Ernst Wichert
Für tot erklärt
Ernst Wichert

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VII.

Niklas sprang entsetzt einige Schritte zur Seite, sah ängstlich zurück, gewahrte kein Lebenszeichen und lief in atemloser Hast eine Sandstrecke den Sandberg hinab. Erst in einiger Entfernung macht er halt und wagte wieder einen Blick rückwärts. Er überlegte, was zu tun sei; noch nie hatte er sich in einer so schwierigen Lage befunden.

Nach dem Dorfe war's noch eine halbe Stunde; bis er jemand fand, der ihn begleitete, dauerte sicher ebensolange. Sollte er nicht wenigstens erst nachsehen, was dem Manne fehle, oder ob er wirklich tot sei, wie es den Anschein hatte? Das Herz schlug ihm heftig, aber allmählich fand sich doch wieder ein wenig Mut ein; er beschloß, abzuwarten, ob der unheimliche Gast von selbst wieder zu sich kommen würde.

Darauf mußte er freilich lange warten. Endlich war es ihm, als ob er ein leises Wimmern vernähme, wie wenn ein Kind recht schmerzlich weinte. Er horchte gespannt auf – und ganz recht, jetzt bewegte sich auch der Kopf, und die weit ausgestreckten Hände griffen in den Sand, vielleicht, um einen Stützpunkt zu suchen.

Das Mitleid wurde bei Niklas rege, er trat erst langsam und zögernd, dann immer eiliger den Rückweg an, kniete neben dem Kranken nieder und war ihm behilflich, sich aufzurichten und auf die Seite zu werfen. Es war ein trauriger Anblick; der Fremde blutete aus Nase und Mund, und in seinem Bart hingen zusammengeballte Klumpen Sand; die halb geöffneten Augen waren wie verglast. Niklas band ihm das Halstuch ab und bemühte sich, ihn zu reinigen, soweit dies ohne Wasser möglich war. »Haltet Euch ruhig«, redete er ihm zu; »ich will ins Dorf hinab und Leute herbeiholen.«

Der Matrose legte die Hand auf seinen Arm und bedeutete ihm, zu bleiben. Es war ersichtlich, daß er alle Energie des Willens aufbot, sich wieder in den Stand zu setzen, Herr seiner Kräfte zu werden. Er richtete sich mit Anstrengung auf, sah nach dem Haff hinüber, schauerte zusammen und brachte endlich mühsam die Worte heraus: »Das sind sie?«

»Ich sehe die Fischerkähne nicht mehr«, antwortete der Hirtenjunge. »Sie müssen bald dort sein.«

»Und dann? – in die Kirche?« – stöhnte der Seemann schmerzlich heraus.

»Wahrscheinlich!« bestätigte Niklas. »Vielleicht gibt's aber zuerst auch noch ein großes Essen im Kruge. Es geht heute hoch her.«

Der Kranke versuchte aufzustehen, sank aber matt zurück und mußte den Kopf auf den Arm stützen. »Erzähle doch – wie das alles gekommen ist,« bat er, »daß die Annika so schnell« – Er konnte nicht fortfahren.

»Sie selbst hat eigentlich nicht recht gewollt,« berichtete Niklas, »aber sie haben ihr alle zugeredet, daß sie eine Närrin wäre, so eine Partie auszuschlagen, da ihr Mann nun doch einmal tot sei und sie nach dem Tode des alten Klars nicht aus und nicht ein wüßte, zumal mit ihrem Kinde.«

»Mit ihrem Kinde?« fragte der Seemann lebhafter; »es lebt also?«

»Jawohl, der Junge lebt und ist auch mit drüben, und der Krüger hat versprochen, daß er ihn halten werde wie sein eigenes Kind, und in die Präzentorschule schicken wolle. Dem wird's einmal nicht fehlen.«

»Weiter – weiter!«

»Ja, die Annika mochte nicht und soll viel geweint haben. Aber nachher kam er das zweitemal herüber, als schon das Eis aufgehen wollte, und brach mit dem Fuhrwerk ein, daß die schönen Pferde ertrinken mußten, und wurde nur mit Mühe und Not gerettet und ins Dorf gebracht. Da lag er mehrere Wochen schlecht krank, so daß wir an seinem Aufkommen schon verzweifelten, und seine Mutter glaubte gar, er sei tot, denn beim Eisgange konnte kein Boot hinüber, ihr Nachricht zu bringen. Da soll sie sich schwere Vorwürfe gemacht haben, daß sie von dieser Heirat nichts hat wissen wollen, denn sie hatte in ihrem Stolz auf eine ganz andere Schwiegertochter gerechnet. Als sich nun aber ihr Sohn der Annika wegen in Lebensgefahr begeben hatte, und als sie erfuhr, daß er bei uns todkrank liege, da kam sie herüber und sagte ihm, daß er tun könne, was er wolle, und daß sie ihm nicht weiter hinderlich sein werde. Das half ihm denn bald wieder auf die Beine, aber er blieb noch bei uns einen ganzen Monat lang, und da hat denn die Annika endlich auch Vernunft angenommen und nachgegeben, und so ist heute die Hochzeit.«

Der Fremde hatte während dieser Erzählung düster vor sich hingesehen und schwer geatmet. »Ich weiß nun alles,« sagte er nach einer Weile »ich muß hinüber – auch bei der lustigen Hochzeit sein. Vielleicht komm' ich noch zur Zeit.«

»Das wird nicht angehen, Herr«, meinte Niklas. »Sie haben sämtliche Boote mitgenommen.«

»Zum Teufel!« rief der Seemann ingrimmig, »auch das noch! Kein einziges Boot zurückgelassen?«

»Soviel ich weiß, nicht«, versicherte Niklas. »Der kleine Klarssche Handkahn liegt zwar auf dem Sande, aber der Boden ist an mehreren Stellen ausgefault.«

»Ich will nachsehen«, sagte der Fremde, nun wirklich aufstehend. »Vielleicht läßt sich schnell ein Brett übernageln. Auf alle Fälle aber bringe die Pferde herunter.

»Die Pferde, Herr?«

»Wir müssen bis zum nächsten Dorfe reiten, dort wird ein Boot aufzutreiben sein.«

»Das sind zwei Stunden, Herr, und bis Ihr hinüberkommt –«

»Ich will's so!«

»Aber die Pferde gehören nicht mir.«

Der Matrose bückte sich nach seinem Bündel, zog ein Tuch heraus, in welches Geld eingebunden war, und gab dem Jungen einige große Silberstücke. »Ich will's schon mit dem Fischer richtig machen«, fügte er hinzu.

Nun widerstand Niklas nicht länger. Er lief nach der Weide, während der Matrose, jetzt schon einigermaßen gekräftigt, den Sandberg hinabstieg.

Er fand das geschmückte, nun wie ausgestorbene Fischerhaus. Die Tür war unverschlossen und nicht einmal angelegt, auch die Fenster standen weit offen, und die Überreste der Speisen waren von den Tischen noch nicht abgeräumt; Stühle und Bänke lagen unordentlich umher. Der Fremde schauerte sichtlich, als er seinen Fuß auf die Schwelle setzte; er schien von einer ähnlichen Empfindung ergriffen zu werden, wie jemand, der ein Haus betritt, in welchem eben eine verbrecherische Tat verübt worden, deren Spuren noch überall kenntlich sind. Er zögerte einzutreten und lehnte den Kopf gegen das Türgerüst, indem er die Augen schloß und d« Lippen zusammenpreßte, daß sie alle Farbe verloren. Er ächzte und stöhnte wie ein Schwerverwundeter, der mit dem Tode kämpft. Dann aber erfaßte ihn eine plötzliche Wut; er riß die Birkenreiser herunter und zerbrach sie in tausend Splitter, zerzauste die Tannengirlanden, die vom Gesimse herabhingen, und trat sie mit Füßen, stürmte in die Stube über Tisch und Bänke weg und warf die grüne Brautlaube um, deren Blätterbehang schon welk geworden war.

Dabei lachte er wild und stieß Verwünschungen aus; es war, als ob ein böser Geist auf der Stätte aufräumte, auf der noch eben laute Lust und ungebundene Fröhlichkeit geherrscht hatte.

Das Zerstörungswerk war bald beendet; auch seine Kraft erschöpfte sich schnell. Er taumelte hinaus nach dem kleinen Boot zu, das seitwärts vom Hause auf dem Sande lag, und ließ sich matt darauf nieder. Der nach oben gekehrte flache Boden war in der Tat an einigen Stellen durchlöchert, und als er mit der Faust daraufschlug, brach das morsche Holz ein.

»Verdammt!« murmelte er ingrimmig zwischen den Zähnen; »es sinkt zehn Schritte vom Lande. Und während ich hier die Zeit vertrödle, gehen sie drüben zur Kirche – Teufelei!«

Endlich nach einer qualvollen halben Stunde kam der Junge mit den Pferden, wenn man diese mit struppigem, glanzlosem Fell überzogenen Knochengerippe dafür gelten lassen wollte. Der Matrose riß Niklas den Zügel des einen aus der Hand, schwang sich darauf und galoppierte das Haffufer entlang mit solcher Eile, daß ihm der Junge kaum zu folgen vermochte. Nach wenigen Minuten waren sie hinter dem Sandberge verschwunden. –

Im Hilgruberschen Kruge ging's flott her, seit der Pfarrer von der Tafel aufgestanden und nach einem Schlußtoast auf das junge Paar nach Hause gegangen war.

Er hatte in der Kirche eine gebührend lange Rede gehalten und selbst die alte Madame Hilgruber zu Tränen gerührt, die beim Empfang des Brautpaares auffallend steif und förmlich gewesen war, als ob sie keinen Zweifel darüber lassen wollte, daß sie die Partie nicht gerade für ein Glück ansehe. Als dann der Segen über das junge Paar gesprochen war, hatte sie ihre Schwiegertochter vor allen Leuten umarmt und sogar dem kleinen Peter einen Kuß gegeben, was Annika ihr mit einem dankbaren Blick vergalt. Dann war man nach dem Kruge zurückgekehrt, wo in der kleinen Wohnstube ein Tisch für die jungen Eheleute und die Brauteltern, die gleichfalls erschienen waren, für den Pfarrer und einige andere Honoratioren gedeckt stand, während in der großen Krugstube nebenan die übrigen zahlreichen Gäste an langen Tafeln Platz nahmen und sich die aufgetragenen Gerichte gut schmecken ließen, ohne viel auf Nötigung zu warten. In der kleinen Stube gab's Wein, hier dagegen Bier im Überfluß, und wer ein Schnäpschen vorzog, durfte nur seitwärts an den Schenktisch treten, wo heute aus jeder beliebigen Flasche gratis eingegossen wurde. Selbst draußen vor der Haustür war ein großes Faß Bier aufgestellt, und wer auch nicht zur Hochzeit eingeladen war, konnte sich seinen Krug füllen lassen. An den offenen Fenstern drängte sich die Dorfjugend und trieb zur Kurzweil der Gäste ihre Possen.

Aber das rechte Vergnügen fing, wie gesagt, erst an, als der Herr Pfarrer gegen Abend das Haus verlassen hatte. Jurgis Endoms, der Brautvater, hatte sich in seiner Nähe gar nicht wohl gefühlt und den Augenblick herangesehnt, wo er den sauren Wein, der ihm gar nicht behagte, mit der Schnapsflasche vertauschen könnte. Er war glücklich aus dem russischen Gefängnis entschlüpft und hatte, seit es gewiß war, daß seine Tochter den reichen Krüger heiraten würde, ans Arbeiten gar nicht mehr gedacht. Es hatte Madame Hilgruber eine nicht geringe Überwindung gekostet, ihn gleichfalls zur Hochzeit einzuladen und auf gleichem Fuße zu behandeln. Jetzt gab er das Signal zur lauten Lustbarkeit, indem er in die Krugstube eilte, rechts und links die Tische beiseiteschob, eine Likörflasche ergriff und bald trinkend, bald tanzend, bald singend unter den Gästen die Runde machte. Auf einen Wink des Krügers räumten die Knechte und Mägde nun das Zimmer ganz auf und schafften Raum für die Musikanten; ein lustiger Walzer ertönte, Konrad forderte seine junge Frau zum ersten Tanz auf, und bald wirbelten die Paare dicht hintereinander, laut jauchzend, durch den Saal, während die älteren Personen nun im kleinen Wohnzimmer Platz nahmen und der Flasche zusprachen. Jetzt erst konnte der Trompeter zeigen, daß er Lunge habe; man duldete nur kleine Pausen zwischen den Tänzen, soviel man brauchte, um selbst etwas Luft zu schnappen, und als erst nach Sonnenuntergang die Lichter auf dem von Tannenzweigen geflochtenen Kronleuchter angezündet wurden und die Köpfe gehörig erhitzt waren, schien das Vergnügen den Höhepunkt zu erreichen. Annika mußte mit jedem einen Tanz machen und kam kaum für Augenblicke von der Diele. Konrad bat sie besorgt, sich zu schonen, aber sie antwortete, es schicke sich nicht anders, und darin mußte er ihr freilich recht geben.

Endlich aber schlug sich Madame Hilgruber ins Mittel; sie nahm ihren Sohn und seine junge Frau beiseite und teilte ihnen im geheimen mit, daß sie sich jederzeit zurückziehen könnten; nur müßten sie es die Gäste nicht merken lassen, weil bei deren aufgeregter Stimmung sonst doch viel Lärmen zu gewärtigen sei.

»Gut denn, noch einen lustigen Tanz, Annika,« sagte der Krüger, »und dann ins ernste Leben hinein.« Sie lehnte sich auf seinen Arm und folgte ihm in den Kreisel der Tanzpaare; aber schon nach wenigen Umdrehungen merkte er an ihrem hastigen Atmen, wie sehr sie erschöpft war, und entzog sich mit ihr in der Nähe der Ausgangstür wieder dem Strudel, um womöglich ungesehen zu entschlüpfen. Da – –

Es war ein entsetzlicher Schrei, der plötzlich die Gesellschaft erschreckte und selbst den Trompeter außer Fassung brachte, der noch eben dem mitwalzenden Brautpaare zu Ehren seine brillantesten Läufer losgelassen hatte. Er kam von der Tür her – die Tanzenden stoben auseinander, die Trinkenden brachen entsetzt aus der kleinen Stube vor, die Musik schwieg. – Annika lag ohnmächtig auf dem Boden, Konrad starrte nach der Tür hin, wie auf ein Gespenst, und dieses Gespenst war der Matrose, der hochaufgerichtet am Eingange stand, mit seinen Armen den Weg sperrte und fürchterliche Blicke auf die Gruppe gegenüber schoß.

Einen Moment herrschte lautlose Stille, dann murmelten die Zunächststehenden zaghaft und leise: »Peter Klars!« Das Schreckenswort pflanzte sich weiter und weiter fort, wurde immer lauter und vielstimmiger wiederholt. Es wurde von den vor den Fenstern Stehenden aufgefangen und weitergeleitet; bald hörte man von hundert Stimmen wild durcheinander rufen: »Peter Klars lebt – Peter Klars ist angelangt.«

»Ja, Peter Klars lebt!« rief der Matrose mit gellender Stimme, »Peter Klars lebt und kommt, sein Weib abzuholen.« Dabei sah er mit einem herausfordernden Blicke rings im Kreise herum, als ob er fragen wollte: »Wer wagt's, sie mir vorzuenthalten?«

Dann aber, als alles umher schwieg und selbst Konrad Hilgruber wie betäubt dastand, sank er neben Annika zur Erde nieder, bedeckte ihren kalten Mund und die geschlossenen Augen mit seinen Küssen, streichelte ihr blondes Haar, hob ihren Kopf auf seinen Arm und preßte ihn an seine Brust. Dabei gab er ihr die süßesten Schmeichelnamen, bald in deutscher, bald in litauischer Sprache, und bat sie, doch ins Leben zurückzukehren. »Ich bin es ja!« rief er, »ich bin's, den du verloren glaubtest, und ich habe dich wieder und halte dich in meinen Armen und verlasse dich nie mehr – wach' auf, Annika, wach' auf und komm mit mir! Was hast du alles leiden müssen meinetwegen, Annika, du schönes, liebes Weib, aber nun ist's vorbei, nun ist alles wieder gut – nun bleiben wir zusammen bis an unser Lebensende.« Und wieder küßte er sie und wieder drückte er sie an sich; auf der ganzen Welt schien in diesem Augenblick für ihn nichts zu sein als sie.

Annika hörte alles, aber es war ihr, als ob sie sich nicht regen könne und sanft zum Tode hinüberträume. Und dann überkam sie eine fürchterliche Angst, daß sie doch zur Wirklichkeit erwachen müsse; eine Zentnerlast legte sich auf ihre Brust und versetzte ihr den Atem – sie wollte schreien und konnte keinen Laut herausbringen; sie wollte weinen, aber statt der Tränen quollen die Blutstropfen langsam vom Herzen nach den Augen und versiechten dort in den brennend heißen Höhlen. Es war ein schrecklicher Zustand, den endlich ein heftiger Krampfanfall erleichterte. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schluchzte an seiner Brust: »Du kommst zu spät.«

Der Seemann fuhr erschreckt auf: »Zu spät? Annika! – du kannst nicht mehr zu mir zurück?«

»Töte mich,« jammerte sie, »töte mich – ich habe ihm am Altare mein Jawort gegeben.«

»Und mir nicht?« rief er aufgeregt. »Mir nicht zuerst?« Er legte die Hand auf ihre Schulter, drückte sie von sich ab und betrachtete sie mit einem zornig strengen Blick. »Du hast mir deinen Schwur nicht gehalten! – Du versprachst mir treu zu sein bis zum Tode – noch beim Abschied, Annika – und nun so bald alles vergessen? Untreu geworden deiner ersten Liebe – abgefallen von mir! Wie willst du das vor Gott verantworten? Und du, Jämmerlicher,« wandte er sich an Konrad, »wie willst du's verantworten, deinen Freund betrogen und beraubt zu haben! Hab' ich unehrlich gegen dich gehandelt? Sprich!«

Der Krüger wurde noch bleicher. »Du warst für tot erklärt«, sagte er mit zitternder Stimme.

»Für tot erklärt!« hohnlachte Peter Klars. »Wer erklärt die Lebenden für tot? Wer hat die Macht über Leben und Tod außer Gott?! Das ist ein Bubenstück, für das ich Rechenschaft fordern werde.« Er riß Annika wieder an sich und verdeckte ihr Gesicht mit der Hand. »Aber sie ist mein!« rief er, »sie soll mein sein – ich liebe sie noch, sie ist mein Weib. Wenn ich ihr verzeihe, ist sie mein Weib, und ich will verzeihen, wenn sie bereut, ich will verzeihen, wenn sie mich noch liebt. Ihr habt sie gequält und gepeinigt, bis sie nachgegeben hat, aber ihr Herz hat von dieser Treulosigkeit nichts gewußt. Ihre Schwäche und Not habt ihr benutzt, aber es soll euch nichts helfen. Ich liebe sie, und sie ist mein Weib!«

Konrad Hilgruber wagte keinen Widerspruch; aber seine Mutter hatte sich bereits von dem ersten betäubenden Schrecken soweit erholt, um vortreten und das Wort ergreifen zu können. So sehr sie gegen die Heirat gewesen war, so wenig war sie doch jetzt geneigt, ihren und ihres Sohnes Rechten irgend etwas vergeben zu lassen. Es ärgerte sie, daß Konrad nicht Einspruch tat und sich vor den Leuten nicht mutiger bewies. Sie stellte sich daher hinter ihn, rüttelte ihn an der Schulter und sagte so laut, daß alle Anwesenden es hören mußten: »Ich hoffe, mein Sohn hat nicht vergessen, daß er heute in der Kirche getraut ist. Die Ringe sind gewechselt, und der Pfarrer hat den Segen gesprochen.«

Peter Klars sah wütend auf. »Wer wagt hier mitzusprechen?« fragte er herausfordernd.

»Ich!« entgegnete sie vortretend, so daß sie nun dicht vor ihm stand. »Ich denke, Ihr kennt mich noch, obgleich Ihr Euch lange genug in der Welt herumgetrieben habt und vergessen haben mögt, wie es zu Hause aussieht.«

»Das Wort mag Euch der Teufel bezahlen!« schrie der Matrose außer sich. »Gott ist mein Zeuge, daß ich nicht einen Tag früher zurück konnte!«

»Ruhig, Mutter,« bat Konrad, »wir dürfen nicht sein trauriges Schicksal außer acht lassen.«

»Aber wir dürfen uns auch nicht in unserem eigenen Hause Grobheiten sagen lassen«, erwiderte sie streng. »Wir sind in unserm Recht und wissen nichts von Betrug und Falschheit. Es wäre mir lieb gewesen, Peter Klars, wenn Ihr gestern nach Hause gekommen wäret, sehr lieb. Es hätte mir nichts ausgemacht, die Vorbereitungen zur Hochzeit umsonst getroffen zu haben; denn ich habe sie nicht gewünscht und habe genug dagegen gesprochen. Aber heute steht die Sache anders. Annika ist meines Sohnes Frau geworden und wird seine Frau bleiben, ob es mir und Euch gefällt oder nicht. Und darum fordere ich Euch auf, dieses Haus zu verlassen und den Frieden der Eheleute nicht zu stören. Morgen ist die Krugstube wieder für jedermann offen, und ich will Euch den Eintritt nicht weigern, wenn Ihr wegen Eures Besitztums mit Annika abzurechnen habt, oder über Euer Kind verfügen wollt. Steh auf, Annika, und folge mir. Du gehörst zu meinem Sohne.«

»Versuch's, sie mir zu entreißen!« rief Peter Klars, die halb Ohnmächtige fester an sich ziehend. »Ich will doch sehen, wer mir mein Weib rauben wird, wenn ich's in meinem Arme halte! Als Ihr meintet, ich sei tot, da konntet Ihr Euch an meinem Eigentum vergreifen; aber nun wißt Ihr, daß ich lebe, und wer daran zweifelt, dem will ich mit diesen derben Matrosenfäusten das Verständnis öffnen. Das ist meine Antwort.«

In die erstarrte Menge kam wieder einige Bewegung. Man schüttelte die Köpfe, zischelte, brummte unwillig oder zustimmend und schien gesonnen zu sein, in Beratung zu treten, das Urteil zu fällen und jedenfalls Partei zu ergreifen.

Nun mischte sich auch Jurgis Endoms, der Brautvater, ein, der allerdings sehr stark getrunken hatte und sich vor einer halben Stunde kaum noch auf den Füßen erhielt, jetzt aber schnell so weit ausgenüchtert war, daß er wenigstens ziemlich zusammenhängend sprechen konnte. »Mach' keine dummen Geschichten, Peter,« lallte er herantrottend und sich auf die breite Schulter des Seemanns stützend, »keine dummen Geschichten, rate ich dir; du bist tot – ich habe ja doch selbst den Totenschein vom Gericht gesehen mit dem königlichen Adler obendarauf, und das gilt. Es wäre am besten gewesen, wenn du geblieben wärest, wo du so lange gewesen bist, und der Annika nicht noch unnütz den Kopf warm gemacht hättest. Da dich aber nun doch einmal der Teufel, weiß Gott wie, aus dem Wasser herausgebracht hat, so störe uns nicht das Vergnügen, laß dir einen Krug Bier füllen, rate ich dir, und sei vergnügt, daß die Annika jetzt einen Mann bekommen, gegen den du denn doch nur ein Bettler bist, und der unsere ganze Familie auf die Beine bringen kann. – Sei also vernünftig, Peter, und mach' hier keine dummen Geschichten.«

Er wollte sich zu ihm niederbeugen und ihn küssen; aber der Matrose schüttelte ihn mit einem derben Ruck seiner Schulter von sich ab, daß er beinahe auf die Erde gefallen wäre, und entgegnete ihm unwillig: »Fort, Judas! Für ein Maß Schnaps verschachert er seine Kinder. Du hast schon gehofft, im Fett sitzen und von deinem reichen Schwiegersohn zehren zu können – der Teufel segne dir die Mahlzeit!«

Madame Hilgruber stampfte mit dem Fuß auf die Diele. »Ich dulde diesen Unfug nicht länger«, rief sie. »Herr Ortsvorsteher, brauchen Sie doch Ihr Ansehen und bringen Sie die beiden auseinander.«

Der Angeredete, ein dünnes Männchen mit glattem Gesichte und spärlichem Haar, das auf die halbe Stirn herabhing und ihm ein entschieden dummes Aussehen gab, zuckte bestürzt die Achsel und entschuldigte sich damit, daß er sein Amtsschild nicht mit habe und deshalb nicht als obrigkeitliche Person auftreten könne, richtete zugleich aber einige begütigende Worte an den Seemann, daß er sich jetzt den Umständen fügen und bei Gericht anfragen solle, ob er im Rechte sei oder nicht.

Er brauche kein Gericht, antwortete Peter Klars, und wolle nichts, als mit seiner Frau und seinem Kinde unangefochten davongehen.

»Nun denn, so zwingt Ihr meinen Sohn, sein Hausrecht zu gebrauchen!« herrschte Madame Hilgruber, flammenrot vor Zorn, ihn an. »Wo sind unsere Knechte, werft den Unverschämten zur Tür hinaus!«

Ohne darauf ein Wort zu erwidern, griff der Matrose mit der freien Hand in die Tasche, holte ein großes Zuschlagmesser heraus, öffnete dasselbe mit Hilfe der Zähne und faßte es fest in die Faust. Seine Augen glühten wie feurige Kohlen; er hätte in diesem Augenblick den ersten, der Hand an ihn legte, ohne Bedenken niedergestoßen.

Die Krügerin wich erschreckt zurück, und in der Gesellschaft machten sich Äußerungen des Unwillens und der Besorgnis laut.

»Um's Himmels willen, nur kein Blutvergießen!« rief Konrad Hilgruber, seine Mutter zurückdrängend. »Ich werde nicht leiden, daß diesem Manne nur ein Haar gekrümmt wird, solange er unter meinem Dache ist. Peter Klars, wir waren Freunde und wollen das auch jetzt nicht vergessen. Gott weiß, daß ich dich nicht habe kränken wollen – wir mußten dich für tot halten. Wärst du an meiner Stelle gewesen, du hättest nicht anders gehandelt wie ich, wenn du deiner Liebe treu geblieben wärst wie ich. Gestern hätt' ich mich mit blutendem Herzen von ihr losgerungen und gesagt: ›;Nimm sie zurück, Bruder, sie ist dein‹; aber heute kann ich von ihr nicht mehr scheiden. Ich werde nicht glücklich sein, und sie wird nicht glücklich sein, aber wir können's nicht ändern. Füge dich in das Unvermeidliche, wie ich mich einmal gefügt habe, als du sie zum Altar führtest.«

»Und du bildest dir wirklich ein, daß ich sie dir lassen werde?« sagte Peter Klars mit dem Ausdruck größter Überraschung. »Soll ich sie dir wohl gar selbst in die Brautkammer führen? Noch hat sie dir nicht angehört, und deshalb darf ich sie nicht verstoßen. Hätt' ich sie entehrt gefunden, dieses Messer hätte ihrem Leben ein Ende gemacht, und dieses Messer wird deine Brust zu finden wissen, wenn du es wagen solltest, ihr jetzt noch Zwang anzutun. Richte dich danach!«

Annika machte sich von ihm los und erhob sich von der Erde. Sie war bleich wie die Wand und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. »Ich habe zu entscheiden«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich habe kein Recht, dir zu folgen, Peter Klars, denn ich bin treulos gegen dich gewesen und habe meinen Schwur vergessen. Dafür straft mich Gott. Aber auch bei dir kann ich nicht bleiben, Konrad, denn ich gab dir meine Hand nur, weil ich ihn tot glaubte; jetzt, da er lebt, kann ich dein Weib nicht sein. Für diese Nacht werde ich mit meinem Kinde ein Obdach hier im Dorfe finden, und morgen wird uns der Herr Pfarrer seinen guten Rat nicht versagen. Wer von den Frauen will mich bei sich aufnehmen?«

Es fanden sich sofort einige mitleidige Seelen, die sich zu allen nötigen Diensten erboten. Jeder in der Gesellschaft fühlte, daß Annika das Richtige getroffen hätte, und auch die beiden Männer wagten keinen Widerspruch zu erheben. Der Seemann klappte sein Messer zu und sagte trotzig: »Morgen denn!« Konrad Hilgruber aber sprach nichts, sondern kehrte sich ab und seufzte schwer. Es ist zu Ende mit allen deinen Hoffnungen, dachte er.

Die Gesellschaft verzog sich still, ohne daß ein rechter Aufbruch bemerklich wurde. Die Nehrunger gingen zu ihren Kähnen, um noch bei der Nacht überzufahren, da sich ein leichter Wind erhoben hatte. Sie ließen das Klarssche Fahrzeug zurück. Im Dorfe stand man noch lange vor den Türen und besprach den Vorfall von allen Seiten.

Annika ging nach einer Kammer, in der der kleine Peter in sanftem Schlafe lag, wickelte ihn in ihr Tuch und folgte der Frau, die sie beherbergen wollte. In der Haustür stand Peter Klars und vertrat ihr den Weg. »Zeig' mir das Kind nur einmal«, bat er. Sie zog das Tuch ein wenig vom Gesicht fort. »Es schläft«, sagte sie so ruhig, als ob nichts ihren Frieden gestört hätte.

»Es ist unser Kind, Annika!«

»Unser Kind«, wiederholte sie wehmütig und ging.

Er begleitete sie von ferne, sah sie in das Haus eintreten, hörte den Riegel schließen und setzte sich auf die Schwelle, um Wache zu halten. Kein Schlaf kam über seine Augen.

Um Mitternacht jagte vom Krughofe her ein Wagen über die Dorfstraße an ihm vorüber. »Wohin?« fragte er den Knecht. »Nach dem Doktor.«


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