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Es waren wunderbare Fügungen des Schicksals gewesen, denen Peter Klars seine Rettung verdankte. Als bei jenem verderblichen Sturm das Schiff seine Masten verloren und ein Leck bekommen hatte, das sich nicht mehr stopfen lassen wollte, als die Pumpen den Dienst versagten und die Sturzwellen in immer rascherer Folge das Verdeck überfluteten, hatte sich dumpfe Verzweiflung der Mannschaft bemächtigt. Selbst der Kapitän hatte jede Hoffnung aufgegeben und seine Leute ermahnt, sich im Gebet zu Gott zu wenden, vor dessen Richterstuhl sie bald stehen würden. Nur Peter Klars konnte sich noch nicht an den Gedanken des Todes gewöhnen; immer sah er sein schönes junges Weib und seinen lieblichen Knaben vor Augen, und es war ihm, als ob sie ihn mit schmeichelnden Stimmen bäten, auszuharren und keinen Versuch der Rettung unbenutzt zu lassen. Diese Bilder seiner erregten Phantasie tanzten zuletzt auf allen Wellenkämmen, diese holden Flüsterstimmen übertönten das Gebrüll und Pfeifen des Sturmes, das Zischen der über das Verdeck schälenden Wogen. Er band sich fest an eine Leine, die beim Sturz des Mittelmastes oben abgerissen war, am Bord aber befestigt blieb, und bewirkte dadurch, daß er nicht vom Schiff gespült werden konnte, selbst wenn er sich von seinem Haltepunkte entfernte. Dann schnitt er mit seinem scharfen Taschenmesser eine andere starke Leine ab und suchte mit derselben den Ort zu erreichen, wo die Wasserfässer mit geteerten Gurten an den Deckbalken befestigt waren. Nach einigen vergeblichen Anstrengungen gelang dies. Er verband nun zwei nebeneinanderliegende Fässer sowohl an den Vorder- als an den Hinterreifen, die das Abgleiten verhindern konnten, mit der langen Leine und stellte zwischen diesen beiden Hauptverbindungen eine Art von Netz her, indem er die Leine mehrmals her und hin spannte. Nun öffnete er die Krähne, ließ den Vorrat von Süßwasser auslaufen und schloß wieder sorgfältig die Öffnungen. Dann band er sich selbst auf dem Netz fest und durchschnitt die Leine, die ihn mit dem Bord verband. Auch in den Gurten machte er tiefe Einschnitte, um die Fässer im entscheidenden Augenblick schneller flott zu bekommen. Endlich, als das Wrack, von einer gewaltigen Welle hochgehoben, gleich darauf in die Tiefe gestürzt wurde, in allen Fugen krachte, sich bedenklich auf die Seite legte, mit dem Hinterdeck Wasser schöpfte und zu sinken begann, empfahl er Gott seinen Leib und seine Seele, trennte die Gurten ab und fühlte sich mit rasender Schnelligkeit von der nächsten Welle fortgerissen. Das Schiff versank unter ihm.
Einen Augenblick vergingen ihm die Sinne; über ihm und um ihn brodelten und zischten die Wasser, die beiden Fässer wurden unaufhörlich gegeneinander getrieben und quetschten ihn ein, überschlugen sich auch wohl und brachten ihn eine Sekunde gänzlich unter Wasser. Aber die Energie, die bisher alle Zweifel an der Möglichkeit einer Rettung überwunden hatte, verließ ihn auch jetzt nicht. Sobald die erste Betäubung gewichen war, brachte er sich in eine solche Lage, daß er, auf dem Netz balancierend, mit jeder Hand den Spund des Fasses rechts und links ergreifen und so das Fahrzeug einigermaßen lenken konnte. Freilich gehörte dazu eine Kraft und Ausdauer, wie sie nur die Todesangst und die Hoffnung, sich den Seinigen erhalten zu können, auf die Dauer zu gewähren vermochten.
So trieb er zwei Tage und zwei Nächte auf dem Ozean, ohne einen Bissen Brot, ohne einen Trunk Wasser, ohne eine Minute Schlaf. Zwar legte sich der Sturm schon nach etwa vierundzwanzig Stunden, aber die See ging noch immer hoch; mehrere Schiffe fuhren vorüber, ohne ihn zu bemerken. Halb verschmachtet vor Hunger und Durst, halb blödsinnig von Schlaflosigkeit und geistiger Überspannung, wurde er endlich am dritten Tage von einem Ostindienfahrer bei schon ruhigerem Wetter entdeckt und aufgenommen. Er verfiel in eine schwere Krankheit, von der er erst nach Wochen unter dem Beistande des Schiffsarztes genas.
Eine Benachrichtigung seines Reeders oder seiner Frau war unmöglich; das Schiff legte nicht mehr an. Man passierte die Linie, kam vierzehn Tage lang wegen völliger Windstille nicht von der Stelle, hatte dann wieder mit Stürmen zu kämpfen, gelangte aber glücklich um das Kap und segelte wieder nordwärts über den Ostindischen Ozean. Aus dem nächsten Hafen, den man anlief, schrieb Klars einen Brief nach Hause. Er erreichte seinen Bestimmungsort nicht, wahrscheinlich weil die Adresse »An die Fischersfrau Annika Klars auf der Nehrung« den englischen Postbeamten unverständlich geblieben war.
Er konnte hoffen, in sechs bis acht Monaten wieder in der Heimat zu sein, da das Schiff nur Ladung einnehmen und dann direkt zurückkehren wollte, und bemühte sich deshalb nicht um eine andere Gelegenheit, zumal der Kapitän seine Brauchbarkeit erkannt und ihn für die ganze Reise geheuert hatte. Aber das Glück wollte ihm nun einmal durchaus nicht wohl, recht als ob er dafür bestraft werden sollte, daß er Frau und Kind verlassen habe. Das gelbe Fieber erfaßte ihn und brachte ihn wieder an den Rand des Grabes. Als er dann nach Monaten so weit gekräftigt war, um wieder Dienst nehmen zu können, hatte sein Schiff längst den Hafen verlassen. Er mußte zufrieden sein, ein Unterkommen auf einem andern Ostindienfahrer zu finden, der lange Jahre als Kriegsschiff gedient hatte, dann ausrangiert, von der Kompanie angekauft und zu einem Lastschiff umgebaut war. Man wußte von seiner ersten Reise viel Bedenkliches zu erzählen; mehrere Matrosen waren abgesprungen, und es hielt schwer, andere an deren Stelle zu finden. Nur der vollständige Mangel an Subsistenzmitteln und der immer lebhafter gesteigerte Wunsch, so bald als möglich sein Vaterland wiederzusehen, ließen ihn jede Rücksicht hintansetzen. Die schlimmen Befürchtungen waren nicht umsonst gewesen; bei dem ersten größeren Sturme gehorchte das Schiff dem Steuer nicht mehr, trieb ab und wurde auf die afrikanische Küste geworfen. Der größte Teil der Besatzung rettete sich zwar ans Land, nur wenige aber entgingen den Nachstellungen der grausamen Eingeborenen, welche das Wrack als gute Beute und dessen frühere Besitzer als ihre Feinde ansahen.
Zu diesen wenigen gehörte auch Peter Klars, der sich mit einigen Gefährten gleich in der Nacht des Schiffbruchs aufgemacht hatte und südwärts am Strande entlang gegangen war, in der freilich ganz trügerischen und lediglich ihrer mangelhaften geographischen Kenntnis zuzuschreibenden Hoffnung, so am leichtesten den nächsten Hafen zu finden.
So blieben sie mehrere Tage unbemerkt und wurden dann, als man sie entdeckte, nicht getötet, sondern in Gefangenschaft nach dem Innern des Landes geführt. Nach langem Aufenthalt und mancherlei vereitelten Fluchtversuchen gelang es ihm endlich, seinen Peinigern zu entgehen und in die Wüste zu entkommen, die das Kapland begrenzt. Es war unter so vielen Wundern nicht das kleinste, daß er hier nicht elend verschmachtete; nur ein von fast unglaublichen Entbehrungen gestählter Körper und der Umstand, daß er nach einigen Tagen einer kleinen Karawane von Reisenden und Missionaren begegnete, die ihn mit den notdürftigsten Lebensmitteln versahen, halfen ihm die Ansiedelungen der Holländer und demnächst nach einem weiteren halben Jahr die Kapstadt erreichen, wo er sich nach England einschiffte und diesmal ohne weitere Fährlichkeiten landete. Seinen nicht unerheblichen Arbeitsverdienst in der Kapkolonie und die ersparte Heuer nahm er mit auf ein Holzschiff, das gerade die Reise in die Heimat antrat. Nahe dem Hafen wußte er bei dem herrlichen Sommerwetter, das jede Gefahr ausschloß, den Kapitän zu vermögen, seinen Kurs näher, als sonst gewöhnlich, an der Nehrung entlang zu nehmen und ihn mit einem Boot auszusetzen.
Alle diese unsäglichen Leiden hatte der arme Mensch erduldet in treuem Angedenken an die Lieben zu Hause in der kleinen Fischerkate. Hätte er nur für sich zu sorgen gehabt, das Leben wäre ihm diese Mühen nicht wert gewesen. Aber nun kam ihm das Bild seiner Annika und des schönen Knaben nicht aus den Augen; er sah es im Sturm über die Wogen auftauchen oder aus den zerrissenen schwarzen Wolken hervorleuchten; er sah es in seinen Fieberphantasien und in der peinigenden Einsamkeit seiner Gefängnisse, in denen er schlechter als ein Tier gehalten wurde; er sah es in der Wüste durch den heißen Sand vorauswandeln und ihm den Weg zeigen. »Du mußt sie wiedersehen!« war der einzige Gedanke, der ihn überallhin begleitete und kein Ermatten aufkommen ließ. »Du wirst sie wiedersehen!« war die tiefe Überzeugung, gegen die jede augenblickliche Verzagtheit machtlos blieb.
Und jetzt – hatte er sie wiedergesehen, sein Weib, sein Kind; aber wie ganz anders, als er sich's in seinen Träumen ausgemalt hatte. Daß sich in diesen Jahren zu Hause etwas verändert haben könnte, war ihm gar nicht eingefallen. Kaum, daß er sich einmal vorstellte, daß der kleine Peter nun schon hübsch herangewachsen sein müßte. Erst als er auf dem Sandberge stand und nach dem Haffufer hinabschaute und nach der Hütte, die sein ganzes Glück bergen sollte, überkam ihn ein Zittern vor dem Ungewissen. Die Nachricht von dem Tode seines Vaters war der erste Schlag, und dann folgten die andern mit Blitzesschnelle. Er für tot erklärt, Annika die Braut eines andern, das Kind – nein! Das Kind lebte; es war der einzige Trost in der schauerlichen Pein der Verzweiflung an Gott und an den Menschen. In jener schlaflosen Nacht, die er vor der Tür des Bauernhauses zubrachte, bemühte er sich vergebens, sich die Dinge klarzulegen. Er war wie betäubt und taumelte in seinen Gedanken gerade wie ein Betrunkener in einem engen Raum umher, überall statt der Tür die Wand greifend. Für tot erklärt! Und lebte er denn auch wirklich? War er's selbst? Oder bleichten seine Gebeine längst auf dem Meeresgrund oder auf dem afrikanischen Wüstensande? Annika – seine Annika untreu! War das denn denkbarer, faßlicher? Und gar die Frau eines andern – Tollheit! Aber es mußte doch wahr sein, er hatte es ja selbst gehört, gesehen. Er faßte mit den Händen in sein Haar und schüttelte seinen Kopf und ächzte vor Schmerz. Ja, er lebte, und Annika war treulos.
Als der Morgen heraufdämmerte und die Landstraße belebter wurde, versteckte er sich im Graben unter der Brücke, von wo aus er die Tür beobachten konnte, aus der Annika treten mußte, wenn sie das Haus verließ. Es gingen Leute über ihn hinweg, und sie sprachen von nichts als von Peter Klars und Konrad Hilgruber und wem nun eigentlich die Frau gehöre. Die meisten bemitleideten ihn. Einige meinten aber auch, das habe er davon, daß er nicht im Lande geblieben sei und sich redlich genährt habe; es sei doch der Annika wahrhaftig nicht zu verdenken gewesen, daß sie ihr junges Leben nicht einsam habe vertrauern wollen; und auf Wunderdinge zu rechnen habe kein Mensch die Verpflichtung. »Aber sie hatte mir doch versprochen, bis zum Tode treu zu sein,« jammerte sein Herz, »ich habe sie doch mehr geliebt.«
Er überlegte, ob sie wert sei, daß er sich ihretwegen so härme, und die Eifersucht fing an mitzusprechen. »Sie mag in Not gewesen sein«, sagte er immer und immer wieder, aber das entschuldigte sie nicht. Wenn sie kein Kind gehabt hätte! – Freilich, dafür kann sie gerade besorgt gewesen sein – der Hilgruber ist reich, und es fiel von seinem Überfluß auch etwas für den Knaben ab. Wenn's nur nicht der Konrad wäre, der sie schon liebte, ehe sie mir ihr Wort gab. Ich hab' ihn immer zu fürchten gehabt. Und wenn sie ihn im stillen doch wiedergeliebt hat, und wenn sie bereut hat, mich geheiratet zu haben, und wenn sie jetzt mit Freuden zugegriffen hat, als er sich wieder einfand! – Er knirschte mit den Zähnen vor Wut und faßte wieder nach dem Messer in seiner Tasche.
Aber wie Nebel vor der Sonne zerrannen alle diese Gebilde seines Zornes, als sich nun die Tür öffnete und Annika heraustrat. Sie trug noch das Kleid von gestern, aber nicht mehr die Haube mit den Blumen, sondern nach litauischer Art ein Tuch um den Kopf geschlagen und über der Stirn zu einem kleinen Dach vorgeschoben, wie man's bei Madonnen auf den alten Heiligenbildern sieht. Ihr Gesicht war bleich, und sie hielt die Augen traurig zur Erde gesenkt, als sie um das Haus ging und den Fußweg über Feld nach der Kirche einschlug. »Sie kann nicht falsch sein«, sprach laut die Stimme des guten Engels in ihm. Er folgte ihr.
Auf der kleinen Wiese hinter dem Kornfelde trafen sie zusammen; Annika sah sich um und blieb stehen. »Es ist nicht gut, daß du mir nachgehst, Peter,« sagte sie mit scheinbarer Ruhe, aber innerlich aufs tiefste erregt, »das kann nichts Gutes geben.«
»Hast du dich ganz von mir abgewandt, Annika?« fragte er in leidenschaftlichem Ton. »Sag's gerade heraus und mit einem Worte, woran ich bin. Ich will Gewißheit haben.«
Sie sah ihn mit einem schmerzlich-mitleidigen Blick an. »Laß mich mit dem Pfarrer reden«, antwortete sie.
»Was wird das helfen?« fuhr er fort. »Kein Mensch kann dir raten, wie du fühlen sollst. Du selbst mußt wissen, wie du mit dir stehst, und kein anderer, als du, kann entscheiden, was geschehen soll. Es ist nun einmal das Unglück, daß ich nicht ertrunken bin; ich stehe leibhaftig vor dir, und du mußt mit mir sein oder gegen mich. Ich habe zu fragen, Annika, ob du mich noch liebst?«
Sie zuckte zusammen und sah scheu zur Erde. »Wenn es sich nur darum handelte –!« sagte sie lebhafter und brach plötzlich wieder ab. Schwere Tränen perlten ihr über die bleichen Wangen herab. Sie wendete das Gesicht fort und schluchzte leise.
»Es handelt sich darum, Annika,« versicherte er, »darum allein. Wenn du mich noch liebst, so soll alles vergessen sein. Dann bist du mein Weib, und ich will's mit der ganzen Welt aufnehmen, mein Recht zu verteidigen.«
»Ich bin schlecht gewesen,« klagte sie sich an, »so schlecht, daß ich mich selbst verachte. Selbst wenn du wirklich gestorben wärest, hätt' ich nicht so handeln sollen. Es ist mir auch immer gewesen, als ob ich eine Sünde beginge und schwer dafür würde büßen müssen; und doch hab' ich mich überreden lassen und den Leuten mehr geglaubt als mir. Du solltest nicht freundlich zu mir sein, Peter! Was ich dir zuleide getan habe, kannst du gar nicht verzeihen, und ich selbst kann mir's nie verzeihen. Ich bin auch nicht mehr wert, das Kind zu behalten. Nimm's zu dir, Peter, es gehört dir, da wir's zusammen nicht mehr haben können. Es wird dann auch viel schneller mit mir zu Ende gehen, wenn mir das Kind fehlt, und das ist jetzt auf Erden mein einziger Wunsch – recht schnell zu Ende.«
»Sprich nicht so, Annika«, bat er gerührt und legte seinen Arm um sie. »Ich sage dir ja, wenn du mich noch liebst, so ist alles gut. Ich will dir keinen Vorwurf machen, daß du schwach gewesen bist – wir sind alle nur schwache Menschen und sehen nicht weiter, als unsere Augen reichen. Es ist noch nichts geschehen, was uns durchaus trennen muß; du bist noch rein und kannst zu mir zurückkehren. Komm, Annika, komm mit mir. Unser Boot liegt am Flusse; in zehn Minuten ist's segelfertig – wir tragen unsern Knaben hinein und fahren hinüber nach der Nehrung. Das Fischerhaus gehört uns noch, und ich bringe so viel Geld mit, daß wir das Gerät leicht wieder in den Stand setzen können. Wir wohnen dort, wie vorhin – wir trennen uns nicht mehr, Annika. Laß alle Bedenken, sei, was du doch bist, mein liebes, schönes Weib – komm, Annika!«
Ihre Brust wogte stürmisch, ihr Atem flog, sie zitterte am ganzen Leibe. Aber im nächsten Moment schon machte sie sich mit einer raschen Bewegung von ihm los. »Ich habe gestern einen Eid geleistet,« sagte sie, »und den hat Gott gehört. Der Eid ist zwischen uns. Laß mich zum Pfarrer!«
Sie eilte fort. Peter Klars stand eine Weile wie eingewurzelt. »Also doch – also doch –« bebten seine Lippen. Er warf sich ins Gras, stützte den Kopf auf und grübelte vor sich hin. Es war immer derselbe kurze Kreislauf der Gedanken, nur hastiger und immer hastiger und deshalb um so schneller vollendet. Ganz unfähig, die Sache von irgendeiner andern Seite anzuschauen, suchte er nach gar keiner andern möglichen Lösung. Wenn Annika ihm nicht folgte, so war's doch richtig mit ihr und Konrad. Dann stand aber auch fest, daß sie ihre Untreue und Hinterlist nicht genießen sollten – es gab noch Mittel, sie für ewig zu trennen.
Wenn er in der Seele des unglücklichen Weibes hätte lesen können! Welche schreckliche Nacht lag hinter ihr, und mit welchem Grauen hatte sie die Morgensonne ins Fenster scheinen sehen! Wie eine Verbrecherin, deren Schuld plötzlich offenkundig wird, kam sie sich vor, denn sie hatte nie aufgehört, im Innersten daran zu zweifeln, daß sie recht tue, und nur die abmahnende Stimme durch die freundlichen Zureden Konrads und der Nachbarn betäuben lassen. Nicht einmal im Rausch der Leidenschaft hatte sie gesündigt – sie liebte Konrad nicht. Nur weil er sie liebte, weil er für sie sein Leben in Gefahr gebracht, weil er ihrem Kinde eine sorgenlose Zukunft eröffnete, weil er ihr als ein achtenswerter Mann erschien, hatte sie sich allmählich in den Gedanken hineingewöhnt, seine Frau sein zu können, ohne tiefere Neigung. Ja, gerade in der Vergeblichkeit der Bemühung, eine solche tiefere Neigung zu gewinnen, hatte sie eine Art von Entschuldigung und deshalb auch Beruhigung gefunden. Sie gab Konrad nichts, meinte sie, was sie dem geliebten Toten entziehen müßte, oder was derselbe auch nur mit ihm teilen sollte. Sie glaubte ihm auch so eine pflichttreue Gattin sein zu können, aber ihrer Jugendliebe nicht untreu werden zu dürfen. Ihre Erfahrung reichte weit genug, um sie zu überzeugen, daß gerade in ihrem Stande die meisten Ehen lediglich aus äußeren Rücksichten abgeschlossen wurden; so hatte sie noch immer vor vielen das Glück voraus, das schöne Andenken an ein innigeres, befriedigenderes Verhältnis bewahren zu können.
Jetzt freilich war allen diesen Klügeleien der Boden entzogen. Die Grenze zwischen der Neigung und der Pflicht, die vorhin der Tod so sicher abgesteckt zu haben schien, war plötzlich wieder verwischt worden, und sie stand ratlos da, wenn sie an einen Ausgleich dachte. Auf welche Seite konnte sie sich stellen, ohne sich noch schwerer zu versündigen?
Der Vorfall von gestern abend war auch im Pfarrhause bekannt geworden. Der Pfarrer, ein würdiger, in seinen religiösen Ansichten orthodoxer alter Herr, hatte Annika erwartet. Er nahm sie in seine kleine stille Studierstube, setzte sich auf den Lehnstuhl am Schreibtisch, über dem in schwarzem Rahmen ein schöner Christuskopf hing, ließ die Frau diesem gegenüber Platz nehmen und forderte sie auf, mit möglichster Ruhe den Fall vorzutragen.
»Vor den Menschen ist dein Tun gerechtfertigt, mein Kind«, sagte er, nachdem sie unter reichlichen Tränenergüssen ihre Beichte geendet hatte. »Das Gesetz gestattet unter gewissen Umständen die Todeserklärung eines Menschen, und diese Umstände müssen hier wohl vorgelegen haben, da sonst der Richter seinen Spruch zurückgehalten hätte. Eine solche Todeserklärung hat aber die Wirkung, als ob der Tod wirklich eingetreten wäre, und du bist deshalb auch wohl berechtigt gewesen, dich als Witwe zu betrachten. Ob es einer christlichen Frau würdig ist, von diesem Mittel Gebrauch zu machen, um die zweite Ehe eingehen zu können, das will ich ununtersucht lassen. Du klagst dich ja selbst einer schweren Sünde vor Gott an und siehst in dem Unglück, das dich nun betroffen hat, seine strafende Hand. Nimm nun auch die Buße durch strengste Pflichterfüllung auf dich.«
Annika küßte seine Hand. »Was ist meine Pflicht, hochwürdigster Herr?« fragte sie schüchtern.
»Ich weiß nicht genau, welche Folgen die bürgerlichen Gesetze der Rückkehr eines Für-tot-Erklärten geben«, fuhr er gemessen fort. »Ohne Zweifel wird derselbe in allen seinen früheren Rechten nach Möglichkeit wiederhergestellt –«
»So wäre ich noch seine Frau?« unterbrach sie ihn in freudiger Erregung und bedeckte mit heißen Küssen seine Hand.
Er entzog sie ihr und gab ihr einen Wink, sich wieder zu setzen. »Ich sage, nach Möglichkeit!« erwiderte er nach einer Pause streng; »das heißt, soweit eine Herstellung erfolgen kann, ohne daß diejenigen geschädigt werden, welche im Vertrauen auf die Gültigkeit der Todeserklärung Rechte erlangt haben. Würdest du ledig geblieben sein, so wäre kein Zweifel, daß die frühere Ehe fortbestände, ohne daß es eines neuen kirchlichen Akts zur Wiedervereinigung bedürfte; aber dieser Fall liegt hier nicht vor, mein Kind. Du hast über deine Person zum zweiten Male unter Mitwirkung der Kirche verfügt und dadurch die Rückkehr zum früheren Verhältnis unmöglich gemacht; deine zweite Ehe hat die erste aufgehoben.«
»Ich wußte es ja –« hauchte sie leise und zitternd hin, »es ist vorbei mit uns, armer Peter Klars. – Und es muß vorbei sein«, fuhr sie kräftiger fort; »ich bin deiner nicht mehr würdig.«
»Du fühlst, daß du ihn noch liebst?« fragte der Geistliche.
Sie nickte zustimmend, ohne zu ihm aufzusehen. »Ich habe nie aufgehört, ihn zu lieben«, bestätigte sie mit aller Innigkeit.
»Und doch hast du einem andern deine Hand gereicht?«
Sie versuchte eine Erklärung.
»Dann ist dein Unrecht größer, als ich glaubte«, sagte er kopfschüttelnd. »Du hast einen braven Mann hintergangen, der volle Aufrichtigkeit verdiente –«
»Ich hab's ihm ja gesagt,« klagte sie, »aber er wollte nicht auf mich hören.«
»Du bist einen Bund eingegangen, der nur geheiligt ist, wenn ihn die Herzen schließen. Entheilige ihn nun wenigstens nicht noch mehr, indem du jener früheren Neigung Raum läßt, die ihm gegenüber sträflich ist. Niemand kann zweien Herren dienen: dem einen aber, dem wir angehören, sollen wir mit ganzer Seele angehören.«
»Ich will mich zwingen, an ihn nicht mehr zu denken,« versprach sie und fügte leiser hinzu: »außer daß er doch der Vater meines Kindes ist – das darf ich doch nicht' vergessen, hochwürdigster Herr? Aber ich will mir einreden, daß er wirklich tot sei, und daß wir uns erst drüben im Himmel wiederfinden können – denn da wird's ja wohl erlaubt sein. Aber nicht wahr, Herr Pfarrer, auch dieser Bund ist nun aufgehoben, da es ja feststeht, daß ich nicht Witwe war? Sprechen Sie ein Wort des Trostes in meiner Seelenangst! Man zwingt mich doch nicht, Hilgrubers Frau zu sein?«
Sie war auf die Knie gesunken und hatte bei diesen letzten Worten die gefalteten Hände zum Geistlichen, und dann, als sie in seinem halb verwunderten, halb streng verweisenden Blick keine Hoffnung las, zu dem mild lächelnden Christuskopf über ihm aufgehoben. Der Pfarrer legte die rechte Hand auf ihre Schulter, wies mit der linken zurück nach der Wand und sprach salbungsvoll: »In dessen Namen ist deine neue Ehe gestern eingesegnet; sorge, daß sie vor ihm bestehen kann.«
In ihrem Auge malte sich der volle Ausdruck des Schreckens, der sie erfaßt hatte. Alle Spannung schien aus ihren Muskeln, alles Blut aus ihren Adern gewichen; sie fiel mit dem Kopfe auf den Stuhl zurück, von dem sie herabgeglitten war, und lag so regungslos, bis der Geistliche sie aufrichtete.
Den alten Herrn verließ seine bisherige Ruhe. Er sagte einige Sprüche her, die paßten oder auch nicht paßten, und redete ihr zu, gelassener im Schmerz zu sein und vernünftig zu überlegen, was sein und nicht sein könne.
»Was hast du dir denn eigentlich für Gedanken gemacht, mein Kind, als du zu mir kamst?« schloß er. »Wie kann ich aufheben, was ich vor Gott vereinigt habe? Nur eine gerichtliche Scheidung könnte dich wieder frei machen.«
»Und wird das Gericht uns scheiden?« fragte sie mit angstbeklommener Stimme. »Ich kann ja nicht die Seine bleiben – lieber sterben!«
»Versündige dich nicht, mein Kind«, rief er, durch diese letzte Äußerung ihrer verzweifelten Stimmung wieder auf sicheres Gebiet gebracht. »Niemand soll allerdings am Leben übermäßig hängen, denn es ist nur die Vorbereitung zum Jenseits, aber niemand soll auch nach dem Tode verlangen, da nur Gott weiß, wie lange seine Prüfungszeit dauern soll. Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet! Seid stark in eurer Pflicht, auch wenn sie euch schwer wird! Und wem könnte jetzt deine Pflicht gehören, als dem Manne, den du selbst dir gewählt hast?«
Ob Annika ihn hörte, war ungewiß; sie hatte die Augen geschlossen und, neben dem Stuhl kniend, das Gesicht auf die Arme gelegt. Nach einer Weile erhob sie sich und stützte sich auf die Lehne. »Und es gibt kein Mittel, uns zu scheiden?« fragte sie fast rauh.
Der Geistliche, der seinen geistlichen Zuspruch als verschwendet ansah, hob unwillig den Kopf, rieb die Nase mit dem rotseidenen Taschentuch, rückte sein Sammetkäppchen zurecht und ging ein paarmal in der Stube auf und ab. Er mochte doch überlegen, ob es zum Segen gereichen könne, für die Befestigung einer solchen Ehe zu sorgen; anderseits fühlte er sich augenblicklich zu sehr in seinem geistlichen Amte, um eine rein menschliche Rücksichtnahme bei sich aufkommen zu lassen. So blieb er denn, nachdem er in Gedanken seine Antwort gehörig formuliert halte, vor Annika stehen und sagte fest und bestimmt: »Es gibt kein Mittel, wenigstens keins, das mit Sitte und Religion bestehen kann, und das ich daher auch nur nennen darf. Geh zu deinem Manne und halte ihm, was du versprochen hast.«
Annika weinte nicht mehr, aber ihr Auge war glanzlos und ohne Leben. Sie küßte dem Pfarrer wieder die Hand, nicht in leidenschaftlicher Aufregung, wie vorhin, sondern förmlich und kühl. Dann ging sie leise hinaus, ohne noch ein Wort zu sagen.
Sie hatte nicht gefunden, was sie suchte, keinen Trost, keine Beruhigung, keinen guten Rat – nur schreckliche Gewißheit. Sie hatte gehofft, das Ihrige getan zu haben, wenn sie Peter Klars entsagte; nun erfuhr sie aber, daß viel mehr von ihr gefordert werde. Aber zugleich fühlte sie auch in sich die Unmöglichkeit, dieser Forderung zu genügen. Als sie den Kirchensteg entlang ging, dachte sie darüber nach, was das für ein Mittel gegen Sitte und Religion wäre, das zum Ziele führen könnte.
Peter Klars lag noch auf derselben Stelle, auf der sie ihn verlassen hatte. »Nun, was meint der Pfaffe?« fragte er barsch.
»Daß ich Konrad Hilgrubers Frau bin!« antwortete sie mit trockenem Tone, dem eine Beimischung von Bitterkeit nicht fehlte.
Er maß sie mit einem Blick, der sie hatte in Schrecken setzen können, wenn sie überhaupt noch für Furcht empfänglich gewesen wäre. »Und das meinst du auch?« rief er.
Sie ließ sich neben ihm nieder, legte ihre Hand auf die seinige und sagte mild: »Sei ruhig und gut, Peter, und vertraue mir.«
»Du liebst ihn,« fuhr er wild auf, »sag's nur gerade heraus, du liebst ihn, und ich bin dir im Wege! Warum noch die Verstellung? Oh, daß ich dir einmal vertraut habe! Es war schon zuviel daran.«
»Du hast recht!« sagte sie traurig, »es war zuviel Vertrauen. Aber daß ich ihn liebe, darfst du nicht glauben, Peter! Der alte Pfarrer meint zwar, es sei noch eine Sünde mehr, aber ich will sie gern auf mich nehmen. Ich habe dir vorhin nicht ordentlich Rede gestanden, weil ich im stillen doch noch hoffte, der gelehrte Mann würde einen Ausweg wissen, wie wir wieder zusammenkämen, und dir hinterher nicht das Herz noch schwerer machen wollte, wenn ich mich getäuscht hatte. Und ich habe mich getäuscht, denn es ist kein Ausweg – ich habe dich durch meine Schuld verloren. Laß mich zu Ende sprechen, ich bitte dich! Es ist vielleicht das letztemal, daß ich so mit dir reden kann. Denn wir müssen uns trennen, das ist bei mir ganz sicher. Laß dir's nicht schwer werden, von mir zu scheiden, und denke immer daran, wie ich dich gekränkt habe, damit dir's leichter wird. Dann, wenn du wieder in der Fremde bist, wirst du mich vergessen.«
»Oho!« rief er zornig, »du willst mich fortschicken, damit du hier ungestört die Frucht vom verbotenen Baum pflücken kannst! Daß ich ein Narr wäre! Wenn ich dich nicht haben kann – und ich sehe wohl, wie du mit mir stehst – er soll dich nicht besitzen!«
Ein schmerzliches Lächeln zog über ihre bleichen Wangen. »Ich sagte dir ja, daß ich ihn nicht liebe,« erinnerte sie leise, »und jetzt scheue ich mich nicht mehr, dir's zu gestehen: ich liebe dich noch immer, gerade wie ich dich geliebt habe, und ich kann's nicht aus meinem Herzen bannen.«
»Annika!«
»Und doch sind wir uns verloren; du mußt fest daran glauben, sonst werden wir noch unglücklicher sein als jetzt. Ich bin Konrads Frau, aber ich werde ihn anflehen, daß er mich freiwillig meiner Pflicht entlasse, daß er von mir nichts Unmenschliches verlange. Er ist ein edler Mensch und wird großherzig sein. Dann will ich zurück in das kleine Haus auf der Nehrung gehen, und wenn du mir den Knaben lassen kannst, will ich dir's danken. Ich werde mir mit Spinnen und Netzestricken verdienen, soviel ich zur Not brauche, und will nie mehr über das Wasser kommen. Aber du mußt mir versprechen, mich nie dort aufzusuchen, und er soll mir dasselbe versprechen. Es soll euch sein, als ob ich auf der Nehrung unter dem Sande begraben bin, wie dein alter Vater. Dann könnt ihr wieder Freunde sein, und ich werde Ruhe haben in meinem Gewissen. Versprich mir's, Peter!«
Sie schüttelte seine Hand, da er schwieg und sich nicht regte. Dann stand sie auf. »Kann ich mich darauf verlassen, daß du mir nicht folgen willst?« fragte sie herzlich.
Auf seinem Gesicht spielten die Leidenschaften. »Ich weiß noch nicht, wie Konrad denkt«, bemerkte er ausweichend.
Annika sann nach. »Gut! Ich will zu ihm und mit ihm sprechen.«
»Du – zu ihm –?«
»Bist du noch mißtrauisch?«
»Nein, nein, aber –«
»Er wird nachgeben.«
»Und wenn auch –! Er – was verliert er –?«
»Es ist kein anderer Weg, Peter. Oder doch – ja –! Ins Wasser! Und eh' ich mein ewiges Seelenheil verliere –«
»Annika!«
»Bedenke dich also und leb' wohl!«
Sie grüßte noch einmal zurück und ließ ihn allein.
Im Hause angelangt, erfuhr sie von der Bäuerin, daß ihr Mann, der Krüger, in der Nacht erkrankt sei und Madame Hilgruber nach ihr geschickt habe. Sie empfahl ihr das Kind und ging nach dem Kruge.