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Wer von den Lesern kennt die Kurische Nehrung? Vor fünfzig Jahren, als man in Deutschland noch von den Eisenbahnen nichts wußte, die jetzt das weite Land mit ihren Netzen überspannen und selbst nach den fernsten Grenzen ihre Doppelfäden ausstrecken, als man in Ostpreußen selbst die Chausseen nur vom Hörensagen kannte, führte die große Poststraße, welche hauptsächlich den Personen- und Güterverkehr mit Riga und Petersburg vermittelte, über die Kurische Nehrung. Königsberg und Memel waren die Hauptstationsorte dieser belebten und doch so einsamen Straße. Jetzt sind die alten Wagengleise längst vom Flugsand verweht, die struppigen Weidenstämme, welche zu beiden Seiten den Weg über die Sandberge hin bezeichneten, bis auf geringe Reste ausgestorben und begraben. Kurze Strecken ausgenommen, deren festerer Untergrund bleibendere Eindrücke gestattet, muß jeder folgende Wanderer sich einen neuen Pfad, an der Schälung der See entlang oder durch den tiefen und losen Sand der Dünen, nach dem Haffufer hinüber suchen. Aber selten genug sehen die Bewohner der wenigen Ortschaften, welche in meilenweiten Entfernungen voneinander anzutreffen sind, einen Gast, es müßte sich denn einmal ein wißbegieriger Tourist den Strapazen einer so wenig erquicklichen Strandreise aussetzen, um etwa seine geologischen Studien zu vervollständigen, wozu diese eigenartige Wüstenei allerdings reiches Material gibt.
Handlungsreisende, die in der freundlichen und belebten Seestadt Memel ansprechen wollen, treffen im Sommer täglich ein Dampfboot, das sie in sechs Stunden über die ganze Länge des Kurischen Haffs trägt. Die Fahrt geht meistens ziemlich nahe der Nehrung entlang, deren Konturen sich daher gut beobachten lassen. Das Auge findet wenig Abwechslung. Lichter und lichter wird der schwarze Tannenwald, der in der ersten Stunde die Anhöhen bedeckt und sich bis zum Haff hinabzieht. Dann heben sich die blendendweißen, langgestreckten kahlen Sandberge höher und höher und scheinen endlos aufeinanderzufolgen. Düne an Düne, und kein Leben darauf erkennbar, es müßte denn ein scharfer Nordwest den Flugsand von den Kämmen abwehen und in Staubwirbeln vor sich hintreiben nach dem Haffufer hinunter, oder bei klarem Wetter der Schatten der vereinzelt am Himmel hinziehenden Wolken wie eine dunkle Riesengestalt über die im Sonnenlicht grell leuchtenden weiten Flächen wandern. Nur hin und her machen sich in tieferen Taleinsenkungen oder am Saum des Haffs entlang kleine Weideplätze bemerklich, deren fahles Grün dem geblendeten Auge recht freundlich erscheint. Ein paar kleine und magere Pferde grasen dort, der nächsten Dorfschaft gehörig, die mit einigen niedrigen Fischerhütten, meist von Holz und ohne Rauchfang, eine Stunde später sichtbar wird. Tiefe Einsamkeit ist der Charakter der Gegend.
Das jenseitige Ufer ist anfangs entfernt, so entfernt, daß der Blick kaum dahin reicht. Aber je weiter wir nordwärts steuern, desto näher tritt es uns. Schon erkennen wir hinter den schwarzbraunen, mit glitzernden Wassergräben durchzogenen Torfmooren auf den sanft ansteigenden Anhöhen Wälder, Felder, Häusergruppen und Kirchtürme. Gegen die Einöde zur Linken erscheint jene Gegend wie ein ferner Paradiesgarten. Aber die flachshaarigen Fischerkinder, die sich nahe dem Haffstrande in ihren heimatlichen Sand eingewühlt haben und aus kleinen Binsenstückchen einen Garten abstecken oder auf einer vom letzten Hochwasser zurückgebliebenen Pfütze ihre Korkschiffchen schwimmen lassen, sehen nicht sehnsüchtig hinüber. Ihnen ist die Welt auch hier schön.
Das Dorf zieht sich mit seinen zehn oder zwölf einzeln stehenden hölzernen Fischerhäusern lang am Haffstrande hin. Das Stroh der Dächer ist grau und verwittert, stellenweise mit braungrünem Moos bewachsen; die kleinen Fenster mit grünglasigen Scheiben lassen nur spärlich das Sonnenlicht in den inneren Raum. Hin und her beschattet ein Weidenbaum den Haupteingang oder einen kleinen eingehegten Platz seitwärts. Stangengerüste zum Aufhängen und Trocknen der Netze reichen bis zum Wasser und teilweise in dasselbe hinein. Auch einige Fischkästen schwimmen dort. Hinter den Hütten versucht eine schmale Schonung von niedrigem Ellerngebüsch den Flugsand aufzuhalten. Aber im Norden hat sich bereits eine mächtige, mehr als hundert Fuß hohe Düne weit vorgeschoben und das letzte Haus halb eingesargt. Sie wandert in jedem Jahre weiter und wird nach kaum einem Menschenalter vielleicht das ganze Dorf bedeckt haben. Es wäre nicht das erste, das auf solche Weise von der Nehrung verschwunden ist.
Das letzte Haus ist halb verschüttet. Es wird nicht mehr bewohnt und hat das Aussehen einer Ruine. Das morsche Dach ist zur Hälfte unter der Last des Sandes eingesunken, die Verbindung der Balken auf der entgegengesetzten Seite stark gelockert. Fenster und Türen zeigen sich mit einigen Brettern verschlagen, die sich aber zum Teil ebenfalls schon wieder von den verrosteten Nägeln losgemacht haben und ihr Spiel im Winde treiben. Warum bricht man das alte unbrauchbare Haus nicht lieber ganz ab und verwendet das Material anderweitig? Vielleicht scheut man sich, der drohenden Düne den letzten Widerstand aus dem Wege zu räumen; vielleicht hat's damit noch eine andere Bewandtnis.
Vor mehreren Jahren war der Sandberg noch ziemlich fern; dieses letzte Haus galt für das sauberste in der ganzen Reihe. Es hatte damals sogar blaugestrichene Fensterläden, und auf dem freien Platz vor der Tür war ein mit langem roten Wimpel gezierter Mastbaum in den Boden eingelassen und mit Takelage versehen, als ob er einem kleinen Schiffe angehörte. In dem Hause wohnte der alte Peter Klars und seine Schwiegertochter, die schöne Annika, mit ihrem kleinen Söhnchen. Ihr Mann, der junge Peter Klars, fuhr auf einem Memeler Schiff als Matrose und brachte von Zeit zu Zeit seine Ersparnisse heim, auch wohl hübsche rote Tücher aus England, mit denen Annika sich gern schmückte, besonders wenn sie mit Fischen zu Markt oder Sonntags einmal nach ihrem litauischen Heimatdorf übers Haff fuhr. Die Klars konnten in ihrer Art für wohlhabend gelten.
Damals war der alte Klars trotz seiner achtundsechzig Jahre noch rüstig genug, den großen offenen Fischerkahn, auf den er sich bei Abtretung des Häuschens an seinen Sohn ein Mitbenutzungsrecht als Ausgedinge vorbehalten hatte, mit geübter Hand durch den Sturm zu steuern, tage- und nächtelang auf offenem Wasser umherzutreiben und die schweren Netze aufzunehmen. Es war ihm lieb gewesen, als sein Sohn nicht lange nach der Hochzeit den Versuch aufgegeben hatte, sich in das Kleinleben eines Nehrunger Fischers wieder hineinzugewöhnen und ihm eines Tages, als sie vergebens auf eine gute Brise Wind lauerten, seinen Entschluß kundtat, noch einige Zeit in See zu gehen, da es für sie zwei hier doch nicht genug zu tun gäbe. Er hatte seinen Peter, als er heiratete, unbedenklich schon bei Lebzeiten in sein Erbe eingesetzt, aber da er nun nicht Gebrauch davon machen wollte, kam es dem Alten recht gelegen, wieder die Führung übernehmen zu können und in gewohnter Weise fortzuwirtschaften. Freilich nicht ganz in gewohnter Weise; denn die junge Schwiegertochter blieb ihm im Hause und sorgte für seine Bequemlichkeit viel aufmerksamer, als seine alte Barbe es je verstand, die nun schon lange unter dem Sande schlief. Es wurde ihm noch einmal recht behaglich in der niedrigen Stube mit den braunen Holzwänden und der schweren Balkendecke, wenn er heimkehrte und den Fußboden mit feinem, weißen Sande ausgestreut und den Tisch sauber gescheuert fand, oder wenn die hübsche Frau abends neben ihm am Spinnrade saß und ihm ein Kapitel aus der alten Familienbibel vorlas. Er war ordentlich ein wenig verliebt in die hübsche Frau und suchte ihr's an den Augen abzusehen. – Als nun gar einmal, nachdem er wieder wochenlang mit dem Kahn auswärts gewesen war, zwischen den roten und blauen Astern am Fenster ein ganz kleines Kindergesicht erschien und mit munteren Augen auf den blanken Wasserspiegel hinaussah, und er vor Freuden wie versteinert stehenblieb und gar nicht eintreten konnte, und die junge, bleiche Mutter nun bis zur Tür kam, und ihm den prächtigen Buben auf den Arm legte, da war es ihm, als ob er nicht einmal so gerührt gewesen, als seine Frau ihm vor fünfundzwanzig Jahren seinen eigenen Sohn brachte, nachdem er auf Kindersegen in seiner Ehe schon gar nicht mehr gehofft hatte. Nun betrachtete er sich in allem nur als Verwalter des jungen Herrn, der natürlich ebenfalls Peter getauft werden mußte, wie's seit unvordenklicher Zeit in dem letzten Fischerhause immer nur Peter Klars gegeben hatte und natürlich in alle Ewigkeit geben sollte.
Annika wäre ganz zufrieden gewesen, wenn sie den Knaben nur einmal ihrem Manne hatte zeigen können. Sie hatte sich wohl auch sonst nach ihm still gesehnt, wenn Wochen und Monate vergingen, ehe er wieder einen kurzen Urlaub benutzte, bei ihr anzusprechen, aber so heftig war ihre Sehnsucht nie gewesen als jetzt. Es lag nicht in ihrer Natur, sich traurige Gedanken zu machen oder zu grämen; aber sie hätte wer weiß was darum geben mögen, wenn sie nicht allein hätte sehen müssen, wie der prächtige Junge sich täglich kräftiger entwickelte und immer hübscher wurde und lachen und endlich gar aufrecht sitzen lernte. Das entgeht ihm nun alles, dachte sie tausendmal; und so, wie er heute ist, ist er nie wieder, und der arme Peter kann nun gar nicht wissen, wie er früher ausgesehen hat. Zum erstenmal fiel ihr ein, daß es doch eigentlich besser gewesen wäre, wenn ihr Mann das Seefahren aufgegeben und sein Väterliches übernommen hätte. Warum hatte denn der junge Peter Klars keine Ruhe zu Hause gehabt?
Das hatte freilich seine Gründe, die weiter zurückreichten, als bis auf den Tag, wo der junge Seemann sich über die Windstille auf dem Haff ärgerte und seinem Vater gewisse Eröffnungen machte, die demselben gar nicht unlieb waren zu vernehmen. Der junge Peter Klars war anfänglich gar nicht zum Seemann bestimmt gewesen, und solange seine Mutter lebte, durfte davon auch nicht einmal die Rede sein. Es hatte sich immer ganz von selbst verstanden, daß Peter ein Fischer werden würde, wie sein Vater, und seiner Zeit das Fischerhaus mit Zubehör zu übernehmen hätte, wie es einmal der alte Klars von seinem Vater übernommen hatte. Schon als Knabe hatte er freilich eine ganz besondere Vorliebe für die See gehabt und sich oft, wenn der Sturm von Nordwesten her heulte und gewaltige Schaumwellen aufs Land trieb, über die Sandberge an den Strand gewagt und mit rechter Lust dem Unwetter ausgesetzt. Auch bei gelegentlichen Besuchen in der Seestadt hatte er nie versäumt, die auf der Reede und im Hafen liegenden großen Schiffe aufmerksam zu betrachten und bei den Matrosen über das Leben und Treiben auf der See Erkundigungen einzuziehen. Dann war ihm sein Fischerkahn recht winzig und erbärmlich vorgekommen; und wenn er gar von den fremden Ländern und Städten gehört hatte, die man zu Schiffe erreichen könne, wenn man viele Wochen lang unterwegs sei, war ihm das Haff mit seinen nahen Begrenzungen ganz widerlich geworden und all sein Mühen kleinlich erschienen. Dann hatte er wohl von der Möglichkeit geträumt, daß auch er nicht an seine Sandscholle gebunden sei und in die weite Welt hinaus könne. Aber zu dem ernstlichen Entschlüsse war er erst gekommen, als er sein zwanzigstes Lebensjahr bereits zurückgelegt hatte, und da hatte eine ganz besondere Veranlassung mitwirken müssen, um alle Bedenken zu beseitigen und die Macht der Gewohnheit zu besiegen.
Um es kurz zu sagen, Peter Klars hatte die schöne Annika kennengelernt, die drüben in dem großen Kirchdorfe seit kurzem bei ihrem Onkel, dem Wirt Endoms, als Magd diente. Das Dorf lag eine kurze Strecke landeinwärts an dem Flüßchen, das sich ins Haff ergoß und eine Meile bis zum nächsten Marktorte schiffbar war. Man fuhr gewöhnlich mit dem großen Segelboote über Haff bis zur Mündung des Flüßchens, die durch einen weit vorspringenden Haken geschützt war und so als Hafen dienen konnte, lud dann die Fische in ein kleines, schmales und wenig tief gehendes Fahrzeug um und suchte sich mit demselben bald segelnd, bald rudernd, bald mit Stangen schiebend oder treidelnd über die vielen seichten Stellen und sonstigen Hindernisse hinwegzubringen. Der Hof des Endoms lag zunächst dem Haff, und der Treidelsteig führte dicht an der Haustür vorüber. Dort hatte Peter Klars die schöne Annika eines Morgens gesehen, wie sie aus dem Flusse Wasser schöpfte. Sie war damals noch sehr jung und auffallend fein gebaut; es hatte ihr offenbar Mühe gemacht, den schweren Eimer mit Wasser hinauszuheben, und der junge Fischer hatte eiligst die Treidelleine fallen lassen und ihr aufgeholfen, was sie mit verschämtem Dank lohnte.
Seitdem waren die Markttage für unsern Nehrunger von ganz besonderer Bedeutung geworden. Hätte er stundenlang am Ufer warten müssen, er wäre an dem Hause des Endoms nicht vorübergefahren, ohne wenigstens einen flüchtigen Blick von der Annika zu erhaschen. Sie war so zierlich in ihrer ganzen Erscheinung, so anmutig in allen ihren Bewegungen! Sie war gekleidet wie alle litauischen Mädchen, aber er glaubte diese Tracht noch nie vorher gesehen zu haben. Wie das blaue Kopftuch das blonde Haar und das feine Gesicht einrahmte, die schwarze Sammetjacke, bis rund um den Hals geschlossen, die zart geformte und doch volle Gestalt heraushob, das hinten über dem grünen Unterrock hoch aufgeschürzte Gewand mit der bunten Stoßkante die Hüften umzog und vorn in einer tiefen Falte niederglitt, die weißen, auf den Achseln und am Handgelenk gestickten Ärmel im Sonnenschein leuchteten – so schmuck war ihm noch nie die Kirchentoilette einer Litauerin vorgekommen. Wie eine Prinzessin aus dem Märchen erschien sie ihm im Traum und Wachen, und er kam sich recht häßlich neben ihr vor in seiner grauen Schifferhose und rotgeblümten Weste und mit den schweren Holzpantoffeln auf den braunverbrannten nackten Füßen.
Sie war zum Glück, wie er bald in Erfahrung brachte, eine arme Prinzessin, und das machte ihm wieder einigen Mut. Ihr Vater war Wirt an der Grenze gewesen, hatte aber bei einem unglücklichen Schmuggelzuge seine sämtlichen Pferde eingebüßt, sich dann in Schulden gestürzt und zuletzt zusehen müssen, wie sein Hof subhastiert wurde. Er lebte nun als Tagelöhner und Schmuggler in einem Grenzdorfe, dem Trunk ergeben und außerstande, seine Familie zu ernähren. Annika hatte kein Erbe zu erwarten: sie konnte froh sein, daß ihres Vaters Bruder sie als Magd zu sich ins Haus nahm und für sie sorgte. Eine kleine Holzkiste mit Wäsche und Kleidern, in besseren Zeiten angeschafft, als das Schmuggelgeschäft noch blühte, war ihr einziges Besitztum.
Peter Klars wurde dreister. Das Anschauen genügte ihm nicht mehr; er suchte und fand Gelegenheit, das Mädchen zu sprechen. Und da war es nun bald um seine Ruhe gänzlich geschehn, denn sie erwies sich freundlich gegen den hübschgewachsenen Menschen mit den offenen, treuherzigen, blauen Augen, die ihr wohl besser als Worte sagen mochten, was er für sie empfand. Er sprach das Litauische nicht gut, und sie lachte oft über ihn recht herzlich; aber dann zeigte sie ihm auch die kleinen, blendendweißen Zähne, und er hatte gar nichts dagegen und lachte mit. Sie verstanden sich recht gut.
Arm war die Annika allerdings, aber auch schön, und das bemerkte der Peter Klars nicht allein. Schönheit ist gesucht wie Reichtum. So fehlte es auch dem Mädchen nicht an Bewunderern aller Art, die sich an sie drängten und ihr Schmeicheleien sagten und ein freundliches Lächeln zu erhaschen suchten. Da war ihr mancher Wirtssohn auf Stegen und Wegen nach, aber der gefährlichste von allen, die sich um Annika bemühten, war doch der Sohn des deutschen Krügers, weil er's gleichfalls ernst zu meinen schien.
Der deutsche Krüger war der wohlhabendste Mann in der ganzen Gegend. Er besaß zwei Bauernhöfe und machte kleine kaufmännische Geschäfte, die ihm viel Geld brachten; auch seine Krugstube war immer gefüllt. Er selbst war schon in vorgerücktem Alter und sehr kränklich, aber seine noch recht rüstige und energische Frau führte mit starker Hand die weitläufige Wirtschaft und wußte sich überall in Respekt zu setzen. Ihr einziger Sohn, einst der Erbe ihrer ganzen Verlassenschaft, war Konrad, ein ziemlich schwächlicher und gutherziger Mensch. Konrad Hilgruber und Peter Klars waren die besten Freunde schon vom Konfirmandenunterricht her, den Peter bei dem Pfarrer des Dorfes genossen hatte. Konrad war beim Präzentor in die Schule gegangen und wußte mancherlei, was den kleinen, wißbegierigen Nehrunger interessierte, und Peter andererseits konnte immer etwas Neues von seinen Haffahrten und Fischzügen erzählen. So fanden sie sich jedesmal zusammen, und Peter mußte oft, wenn das Haff für die Rückfahrt zu stürmisch war, oder im Winter ein zu dichter Nebel darüber lag, beim Krüger über Nacht bleiben, ohne daß es den alten Klars etwas kostete. Da Peter ein stiller und bescheidener Knabe war, hatten Hilgrubers gegen diese sich immer herzlicher gestaltende Freundschaft nichts einzuwenden gehabt, und es gern gesehen, wenn er auch später auf jeder Reise ansprach oder bei gutem Wetter hin und her einmal ihren Sohn nach der Nehrung mit hinübernahm, was für Konrad jedesmal ein Fest war. Auch als nach einigen Jahren der Krüger starb und Frau Hilgruber nun allein die Wirtschaft übernahm, Konrad aber zu einem deutschen Landwirt in der Nachbarschaft gegeben wurde, um etwas Praktisches für seinen Beruf zu lernen, hatten sie sich von Zeit zu Zeit an Sonn- oder Feiertagen in der Kirche getroffen und in alter Weise einen Nachmittag miteinander verlebt. Mit dem zwanzigsten Jahr war Konrad wieder nach Hause zurückgekehrt, um der Mutter zu helfen, und nun störte die Verbindung zwischen den beiden Freunden nichts mehr.
Wie erschreckt waren sie gewesen, als sie ihre Neigung zu demselben Mädchen bemerkten! Es war eines Sonntagabends, als die ersten Eröffnungen erfolgten.
Wie so oft schon in letzter Zeit, hatten sie, dem Zuge des Herzens folgend, noch spät einen Gang am Hause des Endoms vorbei nach dem Haken gemacht, wohin Peter von den Dorfbuben sein Boot zur Abfahrt hatte hinausbringen lassen. Annika stand, mit dem jüngsten Kinde ihres Onkels auf dem Arm, am Fenster und erwiderte freundlich ihren Gruß. Als sie sich dann auf einen der großen Steine setzten, die schon zur Hälfte vom Wasser des Haffs bespült wurden, und die glutrote Herbstsonne auf die fernen grauen Sandberge der Nehrung niedersinken und einen hellen Schein über das weite Wasser werfen sahen, da fing ganz unversehens Konrad von der Annika an, so daß es Peter Klars ordentlich durchs Herz fuhr, ihren Namen zu hören. Wie sie ein so hübsches und ordentliches Mädchen wäre, sagte er, und daß er ganz verliebt in sie sei und ohne Bedenken um sie freien möchte, wenn er sein eigener Herr wäre. Aber nun dürfe er's nicht wagen, da seine Mutter nie in eine solche Partie willigen und zeitlebens mit ihm hadern würde, wenn er in diesem Punkt gegen ihren Willen handelte. Denn da sie sich alles, was sie besäßen, durch eigenen Fleiß selbst zusammengebracht hätten, so sollte es nun auch in der Familie erhalten und gemehrt, aber nicht verzettelt werden. Seine Mutter wäre selbst ganz arm gewesen, als sie heiratete, aber eben deshalb wolle sie nun gerade für ihn eine reiche Partie, weil sie wüßte, wie schwer es ihr geworden. Er habe schon von weitem bei ihr angefragt, aber nichts Tröstliches vernommen. Und doch wolle er seine Hoffnung nicht aufgeben, sondern vertrauen, daß sich alles zum besten wende.
Dem armen Peter war's gewesen, als ob er von dem Stein hinab ins Haff sinken solle. Eine lange Weile saß er ganz bleich und stumm da, so daß Konrad ihm zuletzt ängstlich ins verstörte Gesicht schaute, und dann stand er langsam auf, schob sein Boot ins Wasser und trat mit einem Fuß hinein, bereit, sich mit dem andern vom Lande abzustoßen. Betroffen reichte ihm der Krügerssohn seine Hand zum Abschied hinüber. Peter blieb unbeweglich. »Was fehlt dir denn?« fragte Konrad endlich ganz ängstlich. In dem jungen Fischer tobte und kämpfte es; seine Augen blitzten unheimlich, und die Faust krampfte sich fest um das Ruder zusammen, das er auf den Sand gestemmt hatte. »Liebt dich die Annika?« brachte er endlich grollend heraus. »Mein Gott, ich weiß es ja nicht«, antwortete der Freund bestürzt. Peter Klars ließ matt den Arm mit dem Ruder niedergleiten, atmete lang auf, schob die blaue Mütze aus der Stirn, lächelte und reichte Konrad die Hand. »Wir sprechen ein andermal mehr davon«, sagte er und stieß das Boot in die graugrünen Wellen, die der scharfe Abendwind gegen das Land trieb.
Eine Haffahrt wie diese hatte Peter Klars noch nicht gemacht. Er zog das Segel auf und ließ das kleine Fahrzeug treiben, wohin es wollte, in die Nacht hinaus. Auf offenem Wasser wurde der Wind heftig und riß am Segel eine Schote ab, er merkte es nicht. Das Boot hätte kentern können, und er würde zu seiner Rettung nichts getan haben. Seine Gedanken brüteten über seinem Geheimnis. Jetzt erst wurde es ihm zur Gewißheit, daß er Annika liebe, daß er der unglücklichste Mensch sein müßte, wenn er sie nicht besitzen könnte. Sie haben noch nicht miteinander gesprochen, dachte er, aber wir haben auch noch nicht miteinander gesprochen; er weiß nicht, ob sie ihn liebt, aber ich bin nicht besser daran. Sie ist freundlich zu mir, aber zu ihm vielleicht ebenso. Und er ist der reiche Krügerssohn, und ich ein armer Fischer von der Nehrung. Wenn er ihr sagt, daß er ihr gut sei, dann wird sie nicht widerstehen; und wenn dann auch nichts daraus wird, mir ist sie für ewig verloren. – Dann sprach wieder die Stimme der Freundschaft: Schweige und laß ihn gewähren; er kann sie reich und glücklich machen! Und dann kochte es wieder in seinem Herzen auf, wie siedendes Blut, und er rief laut: »Nein, so weit geht Freundschaft nicht. Ich liebe sie, und sie muß mein sein, sollt' ich auch mit ihm auf Tod und Leben um sie kämpfen! Aber etwas bieten muß ich ihr können«, schloß er; und nun war der Plan fertig, zur See zu gehen und sich in einigen Jahren ein hübsches Stück Geld zu verdienen. Dann ließ sich ein Kahn kaufen und die Fischerei im großen betreiben. Das konnte immerhin als ein Gewicht gelten, das sich gegen den Krüger in die Wagschale werfen ließ.
Mit seinem Vater war die Sache bald in Ordnung gebracht; auch ein Schiff war bald gefunden, das noch vor Winters Anfang mit einer Ladung Getreide nach England gehen und von dort eine Reise nach Spanien machen wollte. Aber je näher der Tag der Abfahrt heranrückte, desto undenkbarer schien es ihm, daß er ohne Abschied von Annika fort sollte. Was konnte nicht in der Zwischenzeit geschehen, und sie wußte nicht einmal, daß er ihretwegen fortgegangen war. Aber Konrad –! Durfte er ihn betrügen? Sein ehrliches Herz litt es nicht.
Endlich beschloß er, ihm offen zu sagen, wie es mit ihm stünde. Er kleidete sich sonntäglich an, fuhr hinüber und suchte den Freund auf, der ihm mit aller Herzlichkeit entgegenkam. »Komm zum Haken,« sagte er ganz feierlich, »wir haben miteinander zu sprechen.« Und dann schüttete er ihm sein Herz aus, versicherte ihm, daß er ohne die Annika nicht leben könne, und daß er sie keinem gönne, auch ihm nicht, und daß ihre Freundschaft zu Ende sein müßte, wenn er ihm das Mädchen nehme. »Aber sie selbst soll entscheiden«, schloß er; »und sie soll alles wissen. Keiner von uns soll sie überraschen, sondern wir wollen Hand in Hand zu ihr gehen und ihr sagen, daß wir sie beide lieben, und sie fragen, wem sie angehören wolle. Wenn sie dann dich nennt, so will ich nicht murren, sondern in die weite Welt hinausgehen und euch beide nicht mehr wiedersehen. Dann mußt du mir aber einen heiligen Schwur leisten, daß du sie zum Altare führen willst, wie es auch komme. Wählt sie mich, so weiß ich, daß du dich kränken, aber mein Recht achten wirst, auch wenn ich fern bin.« Das sprach er recht treuherzig und möglichst fest, obgleich ihm die Tränen in den Augen standen. Konrad aber erblaßte, zitterte und schlug nicht in die dargebotene Hand. »Weiß Gott,« sagte er nach einer Weile, »daß ich dem Mädchen gut bin, und daß deine Mitteilung mich schwer trifft, aber deinen Vorschlag kann ich nicht annehmen, so achtbar er auch ist. Ich kann mich jetzt noch nicht binden und der Annika nicht ein festes Versprechen geben; deshalb darf ich sie auch jetzt nicht fragen. Warum bist du so eilig?« – »Weil ich sie liebe!« rief Peter Klars leidenschaftlich; »und weil ich's ernst mit ihr meine. Wenn du dasselbe von dir sagen kannst, so komm mit mir!« – »Geh allein!« antwortete der junge Krüger nach einigem Kampfe, »ich kann mich nicht entschließen.« Der Nehrunger zuckte die Achseln. »Wie du willst!« sagte er, doch erzürnt, sich im Freunde getäuscht zu haben, und machte sich auf den Weg; Konrad folgte schweigend. An Endoms' Hof blieb der Fischer noch einmal stehen und sah Konrad fragend an. Der aber schüttelte traurig den Kopf, grüßte kleinlaut und schritt dann weiter.
An demselben Abend sprach Peter mit Annika im geheimen. Er sagte ihr alles, auch daß der reiche Krügerssohn, sein Freund, ihr gut sei, und daß er selbst sie erst nach Jahren werde in sein kleines Fischerhaus einführen können, weshalb sie sich wohl bedenken möge. Aber die Annika bedachte sich nicht lange, sondern legte ihren Arm in den seinigen und gestand ihm ohne Zögern, daß sie ihm gleich von Anfang an gut gewesen sei und auch von keinem andern etwas wissen wolle, am wenigsten von einem, der nicht einmal das Herz habe, frei heraus zu sprechen. – Es traf sich gut, daß Endoms und seine Frau gerade nach der Stadt gefahren waren. Da gingen die beiden hinaus auf den einsamen Haken und saßen zusammen bis in die sinkende Nacht, miteinander von der Zukunft plaudernd. Und da, als sie endlich Abschied nahmen, schwuren sie einander zu, daß sie sich angehören wollten für Zeit und Ewigkeit, solange auch jetzt die Trennung dauern sollte.
Als Peter Klars vom Lande abstieß und bald hinter ihm die Gestalt seiner Annika im Nebel zerrann, und die Ufer immer matter und unbestimmter zurücktraten, begleitete ihn noch lange der Schein eines Lichtes, das von einem hohen Punkt mitten im Dorfe her auf das Haff hinableuchtete. Er wußte, daß dort der Giebel des Kruges lag, und daß Konrad oben sein Schlafstübchen hatte. Erst als auch dieses Licht unter die grauen Wellen getaucht war, wurde ihm das Herz ganz leicht. »Ich bin ihm nichts schuldig geblieben«, sagte er sich mit Befriedigung.