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Zu Ausgang der vierziger Jahre war ich Obersteuermann an Bord des Hamburger Vollschiffes »Malwina«. Deutschland besaß zur damaligen Zeit noch keine Kriegsmarine, und um dem Drange meines Herzens, Seemann zu werden, folgen zu können, sah ich mich genötigt, mich für die Handelsschiffahrt zu entscheiden. Es waren schwere Lehrjahre für mich, so ganz anders, wie ich in meinen Jugendträumen mir vorgestellt, aber sie wurden überwunden, und dank meinem vortrefflichen Kapitän, dem Typus eines echten Seemannes und von ehrenwertestem Charakter, kam ich schnell vorwärts. Er war ein Lehrer, der es ernst meinte; nach Ablauf meines vierjährigen Kontraktes als Steuermannslehrling besuchte ich die Navigationsschule und wurde nach bestandener Prüfung Untersteuermann, ein Jahr später Obersteuermann, und im Laufe der Zeit war das Verhältnis des Kapitäns zu mir eher das eines väterlichen Freundes, als das eines Vorgesetzten geworden.
Wir befanden uns auf der Heimreise von China nach Hamburg und hatten bisher eine schnelle, glückliche Fahrt gehabt. Seit acht Tagen hatten wir jedoch den schönen, gleichmäßigen Passatwind, der uns wochenlang begleitet, hinter uns gelassen und waren in die Zone der veränderlichen Winde zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Grade nördlicher Breite eingetreten, die für den Seemann wenig Annehmlichkeiten bietet.
In ihr treten oft plötzliche schwere Stürme auf; sie wechseln mit Stillen von kürzerer oder längerer Dauer, der Wind kommt bald aus diesem bald aus jenem Kompaßstrich, und wenn er auch nur als »Katzenpfote« kaum die Oberfläche des Wassers kräuselt, macht er eifriges Brassen der Rahen nötig, um vorwärts zu kommen, und diese ewige Unruhe bei Tag und Nacht kann einem das Leben herzlich sauer machen.
Wir hatten davon auch bereits unser gutes Teil zu schmecken bekommen. Ein böser Nordweststurm nahm uns vierundzwanzig Stunden lang arg mit. Segel waren fortgeflogen, eines unserer Seitenboote von den Wogen zerschmettert, einige Rahen und Stengen zerbrochen, und wir konnten uns freuen, so glimpflich davon gekommen zu sein.
Nur den vorzüglichen Eigenschaften unseres Schiffes hatten wir es zuzuschreiben, daß es im Sturm so gut beilag und dadurch von den gewaltigen Sturzseen verschont blieb, die, wenn sie breitseits überkommen, gar bald klar Deck machen, alles auf ihm, was nicht niet- und nagelfest ist, fortschwemmen und auch dem Fahrzeuge selbst großes Unheil zufügen können.
Jetzt lagen wir seit dem vorigen Tage, nachdem der Sturm ausgetobt, in völliger Windstille. Die See hatte sich merkwürdig schnell beruhigt; selbst die sonst in dieser Gegend rollende hohe Dünung war sehr verflacht, und unser Schiff schwankte langsam und regelmäßig auf ihr hin und her.
Uns kam diese Ruhe sehr zu statten; wir konnten ohne größere Störung die erlittenen Havarien ausbessern, neue Rundhölzer aufbringen und die fortgeflogenen Segel durch andere ersetzen.
Ich hatte die Morgenwache von vier bis acht Uhr. Gegen sieben Uhr war der Kapitän an Deck gekommen, und wir standen beide plaudernd an der Verschanzung. Windstillen sind für Kapitäne von Segelschiffen keine willkommene Zugabe. Ihr Ehrgeiz gipfelt darin, möglichst schnelle Reisen zu machen. Sie betrachten daher jene als einen sehr unangenehmen Strich durch ihre Rechnung, und dies verdirbt den meisten von ihnen so sehr die gute Laune, daß die Untergebenen ihnen scheu aus dem Wege gehen.
Mein Kapitän gehörte jedoch nicht zu dieser Klasse. Er nahm derartiges stets mit Gleichmut auf und freute sich mit mir über den wundervollen Anblick, den der Ozean unsern Augen bot. Im schönsten Azur strahlend und dort, wohin die vor kurzem aufgegangene Sonne ihren Schein warf, wie mit flüssigem Golde übergossen, rollte sich seine endlose Fläche vor uns auf, deren leiser Wogenschlag dem ruhigen Atmen eines schlummernden Riesen glich. In ebenso sattem Blau wölbte sich der Himmel über ihn. Kein Wölkchen trübte ihn, und die Atmosphäre war so rein und klar, daß der Horizont einer scharf abgegrenzten Kreislinie glich.
Wir hatten letzteren, wie das an Bord früh morgens wegen der durchsichtigen Luft stets zu geschehen pflegt, mit einem Fernrohr abgesucht, ohne indessen ein anderes Fahrzeug zu entdecken, das namentlich auf längeren Reisen, auf denen man öfter Monate lang mit dem Schiffe allein auf der Welt zu sein glaubt, eine ersehnte Abwechslung des eintönigen Lebens bietet, bei dem ein Tag dem andern gleicht und man sogar ihre Namen vergißt.
Ein Ruf des Ausgucks ließ jedoch jetzt unsere Blicke nach Nordosten richten. Dort stieg eine schwache Rauchsäule über dem Horizont empor, die nur einem Dampfschiffe angehören konnte, und wir betrachteten sie durch das Fernrohr mit um so regerem Interesse, als zur damaligen Zeit noch verhältnismäßig wenige Dampfer die Ozeane durchkreuzten, während man sie jetzt fast täglich auf allen Meeren antrifft.
Unsere längeren Beobachtungen ergaben, daß die Rauchsäule kaum ihre anfängliche Richtung veränderte, aber allmählich dichter und deutlicher wurde. Der Dampfer mußte deshalb ziemlich auf uns zusteuern, eine Wahrnehmung, die uns hoch erfreute, da wir hofften, durch ihn Nachrichten aus Europa zu erhalten, die wir über drei Monate lang hatten entbehren müssen. Wir ahnten freilich nicht, daß wir bald mit ihm in weit nähere Beziehungen treten sollten.
Unsere Aufmerksamkeit wurde indessen von ihm abgezogen und auf einen anderen Punkt gelenkt, denn wiederum ertönte der Ruf eines im Vortop beschäftigten Matrosen: »Ein Boot querab, an Backbord!«
Dies regte uns natürlich sehr auf: ein Boot mitten auf dem Ozean konnte nur von Schiffbrüchigen besetzt sein, und sein Schicksal gab unserer Phantasie freien Spielraum. Da wir das Fahrzeug von Deck aus nicht sehen konnten, enterte ich mit dem Fernrohr in den Großtop auf.
Dort unterschied ich allerdings in einer Entfernung von etwa drei Seemeilen einen schwarzen bootähnlichen Gegenstand. Über ihm schwebten große Scharen von Wasservögeln, während wir bis dahin in unserer Nähe keinen einzigen wahrgenommen hatten, obwohl sonst wenigstens die kleinen schwarzweißen Seeschwalben die Schiffe fast über den ganzen Erdkreis begleiten.
Längeres Betrachten gab mir jedoch die Überzeugung, daß es kein Boot sein könne, da es zeitweilig unter Wasser verschwand, um dann wieder aufzutauchen, bis endlich ein aufsteigender Strahl seine wahre Natur verriet, – es war ein Wal, der Luft ausblies.
Es ist sonst nicht Gewohnheit dieser Tiere, längere Zeit an der Oberfläche zu bleiben. Sie kommen nach oben, um zu blasen, man sieht den Oberkörper kurze Zeit, und dann tauchen sie wieder, um eine halbe Stunde oder länger unten zu bleiben.
Er mußte also wohl an eine dichte Bank von Mollusken, seiner Hauptnahrung, geraten sein – die enggeschart, zuweilen in Milliarden wie eine Mauer und sehr hoch schwimmen, so daß sie das Wasser färben – um sich an ihnen etwas zu gute zu thun, oder vielmehr gethan zu haben, denn nach dem letzten Auftauchen erschien er nicht wieder. Dagegen ließen sich die Vögel teils zu Hunderten an der Stelle, wo der Wal verschwunden war, auf das Wasser nieder, teils schossen sie wie Pfeile herunter, um sich ihren Anteil an der willkommenen Beute zu holen und sie in der Luft schwebend zu verzehren.
Sie näherten sich dabei ziemlich schnell unserem Schiffe, wohl um dem Zuge der Mollusken zu folgen, und nach einer Stunde waren sie dicht bei uns angelangt.
Wir hatten richtig gemutmaßt; eine wahre Bank von rötlichen Garneelen, wie sie sich auch in der Nord- und Ostsee finden, erschien umschwärmt von Hunderten von fliegenden Fischen, Delphinen, Benniten, Albakoren und Tümmlern – ja auch die dreieckige Rückenflosse des da, wo es etwas zu verschlingen giebt, nie fehlenden Haies sichelte unmittelbar beim Schiffe die Oberfläche des Wassers. Sonst verspeisen sich diese Tiere gegenseitig und machen beständig Jagd aufeinander; heute aber schwammen sie friedlich durch- und nebeneinander, um gemeinschaftlich sich an den überreich gedeckten Tisch zu setzen.
Natürlich wurde auch bei uns alles mögliche Angelgeschirr bereit gemacht, um Fische oder Vögel zu fangen und damit der eintönigen Seekost etwas aufzuhelfen, denn sobald dergleichen in Sicht ist, läßt man die Arbeit ruhen und giebt den Leuten Freiheit dazu; aber alle Anstrengungen waren vergebens. Die Garneelen boten ein zu bequemes Futter, und selbst der Hai verschmähte die am Haken befindlichen zwei Pfund Speck, mit dem wir ihn zu ködern suchten.
Die Garneelen schwammen so zusammengedrängt, daß er ziemlich aufrecht im Wasser stand, während er sonst wegen seines kurzen Unterkiefers sich stets auf den Rücken werfen muß, um seine Beute zu erfassen. Der lange Oberkiefer mit dem oberen Teile des Kopfes ragte über die Oberfläche hinaus und in dem klaren Wasser sahen wir, wie er mit jedem Öffnen des gewaltigen Rachens die Krabben sich eimerweise einverleibte.
Indessen diese von allen Seeleuten bestgehaßte Meereshyäne sollte doch nicht ungeschoren davon kommen, sondern einen gehörigen Denkzettel von uns erhalten. Ich holte meine Büchsflinte, zielte auf den kaum zwanzig Schritte vom Schiffe entfernten Kopf und feuerte beide Kugeln gleichzeitig auf ihn ab.
Sie mußten gut getroffen haben, denn wie ein Blitz kam der Schwanz des etwa zwölf Fuß langen Ungetüms bis zum halben Leibe kerzengerade aus dem Wasser, fuhr dann mit gewaltigem Schlage nieder, und das Tier schoß in die Tiefe, um in einigen Hundert Schritten Entfernung wieder empor zu kommen, wie wahnsinnig im Kreise das Wasser zu peitschen und darauf zu verschwinden – er schien genug zu haben.
Aber auch auf das andere Getier wirkten die Schüsse erschreckend. Man sah nichts mehr von Fischen, und mit Angstgeschrei erhoben sich die Vögel, um nach allen Seiten auseinander zu stieben; nur die Garneelen setzten unbeirrt ihren Weg fort. Erst nach geraumer Zeit erschienen die Vögel wieder am Futterplatz, hielten sich aber in respektvoller Entfernung vom Schiff. Plötzlich schlossen sie sich jedoch zu einem dichten Kreise zusammen, und es entwickelte sich jetzt das Schauspiel eines wütenden Kampfes in der Luft, das unser ganzes Interesse in Anspruch nahm.
Eine große Lomme, von den Seeleuten Malmuck genannt, war von Westen gekommen, um sich ebenfalls an dem lockenden Mahle zu beteiligen. Diese Vögel, von der Größe eines Kolkraben, die man sowohl in höheren nördlichen, wie auch in südlichen Breiten mit Kaptauben, Albatrossen und anderen häufig antrifft, werden von den Matrosen oft geangelt, um sie mit einem Leder- oder Bleiplattenstreifen am Fuße, auf dem Name des Schiffes und Fangtag eingeschnitten sind, wieder fliegen zu lassen. Sie sind ganz schwarz gefiedert, wie unsere Raben. Dieser beliebte Sport könnte auf den ersten Blick grausam erscheinen, ist es aber thatsächlich nicht. Bei allen diesen Vögeln ist die obere Schnabelhälfte an ihrer Spitze rechtwinklig nach unten gebogen. Dahinter hakt die Angel, und so geschieht ihnen weiter kein Leid.
Der neuangekommene Malmuck fiel uns aber dadurch auf, daß er um den Hals mit einem breiten weißen Ringe gezeichnet war, von dem aus nach jeder Seite lange federartige Auswüchse von derselben Farbe flatterten, so daß es täuschend aussah, als sei ihm eine weiße Krawatte umgebunden.
Keiner von uns hatte je ein solches Exemplar gesehen, und wahrscheinlich trug auch seine seltsame Erscheinung die Schuld, daß seine Genossen so feindselig über ihn herfielen, gerade wie es bei uns geschieht, wenn ein unglücklicher Papagei aus seinem Käfig entflieht und unsere heimischen Vögel ihn zerzausen.
Der Kampf war, wie gesagt, sehr heftig, aber der Malmuck keineswegs ein Feigling. Er wehrte sich gegen die Übermacht seiner Angreifer auf das tapferste, und gar mancher von ihnen floh, von einem kräftigen Schnabelhiebe des Ankömmlings getroffen, schreiend aus dem Kreise.
Wir schauten mit großer Aufmerksamkeit diesem Kriegsspiele zu, das sich in unserer unmittelbaren Nähe vollzog, und schon glaubten wir, der Malmuck, für den wir unwillkürlich Partei nahmen, werde Sieger über die grauen Möven bleiben, als er plötzlich einen gellenden, trompetenähnlichen Ton ausstieß, sich zur Flucht wandte, wie ein Pfeil auf unser Schiff zuschoß und mit voller Fahrt gegen unseren Großmast prallte, um tot auf das Deck zu fallen – er hatte sich den Schädel zerschmettert.
Ich eilte hin, um ihn aufzuheben und ihn dem Kapitän zu zeigen. Es fehlte ein Auge, das ihm durch einen seiner Feinde ausgehackt war – daher sein gellender Schrei, seine plötzliche Flucht und die Verfehlung des rechten Weges, die ihn das Leben kostete.
Wie erstaunt aber waren wir, als wir wahrnahmen, daß der weiße Ring um den Hals mit den flatternden Büschen daran nicht etwas Naturwüchsiges, sondern eine wirkliche Krawatte von weißem Segeltuch war, von Menschenhänden umgebunden und so befestigt, daß er sie über den Kopf nicht abstreifen konnte.
Im ersten Augenblick glaubten wir natürlich, daß Seeleute sich diesen Spaß gemacht, wie wir selbst Ähnliches am Kap der guten Hoffnung so oft mit gefangenen Albatrossen gethan, aber sehr bald wurden wir eines andern belehrt, als wir Bleifederschrift auf dem Streifen entdeckten und entzifferten.
Mit dem auf so merkwürdige Weise zu uns an Bord gekommenen Vogel war kein mutwilliger Seemannssport getrieben – nein, er trug eine Botschaft traurigster Art, einen Hilferuf von Menschen in höchster Todesnot, von Schiffbrüchigen, die ihn als letztes Rettungsmittel in der Hoffnung ausgesandt, daß Gott seinen Flug lenken und ihn zu andern Menschen führen werde.
»Schiff Annie von Liverpool«, lauteten die Worte, »wir sind entmastet, die Boote von Sturzseeen fortgeschlagen und acht Mann der Besatzung über Bord gespült. Wir sind noch zehn; das Schiff ist leck und treibt auf der Ladung. Wenn nicht bald Hilfe kommt, oder wenn es wieder zu wehen beginnt, sind wir verloren.« Zum Schlusse war der Schiffsort mit Breite und Länge, sowie das Datum angegeben.
Letzteres war der heutige Tag, der bezeichnete Punkt kaum fünf Meilen westlich von uns entfernt, der Malmuck wahrscheinlich am Morgen gefangen und nach seiner Freilassung direkt aus unser Schiff zugeflogen.
Hätte das Schiff noch Masten gehabt, würden wir es aus unsern Toppen haben sehen müssen, aber unser Ausschauen nach ihm war vergeblich, der Rumpf lag zu tief im Wasser, um auf die große Entfernung hin wahrgenommen werden zu können.
Man kann sich vorstellen, in welche Aufregung uns diese unerwartete Botschaft versetzte! So nahe bei uns waren zehn Menschen von einem qualvollen Tode bedroht, und wir sahen uns völlig außer stande, ihnen Hilfe zu leisten – es drückte uns das Herz ab.
Vergebens ließen wir unsere Blicke über die Wasserfläche schweifen, ob nicht irgendwo das Erscheinen eines dunkeln Streifens am Horizonte das Herannahen einer Brise verriete, nirgends war dergleichen zu entdecken. Überall lag der Ozean wie ein Spiegel, nirgends huschte auch nur ein Hauch rippelnd darüber hin. Tot und schlaff hingen die Segel an Masten und Stengen nieder, und selbst der Verblicker, die kleine Windfahne an der Spitze des Großmastes, regte sich nicht – wir lagen fest gebannt und vermochten uns nicht zu rühren.
Ich erbot mich, mit einem Boote hinzufahren, um die Rettung zu versuchen, und freiwillige Ruderer meldeten sich aus der Mannschaft genug, denn bei solchen Gelegenheiten, wo es sich darum handelt, Kameraden aus der Not zu helfen, scheut der Matrose weder außergewöhnliche Anstrengungen noch eigene Lebensgefahr, aber wenn auch, wie ich sah, mit schwerem Herzen, schüttelte der Kapitän verneinend den Kopf.
»Ich darf die Verantwortung nicht übernehmen,« sagte er, und er hatte recht, wie ich ihm zugestehen mußte. Fünf deutsche Meilen weit zu rudern, dazu brauchten wir mindestens ebenso viele Stunden und das Ganze war unter zwölf nicht gemacht, auch wenn die See so ruhig blieb, dann aber war es schon lange Nacht.
Wer jedoch konnte wissen, wie lange die Stille in diesem wechselvollen Klima anhielt. Der Barometer stand niedrig, es konnte sich plötzlich wieder ein Sturm erheben, dem unser Boot nicht gewachsen war, und der dann mit den Geretteten zugleich die Retter im Meere begrub.
Tiefe Trauer erfüllte unsere Herzen über unsere Ohnmacht; doch da schöpften wir noch einmal neue Hoffnung, als wir jetzt wieder des Dampfers gedachten, den wir in unserer Aufregung bis dahin nicht weiter beachtet hatten. Wir richteten unsere Blicke auf ihn und sahen, daß er inzwischen bedeutend näher gekommen und sein Unterschiff bereits aus dem Wasser gewachsen war.
Er steuerte südlichen Kurs, aber doch nicht direkt auf uns zu, sondern etwas östlicher, so daß er uns etwa aus eine Meile Entfernung passieren mußte, und es kam alles darauf an, seine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.
Wir hißten unsere Flagge im Schau, d. h. in der Mitte zusammengebunden, die internationale Bitte der Seeleute um Hilfe, die auch unter den schwierigsten Umständen stets bereitwilligst geleistet wird. Aber vergebens! In der Windstille hing unsere Flagge tot hernieder und der Fremde konnte an ihr nichts Besonderes erkennen, während die seinige bei der Fahrt des Dampfers klar auswehte. Es war ein Engländer, aber er setzte seinen Kurs ruhig fort, er hielt es nur für einen gegenseitigen Gruß.
Wir waren auf das bitterste enttäuscht; da machten wir noch einen letzten Versuch. Unsere vier Kanonen wurden mit doppelten Kartuschen geladen und gleichzeitig abgefeuert. Wenn der Engländer den Knall nicht hörte, sah er möglicherweise die Rauchwolke, die bei der Stille gerade in die Höhe steigen mußte.
Mit Herzklopfen harrten wir des Erfolges. Da riefen jubelnd unsere Leute, die in ebenso angstvoller Spannung auf den Fremden geschaut: »Er ändert Kurs und steuert gerade auf uns zu!«
Ja es war so; uns fiel ein Stein vom Herzen, und ein leises »Gott sei Dank« rang sich von den Lippen des Kapitäns, dem ich aus voller Brust beistimmte. Nach kaum einer halben Stunde war der Dampfer heran und in Sprechweite.
»Ich sehe, Ihre Flagge weht im Schau,« rief sein Kapitän zu uns herüber, »sind Sie in Not, und was kann ich für Sie thun?«
»Uns selbst fehlt nichts,« erwiderte der unsere, »aber es handelt sich um Rettung von zehn Menschenleben, die verloren sind, wenn nicht schleunige Hilfe kommt. Wir liegen in Stille und können leider nichts machen, aber wenn Sie einen Umweg von fünf Meilen nicht scheuen, dann vollführen Sie ein Gotteswerk.«
Und nun erzählte er ihm in kurzen Worten, durch welche wunderbare Fügung uns die Kenntnis des Unglücksfalles geworden war, und gab den Ort an, wo sich das Wrack befand.
Der englische Kapitän schwenkte die Mütze. »Ich werde versuchen, das meinige zu thun!« rief er einfach herüber.
»Ruder Backbord, Volldampf voraus!« folgte dann sein Kommando. Der Dampfer drehte westwärts, seine Radschaufeln peitschten das Wasser, und er zog dahin, um verzweifelnden Menschen Hilfe zu bringen.
Wie folgten ihm unsere Blicke, als er sich schnell entfernte und Leute in die Toppen schickte, um nach dem Schiffe auszuschauen! Bang fragten wir uns, ob er noch rechtzeitig eintreffen würde, bevor die Wellen das Schiff vollständig verschlangen, aber wir gaben die Hoffnung nicht auf. Sollte die Botschaft uns auf so merkwürdige Weise gekommen sein, wenn sie nicht ein Fingerzeig des Himmels war?
Weiter und weiter zog der Dampfer seine Straße. Sein Unterschiff begann sich unter Wasser zu senken; eine Zeit lang sahen wir noch die Mastspitzen, dann verschwanden auch diese. Noch hob sich seine Rauchsäule vom Horizonte gegen den klaren Himmel ab, aber auch sie verflüchtigte sich allmählich, und wiederum dehnte sich ringsum die tiefblaue Meeresfläche, auf der unser Schiff einsam lag. Selbst die Fische und Vögel waren entflohen; die ungewohnte Erscheinung des Dampfers hatte sie verscheucht, und das Schlagen seiner Räder auch wohl die Garneelen in die Tiefe getrieben.
Es war bereits zwei Uhr nachmittags geworden und noch nichts wieder vom Dampfer zu sehen. Aufs neue beschlichen uns bange Zweifel; hatte er die Schiffbrüchigen gefunden oder war er zu spät gekommen?
Da endlich glaubten wir eine schwache Rauchsäule wahrzunehmen, und die Fernrohre kündeten, daß wir uns nicht geirrt. Sie wurde dichter und dichter, die Mastspitzen traten über Wasser, das Unterschiff folgte, und nach zwei Stunden kam der Dampfer längsseit.
Er war zur rechten Zeit angelangt, das Schiff bereits so tief gesunken, daß die Wellen fast das Deck bespülten. Die aus Stückgütern bestehende Ladung sog sich immer voller mit Wasser, wenige Stunden später wäre auch dieser Halt verloren gegangen und das Schicksal der Schiffbrüchigen besiegelt gewesen.
Die zehn Geretteten hatten sich noch alle an Bord des Wracks befunden. Nach dem Sturm hatten sie ohne Nahrung, ohne Wasser und Schlaf in steter Seelenangst, daß jede Stunde ihre letzte sein werde, oben auf dem Deck zugebracht, da unten im Raume alles unter Wasser stand, und waren natürlich an Geist und Körper völlig erschöpft, wenngleich sie auf dem Dampfer sorgliche Pflege gefunden hatten und schon etwas erholt waren.
Während des Sturmes hatten die Leute nach Wasservögeln gefischt, als plötzlich eine furchtbare Bö eingefallen und die Masten gebrochen waren. Ehe man das sie haltende Tauwerk kappen und das Schiff frei von ihnen machen konnte, stießen sie ein Loch in die Bordwand, Sturzseen überfluteten das steuerlose Schiff, schlugen die Boote fort und nahmen acht Mann der Besatzung mit sich in die Tiefe. Unter solchen Umständen waren natürlich die Angeln im Stich gelassen, ohne weiter an sie zu denken, bis sich am anderen Morgen an einer derselben der Malmuck, der ihr Retter werden sollte, gefangen hatte.
Der Dampfer war nach Westindien bestimmt, deshalb nahmen wir die Schiffbrüchigen an Bord, um sie in England zu landen. Mit herzlichstem Dank für die menschenfreundlichen Bemühungen verabschiedeten wir uns von dem braven Engländer, den jener mit den Worten zurückwies: »Ich habe ja nur meine Schuldigkeit gethan.« Unsere freudigen Hurras gaben dem scheidenden Schiffe das Geleit; aber es war, als ob der Himmel auf diesen Augenblick gewartet hätte, denn jetzt zeigte sich am westlichen Himmel ein dunkler Streifen, Katzenpfoten begannen über das Wasser zu laufen und seine glasgleiche Oberfläche zu kräuseln.
Oben auf dem Streifen blitzte es wie Diamanten. Es waren die in weißem Schaum überköpfenden Wellen, welche die kommende Brise vor sich hertrieb und in denen die Sonnenstrahlen sich spiegelten. Das Schlagen der Segel hörte auf, sie füllten sich mit Wind und legten das Schiff leicht über.
Schneller und schneller begann es die Wogen zu durchschneiden, bald mußten die kleinen Segel geborgen und ein Reff eingesetzt werden. Mit zehn Knoten Fahrt flogen wir dahin, der Heimat zu, aber so prächtig der Wind für uns war, er hätte nach wenigen Stunden dem Wrack gewisses Verderben gebracht und es mit den Geretteten in die Tiefe versenkt.
Von schweren Stürmen wurden wir fernerhin verschont. Nach vierzehn Tagen hatten wir die englische Küste erreicht und die Schiffbrüchigen ihrem Vaterlande zurückgegeben, das wiederzusehen, eine bange Zeit lang sie nicht gehofft. Acht Tage später trafen auch wir nach einjähriger Abwesenheit in Hamburg wohlbehalten und mit dem erhebenden Bewußtsein ein, das Werkzeug Gottes zur Rettung von zehn Menschenleben gewesen zu sein.
Seine Wege sind wunderbar!