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Meinhart Knurrhahn, Hauptlehrer im Dorf hinter der Siedlung, war einer der seltenen Menschen, die zusammen mit ihrem Namen geboren werden. Nicht daß da ein Vater ist und der Name des Vaters geht auf den Sohn über, wie die Ziegel von Hand zu Hand gehen, wenn der Ziegelwagen entladen wird. Sondern daß der Sohn so und nicht anders heißen muß, auch wenn der Vater den Namen einer anderen Sprache trüge. Er mußte Knurrhahn heißen, und die Erfüllung dieses Naturgesetzes gab seiner Person jene schreckliche Geschlossenheit, mit der er auf seinem Pult thronte wie Jehova auf dem Berge Sinai. Die Luft brannte um ihn, Donner rollten um seine Einsamkeit, während er die Tafeln des Gesetzes schrieb, und mehr als einer der kleinen Mosesse, die mit Tafel, Schwamm und Griffel auf seinen Bänken saßen, war versucht, die Schuhe auszuziehen auf dem heiligen Boden, der ihn umgab.
Da waren Helden jener Landschaft unter seinen Zöglingen, die den Teufel nicht fürchteten, für die kein Fenster heilig, kein Baum zu hoch, kein Wasser zu tief, kein Stier zu wild war, die jeden Gegner angingen wie die Axt einen Baum, und die gelähmt dasaßen, wenn der Blick der kleinen rötlichen Augen aus dem Gestrüpp des Bartes sie traf, nein, nicht traf, sondern streifte wie einen Stein oder einen Zaunpfahl. Gott sah auf die Welt, und es war nicht gut, was er sah. »Bedarfst du des Trostes, mein Sohn?« pflegte er gütig zu fragen, aber seine Stimme war gleich der Stimme einer schweren Glocke, die ein Sandkorn berührt. »So gebe man ihm«, entschied er milde. Er zog den ›Tröster‹ liebevoll zwischen Daumen und Zeigefinger hindurch, als ob er die Schneide eines Messers prüfe, und lächelte auf eine verborgene Weise, die irgendwie grauenvoll erschien. »Die Hand, mein Geliebter, die ganze, bitte, schön ausgestreckt … so … wen Gott liebhat, den züchtigt er …«, und Sodoms Untergang erfüllte sich mit Blitz und Donner.
Knurrhahns Seele war ein einfaches Wesen, und seine Tage gingen wie der Pendelschlag einer Uhr. Er begann im ›Saustall‹, und er endete im ›Weinberg des Herrn‹. Der Saustall war die Schule, und der Weinberg war sein Bienenstand. In beiden war er Gott der Herr, und in beiden hatte »Ordnung zu herrschen«. Alles andre waren die »Apokryphen« für ihn, seine Frau eingerechnet. Kinder hatte er nicht, als ob die Ungeborenen gewußt hätten, daß es keine Götter geben solle neben ihm.
Knurrhahn war nicht böse, er war nicht Zerrgiebel mit seinem Backenbart. Es war keine Lust an der Qual in ihm, kein Genuß der Peinigung, kein Durst nach Blut. Er war nichts als ein einfacher Gott über einer einfachen Erde. Man gab ihm einen Lehmkloß in die Hand, jedes Jahr einen neuen, und er hatte um des Staates und Gottes willen den lebendigen Odem in diesen Lehmkloß zu blasen. Er war Schöpfer und das andere war Geschöpf, und das Dichten und Trachten des Geschöpfes war böse von Jugend auf. Er hatte weder Methoden noch mühsam errungene Anschauungen, weder Gewissensbisse noch Zweifel. Er war ein Turm in der Schlacht, und die Obrigkeit konnte jederzeit wissen, daß Thron und Altar nicht beben würden, wo er stand. Etwas Alttestamentarisches witterte um seine Stirn, das Harte und Eifrige dunkler Zeiträume, wo der Mensch opfert vor dem Ungeheuren und Gottes Hand sichtbar den Blitzstrahl schleudert auf den Scheitel des Schuldigen. Knurrhahn konnte »ergrimmen in seinem Zorn« wie der Gott Israels, und es war von tieferer Bedeutung, daß ein vergilbter Kupferstich, Isaaks Opferung durch Abraham darstellend, an der Wand des Klassenraumes hing, in dem der jüngste Jahrgang zu seinen Füßen saß.
Auch wuchs sein Göttliches durch sein göttliches Kleid. Denn es war seiner Seele angemessen wie die Haut einem Antlitz. Er war ein »Schleuderer«, breit und kurz, mit gekrümmten Beinen. Seine Fäuste waren aus grauem Stein, und die Nägel erschienen als das Weiche in ihrer Haut. Sein Kopf war breit und schwer, das schwarze Haar in die Stirne fallend, der gewaltige Bart bis zu den Augen wuchernd. Ohnmächtig flohen die Ohren aus der drohenden Wildnis, und mehr als eines Kindes Augen hatten schaudernd um seinen wirren Scheitel getastet, ob der dunklen Hörner Spitzen nicht sichtbar seien über dem Stierhaupt.
Zu den Füßen dieses dunklen Gottes saß nun der kleine Johannes. Gina hatte ihm gesagt, daß er zunächst hier zur Schule gehen müsse, weil sie sich noch fürchte, ihn zur Stadt zu schicken, mit den »Beiden« zusammen, und Johannes hatte es schweigend aufgenommen. Erst nach ein paar Stunden hatte er mit abgewendetem Blick gefragt: »Da sind viele, Mutter, ja?« Und Gina, ohne am Sinn seiner Frage zu zweifeln, hatte bejaht. Eines Nachmittags war sie mit ihm zur Anmeldung gegangen, und es war ohne besonderes Unglück verlaufen. Knurrhahn war gemessen gewesen, ja von jener schweren Feierlichkeit, die den Protokollen eines Mordes oder einer kleinen Hinrichtung zukommt. »Wir werden also auch diesem kleinen Erdenbürger den lebendigen Odem einblasen«, hatte er abschließend gesagt. Johannes hatte still dagesessen, die Hände gefaltet, und ruhige Antworten gegeben. Nur daß sein Atem ein wenig schwer war, hatte Gina gemerkt. Und als sie zurückgingen, hatte er sich mehrmals umgedreht, als fürchte er die Allgegenwart des dunklen Gottes. Aber gesagt hatte er nichts.
Die Schule lag eine Viertelstunde von der Siedlung entfernt, in einem Dorfe, das Johannes das »graue Dorf« nannte. Der Weg führte über Feld, war ein Weg wie viele Wege, weder fröhlich noch traurig, und hatte nur in seiner Mitte das Lauern des Bösen. Dort lief auf einer Seite eine Hecke von niedrigen Fichten, dahinter war zu Füßen einer Kiesgrube ein wüstes Feld und auf ihm der verfallene Brunnen, in dem Johannes sein Antlitz erblickt hatte. Er hatte nicht gewünscht, daß die Mutter ihn begleite, und am ersten Morgen stand er ein Stück vor der Hecke und sah mit hoffnungslosen Augen den grauen Weg entlang. Dort gingen sie vor ihm, Gefährten seines Leides, der Sohn des Bahnmeisters und der Sohn des Kaufmanns, beide an der Hand ihrer Mutter, wie kleine Fohlen neben einem Wagen. Wenn er riefe, würden sie stehenbleiben und auf ihn warten. Aber er wollte nicht rufen.
›Ich will herumgehen, über das offene Feld‹, dachte er und setzte einen Fuß langsam vor den andern. ›Es ist feige‹, dachte er weiter, ›und wenn der Schwarzbart hinter der Hecke steht, wird er sich sein Teil denken.‹ Wieder ein Schritt auf dem bösen Weg, aus dessen Geleisen es zu grinsen schien. ›Ich könnte laufen, aber es würde nicht gut aussehen, und die Geleise laufen mit … alles läuft mit, Hecke, Felder, die Tage, das ganze Leben …‹ Er lief nicht, er ging langsam, ganz langsam die Hecke entlang, den Blick geradeaus gerichtet, zwischen den beiden Geleisen, die ihn hielten wie die Messer einer Maschine. Er fühlte sich nicht als ein Held, nicht als ein Feiger. Sein Herz schlug wie ein Hammer auf eine Wunde, und er ging so dumpf wie eine Maschine, deren Triebwerk zittert und stirbt.
Hinter der Hecke saß er ein wenig auf der Böschung und sah den Weg zurück, sah sich dort gehen, klein und armselig, und zog die Tafel heraus und machte eine Zeichnung davon, Hecke, Weg und Feld und eine kleine, verlorene Gestalt. Es war nun leichter, als er es in dem blassen Weiß vor sich sah, auf dunklem Grunde, umgekehrt gleichsam, so daß auch der Schmerzensgehalt der Stunde sich umzukehren schien in etwas, das hell und ganz anders war. ›Alles was man zeichnet, wird leichter‹, dachte er fast fröhlich. Dann schrieb er mit kleinen, noch ungelenken Buchstaben darunter: »Der Weg nach Golgatha, das da heißt die Schädelstätte.« Er betrachtete es noch einmal, stand auf, von einer Last befreit, und ging nun eilig nach dem grauen Dorf, ohne Vordermänner und ohne jemanden, der hinter ihm kam. Die beiden Frauen, die noch auf dem Schulhof standen, zeigten ihm sorgenvoll die Tür der Klasse, und er ging schweigend hinein.
Der Gott Abraham starrte ihm von seinem Pult entgegen. Alles andre schien Johannes auf den Knien zu liegen. ›Sie sind Käfer, die sich tot stellen‹, dachte er schnell, ›und das Untier blies seinen Atem über sie hin …‹ »Guten Tag«, sagte er leise vor dem Pult. Knurrhahn starrte ihn an, als sei er ein Zaunpfahl, der mitten auf einer Wiese zu sprechen beginne. Es war ein langes Schweigen, und Johannes hörte den ersterbenden Hauch von Seufzern in seinem Rücken. ›So viele‹, dachte er, ›so schrecklich viele …‹
Dann hob sich eine Stimme aus dem Abgrund der Erde – ›er hat einen Keller in sich‹, dachte Johannes –, eine Stimme, die gleich einer rollenden Kugel auf langen Hängen war, vor der Türen aufsprangen, hallend und dröhnend, und die näher, immer näher kam, bis die Wände bebten und die Fenster erzitterten. »Ist man da?« fragte die Stimme. »Ist man angelangt? Ist man eingetroffen?« – »Ja«, sagt Johannes. Erneutes Schweigen. Gott schwieg, da ein Mensch die Stimme zu ihm erhob. Es war das Schweigen göttlicher Verblüffung. Dann hob er das Schwert des Gerichtes und fuhr prüfend die Schneide entlang. »Gott sei dir gnädig!« sagte er bedeutungsvoll. Das übrige war Ahnung und Schweigen. Dann stieß er die Steinfaust verächtlich gegen die vorderste Bank, und Johannes stolperte hinein wie in ein kleines Haus. Die Gesichter der beiden »Siedler« schimmerten ihm blaß entgegen wie ertränkte Steine. Dann hob er die Augen zum Berge Sinai, und das neue Leben begann.
Es begann mit den Gesetzestafeln, und auf ihnen stand geschrieben: »Wer sich untersteht …« Es waren viele Tafeln, und Johannes behielt sie nicht alle. Es war ein Berg, ein Gebirge, und es stürzte sich über ihn und begrub ihn dröhnend. Und danach begann es mit der Schöpfungsgeschichte, und die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Er hörte Stimmen hinter sich, die antworteten, wenn sie gefragt wurden, aber er konnte sie nicht sehen. Es waren hohe und tiefe, zitternde und in Verzweiflung schreiende, aber es war, als läge eine Steinplatte über jeder von ihnen und als erklängen sie bewußtlos, sobald Knurrhahn eine seiner Erzkugeln auf sie schleuderte. Vielleicht waren es kleine Tiere, die dort kauerten, verzaubert und hilflos, vielleicht waren es kleine Holzfiguren, wie der Großvater sie schnitzte, und wenn man ihren Arm bewegte, rief es klagend aus dem hölzernen Leib. Johannes konnte sich nicht umdrehen, weil er die Augen nicht von dem Bartgestrüpp wenden konnte, in dem irgendwo ein unermeßlich tiefer Brunnen war. Er konnte es nicht, und kein lebendiges Wesen würde es können.
Aber dann nieste der kleine Wirtulla, der Sohn des Bahnmeisters, der neben Johannes saß. Er nieste laut und ganz unvermutet, und es war wie eine Explosion in einer Kirche. Johannes atmete nicht, und er fühlte, daß niemand atmete. Knurrhahn beugte sich auf seinem Berge und starrte auf die Revolution seiner Erde. Der kleine Wirtulla stöhnte unter diesem Blick, aber er nieste ein zweites Mal. Er hatte einen kleinen Körper und einen großen Kopf, und der Kopf schien ein Gewölbe, das den Donner eines Schusses tausendfältig brach und sammelte. Johannes sah Tränen auf den Wangen seines »Nebenmannes« und eine Greisenfalte um seinen Kindermund. Er fühlte den brennenden Wunsch, selbst niesen zu können, noch lauter und verruchter als jener, aber er konnte es nicht.
Und dann kam das dritte Mal, und es war der Inbegriff allen Grauens. Und dann winkte Knurrhahn. Er hob seine breite Hand und krümmte den Zeigefinger, und in dieser Andeutung einer Bewegung lagen Urteil, Verdammnis und Tod. Der kleine Bahnmeistersohn stolperte aus der Bank, und dabei klammerten seine verstörten Augen sich an Johannes' Antlitz, wie die Augen eines zum Richtplatz Geführten noch einmal einen blühenden Baum umklammern. Und Johannes fing diesen Blick auf und erkannte ihn. Er war niemals so angesehen worden, denn er hatte nicht Mensch noch Tier in Todesnot gesehen, und es erfüllte sich in ihm gleichsam das Wunder der Kreatur. Er liebte seine Mutter und liebte Ledo, aber sie waren einmalig auf der Welt, und er liebte sie um des Einmaligen willen. Hier aber schlug das »Viele« zum erstenmal den Mantel von seinem Leide zurück und sah ihn an, gerade ihn, wie man auf Christus am Kreuze blickt. Er selbst würde niemals auf jemanden so geblickt haben, und er fühlte eine leise Bedrängung, nicht frei von Peinlichkeit, als hielte ein Kranker sich an seinem Kleide fest, oder ein Bettler oder ein Verzweifelter. Die Gebärde riß ihn zu den »Vielen«, sehr gegen seinen Willen, aber sie erfüllte ihn auch mit der Erschütterung des Gemeinsamen, die er zum erstenmal empfand. »Jonathan«, sagte er ganz leise, und der geheimnisvolle Klang des ohne Sinn gesprochenen Wortes berauschte ihn mit Glück und Schmerz.
»Hosentrompeter!« brüllte Knurrhahn zu seinem Opfer hernieder. »Unterstehst du dich, zu meutern?« Aber bevor eine Antwort erfolgte, geschah etwas Schreckliches. Johannes sah, daß auf den weißen Dielen, wo der Gerichtete stand, etwas Fremdes erschien, etwas unfaßbar Wachsendes, sich Vergrößerndes, sich fließend Ausbreitendes. Er starrte fassungslos auf die Erscheinung, halb von Ekel erfüllt, halb von Grauen. Aber sie war da. Er sah sie, die vorderen Bänke sahen sie, und zuletzt sah Knurrhahn sie. Sein Mund stand offen, eine gähnende Höhle im Waldesdickicht, seine Stirn wurde Stein, seine Augen Glas: ein Gott sah in sein Heiligtum hernieder und sah, daß ein Tier vor den Altären seine Notdurft verrichtete. »Schwein!« schrie er, »Schwein! du …« Aber bevor er vom Pulte niederfuhr, lief der kleine Bahnmeistersohn weinend, jammernd, heulend durch den erstorbenen Raum zur Tür, riß sie auf und verwehte, verscholl irgendwo in der lebendigen Welt, Knurrhahn mit geschwungenem Tröster hinterdrein, und seine Apostrophe des Grauens erklang wie im Nebel verbotener Haine und blutiger Opfer.
Niemand rührte sich, niemand sprach. Nur die Bewohner der vorderen Bänke starrten unbeweglich auf den kleinen See der Todesangst, der nun in bedrückender Verlassenheit auf den weißen Dielen lag, ein stummer Zeuge unerhörten Frevels, ein Blutfleck auf einer ungesühnten und verlassenen Schwelle.
»Dies ist ein Schlachthaus«, sagte Johannes laut, und alle Augen wandten sich aus dem Grauen dieses Morgens zu ihm, als habe eine Bank zu sprechen begonnen und klettere nun am Pult empor, um auf des lieben Gottes Haupt zu tanzen.
Nach einer Weile erschien Knurrhahn, schwer atmend, allein. Er ließ den Tröster auf einige Schultern fallen, deren gebeugte Demut ihm nicht genügend erschien, stieg auf sein Pult, überschaute seine Erde und hielt eine Ansprache an die »Schweine«, deren Donner sich überrollten, deren Worte von den verstörten Stirnen nicht mehr gefaßt wurden gleich einem regenübersättigten Acker, aber deren Klang Unheil, Vernichtung, Zerschmetterung bedeutete.
Und darauf nahm die Schöpfung der Erde aus dem Chaos ihren Fortgang.
Es war nichts Aufreizendes an Johannes, nichts Lautes, Widersetzliches, sich Empörendes. Aber schon die erste Stunde entschied das Los seines Lebens an dieser Stätte, entschied, daß er auffiel. Nicht daß er zu spät gekommen war. Eher schon, daß er »Ja« gesagt hatte auf eine Frage, die nicht beantwortet werden durfte. Aber es war mehr als dieses. Er war in ein Reich der Steine getreten, wo jedem Lebendigen sein Raum und sein Platz, Atem, Haltung und Äußerung vorgeschrieben war. Hier konnte nur mit Steinen gleicher Größe gebaut werden, gleicher Farbe, gleichen Gewichtes. Und Johannes paßte nicht in die Norm. Schon seine Augen waren eine Kühnheit der Natur, seine Schläfen, seine Hände. Er war still und so unbeweglich wie die anderen, aber seine Unbeweglichkeit war keine blinde Erstarrung. Sie war eine Gebärde, und die Gebärde konnte wechseln. Unter dreißig hölzernen Karussellpferden war er ein lebendiges, das hölzern auszusehen beliebte, aber der nächste Augenblick konnte es über die Köpfe der andern hinwegrasen lassen, konnte Musik, Einnahme, Betrieb stören, zerschlagen, vernichten.
Mit dem untrüglichen Instinkt der Götter und Normalen erkannte Knurrhahn, daß hier Gefahr drohte, daß hier jemand saß, der das Feuer zu stehlen oder zu verachten imstande war, der gebeugt werden mußte, bevor er sich erhöbe. Daß hier nicht die lächerliche Empörung des Trotzes war, der Verschlagenheit oder der Wildheit nicht gezogenen Lebens, sondern daß »das andere« war, das auf die Gottheit der Norm als auf etwas Fremdes sah, ohne Haß, ohne Spott, nur mit den kühlen, leise befremdeten Augen einer anderen Welt, wo ein andrer Gott herrschte, wo man anders lachte und weinte. Knurrhahn fühlte alles dieses nicht als ein klares Ergebnis des Vergleichens, der Weltkenntnis oder der Seelenzergliederung. Er fühlte es, wie ein Tier die giftige Pflanze fühlt oder eine Wunde den sich eindrängenden Fremdkörper oder eine normale Familie das Künstlerblut in einem ihrer Kinder. Er konnte nicht zuschlagen, weil alles noch ein Nebel war, der Riff und Klippe verbarg. Aber er war auf der Hut, und daß er es sein mußte, erbitterte ihn.
Der kleine Johannes, unbewußt der Schmerzen, die er bereitete, saß still und gebeugt unter dem lähmenden Atem der fremden Welt. Hinter wie vor ihm war das Ungeheuer, eine Masse, deren Atem ihn begrub, und ein einzelner, der bereit schien, über ihn hinwegzustampfen wie eine Maschine. Daß der Platz neben ihm leer war, schien eine Erleichterung. Es war, als hätte man einen Gitterstab herausgebrochen und die ihm zugeteilte Atemmenge wäre verdoppelt worden. Aber der freie Platz war auch eine Bedrückung, denn das Schicksal des Geflohenen stand als eine stumme aber unaufhörliche Frage vor seiner Seele. Was der dunkle Mann fragte und sprach, war bekannt und gewußt, aber in diesem Raum veränderte sich das Gesicht des Bekannten, verdunkelte und verzerrte sich, so daß der Inhalt jenes großen und geheimnisvollen Geschehens etwas Gefährliches, fast Blutiges bekam und die Welt ganz plötzlich fremd und unheimlich wurde wie unter dem bösen Licht eines aufziehenden Gewitters.
Frau Knurrhahn läutete die Schulglocke, und der liebe Gott erhob sich auf seinem Berge. Frau Knurrhahn hatte etwas Zerfallendes an sich. Sie trug zu jeder Stunde des Tages Pantoffeln und ähnelte einer der Lederpuppen, die mit Sägemehl gefüllt sind und durch eine geheimnisvolle Öffnung langsam aber unaufhörlich ihre Lebenskraft verströmen. Sie hatte nicht ungestraft im Bannkreis ihres Gottes gelebt, und es war, als sei sie leise versengt von dem feurigen Atem des Gesetzgebers hinter dem brennenden Dornbusch.
Mitunter sah man ihr Gesicht hinter den Fensterscheiben der Küche, wie es auf das Leben der Pausen hinausblickte, und es erinnerte dann an das fremdartige Gesicht eines Tiefseefisches, der für kurze Zeit aufgestiegen war, aus dem Hintergrund eines Aquariums, und vor der beleuchteten Wand verharrte, bevor er wieder zurücksank in die Abgründe der Nacht und des Schweigens.
Das Läuten war schwach und kläglich, aber es war, als richte ein gebeugter Wald sich auf und werfe die Schneelast von sich ab. Knurrhahn ging noch einmal an den Bänken entlang, und er segnete diesen Gang, denn sein bohrender Blick fiel auf die Tafel des kleinen Johannes und entdeckte die Zeichnung mitsamt der rätselhaften Unterschrift. »Was ist das?« Die qualvolle Frage des Katechismus gewann eine drohende Bedeutung in seinem Munde. »Ein Bild«, sagte Johannes. »Und dieses?« Johannes schwieg. »Und dieses? Wo ist die Schädelstätte?« – »Überall.«
In das unheimliche Schweigen bohrte sich der Finger des dritten »Siedlers«, des Kaufmannssohnes. »Er … er hat gesagt, daß dies hier ein Schlachthaus ist … als Sie draußen waren, Herr Lehrer!«
»Wunderbar«, flüsterte Knurrhahn, »höchst wunderbar … möchte man sagen, wie man dazu kommt? Möchte man das vielleicht?« Seine Hand schloß sich um Johannes' Oberarm, und Johannes wußte nun, weshalb alles so grauenvoll war. Er hatte die Hände vergessen.
»Weil es nach Blut riecht«, sagte er vor sich hin.
»Weil es nach Blut riecht …«, wiederholte Knurrhahn mechanisch. »Weil es nach Blut riecht …« Das Geschehen war so ungeheuerlich, daß die Normen versagten. Er ließ den Arm los und lehnte sich an die Fensterwand. »Du bist ein Verworfener«, flüsterte er fast, »ein Verruchter … Gott sei dir gnädig!« – »Hinaus!« brüllte er plötzlich. »Hinaus, ihr Schweine!« Und er stürzte sich mit geschwungenem Tröster auf die zerstiebende Schar. Als letzter, nachdenklich, die Augen auf die Dielen vor seinen Füßen gerichtet, ging Johannes langsam aus der Türe.
Er stand allein auf dem Hof. Der Instinkt zog einen Kreis um ihn. Knurrhahn hatte den Blitz über ihn gehoben, und es war gut, nicht zu nahe dabei zu sein. Es war ein Gesetz der Natur, das ungewußt in die Erscheinung trat. Gefahr stand über jeder Stunde, und Sicherheit lag in der Masse, in der Vielheit. Der Instinkt gebot, Erbse in einem Scheffel zu sein, Baum in einem Walde, Tropfen in einem Meer. Und es tat wohl, zu den Gerechten zu gehören, über die Brücke des neuen Lebens gegangen zu sein, ohne von der Peitsche getroffen worden zu sein. Man hatte Zoll gezahlt und Richtung gehalten, und die kleine Grausamkeit der Werdenden trank lustvoll aus dem Becher, der allen zukam außer dem Sünder.
Johannes empfand es, aber er empfand es als etwas Natürliches. Er hatte ein leises Bewußtsein kommender Schmerzen, aber er wußte auch, daß ihnen nicht zu entgehen war. Es würde wieder läuten und noch einmal. Dann würde die Hecke wiederkommen, und dann würde das andre da sein, die Mutter, Ledo und die Kammer, der Abend, die stillen Bäume, der Mond und der Schlaf. Und vorher würde er den Geflohenen suchen müssen, Jonathan, der in Wirklichkeit Klaus hieß, der einen so traurigen, großen Kopf hatte und so ertrunkene Augen.
Und der andre, der nun auf ihn zukam, als ob nichts gewesen wäre, hatte ihn angegeben. Er hieß Joseph, und Johannes dachte schnell an die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern, ob dort schon etwas zu finden sei, was dies erklären könnte. ›Er trug einen bunten Rock‹, dachte er, ›das ist es vielleicht‹, und er sah prüfend auf das etwas leuchtende Grün, mit dem der Näherkommende bekleidet war und das aus den unverkauften Schätzen der »Konfektionsabteilung« des Hauses Christian Martins stammen mußte.
Joseph besaß die Sicherheit eines kleinen Kommis in einem angesehenen Hause. Seine Bewegungen hatten etwas Rundes, Fließendes, von der Ware zum Ladentisch, vom Ladentisch zur Waage, von der Waage zur Rolle mit dem Einwickelpapier. Aber was einem jungen Mann noch anstehen mochte, wiewohl auch da das Ausgelöste, geordnet Reflexhafte der Bewegungen nicht ohne Peinlichkeit sein konnte, war bei einem Kinde erschreckend, als ob es einen Bart trüge oder irgendein Irrtum der Natur unheimlich in die Erscheinung träte. Er hatte einen schmalen Kopf mit eng anliegenden Ohren, als habe er sich soeben durch eine Mauerlücke gezwängt, und seine Oberlippe war zu kurz, so daß sein Mund etwas beständig Nagendes hatte.
»Was meinst du?« fragte er ohne Verlegenheit und richtete seine kleinen, grauen Augen auf einen Punkt der Mauer dicht neben Johannes' linkem Ohr. »Rügenwalder, erste Sorte … ob du mal probierst?« Und er hob ihm eine umfangreiche Semmel entgegen, zwischen deren beiden Hälften ein vielversprechender Zwischenraum rötlich ausgefüllt war. Die Hände waren rot vom winterlichen Frost im väterlichen Laden, und Johannes sah mit unkindlicher Schärfe, daß ihre Nägel nicht ganz sauber waren.
»Danke«, sagte er höflich und sah auf die nagende Oberlippe.
»Du denkst vielleicht, ich habe gepetzt?« meinte Joseph und biß ungerührt in die verschmähte Semmel. »Nischt zu machen. ›Ehrliche Bedienung, Joseph!‹ sagt mein Vater. ›Reell, streng reell!‹ Siehst du, er mußte wissen, was los war. Und ich wußte, daß er dir nichts tut. Er hat Angst vor dir, nicht wahr?«
»Warst du in einer Falle heute?« fragte Johannes nach einer Weile.
»Falle? Warum?« Er holte mit einer verwirrend langen Zunge ein entflohenes Stück der prima Rügenwalder von seiner Wange zurück und sah den Fragenden aufmerksam an.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Johannes nachdenklich. »Du siehst so beklemmt aus … wie ein Iltis.«
Joseph hielt den rötlichen Zeigefinger an die Stirne.
»Hops?« fragte er unerschüttert. Dann steckte er die Hände in die Taschen und schlenkerte sorglos von dem Gezeichneten in den Kreis der Gerechten zurück.
›Wenn jetzt der Wassermann käme‹, dachte Johannes, ›mit seinem Fischwagen … ob ich aufsteigen würde hinter dem Zaun und mitfahren? Nein, ich würde es nicht tun. Ich möchte, aber ich würde nicht … Theodor würde schon eine Fensterscheibe zerschossen haben oder einen Frosch auf das Pult gesetzt … Theodor kann das, aber ich kann das nicht. Ich kann nur sagen, daß dies ein Schlachthaus ist, oder eine Schädelstätte. Aber ich kann nichts tun. Ich bin zu artig, das ist es, und … und zu feige. Überall ist eine Hecke, das ist es …‹ Und mit schweren Gedanken ging er hinein.
Der zweite Lehrer hieß Bonekamp. Es war ein alkoholischer und deshalb ein gefährlicher Name, aber er saß auf seinem Träger wie ein fremder Hut, vertauscht und nicht mehr loszuwerden. Bonekamp war groß und schlank, von leise gebückter Haltung, und Johannes sah sofort, daß in seinem blonden Haar immer der letzte Traum der Nacht hing. Er kannte den Lehrer, weil er mitunter am Abend durch die Siedlung ging, die Hände auf dem Rücken und ohne Hut. Zuerst hatte er gedacht, daß es ein Jünger sei, den Christus vergessen hätte, bis er seinen Irrtum eingesehen hätte. Aber ein Schimmer jener ersten Vorstellung haftete noch um die hohe, ein wenig ängstliche Stirn, und Johannes atmete leichter unter diesem Stellvertreter Gottes. Auch fühlte er, daß der Lehrer sich seiner erinnerte, und der Blick der wie von einer Wanderung heimkehrenden Augen streifte so scheu über ihn wie über einen geheimen Mitwisser geliebter und fremdartiger Dinge.
Auch die Klasse atmete leichter. Sie atmete bald so leicht, daß das Geräusch weithin zu vernehmen war. Die »Führer des Volkes« traten langsam in die Erscheinung, noch ein wenig benommen von den Donnerschlägen Jehovas, aber mit untrüglichem Instinkt für den Bogen des Friedens, der ohne Grenzen gespannt schien für die Heiterkeit ihres Lebens. Bonekamp lächelte und rief lächelnd zur Ordnung, aber Johannes allein sah, daß dies Lächeln über einer leisen Qual zitterte. Die Geheimnisse der Macht und der Ohnmacht schlossen sich in dieser Stunde vor ihm auf. Sie erfüllten ihn mit einem leisen Neid gegen die Steinfäuste Knurrhahns, und den Thron, vor dem der Staub stille stand, aber sie erfüllten ihn auch mit einem schmerzlichen Glück des Wissens, daß er Brüder auf der Erde haben müsse und daß man groß und sogar ein Lehrer werden könne, auch wenn man »so« sei und Hände habe, die nur für eine Flöte oder eine Geige geschaffen schienen.
Johannes mußte ein Märchen erzählen, und es war für eine Weile ganz still im Raum, als erhebe ein fremder Vogel seinen seltsamen und schmerzlichen Gesang. Er sah den Lehrer an und sah, daß dessen Blick sich mitunter vor dem seinen niederschlug. ›Ich will etwas Großes für ihn tun‹, dachte er zwischen seinen Worten, und ein reiches Glück strömte unaufhaltsam in ihn hinein. Er wußte nicht, daß eine zarte Hand an den Rand seiner Erfülltheit gerührt hatte und daß es die Seligkeit des Überfließens war, die ihn durchschauerte.
»Das war schön, Johannes«, sagte der Lehrer, als er geendet hatte. Jemand hustete auf etwas betonte Weise, und Joseph, einen Finger in der Nase, nickte ihm herablassend zu. Dann entspannte sich das Antlitz der kleinen Gemeinde, und die erste Papierkugel kam aus dem Hintergrund gegen die Tafel geschossen, prallte hörbar ab und landete nach seltsamen Gesetzen in des kleinen Wirtulla Qualensee, wo sie nach mehreren Rundfahrten zur Ruhe kam. Und dann war es so, wie es allerorten ist, wo eine Schar von Rechtlosen und Ohnmächtigen ein Opfer findet, das jedem einzelnen von ihnen überlegen ist, aber das vor dem Grauen der Menge sich verbirgt: ein Tier, ein Betrunkener, ein Irrer, und jeder Fremde an Leib und Seele. Und vielleicht war es gerade die harte Zucht der elterlichen Häuser und der versengende Atem der ersten Stunde, der es bewirkte, daß schon am ersten Schultage in den noch nachzitternden Seelen dieser Kleinsten der Dämon sich entfesselte, der nicht mehr war als ein Dämon des Lärms und der geschützten Macht, der Ordnungslosigkeit und des Sklaventriumphes, aber doch ein Dämon, mit funkelnden Augen und gespannten Sehnen, der sich an eigener Kühnheit berauschte und an seinem mikroskopischen Heldentum.
Und der Machtrausch der vielen traf Johannes schwerer als der Machtrausch des einen. Dieser war ein Blitz, der sichtbar niederschlug und tötete, aber jenes war ein brennender Ofen, dessen Wände überall waren, mehr und mehr erglühend, ein Moloch, der Menschen fraß und nichts von ihnen übrig ließ als einen Rauch, den der Wind verwehte.
Herr Bonekamp schlug mit der Hand auf das Pult und rief die Sünder vor. Aber sie stießen sich gegenseitig in den Rücken, und es verschlimmerte die Lage. Er erhob die Stimme zur Mahnung, selbst zur Drohung, aber nachahmende Stimmen ließen ihn verstummen. Da nahm er die Hände unter das Pult und sah schweigend und traurig in all die Grausamkeit hinein, und Johannes allein wußte, daß er die Hände in ihrer Verborgenheit rang, diese Hände, die an allem schuld waren, weil es Geigenhände waren und keine Steinhände. Und von seinem kleinen Platz auf der kleinen Bank sah Johannes in diesen Minuten weit in das Kommende hinaus, viel weiter, als dem Wirklichen des Augenblicks angemessen war. Was er sah, war ein unendliches Feld, wüst und leer, über dem ein Licht aufstieg wie eine Leuchtkugel. Und in ihrem Schein von totenhaftem Weiß sah er Hecken und verfallene Brunnen und in den Schatten ein dunkles Sichregen von unsichtbarem Gewürm. Aber durch alles dieses hindurch, weit voneinander getrennt und gleichsam verloren in dem ungeheuren Raum, sah er aufrecht ein paar Gestalten gehen, den Rücken ihm zugewendet und die unsichtbaren Stirnen auf eine seltsam tapfere Weise zum Licht des Horizontes gehoben. ›Das sind die Flötenspieler‹, dachte Johannes, ›und sie gehen in das neue Land.‹
Und dieses Traumbild war von einer so bezwingenden Wirklichkeit, so geheimnisvoll in seiner Leere und Belebtheit, so bedeutsam und überredend in seinem Künftigen an das Bekannte des Vergangenen geknüpft, daß er erst erwachte, als Knurrhahn schon gleich einem erbarmungslosen Sieger über das gemähte Schlachtfeld schritt. Das Lied der Freiheit war bis an seine Tür gedrungen, die gesprengten Fesseln hatten mißtönend und unheilverkündend sein Ohr berührt, und er war lautlos erschienen, um die »Hydra« zu erwürgen. Sein Gericht war erbarmungslos, und als er neben dem Pult stand, gerade unter dem Bilde von Isaaks Opferung, war jedem lebenden Wesen in diesem Raum, mit Einschluß Bonekamps, unverrückbar klar, daß hier die Allmacht war und die Allgegenwart, die Rache bis ins dritte und vierte Glied, und daß Widerstand, Auflehnung und Gewalttat in seinem Bannkreis der Ohnmacht und dem Wahnsinn von Händen glich, die den niederflammenden Blitz halten, ablenken und zerbrechen wollten.
Noch einen Blick der Verachtung ließ Knurrhahn über die sich krümmende »Rotte« gleiten. Dann sah er Bonekamp an. »Und Sie?« fragte er. Johannes sah das Wort wie einen Eispfeil aus dem Urwald schnellen und den glitzernden Schaft in des Angeredeten Herzen zittern.
Bonekamp schwieg, aber er lächelte, grundlos, traurig, das Lächeln eines gequälten Knechtes. Knurrhahn wiederholte die Frage nicht mit Worten, aber seine steinerne Hand blieb gleichsam um den zitternden Schaft des Pfeiles gelegt und preßte die Spitze immer tiefer und bohrender in das zitternde Herz.
Es war das Schlimmste, was Johannes an diesem schlimmen Tage geschah. Es war, als stände der Gott der Vernichtung über den Toten seines Schlachtfeldes und sähe schweigend auf den Gekreuzigten, ob er ihn nicht dreifach kreuzigen könnte, bevor er spräche: »Es ist vollbracht.« Und Abraham hob das gekrümmte Messer über seinem Sohne, und es schien Johannes, als rinne an der grauen und verrußten Wand ein schmaler Streifen Blutes herunter und tropfe mit leiser und unaufhörlicher Klage auf die Dielen hernieder. Und er wußte, daß alles Bisherige nichts als ein lächerlicher Traum gewesen war, die »Beiden«, das zitternde Spiegelbild im Brunnen, der Sturz über die Fußbank. Daß nun erst die Maschine ihn hatte in einem grauenvoll einsamen Gewölbe, wo die Mutter nicht war und nicht Ledo, nur er allein, so allein wie ein Stein unter der Erde; daß Flötenspiel und Geschichtenaufschreiben hier nichts galt; daß hier Dinge galten, die er nicht besaß und nie besitzen würde und daß das Leben etwas Schweres und Drohendes über alle Maßen war.
Und als es zu Ende war, packte er seinen Tornister wie ein alter Mann und ging langsam aus dem Dorfe hinaus. Er wollte weder fortlaufen wie der kleine Bahnmeistersohn noch seine Mutter bitten, nicht mehr zur Schule gehen zu brauchen. Er wußte wohl, daß auch seine Mutter sich gebeugt hatte und daß das Gesetz des Blutes ihn zwang, den Fuß auf die zweite Stufe zu setzen, nachdem man ihn auf die erste gehoben hatte. Aber sein Gesicht war seltsam verändert, als er über die besonnten Felder ging, als habe ein Frost es angerührt und es sei nun spröde und fast ein wenig starr geworden, bereit, sich vom erschütterten Leben lautlos zu lösen.
Auf dem ersten Grabenrand saß Joseph und erwartete ihn. Er hielt wieder eine Semmel mit seiner Lieblingswurst in den rötlichen Händen, und es schien, als sei sein Tornister nicht mit Büchern gefüllt, sondern mit einem unerschöpflichen Vorrat dieses runden und weichlichen Gebäcks, und selbst der Schwamm, der an einem Bindfaden in die Freiheit hinausschaukelte, schien nicht ein Schwamm zu sein, sondern ein Wurstzipfel, der gleich einer Erkennungsmarke oder einem Musterschutzzeichen die Firma weithin vertrat.
»Das war eine Sache, Mensch, was?« sagte er behaglich. »Wie er zitterte, hast du gesehen? Er ist nur ein ›junger Mann‹, weiter nichts. Aber wir sind fein durchgekommen. Man muß sich mit dem Alten gut stellen, das ist die Hauptsache. Ich werde ›ihr‹ eine Wurst mitnehmen … Möchtest du jetzt vielleicht probieren?«
Johannes ging schweigend weiter, und Joseph, nicht ohne seine Mißbilligung zu äußern, schlenderte selbstverständlich an seiner Seite dahin.
»Du kannst ruhig allein gehen«, sagte Johannes stehenbleibend.
»Wieso?«
»Ich will nicht mit dir gehen. Ich gehe immer allein.«
Joseph spuckte mit großer Sicherheit auf einen Stein am Wegrande und nahm dann erst Notiz von seiner Ausstoßung. »Daß bei dir eine Schraube los ist, weiß ja jeder«, sagte er dann mit ruhiger Feststellung. »Aber es ist besser, wenn man sich mit mir nicht auflegt. Das wirst du schon sehen.« Er nagte noch ein wenig mit seiner kurzen Oberlippe im leeren Raum, als erwarte er eine Wirkung seiner Drohung, und ging dann behaglich den Heckenweg hinunter, die Hände in den Taschen und den Kopf wie ein aufmerksamer Vogel von einer Seite zur anderen wendend. Sein buntes Röcklein leuchtete, und der Schwamm schaukelte bei jedem Schritt auf seinem Rücken hin und her.
Die Hecke hatte für Johannes an Grauen verloren, und als es hinter den Fichten raschelte und der kleine Wirtulla herausgekrochen kam, welkes Laub auf seinem großen Kopf und trockne Nadeln auf seinem grauen Anzug, fühlte Johannes sein Herz wohl schneller schlagen, aber er war nicht mehr versucht, auf das freie Feld zu fliehen.
»Ich habe gewartet«, sagte Klaus, verlegen auf seine großen Hände blickend, die ihn überall behinderten. »Er wollte mich totschlagen …« Sein großer Kopf war auf die Brust herabgesunken, und wenn er die Arme ausgebreitet hätte, würde er wie ein trauriger, ein wenig verregneter Kauz ausgesehen haben, den man an ein Scheunentor genagelt hätte, und auch seine kurzen Beine, die von den grauen Hosen bis zur halben Wade umhüllt wurden, sahen gleichsam »befiedert« aus und schienen trübselig an seinem Körper herabzuhängen. Seine blauen Augen standen etwas zu weit hervor und sahen aus, als seien sie auf das runde Gesicht nur lose angeheftet, und verstärkten so das Gefühl, als könne man die Hand von hinten in seinen hohlen Körper hineinstecken wie in eine Kasperlefigur und sie über den Rand eines kleinen Theaters hinausheben, damit sie mit runden, traurigen Augen in ein vorgestelltes und kampferfülltes Leben blicke.
Johannes sah dies alles, und wiewohl er auch jetzt das Gefühl von etwas Peinlichem, sich an ihn Klammernden hatte, empfand er auch zum erstenmal das leise Glück eines Beschützers und schüttelte wie ein Erwachsener den Kopf. »Das ist Unsinn«, sagte er ernst. »Auch Knurrhahn darf nicht totschlagen. Er war ganz außer Atem, und die Hörner waren ihm etwas gewachsen. Aber morgen ist alles gut. Und bei Bonekamp wirst du es ganz schön haben. Nun wollen wir gehen.«
Aber während des ganzen Weges schüttelte Klaus sorgenvoll seinen schweren Kopf und sah sich unablässig um, ob der Gott der Rache nicht hinter ihm herkomme wie die Glocke hinter dem bösen Kinde.
»Wenn sie mich noch mehr schlägt, muß ich ins Wasser gehen«, sagte er nach einer Weile.
»Wer soll dich schlagen? Was redest du denn?«
»Sie … ach so, meine Mutter, weißt du. Sie schlägt mich jeden Morgen. Siehst du, das ist das Unglück, du hast es ja heute gesehen. Ich träume in der Nacht, schreckliche Dinge, und dann, ja, dann wache ich auf und dann … dann ist eben alles naß. Es ist so schrecklich, weißt du. Sie sagen, es kommt davon, daß man ins Feuer sieht. Und ich passe schon so auf, ich sehe nicht einmal in die Lampe. Aber es hilft nichts, und jeden Morgen schlägt sie mich. Sie hat einen Riemen, und er zieht an, das kann ich dir sagen … ich bin zu früh geboren, das ist das Ganze.«
»Zu früh …«
»Ja, die Frau vom Weichensteller hat es einmal gesagt. Kennst du einen, der auch zu früh geboren ist?«
»Nein«, sagte Johannes verständnislos. »Ich will meine Mutter fragen.«
»Siehst du, alle sind richtig geboren. Zur Zeit, weißt du. Aber bei mir war es zu früh, und davon kommt alles.«
Er öffnete und schloß seine großen Hände unaufhörlich, als könnte er damit seine vorzeitige Geburt ungeschehen machen, und die Falten auf seiner schweren Stirn waren so sorgenvoll wie bei einem jungen Teckel, der in die Rätsel des Daseins blickt.
Joseph stand schon vor dem Schaufenster des väterlichen Ladens, die Hand mit Backpflaumen gefüllt, und ließ die Steine kunstvoll über die Straße fliegen. »Hosenflöter«, rief er leutselig. »Au Junge, morgen gibt's aber vielleicht was! Er hat schon einen Nagel eingeschlagen, wo du aufgehängt wirst …«
»Siehst du«, sagte Klaus leise, »so könnte ich vielleicht auch sein, wenn das mit der Geburt nicht sein möchte.«
»Erzähle es ruhig zu Hause«, sagte Johannes, bevor sie sich trennten. »Vielleicht so, daß dein Vater dabei ist. Und wenn sie wieder den Riemen nimmt, dann sage es mir morgen. Ich werde dann zu ihr hingehen.«
Es schien, als erstarrte Klaus in dieser ungeheuerlichen Vorstellung. »Du willst … zu ihr … weißt du, daß sie dich totschlagen wird?«
»Also mache es so«, erwiderte Johannes ruhig. –
»Nun, kleiner Johannes«, sagte Gina behutsam, »der Anfang ist immer das Schwerste.«
Er sah nachdenklich in ihr Gesicht. »Der Anfang ist schwer«, meinte er endlich, »und das Ende ist wahrscheinlich auch schwer, wie bei einem Lied … Aber mir scheint, Mutter, was dazwischen ist, das ist das Schwerste.«
Und weiter sagte er nichts von seinem ersten Schultage.