremder werdenden Siechen sich beugten.
Das Elend des Fleisches war einzige Wahrheit! Wie konnte man nur sein Leben dem Trubel der Theatersäle weihen, der Oper!
Zwei Betten waren von keiner Sippe umkreist. Eines von ihnen zeigte den einsam brütenden Kopf eines Kranken, die von dichtem langem Grauhaar umschlossene Stirn. An dem Nachbarbett saß starr und verfallen Agathe. Vor diesem Bett verließ der junge Arzt den Maestro.
Der Anblick von Kranken macht tief verlegen. Es ist nicht, wie man argwöhnen könnte, die eigene Leidens- und Todesfurcht, die angerührt wird. Der Mensch, Nomade vieler heimlicher Welten, ansässig, verbürgert im Provisorium, schämt sich wie jeder echte Landstreicher, wenn er einen andern auf die Wanderschaft gehen sieht. Es liegt tief in unserem Wesen, daß wir diejenigen sehr bewundern, die aufbrechen müssen.
Auch der Maestro überwand Verlegenheit, ehe er zu dem Kranken trat.
Manchen hatte Giuseppe Verdi enden sehen, seitdem der kleine Icilio in seinen Armen gestorben war. Das Ereignis der Agonie, des abschnurrenden letzten Atems, der ausbleibt, nach schrecklichen Pausen wiedereinsetzt und schließlich nicht mehr kommt, die Verwandlung des lebendigen, verfangenen Gesichts in die starre Eingeweihtheit des Bildwerks, alle Todesstunden waren in ihm eingegangen und lebten unbeweglich. Sie, mehr als die Sekunden der Liebe und des Rausches, verhüllten sich in seinen Melodien. Miserere! Und machten sie mächtig.
Jetzt erwachten all die Todesstunden. Er fühlte sich engelhaft erhoben und eine stille, tröstende Heiterkeit strömte aus ihm, als er seine starke Hand auf die Hand des Kranken legte.
Die verkniffenen Mönchszüge Fischböcks traten mehr hervor als je, da ein bräunliches Gelb, Erdfarbe, auf Wangen und Lippen lag, und die Stirn nicht aufwärts strebte. Er schien fünfzigjährig zu sein, noch älter, sein Vater schien er zu sein, der Organist und Sonderling von Bitterfeld. Die Hände mit den unnatürlich dünnen Knochengelenken ruhten ergeben in der Schwerkraft, wie der Leib, den die regungslose Decke verbarg. Nur der Atem jagte kurz und der Puls der Halsschlagader raste. Die Augen kämpften irr um etwas Unausgesprochenes.
Der Maestro beugte sich hinab, lächelte:
»Aber, lieber Fischböck, was für böse Dinge!«
Die Augen des Kranken beruhigten sich:
»Da sind Sie, Herr Carrara! Habe Sie lang schon erwartet.«
Der Maestro faßte die Hand Agathens, die schlaff zurückfiel. Dann aber, sich zusammennehmend, sagte die junge Frau einige Dankesworte, als sie hörte, daß der gütige Freund den kleinen Hans gesehen habe.
Die trostreiche Kraft wurde fühlbar:
»Der junge Arzt, der mich hierhergeführt hat, ein ausgezeichneter Mensch übrigens, versichert, daß Sie noch heute abends ein eigenes Zimmer bekommen werden. Hier ist es wie in einer Kaserne ... Nun Freund, wie fühlen Sie sich?«
»Oh wohl, wie schon lange nicht.«
»Wir haben auch nicht den geringsten Grund zur Beunruhigung. Selbstverständlich ermattet solch ein schweres Fieber die stärkste Natur. Aber der Arzt, den ich um die strenge Wahrheit gefragt habe, erklärt, daß nunmehr der Heilungsprozeß begonnen hat. Sie werden Rekonvaleszent sein. Gedulden Sie sich ein wenig. In einigen Wochen genießen Sie das Leben mehr als jemals.«
»Ja, Herr Carrara! Ich habe nicht die geringste Angst um mich. Mir gehts gut. Nur das Blut rumort, das Blut rumort. Recht so! Es verbrennt, es vernichtet das Widerliche, Gemeine, Unkeusche, Tierische, den Rhythmus ... Dann werde ich frei sein.«
Agathe warf dem Maestro einen Blick zu, daß er den Kranken unterbrechen möge:
»Ich komme, mich von Ihnen zu verabschieden, mein Fischböck, ich bin abberufen worden.«
Fischböck hielt die Augen geschlossen. Agathe klagte, es war das erste unmittelbare Wort, das die Schüchterne an den Maestro richtete – :
»Jetzt sind wir ganz verlassen!«
»Oh das sind Sie nicht. Denn ich darf Ihnen eine gute Sache melden, meine Freunde!«
Der Kranke, der im Nachbarbett lag, drehte den grauhaarigen Kopf herüber.
»Der große Verleger, dem ich die Abschrift Ihrer Musik geschickt habe, ist nicht solch ein alter Tropf wie ich. Er ist ganz ergriffen von Ihren Bestrebungen. Er wünscht, alle Ihre Werke zu drucken, und hat mir übrigens sogleich einen Wechsel für Sie mitgesandt. Es soll dies das Handgeld für einen künftigen Vertrag über Ihr Gesamtschaffen sein. Ich bezahle Ihnen diesen Wechsel in Bargeld. Es sind zehntausend Franken!«
Der Maestro sah den Todgeweihten nicht an, nahm mit sehr sachlicher Miene die großen Scheine aus der Brieftasche, zählte sie aufmerksam nach und reichte sie Agathen hinüber. Der Einfall, die Gabe so zu begründen, war ganz plötzlich gekommen. Er steckte mit der Befriedigung eines Mannes, der einen erfreulichen Auftrag erledigt hat, die Brieftasche wieder ein:
»Ich beglückwünsche Sie, mein lieber Fischböck, zu diesem Erfolg. Das kam für mich eigentlich sehr unerwartet. Nun, ich habe mich schön blamiert! Will mirs für die Zukunft merken. Wenn einmal Ihre Musik gedruckt und aufgeführt ist, wird sie die Welt ohne Zweifel in Erstaunen setzen. Ein Verleger, der zugreift, weiß genau, was er tut. All meine Einwendungen sind entwaffnet. Ich muß Sie nur auf Bitte des Unternehmers ersuchen, sich noch einige Zeit zu gedulden. Er wird demnächst persönlich hierherkommen, mit Ihnen verhandeln und den Vertrag schließen. Ihre Adresse kennt er. Also Geduld!«
Mathias hatte sich langsam im Bett aufgesetzt. Sein vom Kissen befreites, ganz klein gewordenes Gesicht zeigte keine Spur von Zweifel und Mißtrauen. Alle Kraft drängte sich in einem triumphierenden Blick zusammen, der die Frau traf:
»Siehst du, Agathe!?!«
Sein Kopf fiel zurück.
Auch der Mensch im Nebenbett hatte sich ein wenig erhoben. In der wachsenden Dämmerung sah der Maestro ein weißes zerfurchtes Schauspielergesicht. Dieses unpersönliche Gesicht, die Lebensmaske aller mittelmäßigen Mimen, Sänger, Bühnenleute, zog ihn immer wieder an. Er fühlte sich von dem unsichtbaren Auge des Kranken angestarrt. Agathe hielt noch die große Geldsumme in ihrer Hand, die das steife erlösende Papier fürchtete oder für einen Traum hielt.
Mathias schien im Augenblick gar nicht daran zu denken, daß durch dieses Geld seine Familie gerettet war. Die leise flache Fieberstimme fragte:
»Und er wird kommen, der Verleger?«
»Sie können sicher sein. Den Vorschuß läßt ein Verleger nicht verfallen.«
»Und wann wird er kommen?«
»Wenn seine Geschäfte in Mailand erledigt sind. In zwanzig, dreißig Tagen. Es eilt ja nicht. Und er kennt Ihre Adresse.«
Fischböck lächelte mit einer fast boshaften Freude vor sich hin:
»Siehst du, Agathe? Ich bin doch kein Wahnsinniger. Ich habe Recht. Die Menschen kommen zu mir. Sie spüren die Wahrheit. Gar nicht so übermäßig lange habe ich auf die Menschen warten müssen. Du hast schon an mir gezweifelt, Agathe. Nein, sag nichts! Es ist nur selbstverständlich. Da siehst du's nun. Und das macht mir die größte Freude ... Sie verstehen etwas von Musik, Herr Carrara, Sie werden mich begreifen. All die berühmten Werke unserer sogenannten Meister und Neuerer? ... Nichts als auseinandergelegte Dreiklänge und die immergleichen Akkorde. Scheußlicher Wohllaut! Opernschwindel, verfluchter Opernschwindel. Schlechtes Pathos, schlechte Sentimentalität, kein Ton wahr! Oper! Und das soll die ganze Musik sein, die ebenso unendlich ist wie das Universum? Aber ihr alle wollt nicht leben, sondern nur genießen! Geduld! In drei Wochen bin ich beisammen. Das haben Sie gut gemacht, liebster Herr Carrara.«
»Es ist die Wahrheit, Freund! Nur ein ganz kleines, schäbiges Stück sehen wir vom Nachthimmel der Musik. Mir muß es genügen. Sie kennen die neuen Konstellationen. Aber Sie sprechen zu viel. Jetzt keuchen Sie wieder.«
»Nimmt er mich ganz in seinen Verlag, alles von mir?«
»Alles!«
»Und ich werde aufgeführt werden?«
»Gewiß! Sie werden aufgeführt werden!«
»Mein Freund Carrara! Ihnen zu Ehren will ich einen Chor schreiben, eine Motette! Für diese Aufführung! Sie werden erkennen, wie einfach das alles ist ... wie klar ... wie verständlich ...«
Der Kranke sprach mühsam. Der Maestro erhob sich:
»Am besten wird es sein, wenn Sie jetzt Ihren Kopf in Ruhe lassen und sich still Ihres großen Erfolges freuen.«
Das Schauspielergesicht im Dunkel steht weit überm Bettrand. Der junge Arzt ist eingetreten. Die Sippen haben ihre Angehörigen längst verlassen. Verdis Auge umfaßt das Bild des Sterbenden, den er nie mehr sehen wird. Das Antlitz eines gotischen Bildwerks hat die Farbe des Zwielichts. Wieder dieser Gedanke:
»Hier geht ein bedeutender Mensch zugrunde. Keiner wird von ihm wissen.«
Seine Hand berührt zum Abschied die Fieberstirn, die trockenen blonden Haare. Dann sagt er zu Agathe:
»Ich werde Ihnen über alles von Genua schreiben. Über alles!«
Der Assistenzarzt macht eine mahnende Geste. Ein Wärter zündet ein paar Gasflammen an. Krankenstimmen schleichen dem Licht entgegen, das langsam in alle Winkel kriecht.
»Mut, Freund!«
Der Maestro sagt das und schaut den Deutschen nicht mehr an. Das Bild soll verlöschen, muß erlöschen! Auch sein Gesicht, das Gesicht eines alten weisen Arbeiters, ist plötzlich ganz verfallen. Zögernd und mit langsamen Schritten geht er zur Tür, ohne von der Frau Abschied zu nehmen. Wie er sich entfernt, stemmt der kranke Theatermensch in seinem Bett sich hoch und flüstert begeistert, leise:
»Verdi!«
Niemand hat dieses Wort gehört.
Der Gang liegt in einer noch hellen Dämmerung. Gewaltige Schritte von Unsichtbaren hallen. Die Wärter, die sich in die einzelnen Krankenzimmer begeben, schlagen rücksichtslos (hier bezahlt man nicht) die Türen zu. Der Maestro geht langsam weiter. Ehe er noch die Treppe erreicht hat, fühlt er sich von leiser Hand angetastet. Er kehrt sich nicht sofort um. Etwas Edles und Zaghaftes steht hinter ihm. Jetzt wendet er den Kopf und sieht Agathe Fischböck. Das unschöne, allzuhelle, fast brauenlose Gesicht ist nicht zu erkennen. Leidenschaft macht es streng:
»Ich weiß, wer Sie sind!«
Der Maestro findet kein Wort. Er sieht, daß die Frau eine von den Photographien in der Hand hält, die wider seinen Willen in den Handel gebracht worden sind. Sie redet hastig, scharf, damit ihr Mut sich nicht erschöpfe:
»Mein Mann muß sterben, sehr bald, ich weiß es! Sie kennen uns kaum. Sie haben für uns, für ihn mehr getan, als eigene Eltern tun können! Die Geschichte mit dem Verleger ist nicht wahr. Er wird sterben, aber glücklich sein. Danken kann er nicht. Das müssen Sie wissen! Sie sind Giuseppe Verdi!«
Nach schwerem Kampf stößt sie mit harten Pausen diese Sätze aus. Dem Maestro ist es, als müsse er ein Versteck suchen. Auch er flüstert scharf und abgerissen:
»Ich will, daß es Ihrem Kinde immer gut ergehe! ... Schreiben Sie! Kommen Sie dann! Kommen Sie bestimmt nach Genua, nach Sant Agata. Ich bin da! Ich will für das Kind sorgen!«
Die Frau hört diese Worte kaum. Sie wehrt sich gegen eine Überwältigung. Es ist nicht Dankbarkeit. Es ist etwas weit Höheres. Der Strahl, die Größe, der Mensch! Ihre Zähne schlagen gegeneinander. Plötzlich aber weint sie wild auf und fällt vor dem Maestro nieder. Worte können nicht werden. Sie preßt seine Hand gegen ihr Gesicht:
»Auch bei uns, Giuseppe Verdi! ... Ich kenne Sie ... Immer ... Gut ...«
Sie küßt die Hand, die sich wütend losreißt.
Er entflieht.
Der Maestro tritt aus der Dunkelheit in irgendein Torbild. Er sieht fern im Ausschnitt die Lagune der Fondamenta nuove, die noch im grauen Schein liegt. Aber wie er an der Grenze von Finsternis und weitem Wasserzwielicht steht, bemächtigt sich seines Geistes ein merkwürdiges Erlebnis.
Mit realer Bestimmtheit fühlt er, daß er gar nicht im Tor dieses Hospitals stehe, sondern wie allabendlich immer an seinem Erard-Flügel im Palazzo Doria sitze, um ein wenig zu improvisieren.
Doch der Augenblick dieses Zwittergefühls geht rasch vorbei.
Befreit vom Karbol und Auswurfsdunst des Krankenhauses, erfüllt die Lust der frischen Luft seine Lungen.
Er nährte um, wie die Naturkraft,
Die freie rings waltende Sphäre
Der Luft uns nährt allgemeinsam.
Seines Lebens Schönheit und Urkraft,
So einsam,
Stand hoch über uns wie die singenden Himmelsmeere.
Er riß seine Chöre
Aus dem innersten Atem der schmachtenden Massen,
Daß Trauer und Hoffnung erschalle!
Er liebte und weinte für Alle!
Nach Gabriele D'Annunzio
Die sogenannten Fondamenta nuove von Venedig haben nichts mit der Vorstellung eines neuen Stadtteils, einer fassadenschönen Kai-Straße gemein. Das goldgeschminkte Gesicht der Stadt lächelt abgelebt und reizvoll den Süden an, die Klarheit des Mittelmeeres. Diese Fondamenta aber, nach einem wüsten Norden gewandt, sind die elende Rückseite des Lebens. Oh Wahrheit der alten herrlichen Diva, die um Mitternacht, wenn kein Auge mehr die schlaffe Schönheit ihres gefärbten, gestützten, gewandeten Leibes bewundern will, grau und selbstgehässig sich ihrem Ruin hingibt.
Das traurige Stadtgestade erstreckt sich einige Kilometer lang vom Arsenal etwa bis zur Sacca della Misericordia, einem öden mißriechenden Hafengeviert. Die große Kaserne von San Francesco della Vigna, der riesige Zylinder der Gaswerke, die Mauern des Ospedale mit ihren vergitterten Fenstern starren aufs Wasser. Aber auch dieses Wasser hier gleicht nicht der farben- und freudeberauschten Lagune von San Marco. Von schillernden Abflüssen verheert, speichelt es widerlich allenthalben. Viele Sandbänke tauchen schmerzhaft den aussätzigen Rücken aus dem Spiegel. Es ist eine rechte Lagune der Verwesung, ein stygischer See, der mit bleiernen Fluten den furchtbaren Schatten der hebenden lachenden Körperwelt wälzt: Krankheit, Auswurf, geronnenes Blut! Selbst die außermenschliche Natur sucht diesen Ort, ihr Elend abzulagern, denn nicht nur vermorschte Balken, rätselhafte Gewebe, Schmutzformen treiben hier dahin, sondern nicht selten auch aufgequollene Tierkadaver, die sich langsam um sich selber drehn.
Die größte der Sandbänke, künstlich ummauert, gehoben, erweitert, die mit Zypressen bepflanzte Insel San Michele stößt ihren Glockenturm in die ewig mißmutige Luft. Es ist selbstverständlich, daß diese Friedhofsinsel der Stadt als Vorposten solchen Gestades ins nördliche Wasser hinausgeschoben ist.
Fühlbar fällt der Raum des Krankenhauses von den Schultern des Maestro. Ihm ist es, als verlasse er es als Genesender, als habe er sich wochenlang in den Krankensälen aufgehalten, denn eine Schwere, eine Weichheit der Knie, eine Müdigkeit der Knochen fühlt er bei jedem Schritt. Menschen gehn vorbei. Trottende Gruppen von Soldaten. Arbeiter. Armes Volk. Immer mehr Menschen. Die Venezianer dieses Gestades gleichen nicht den Venezianern der Laguna di San Marco. Selbst in den Gesichtern der Liebespaare lebt ein gekränkter Groll gegen das Leben.
Zwei Bilder werden im wachsenden Nebelabend groß und tiefsinnig. Jenseits des Kanals der Bettler, vom Ufer hinüber bis zur Friedhofsinsel, ist eine hochgebaute Pilotenbrücke, ein schwingender Holzsteg errichtet, den man in diesem Jahr nach dem Allerseelentag nicht abgebrochen hat. Da die Insel immer mehr verschwimmt, dehnt sich der lange und schmale Steg ins Unermessene, in ein trübes Jenseits. Leute, von denen einige Laternen und Kerzen tragen, kehren auf dieser Brücke, hoch über die Lagune ziehend, schattenhaft heim. Ein größeres Begräbnis, ein Gottesdienst scheint drüben stattgefunden zu haben. Noch kämpft Glockenlaut umherirrend gegen den Nebel.
Etwas weiter östlich im stockenden Wasser ist ein großes Baggerschiff verankert. Auf dem Kran beginnt schon Licht zu zwinkern. Aber die Arbeit ist noch im vollen Gang. Der Maestro hört das Knarren der Seile und Aufzugsketten, das leidende Keuchen der Maschine, den rhythmischen Schrei der Werkleute, der wie ein immer wiederholter Hilferuf eines Verwundeten klingt. Ein wütender Arbeitsrausch scheint auf dem Baggerschiff zu herrschen.
Die lichtertragenden Gestalten auf der Brücke wanken träge. Seltsam lautlos, mit beleidigten Augen promeniert das Volk durch die schwere Dämmerung.
Aus einem der schwarzen ins Wasser mündenden Nebentore des Hospitals hat sich eine gemeine Barke gelöst und steuert nach San Michele. Der Maestro erkennt an Bord des Fahrzeugs einige unbedeckte unbekränzte Holzsärge, die wie Fässer und Kisten regellos nebeneinander gestellt sind. Um diese Stunde wirft das Haus seinen Ballast aus, der hinüber nach der gastlichen Insel befördert wird.
Mühsam will der Maestro etwas denken. Nur einen Namen:
Vielleicht ›Wagner‹, vielleicht ›Fischböck‹. Aber die Namen wollen nicht gelingen.
Eine Macht, deren er sich nicht mehr erinnert, wächst an. Er erschrickt, denn er denkt an den Anfall der Nacht. Aber diese Macht ist nichts Böses. Er muß sich nicht wehren, obgleich sie alle Eingeweide zusammenreißt, das Zwerchfell krampft, den Atem würgt.
Wenn dies Tod ist, heißt er Begeisterung.
Der alte Mann im dunkelbraunen Überrock ballt mit unbegreiflicher Gebärde die Fäuste, öffnet die Anne, der Hut rutscht nach hinten, er lehnt sich gegen die Mauer, stemmt wie ein Erstickender das Bartkinn gegen die Brust und stößt einen halblauten keuchenden Ton aus. Augen ohne Blick erschließen sich, die weinen. Noch immer sind die Arme ausgespannt, sie beben vor innerem Schluchzen und plötzlich entfährt dem Mund in kurzem, heiserm, unsinnigem Sang der Ruf:
»Vendetta!«
Der Maestro weiß nichts von diesem Wort, das aus ihm kommt. Es bedeutet nichts. Nicht einen Vergeltungsschrei um all das Leben, das heute aufgeopfert ward, nicht eine bloße Reaktion auf die Leidenserlebnisse dieses Tages, nicht eine Antwort auf die furchtbare Schwemmt der Stunde, des Gestades, der Brücke, des Volks.
Die armen Menschen dieses Abends, der nun alles umschließt, machen schweigend der Gestalt Platz, die wie blind mit emporgedrehtem Haupt dahinschwankt, krampfhafte Silben zum Himmel lallend. Niemand nennt sie Narr, niemand lacht.
Je tiefer die Gestalt in die Stadt eindringt, um so dichter, reißender wird der Lebensstrom. Sie durchdringt ihn, ohne seine Wirbel zu fühlen, seinen Lärm zu hören. Mit einem vierschrötigen Kerl stößt sie zusammen. Der holt zu groben Worten aus, schweigt aber und grüßt.
In vielen Torgängen stehen Frauen mit Kindern im Arm. Ein Säugling streckt seine Händchen aus. Ein alter Priester im Ornat blickt der Gestalt mit sinnverlorenem Lächeln nach.
Der Maestro steht in seinem Zimmer. Beppo wartet. Er hat alle Aufträge erledigt, die Fahrkarten sind besorgt. Er will berichten, die Alltagslitanei beginnen. Beim dritten Wort schweigt er. Dieses Gesicht kennt er nicht. Sind das die Augen des Herrn, die richtenden, klaren? Er versteht nichts, aber er möchte hin zum Herrn, die alten Hände streicheln.
Auf Zehenspitzen geht der junge Diener davon.
Der Maestro läßt sich nieder. Er hat den Überrock nicht abgelegt.
Vendetta! Ist Vendetta Rache?
Wie ein Kerzenlicht im freien Nachtraum alles nur noch finsterer macht, so verdunkelt die feste Bedeutung der Worte die Unendlichkeit im Menschen.
Vendetta ist kein Wort. Vendetta ist die verlorene Kraft. Und mehr. Vendetta ist der Zauberaugenblick jener Liebe, die nur einen Augenblick lang erträglich ist, und das nicht oft im Leben.
Verdi sitzt noch immer reglos im dunklen Zimmer. Er lächelt nicht, trauert nicht, träumt nicht. Müde ist er wie eine Landschaft nach dem Regen.
Ich glaube an die Inspiration. Ihr aber glaubt nur an die Faktur. Ich will den Enthusiasmus wecken, der Euch zur wahren Empfindung fehlt. Ich will die Kunst, in welcher Form sie auch immer erscheine, niemals aber Unterhaltung, hochnäsige Artistik oder theoretische Spekulation, die Euer Um und Auf sind.
Aus Verdis Ablagebrief an Paris und Pariser Oper
Die Feierlichkeit, die der Senator beim Wein ersonnen hatte, um seinem Freunde zu beweisen, daß er trotz Wagner und der verwandelten Zeit noch immer Verdi, noch immer die Liebe der Italiener sei, sollte am Abend dieses dreizehnten Februars um acht Uhr stattfinden. Feier wäre ein allzugroßes Wort. Es war nach Rücksprache mit den betreffenden Funktionären nichts anderes beschlossen worden, als daß sich zur festgesetzten Stunde der Bürgermeister, drei Stadtväter, Graf Boni, Veranstalter des Weihnachtskonzertes im Teatro Fenice und Präsident des Liceo Marcello, nebst den angesehensten Professoren dieses Konservatoriums in das Hotel des Maestro begeben sollten, um daselbst Gruß und Dank der Stadt Venedig für sein Werk, sein Leben zu Füßen des Erlauchten ehrfürchtig niederzulegen. Nach kurzer Wechselrede hatte man von der Verleihung des Ehrenbürgerrechts (Wunsch des Senators) Abstand genommen, weil diese nur im Plenum der Stadtvertretung beschlossen werden konnte, wozu jedoch keine Zeit mehr war.
Je näher nun der Augenblick dieser Huldigung heranrückte, um so tiefer wurde die Unruhe, der Zwiespalt des Senators. Er begann einzusehn, daß er in Liebesbeflissenheit etwas angerichtet hatte, was der Freund seinem ganzen Charakter nach ihm schwer verübeln mußte.
Verdi, der zu jeder Zeit sich der geringsten Ovation scheu und wütend entzog, der die Leute in flehentlichen Briefen beschwor, sein Jubiläum zu übersehn, der die Aufstellung seiner Büste im Foyer der Scala als eine schwere Geschmacklosigkeit bekämpfte, er hatte es immer wieder dem Senator ans Herz gelegt, keinem Menschen seinen Aufenthalt in Venedig zu verraten.
Dem alten Freiheitskämpfer wurde heiß und kalt. Zehnmal verließ er planlos das Haus und kehrte ebenso planlos zurück. Nicht einmal mit Renzo, der ihn überrascht hatte, sprach er länger als einige Minuten. Recht feige pochte sein Herz. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er noch alles widerrufen, so sehr plagte ihn Angst vor Giuseppe Verdis Unerbittlichkeit und Strenge. Was für ein Gesicht wird der Maestro angesichts des Aufzugs von befrackten Herren machen? Das bös-ironische Gesicht seiner Jugend oder das gütig-ironische Gesicht seines Alters? Wird er nachher wüten oder gutmütig heucheln?
Was die leichtberauschte Phantasie des Senators übertrieben als sinnbildliche Begrüßung durch die ganze Nation erträumt hatte, entpuppte sich jetzt als ein sehr gefährlicher Überraschungsscherz.
Der Gute war in höchst verlegener Stimmung.
Um sieben Uhr abends aber gab Verdis Beppo jenes mit Bleistift hingesetzte, kaum leserliche Schreiben ab, das die Sachlage von Grund aus veränderte. In sehr warmen, ja sonderbar erregten Worten teilte der Maestro dem Freunde mit, daß er ihn nicht mehr sehen werde, daß er mit dem nächsten Zug nach Mailand und Genua verreise, ohne ihm vorher die Hand zu drücken. Alte Freunde, meinte er, sollten, wenn sie zu Jahren gekommen wären, jeden Abschied vermeiden, der ja immer der letzte sein kann. Diese Tage in Venedig seien ein Versuch gewesen, in ganz fremder Umgebung, in ehrlicher Einsamkeit eine gewisse Arbeit zu Ende zu bringen. War auch der Versuch mißlungen, so wolle er doch nicht sagen, daß die Zeit nutzlos vergeudet sei:
»Mir ist wehe ums Herz. Da ich hier freier war als irgendwo anders, habe ich hier so manches gesehn und erkannt ... Aber vielleicht ist Zweifel und Wehmut der natürliche Zustand des Alters.«
Mit sehr liebevollen Wendungen, die der Maestro nur in seltenen Fällen niederschreiben konnte, schloß das Schreiben. In die Enttäuschung des Senators mischte sich das Glücksgefühl über diesen Brief und die Erleichterung seines Gewissens.
Fünf Minuten vor acht Uhr betrat »Giuseppe Verdis Stellvertreter auf Erden«, so nannte man den Senator, die Halle des Hotels. Als Revolutionär verschmähte er den Frack und trug ein hochgeknöpftes Gewand, das seine gewaltige Gestalt hoch über alles Gewöhnliche hob. Diese Kleidung war wohlersonnen. Eitelkeit und Gesinnungstreue widersprachen sich nicht.
Die Herren im Frack warteten schon eine kleine Weile. Ehrerbietig und voll Neugier standen Wirt und Dienerschaft Spalier. Ersterer hatte mit heimlichem Augenzwinkern die Bemerkung gewagt, daß der »unbekannte Herr« von Nr. 2 vor einer Stunde seine Rechnung beglichen und sich verabschiedet habe.
Den Senator kennzeichnete im Verkehr mit Menschen eine heftige und zugleich flüchtige, eine tyrannische und zugleich ungeschickte Art. Vieles wäre ihm kaum verziehen worden, wenn sein reiner und kühner Name nicht solche Absonderlichkeiten gerechtfertigt hätte. Auch jetzt stürmte er, wie immer in solchen Augenblicken, mit gefährlich rotem Gesicht, kurzatmig keuchend, in die Vorhalle und winkte der wartenden Gruppe den flatternden Gruß des schwungvollen Rebellen zu. Die Zylinder einer Zeit, die den Strettarausch aller geschäftsuntüchtigen Ideale längst überwunden hatte, erwiderten nüchtern und korrekt diesen Wink.
Der Senator schüttelte die Hand des Bürgermeisters, nickte dem musikalischen Grafen Boni ein wenig herablassend zu, begrüßte die ihm unbekannten Mitglieder der Abordnung mit summarischer Gebärde, und bat die Herren auf das Zimmer des Maestro. Der Hotelier, im Vollgefühl einer sein Haus auszeichnenden Stunde, stürzte voraus und zündete eigenhändig sämtliche Lichter des Fürstenzimmers Nr. 2 an. Erst als die Versammlung eingetreten war, zog er sich aus dem Raum zurück.
Der Senator schnappte noch immer nach Luft. Es regte sich in ihm, während er schwieg, der alte Politiker, der Redner, der, ehe er zu sprechen beginnt, die erdrückende Nacht seiner sonoren Erscheinung auf eine Menge genießt. Unendlich war der Mann von Achtundvierzig, Mazzinis Freund, dieser engbrüstigen Gesellschaft überlegen.
»Meine Herren«, begann er, »Sie, die Väter der Stadt, die Verwalter der Künste, haben sich hier versammelt, um einen Großen, den Größten wohl unterm italischen Volke, zu bewillkommen und ihm zu huldigen. Ich muß Ihnen nun mitteilen, daß Giuseppe Verdi unsere Stadt schon verlassen hat oder in diesem Augenblick verläßt.«
Einige Ausrufe und Fragen, die man an ihn richtete, unterbrach der Senator sogleich:
»Ich gestehe, sosehr ich auch traurig bin, daß wir alle dem großen Mann unsere Verehrung nicht darbringen können, mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Denn, Freunde, mit unserem Maestro ist nicht zu spaßen. Er haßt alle offiziellen Feste und Reden wie nichts anderes auf der Welt. Gott weiß, wie er uns empfangen hätte.«
Der Bürgermeister sah außerordentlich erstaunt den Senator an, der zu vergessen schien, daß er selbst ja den Anstoß zu diesem mißglückten Huldigungsakt gegeben hatte. Um jedoch die Würde seiner Stellung zu wahren, wies er darauf hin, daß kein Italiener, wie bedeutend er auch sei, die Begrüßung durch das Oberhaupt der Stadt Venedig mißachte.
Im Grunde aber war dieser magere, bureaukratische Mann froh, daß er über die feierliche Ansprache, die einem sehr entlegenen Lebens- und Verwaltungsgebiet angehörte, so billig hinweggekommen sei. Der Herren bemächtigte sich eine gewisse Betretenheit. Man war in großem Aufzug mit allen Orden erschienen. Vor dem Hotel war das Häuflein von Neugierigen zu einer ansehnlichen und begeisterungsentschlossenen Menge angewachsen. Jetzt galt es eine Form zu finden, um mit Anstand und in harmonischer Form auseinanderzugehn.
Am wenigsten schien ihr Anstifter diese Mißhelligkeit zu begreifen. Mit liebevoll prüfenden Augen ging der Senator im Zimmer umher. Dann erst trat er unter die zehn Frackträger, maß sie, ließ seine ganze Fülle und Höhe wirken und nahm die Positur eines Mannes an, der andere belehren will. Diese anderen waren es zufrieden. Eine Rede, das ist die beste Entlastung und Lösung einer leeren Situation ...
»Vor einer Stunde«, der Senator blieb leise, »hat Giuseppe Verdi dieses Zimmer verlassen. Es ist seither gewiß nicht aufgeräumt worden. Aber sehen Sie sich um, meine Herren, deutet auch nur die leiseste Unordnung darauf hin, daß hier ein schaffender Mann wochenlang geschrieben, gespeist, geschlafen hat? Ich kann Ihnen verraten, daß dieser leidenschaftlichste Mensch, der mir im Leben begegnet ist, niemals im Schlaf sein Bett zerwühlt. Feuer und Selbstzucht! Wer ermißt den Sieg? Dies ist Giuseppe Verdi!«
Einer der Herren schlich auf Zehenspitzen zum Fenster, um festzustellen, ob sich am Ende die Menge auf der Riva schon verlaufen habe. Während der Senator die Stimme erhob, nagelte sein Blick den unaufmerksamen Sünder fest, ehe er noch sein Vorhaben ausgeführt hatte:
»Die romantische Irrlehre hat ein Zerr-Ideal vom Künstler geschaffen: den Zigeuner, den Schmutzigen, den Vergeßlichen, den Nervösen, den Unlogischen, den Verantwortungslosen, den Ästheten, den Gecken. Welche Kunst nun kommt aus solchen Seelen? Mit einem Wort, die Verehrung des Bösen! Die Anbetung des Widerwärtigen! Wann sagt man heute von einem Buche zum Beispiel, es sei gut und echt? Wenn seine Figuren die Niedertracht des Lebens noch übertreffen. Dann freut man sich. Und wann ist eine Musik schön, untrivial, tief, große Kunst? Wenn sie von fanatischem Schwulst und aufgeregter Ode strotzt. Es ist in dieser Zeit ein teuflischer Wille unter den Menschen, einander wehe zu tun. Welch eine Kraft lebt in unserm Maestro, daß er allen Lockungen des Zerfalls widersteht! ... Der Wirt wird nicht über Abnützung seines Zimmers und seiner Möbel zu klagen haben. Dennoch fühle ich das heilige Leben des Teueren, der hier gewohnt hat, auf jedem Gegenstand. Bitte, lachen Sie mich aus, meine Verehrten! Es ist wahr, ich bin ein alter Schwärmer. Aber seitdem wir Erdentiere nicht mehr an Götter glauben, müssen wir aus Menschen uns Götter machen. Wer aber ist ein Gott? Der uns niemals enttäuscht hat, ist es. Ja, dieser große Mensch enttäuscht niemals.«
Der Bürgermeister wandte sich mit steifem Nacken und gelangweiltem Aug zu seinen Gefährten, als wollte er fragen: Was will der Mann? Warum hält er uns eine Strafpredigt gegen die moderne Kunst, uns, denen sogar die alte völlig gleichgültig ist. Das Ganze dürfte sich gegen den armen Boni richten. Nun, der Gute hat halt nichts Besseres zu tun, was bei seinem großen Vermögen kein Wunder ist ...
Andre Gestalten aber als der Bürgermeister oder Graf Boni zogen durch den Geist des Senators:
»Ich habe das Glück gehabt, manches Helden Freund gewesen zu sein. Sie wissen es! Ich kann wohl sagen, niemand hat Mazzini näher gekannt als ich. An Garibaldis, Rosalinos, Birios, Hegedüs' Seite bin auch ich Soldat gewesen. Aber wie tapfer, wie prachtvoll sie alle waren, in ihrem Feuer brannte viel Stroh. Selbst mein reiner und hoher Lehrer Mazzini war nicht ohne Eitelkeit. Und jetzt will ich Ihnen sagen, warum Verdi ein Gott ist. Er ist der verhältnismäßig uneitelste Mensch dieser Erde. Kein Wesen kenne ich, das einen so furchtbar-unerbittlichen Selbstblick besitzt wie er. Er steht immer vollkommen plastisch vor sich. Darum auch ist er der gerechteste Mensch dieser Erde. Wäre es anders möglich, daß er, der aus der finstersten Analphabeten-Armut der zwanziger Jahre kommt, diesen Weg genommen hätte? Welch ein Krieg gegen sich selber! Jahr um Jahr! Werk um Werk! Giuseppe Verdi, das ist der göttliche Aufstieg der Menschheit. Beide, die Menschheit und Verdi, werden den Augenblick der Verdüsterung überwinden!«
Der Senator flammte. Die phlegmatische Gesellschaft straffte die Muskeln. Der gehobene Tonfall der Worte ließ die erwünschte Schlußphrase erwarten. Der Redner aber vergaß sich immer mehr:
»Wenn Verdi keine Note geschrieben hätte, wäre er groß. Aber weil er so groß ist, darum fließen seine Melodien durch alle Adern der Menschenwelt. Welcher Meister darf von sich sagen, daß seine Weisen den Indianer und Kabylen in gleicher Weise durchbeben wie den Russen und Deutschen? Und seine Chöre? Sie sind sein Größtes!! Die Chorgesänge der ersten Opern sind erstaunliche Wundertaten. Als Einziger seiner Zeit hat er Massen gefühlt und so seine ungeheuren Chöre geschrieben! Denn er ist nicht Einer, er ist Alle. Dies der Schlüssel der Kunst!«
Nun also! Wie, was? Noch immer nicht zu Ende? Die Herren traten von einem Fuß auf den andern. Der Senator jedoch war nie der Mann gewesen, die Ermüdung oder Ungeduld einer Zuhörerschaft in Betracht zu ziehn:
»Diese Chöre!! Ich weiß, daß in ihnen nicht – wie Sie, Herr Graf und Wagnerianer Boni wohl zu meinen belieben – das Leichte, das Gassenhauerische wirkt, nein, die Reinheit und Tugend des Menschen ist es, die alle guten Ströme entfesselt. Die moderne Kunstanschauung versucht, das Banale, damit man es nicht durchschaue, zu komplizieren. Unser Maestro aber hat das Gewaltigste und Komplizierteste vereinfacht. Er ist der letzte Volks- und Menschheitskünstler, ein herrlicher Anachronismus des Jahrhunderts.«
In den Gedanken des Senators tauchte ein griechischer Satz auf. Er wollte ihn angesichts so vieler Dummköpfe verbeißen. Aber der Philologe in ihm war stärker:
»τὸν βίον `H φύσις ἔδωκε, μῆ τὸ καλῶς ζῆν ἡ τέκνη«
Schön, tugendhaft schön zu leben lehrt die Kunst, sagt dieser Vers eines unbekannten Tragikers. Lehrt uns die moderne Kunst wirklich das schöne Leben? Sie wird bald nichts anderes mehr sein als das ehrgeizige Geduldspiel von zwanzig Cliquen, die einander ausstechen wollen. Originalität ist das Zauberwort, vor dem sie zittern, ohne zu wissen, daß ihre Originalität meist nichts ist als angestrengte Nichtigkeit. Oh wie schlecht geht es heute dem Autor des ›Nabucco‹ und der ›Aida‹. Einer unserer jungen Gelehrten, der kürzlich den Satz prägte, Genie und Wahnsinn seien dasselbe, spricht Giuseppe Verdi, weil er allzugesund wäre, das Genie ab. Sohn eines Hundes! Da habt ihr die Niedertracht dieser Zeit, die alle Kraft und Geradheit verdächtig machen will. Lebenskrüppel, Psychopath und Verbrecher, das lassen sie als Künstlernatur gelten. Die sollen das Volk beschwingen! Aber wo ist Volk? Sind Minister, Generäle, Abgeordnete, journalistische Wortbanditen, Unterröcke, Idioten und Genasführte Volk? Nein, nein, ich danke! Du bist der Letzte, mein Verdi!«
Unvermittelt stülpte der Senator seinen Hut auf. Er hatte genug. Die Gesellschaft kam sogar auch um den erhebenden Schlußakkord dieser schwer verständlichen Ersatzrede. Graf Boni trat mit bedauernder und dabei nachsichtiger Miene auf den Senator zu:
»Mein Verehrter, Sie haben mich sarkastisch Wagnerianer genannt. Jawohl, das bin ich, ebenso wie ich unseren großen Verdi hochschätze. Ihr Sarkasmus war aber sehr wenig wohlangebracht, denn vor wenigen Stunden ist in unserer Stadt Richard Wagner gestorben. Der Herr Bürgermeister muß eilends die Richtlinien beschließen, nach denen Überführung und Trauerfeier im Einverständnis mit der Familie vor sich zu gehen haben.«
Das blasse Stadtoberhaupt nickte teils geschmeichelt, teils unsicher. Allzuviel Kunstrepräsentation lastete auf seinen Schultern.
Der Senator aber brummte etwas und verschwand. Er dachte mit Traurigkeit an den Freund, den er lange nicht, vielleicht niemals mehr sehn würde, und der, wie jedes Ideal, wieder in die Entfernung der Sehnsucht gerückt war.
Die Menge vor dem Hotel blieb fest entschlossen, auf ihre Kosten zu kommen. Sie wollte irgendwem hochrufen. Allerhand berühmte Namen gingen von Mund zu Mund. Der Name des Maestro war nicht darunter.
Plötzlich verkündete ein Alleswisser, daß der Onorevole, Commendatore und Cavaliere S., ein bekannter und eleganter Parlamentarier, Zeitungsherausgeber und Sportsmann, seit gestern in diesem Hotel wohne. Ein Dröhnen der Befriedigung durchlief die Ansammlung. Als die würdige Abordnung das Tor verließ, um die Gondeln zu besteigen, ließen die Leute, in der Meinung, er sei offiziell geehrt worden, diesen Mann des Tages und der Zeit mit hingebungsvollen Freuderufen hochleben.
Während sich dies auf der Riva degli Schiavoni abspielte, saß der Maestro in irgendeiner winkligen Trattoria und aß und trank eine Kleinigkeit. Ohne rechte Besinnung war er hier eingekehrt und ohne darauf zu achten, verzehrte er die Speise. Seinen Beppo hatte er schon zum Bahnhof vorausgesandt. In einer Stunde ging der neueingestellte Abendzug nach Mailand. Mit halbgeschlossenen Augen saß der Maestro nun da, nachdem er den Teller weggeschoben hatte. Er sah nicht das rauchig-dürftige Lokal, die vier schmutzigen Tische mit ihren verwüsteten Tüchern und Gefäßen, die lauten rohen Gäste, die schwarzhaarige Padrona, die hinter dem öl- und weinbefleckten Büfett männlich hervorlachte.
Immer weiter rückten die Tage und Menschen Venedigs davon.
Nur eins sah er immer vor sich. Die Holzbrücke nach San Michele mit ihren lichtertragenden Begräbnisgästen. Und der Augenblick stand groß in seinem Gemüt, da der Krampf nach all dem Erlebten sich in den kurzen barbarischen Sang des Wortes ›Vendetta‹ löste.
Seit unendlichen Zeiten hatte diese rauhe Stimme nicht mehr dem Drange des Lebens geantwortet.
Er haßte die großen Worte. Dies aber war der Vorgang der Inspiration, wenn irgendwo, auf der Straße, im Zimmer, ja selbst unter Menschen, von einem würgenden Griff die Kehle den Atem verlor und die Tränen hervorstürzten. Nicht anders als in einem unsinnigen Gurgelruf waren nach jener Jugendkrise die ersten Takte der ›Nabucco‹-Arbeit geboren worden. Aber das erstemal wieder hatte die Stimme gesprochen, über die der alles zerstörende Geist keine Macht besaß. Das erstemal wieder und wohl das letztemal. Doch etwas regte sich zart in der tiefen Müdigkeit des Geistes: Eine Ruhe, ein Glück!
Mit keinem Gedanken dachte der Maestro daran, daß die Musik je wieder in ihm erwachen könnte. Aber erst jetzt hatte die Resignation jeden Stachel verloren.
Verdi trat in die enge Gasse, wohin er sich verirrt hatte. Aug in Aug seit Jahrhunderten schon starrten die nahen hochragenden Häuser sich an, ohne das geringste Wissen um einander, wie Menschen. Eine einzige Gaslaterne brannte mißvergnügt. Der Maestro hob das Haupt und sah einen ganz fernen, eingezwickten Nachthimmel. Er war nicht geistergläubig, aber etwas zwang ihn, sich vor dem befreiten anderen zu rechtfertigen.
›Du hast mir viele Jahre verstört. Aber vielleicht warst gar nicht du der Störenfried, sondern die Zeit, ich selbst, mein Zweifel, dem ich deinen Namen gegeben habe, da sie mir ihn von allen Seiten zuriefen. Seis wies sei! Ich habe mich benommen wie ein mittelmäßiger Mensch. Die wahre Begegnung habe ich nicht gewagt. Ich bin dir nachgereist und floh vor dir. Der Besuch ist mir nicht gelungen.
Und heute war die Zeit um. Da habe ich gemein empfunden, mich sehr schlecht gefreut, daß ich noch lebe und du nicht.
Nie, nie werde ich mir die Gemeinheit dieser Freude verzeihn. Du aber verzeih sie mir! Denn du bist tot, und ich bin nicht mehr als zehntausend andere alte Männer. Friede uns Beiden!«
Der Maestro suchte den Weg aus der Gasse.
Da nahten, mit einem fast unmenschlichen Gleichtakt das Pflaster tretend, zwei Gestalten. Voran eine große Figur mit einem riesigen Zylinder, die beinahe militärisch einem ziemlich hohen Stock nachexerzierte. Hinterher eine zweite, viel mühsamere Figur, die eine Laterne hochhielt.
Welch ein verschollener Brauch, daß in unserer Zeit der Gasbeleuchtung der Diener seinem Herrn mit der Laterne folgt, dachte der Maestro und trat nicht zur Seite.
Jetzt erkannte er den Marchese Gritti, der, da er nicht gewohnt war, auszuweichen, groß stehenblieb. Die stolze Erscheinung des Hundertjährigen verfehlte ihren Eindruck nicht. Verdi zog seinen Hut mit einer Verbeugung.
Die Vogelaugen Grittis kehrten aus dem Wachschlaf zurück, der das Lebensgeheimnis dieses großen Künstlers war, begannen zu kreisen und erforschten das Gesicht des Sterblichen. Sie fanden sich zurecht. Nun zog auch der Uralte höchst verbindlich seinen Hut. Dann küßte er seine Daumen mit jener galanten Gebärde des Wiener Kongresses, die er als Attaché der Gesandtschaft von Modena erlernt hatte: »Ich erkenne! Der hochberühmte Maestro! Das Ferne ist mir nah. Man weilt noch in Venedig!«
Der Maestro, von diesem Wesen betroffen, sagte ein paar Worte. Die helle schwingungslose Stimme einer verschollenen Konvention erwiderte:
»Ich beglückwünsche mich!«
Verdi bedauerte das Mißgeschick, das die einzigartige Sammlung des Marchese so arg beraubt hatte.
Andrea Geminiano Gritti hielt sich dabei nicht weiter auf:
»Sie wird ergänzt.«
Er zweifelte nicht, daß ihm Jahre genug zur Verfügung stehn würden, das unmögliche Unternehmen dieser Ergänzung durchzuführen. Verdi, der Zweifler, sah bewundernd diesen Riesenglauben.
»Und jetzt, Herr Marchese, suchen Sie wohl wie allabendlich Ihre Loge auf. Spielt man im Fenice oder Rossini?«
Gritti wandte sich an François:
»Wo spielt man?«
»Im Rossini, Erlaucht!«
»Und was?«
»›Die heimliche Ehe‹, Erlaucht!«
Der Marchese war mit diesem Bescheid außerordentlich zufrieden:
»Der Maestro wird wohl wissen, daß Domenico Cimarosa mein Freund war. Er ist vor achtzig Jahren gestorben.«
Dem Triumph dieser Tatsache fügte er hinzu:
»Keiner versteht mehr sein Meisterwerk. Man gräbt es aus und kann es nicht spielen. Soviel ist diese ganze Unsterblichkeit wert!«
Und dann nach einer Pause stummer Überlegung ein Wort nur:
»Verwirklichen!«
Das haar- und wimpernlose Gesicht ohne Züge kam näher:
»Weiß der geehrte Maestro übrigens, warum alle neueren Opern schlecht sind?«
»Ich wünsche sehr, es zu erfahren!«
Ein langsames Lachen gluckste aus Grittis Mund. Das sternenferne Vogelauge versuchte, sich auf den Maestro einzustellen. Die hohe schwingungslose Stimme färbte sich dunkel, um dem väterlichen Rat eines Kenners, den schon Donizetti nicht irremachen konnte, ein wenig Wärme zu geben:
»Man schreibt allzu langsame Melodien. Schweres Gefühl ist geschmacklos. Melodien müssen schnell sein.«
Mit diesem Ausspruch war die Audienz beendet. Die Automatenschritte entfernten sich. In greisen aber menschlichen Händen schwankte die Laterne.
Der Maestro stand noch immer unbewegt. Er überlegte:
›Wie ist das? Der große Zukunftsmusiker ist Vergangenheit. Ein halbes Kind, ein Zwanzigjähriger, glaubt diese vergangene Zukünftigkeit Wagners längst überwunden zu haben und liegt im Sterben. Aber der persönliche Freund Cimarosas überlebt sie alle und verlangt die hüpfenden Melodien des vorigen Jahrhunderts. Was berührt sich alles in einer Stunde dieses Lebens? ... Welch ein Unsinn!‹
Beim nächsten Landungsponton bestieg Verdi den kleinen Dampfer, der zum Bahnhof fuhr. Es war der letzte des Tages. Dicht drängten sich Gestalten mit Bündeln und Körben.
Der Maestro stand ganz vorn und gab sein müdes Gesicht dem Winde hin. Er suchte den Palazzo Vendramin. Schwer schob sich das Haus heran, häßlich und öde. Alle Fenster waren dunkel bis auf zwei. Das eine war sehr hell erleuchtet, hinter dem andern schien nur ein Abschein von Licht zu zucken. Der Bau schaute gekränkt und gedemütigt in die Nacht, als wäre der Tod nicht nur ein Unglück, sondern auch ein Mißerfolg.
Der Maestro verfolgte das laute und das kaum fühlbare Licht, solange sie zu sehn waren.
Dann trat er zurück unter die Menge, unter ein abgearbeitetes, schwatzendes, scharfriechendes Volk, das nun von der Inselstadt in die Ortschaften der Terra ferma heimkehrte. Er schloß die Augen, und ihm war in seiner Müdigkeit, als ob er bewußtlos sei und ein großes lösendes Element, dem Wasser gleich, ihn umschließe.
In diesem Augenblick tat Giuseppe Verdi die Stadt Venedig von sich und alles, was ihr angehörte.