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11

Es war nicht, wie Johannes gedacht hatte. Keine tote Ebene, kein erbarmungslos gekanteter Würfel, kein Zugang unter der Erde. Es war viel nüchterner und wirklicher. Ein grauer Gebäudehaufen, an den Rand einer kleinen Stadt gefügt, von Mauern umgeben, von Toren geschlossen, von Beamten in Uniform bewacht. Und das Erschreckende war, daß dieses Lebensnahe und gleichsam Alltägliche um vieles furchtbarer war als die Vorstellung seiner Phantasie. Ein Toter auf einem leeren Felde mochte ein schwerer Anblick sein, aber ein Toter in den Straßen einer Stadt, bei hellem Tage, von Wagen berührt, von Menschen gestreift, von Tieren betrachtet, war eine grauenhafte Schändung, mit jenem Einsamen verglichen, um den die Gräser wehten und das Schweigen des Todes lautlos stand.

Und dies hier war das Erschlagene, das vor aller Augen lag. Denn es gab Dinge, die durch Zaun oder Mauer nicht verborgen wurden. Die Straße lief hier vorbei, von hohen Pappeln begleitet, und Johannes sah, daß ein großer Teil der Fenster auf diese himmelanstürmenden Bäume hinaussah; daß hinter jedem dieser Fenster wahrscheinlich zwei Augen dem Zug dieser grünen Lanzen folgten; daß in den Nächten das Rauschen dieser ›jenseitigen Bäume‹ mit einer furchtbaren Deutlichkeit über die Herzen der Schlafenden gehen mußte, dieser Schlafenden, die wahrscheinlich niemals schliefen, auch im Schlafe nicht, und an deren geschlossene Augenlider alles stieß, was jenseits der Mauer war, besonders aber der Wind, der große Atem der Freiheit.

Johannes stand an einen der hohen Bäume gelehnt, bevor er an dem Tor zu läuten wagte. Noch einmal verglich er das Bild seines Traumes mit der Wirklichkeit, die vor ihm lag, und es schien ihm, als sei der Traum barmherziger gewesen. Dort waren nicht Bäume, Wolken oder Steine gewesen. Das Haus der Toten hatte in einem toten Land gelegen. Nun aber brauchte er nur die Hand zu heben, zu jenem abgenutzten Glockengriff, das Tor sprang auf, und mit einem einzigen Schritt war man aus dem Leben in das Reich der Toten geschritten. Nichts als eine Schwelle war, eine dünne eiserne Wand, und es war nicht zu denken, daß man diesen Schritt wieder zurücktun konnte, daß Tod und Leben gleich zwei Stuben waren, die man wechseln konnte nach Laune und Belieben.

›Auf das Evangelium‹, hörte er die flehende Stimme sprechen. ›Wenn sie dies gesehen hätte‹, dachte er, ›würde sie nicht vom Evangelium gesprochen haben … lachen wird er, schrecklich lachen. Er wird es hinausschreien durch die grauen Korridore, und alle werden es hören und lachen, die Beamten, die Gefangenen, ja, die Steine werden lachen in den unerschütterlichen Mauern, wenn hier vom Evangelium gesprochen wird …‹

Aber dann hob er die Hand zum Glockengriff. Er schrak zusammen, als es läutete, hell und blechern, als hätten die aber tausend Hände bereits die Seele aus dieser Glocke hinausgeläutet. Und es läutete schrecklich nahe, dicht hinter dem Tor, und hätte doch nur wie ein ersterbender Hauch aus der Tiefe der Erde kommen dürfen. Das furchtbar Alltägliche stand auch hier auf, als läute man an einer Ladentür und eine Stimme würde gleich fragen, was man wünsche.

Ein Beamter stand in der geöffneten Tür, und hinter ihm sprang wie aus einem Zauber die Flucht von Höfen, Mauern, Fenstern empor, eine Perspektive des Schrecklichen, die sich um den zitternden Blick herumbaute, daß das gleichmütige Gesicht im Vordergrunde ganz erlosch.

»Sie wünschen?« fragte eine Stimme, so unbeteiligt, als handle es sich um den Kauf eines Heftes oder einiger Schreibfedern.

Johannes reichte den Ausweis, den er durch die Vermittlung des Ministerialrats erhalten hatte.

Ein abwägender Blick, der gleichsam die Person des Wartenden, Johannes Karsten alias Zerrgiebel, eine Person mit einem negativen Vorzeichen, von der ehrfurchtgebietenden Größe der ministeriellen Bescheinigungen subtrahierte. »So so …«, sagte der Mann in Uniform, und dann führte er den »Subtraktionsrest« nicht ohne leutselige Freundlichkeit über den ersten Hof in ein graues Portal.

Johannes hatte die Augen nicht geschlossen, aber er hielt sie so starr vor sich auf etwas Unsichtbares gerichtet, daß alles was außerhalb dieser Sehachse war, im Dunkel blieb, in einem grauen und gestaltlosen Dunkel: Häuser, Höfe, Menschen, selbst Stimmen und Geräusche. Nur mitunter blitzte am Rand dieses Sehfeldes etwas auf, wie flatterndes Insekt am Rand eines Scheinwerferkegels: ein Türschild mit furchtbarer Deutlichkeit von Nummer und Namen, eine Bleistiftzeichnung auf gekalkter Korridorwand, die Hälfte eines Gesichtes, das unauffällig aber prüfend über seine Erscheinung tastete.

Ja, er möchte seinen … Vater sprechen. Zu allem anderen schüttelte er den Kopf.

Er mußte warten, und er lauschte. Er hatte nicht die Kraft, sich umzusehen, aber er lauschte in das leise Leben hinein, das durch die Wände rieselte, als gehe dort tief unter seinen Füßen der lautlose Gang einer ungeheuren Maschine, die unter der Erde, wo die Brunnen endeten, Wasser von Eimer zu Eimer schöpfe, eine sinnlose und dumpfe Tätigkeit, weil der letzte Eimer sich wieder an den ersten anschloß, eine Tätigkeit, die nur da sei, damit geballte Kraft sich nicht selbst verzehre, eine ungeheure Sanduhr, die alle drei Minuten sich wendete. Ein Schlüsselbund klirrte, eine Tür schlug zu, ein Schritt verlor sich im hallenden Echo steinerner Wände, stieg Treppen hinunter, Leitern, vertropfte, erstarb. Eine Stimme brach irgendwo aus dem Stein, eine eingemauerte Stimme, aus Mörtel und Ziegelstaub gleichsam sich herauswindend, schrie etwas in den leeren Raum hinaus, ein Wort, eine Reihe von Worten, gleichmäßig wie ein Hammer, und erstarb wieder, verschüttet von Eisen, Lehm, Türen, Decken, so daß das Schweigen wieder schrecklich in den Gängen stand.

»In drei Jahren …« Hatte sie nicht so gerufen, bis man sie wieder begraben hatte? Ihren lächelnden, lauernden Triumph der unerschütterlichen Gewißheit, der niederschlug wie der Eisenstempel einer Maschine? Und darunter sollte er nun seine Hand halten? Sollte den Stempel aus seinen ehernen Gelenken brechen, das Rad anhalten, die Stimme ersticken? Sie schwieg, aber in zehn Minuten, wenn er Auge in Auge mit ihr stehen würde, was anderes würde sie tun als lächeln? Und was anderes würde dieses Lächeln bedeuten als »in drei Jahren …«?

»Na, denn komm'n Sie man, junger Herr«, sagte eine Stimme mit einem Schlüsselbund.

Sie stiegen eine Treppe hinauf, deren Steinstufen so abgetreten waren, daß Johannes glaubte, Wasser müßte in den Höhlungen stehen können, und daß er sich dicht am Geländer hielt, weil er plötzlich die ganze Treppe mit Füßen erfüllt sah. Keine Körper waren darüber, keine Glieder, nur Füße, in schweren, genagelten Schuhen, mit einem grauen Stoffrest darüber, abgeschnitten wie von Messern einer ungeheuren Maschine. Hinauf gingen sie und hinunter, wie zwei Bänder, die gegeneinanderliefen. Nicht daß die einen froh und die andern traurig, die einen der Freiheit näher und die andern ihr ferner waren. Sondern sie gingen wie auf einer rollenden Treppe, ja wie eine Treppe selbst, und die Bewegung war ihr Leben. Johannes fühlte, daß es verurteilte Füße waren, zum Gehen verurteilt, zu einer Sinnlosigkeit des Gehens, und daß nichts gemessen wurde an ihnen als die Körner des Steins, die sie abtraten auf ihrem Wege. Nicht die Gutwilligkeit oder Froheit des Weges, nicht die Last, die Eile, der Schmerz, nur die Umdrehung des Rades wurde gemessen von unsichtbaren Augen, und vielleicht bei jedem tausendsten Male zerbröckelte ein Korn des Steines und ein Zeiger rückte unmerklich vor auf einem ungeheuren Kreise.

»Haben Sie man keine Angst, junger Herr«, sagte die Stimme wieder, »es gewöhnt sich an alles …«

Und dann traten sie ins Sprechzimmer, und Johannes wußte es, weil es auf dem weißen Türschild so stand. Ein zweiter Beamter saß drinnen an einem kahlen Tisch, und neben ihm stand ein Mensch in einer seltsamen grauen Kleidung … mit einer Affenjacke, würde Frau Pinnow gesagt haben … das Haar auf eine erschreckende Weise geschnitten. Es war ein gezeichneter Mensch, wie Johannes fühlte, bevor er noch erkannte, daß es Zerrgiebel war. Ein Mensch, der irgendwie aus dieser leise bebenden Tiefe hinaufgebracht worden war, aus dem bleichen Dämmerlicht, in dem die riesigen Stahlarme lautlos umeinandergriffen und die dunklen Treibriemen rauschend aus der Dunkelheit heranschossen, um in einer anderen Dunkelheit sich wieder um stählerne Wellen zu legen. Ein Mensch, der die steinerne Treppe hinaufgekommen war, in schweren, genagelten Schuhen, mit einem grauen Stoffrest darüber, und der sie wieder hinuntergehen würde, sobald er ›auf das Evangelium‹ geschworen haben würde.

»Guten Tag«, sagte Johannes leise, und dann hob er die Augen auf, um in sein Schicksal zu sehen.

Zerrgiebel lächelte, und in diesem Lächeln sah Johannes, daß er seine Schlacht verloren hatte. Denn dieses Lächeln wußte alles: die Stunde in dem dämmernden Raum mit den flehenden Augen der Angst und der Hoffnung, die Stunde bei Luther, die Stunde zwischen den Rosen. Das Lächeln hatte gewartet auf diesen Gesandten der belagerten Stadt, auf Angebot, auf Flehen, auf Beschwörung. Er war seines Sieges furchtbar gewiß, und er brauchte nichts als zu warten.

»Von wem?« fragte Zerrgiebel fröhlich.

»Weißt du es nicht?«

»Ausgeschlossen, mein edler Sohn! Ich weiß viel, aber wer von den drei Dutzend Leuten mit Patentgewissen die größte Angst gehabt hat, das kann selbst ich nicht wissen. Nur daß es eine ›Dame der Gesellschaft‹ ist, darauf kann ich Gift nehmen … Und was sollst du also hier?«

Der Beamte, nach einem Blick in Johannes' gequältes Gesicht, ging an eines der hohen Fenster und trommelte einen leisen Marsch auf den verstaubten Scheiben.

»Du mußt schwören«, sagte Johannes, so leise, daß nur seine Lippen sich zu bewegen schienen.

»Auf das Evangelium mußt du schwören, daß du sie nicht verraten wirst!«

Er zog den dünnen Band aus der Tasche seines Mantels, und das goldene Kreuz auf dem Einband leuchtete seltsam, wie er es gegen Zerrgiebel hob.

»Was hast du denn da?« fragte dieser neugierig. »Das Neue Testament? Sieh mal an … erinnerst du dich der trauten Familienstunden, Johannes, wo Theodor daraus zu lesen pflegte? Theodor, der sich nun von den Trebern nährt und der eine Grube für seinen Vater grub? Weißt du, wie die Lampe sang und der Wind in den Fichten rauschte? Das war eine köstliche Zeit, nicht wahr, Johannes?«

Die Querfalte zwischen seinen Augen zuckte, und ein böses Lächeln entstellte seinen nun glattrasierten Mund.

»Du mußt schwören«, wiederholte Johannes. »Ich kann nicht früher zurückgehen, als bis du geschworen hast.«

Die Finger schlangen sich ineinander und knackten auf eine unheildrohende Weise. »Was hat sie dir denn versprochen?« fragte er freundlich. »Du schweigst? Du windest dich? Sieh mal an! Der Minne Lohn wahrscheinlich, mein keuscher Johannes, wie? Ja, da ist es wohl zu verstehen, daß du den weiten Weg zu deines Vaters Hause gegangen bist … ein geräumiges Haus übrigens, wie? Der Minne Lohn, sieh mal an! Ja, weißt du, in solchen Fällen opfern die Frauen schon eine ganze Menge, das verstehe ich schon … und du mit deinen komischen Augen bist das Opfer schon wert … erkenne an, Johannes, daß ich dir zu einer großen Karriere verhelfe, wie?«

›Ich habe keinen Dolch mitgebracht‹, dachte Johannes. ›Ich hätte wissen müssen, daß ich ihn töten mußte. Es ist der einzige Weg, der einzige …« Er mußte sich an der Lehne des Stuhles halten, um nicht umzusinken, aber er ließ seine Augen nicht von dem Gesicht, in dem eine immer wildere Freude aufzuflammen schien. »Was soll ich denn schwören, kleiner Johannes?« fragte er zutraulich. »Daß ich nichts sagen will? Aber wie wäre es, wenn ich selbst den Lohn einkassieren möchte, den sie dir versprochen hat? Zwar muß sie etwas warten, eintausendundfünf Tage, aber treue Liebe wartet gern, nicht wahr?«

»Du wirst nicht lebendig bis zur Stadt kommen«, flüsterte Johannes.

»Doch, mein Liebling«, beharrte Zerrgiebel. »Sehr lebendig werde ich in die Stadt kommen …«

»Du mußt schwören!« schrie Johannes so laut, daß der Beamte vom Fenster zurücksprang und mahnend die Hand hob.

»Man sollte Kinder hier nicht hineinlassen«, bemerkte Zerrgiebel vorwurfsvoll. »Nun soll ich schwören, daß ich es nie mehr tun werde, und das kann ich doch nicht so aus dem Handgelenk … Beruhige dich nun, kleiner Johannes, und laß uns vernünftig reden. Willst du eine Liste haben von denen, die ich gezeichnet habe? Nicht? Es könnte dir von Nutzen sein, für deine Karriere, weißt du. Aber erzähle, wie es dort aussieht. Hat es gewirkt? Hat es getroffen? Siehst du, sie dachten, sie könnten ein Gewürm ins Zuchthaus sperren und die verpestete Luft wieder reinigen. Aber sie hatten vergessen, daß das Gewürm stechen kann, schrecklich stechen. Weil ihre Ferse nackt war. Das ist die Sache. Ihre Ferse war nackt, und das hatten sie vergessen. Schlag das auf vom Schalksknecht, Johannes, und lies es mir vor … ach, wie sie tanzen werden, drei Jahre lang! Und erst, wenn ich zurückkomme!«

»Du mußt schwören«, flüsterte Johannes, aber seine Lippen gehorchten ihm nur nach einer schrecklichen Anstrengung.

»Natürlich will ich schwören, Johannes. Siehst du, dein Vater ist gar nicht so … nun reiche es her … soll ich meine Hand darauf legen? So … und was soll ich nun schwören?«

»Ich schwöre auf das Evangelium …«

»… auf das Evangelium …«

»daß ich, solange ich lebe …«

»… solange ich lebe …«

»nichts und zu keinem Menschen sagen werde …«

»… sagen werde …«

»was ich von …«

»Nun?«

»Beug dich zu mir … so … was ich von Frau Moldehnke weiß oder erfahren habe …«

Darauf pfiff Zerrgiebel durch die Zähne, einen häßlichen, leisen, bedeutsamen Pfiff. »Wie es dich anstrengt, kleiner Johannes«, meinte er bedauernd. »Ganz weiß bist du geworden … also Frau Moldehnke … ein erhebliches Konto, tja, kann mir denken, daß sie in Sorgen ist … ein nahrhafter Fall, kleiner Johannes, in den wir uns ruhig teilen könnten, wie?«

»Weshalb schwörst du nicht?« stöhnte Johannes.

»Wie meinst du? Schwören? Ich weiß doch nun, wer es ist. Das war doch die Hauptsache? Oder dachtest du, ich würde schwören? Was für ein Unsinn … Zerrgiebel und schwören!« Er nahm das Buch, warf es weit fort über die Dielen und starrte seinem Sohn plötzlich ins Gesicht. »Rache schwört Zerrgiebel!« schrie er in das zurückweichende Gesicht. »Rache, verstehst du? Rache auch an dir, du fremde Kröte, die du nie den Weg zu mir gefunden hast bis zum heutigen Tage! Und du meintest, Zerrgiebel gäbe das Gold aus der Hand, das echte, ungefälschte, damit du ein paar schöne Nächte bekommst, ja? Und diesen Handel wolltest du auf das Evangelium abschließen, du Kind Gottes, ja? Zerrgiebel soll unter der Erde faulen, drei Jahre lang, damit sie tanzen drei Jahre lang? Ach nein, mein geliebter Herzenssohn, faulen sollen sie so gut wie ich, noch besser, winden sollen sie sich, und wenn ich wiederkomme, dann will ich es einholen, was ich verloren habe. Schrecklich will ich es einholen, und das schwöre ich dir, das allein!«

Er hatte sich vorgebeugt, und seine langen, knochigen Hände streckten sich in den leeren Raum, der unter dem Schrei seiner Flüche zu erdröhnen schien, durch die Türe hinaus, durch die Korridore, die Stockwerke und Höfe.

Der Beamte war vom Fenster zurückgetreten und hatte die Hand mit einer strengen Gebärde auf seinen Arm gelegt, aber er schüttelte sie ab, als sei es nun Zeit, mit jeder Komödie aufzuhören. »Ich verbitte mir diese Besuche«, schrie er.

»Sie dürfen hier nicht so schreien«, sagte der Beamte.

Zerrgiebel löste seinen Blick langsam von dem eingebildeten Gesicht, nach dem er seine Hände ausgestreckt hatte, und sah den Beamten an. Es war zu sehen, daß er erwachte. Seine Augen gingen einmal langsam durch den Raum, fanden das zerstörte Gesicht seines Sohnes, fanden das Testament auf den grauen Dielen, knüpften die Fäden zwischen diesen einzelnen Dingen, die seine Flüche zerrissen hatten, stellten die Welt gleichsam wieder her, aus der sein Zorn ihn hinausgetrieben hatte, und suchten nun nach der Gebärde, mit der dies alles »erledigt« werden konnte.

Und so begann er zu lächeln, zuerst wie an eine Erinnerung verloren, die immer deutlicher aufstieg, immer näher rückte, bis sie Gegenwart wurde, heitere und beglückende Gegenwart, die man auskosten konnte, ohne Trübung oder gar Schmerz. »Auf das Evangelium …«, wiederholte er leise. »Auf das Evangelium sollte Zerrgiebel schwören …« Und wie aus der Tiefe eines Springbrunnens stieg sein Lächeln immer heller und höher empor, wurde ein Lachen, das strahlend aufwärtssprang, bis es den Raum zu erfüllen begann, so zu erfüllen, daß es ihn zu sprengen schien. Ein Lächeln, das aus dem Strahlenden unmerklich ins Böse überging, aus dem Bösen ins Verruchte, aus diesem ins Wahnsinnige.

»Hören Sie doch auf!«, sagte der Beamte ungehalten. »Was ist denn da zu lachen?«

Ein neuer Ausbruch des Jubels bei Zerrgiebel.

»Ich will fort«, sagte Johannes, »ich will fort!«

Er bückte sich nach dem Testament, und eine sich überschlagende Woge des Gelächters schien sich auf seine Schultern zu stürzen, um ihn mit der Stirn auf die Dielen zu schleudern. »Ich will fort!« schrie er in Todesangst, und es war ihm, als könne man die Tür des Zimmers nicht mehr nach innen öffnen, weil das Gelächter sich wie eine Barrikade dagegen türmte.

Dann standen sie auf dem Korridor, und mit einer verruchten Inbrunst neuer Kraft warf das Gelächter sich in die noch leeren Räume, schoß die Gänge hinab, überspülte die Treppen und Geländer, erfüllte das ganze Haus, stieg bis unter das Dach und erfüllte alles Gerade, Rechtwinklige und Geordnete des Totenhauses mit einer Verzerrung, die keine Grenze mehr erkennen ließ zwischen Bosheit und sich überschlagendem Irrsinn.

Der Beamte, fassungslos und aus allen Instruktionen geschleudert, brüllte fruchtlos in die Unerhörtheit dieses Lachens hinein, setzte eine schrille Pfeife an den Mund, deren Töne aus grauenvoller Entfernung erwidert wurden, bekam zwei andere Beamte zur Unterstützung, aber Johannes, an die Wand des Ganges gelehnt, hörte seinen Vater wie auf einem brausenden Wagen des Gelächters um die Ecken fahren, Treppen hinunterdonnern, Türen zerschmettern, bis alles das sich nicht verlor, sondern nur entfernte, bis Stockwerke sich dazwischen schoben, Gebäudeflügel, Höfe, Mauern, Gewölbe, und doch durch alle Steine hindurch der Grundton dieser stürzenden Melodien schrecklich deutlich vernehmbar war: »Auf das Evangelium … Zerrgiebel auf das Evangelium …«

»Man müßte ihn töten«, sagte er laut in die wiederkehrende Öde hinein. »Und ihn tief unter der Erde begraben …«

Dann steckte er das Buch in seine Manteltasche und ging langsam die Steintreppe hinunter. Er sah nun keine Füße mehr, und es schien, als habe das Lachen alle Visionen erschlagen. Er schrak auch nicht zurück, als er aus dem Portal trat und ein Zug der »grauen Leute« gerade am Hause entlanggeführt wurde. Er vermied ihre Blicke nicht, sondern sah finster in diese irgendwie seltsamen Gesichter, und ihm war, als brauche er nur das Buch mit dem goldnen Kreuz über ihre geschorenen Häupter zu heben und sie würden lachen, genau so wahnsinnig und unmenschlich lachen, wie Zerrgiebel dort irgendwo unter der Erde noch immer lachte. ›Es ist wie in der Schule‹, denkt er plötzlich, ›genau so wie in der Schule …‹ Eine unendliche Bitterkeit überfällt ihn ganz plötzlich, die sich schnell zu einer hoffnungslosen Traurigkeit verdichtet. Alles ist umsonst gewesen, die Reise, die Beschwörungen, ihre Angst dort in dem stillen Zimmer, das was er verloren hat: »Jedermann« ist zum erstenmal in die Welt gezogen. Man hat ihn ausgelacht, und mit leeren Händen kehrt er heim. Jedermann wird immer so heimkehren, und das Gelächter wird hinter ihm herdonnern wie ein Wagen des Triumphes, auf dem sie alle stehen werden, die nicht auf etwas Heiliges schwören.

»Früchtchen …«, sagt eine Stimme vor ihm, und eine graue Gestalt löst sich aus dem Zuge heraus, bleibt stehen und sieht liebevoll zu ihm empor, der drei Stufen höher im Portal steht. Sie trägt, entgegen aller Vorschrift, eine schwarze Schirmmütze, und aus ihrem Schatten heraus starren zwei rotgeränderte Augen wie aus einer Höhle wartend, nichts als wartend auf Johannes. Die rechte Hand hat die Gestalt in der Tasche.

Es trifft Johannes wie ein Schlag, viel härter als das Lachen oder all das andere. Es fährt wie eine Nadel durch sein Leben, lautlos aber unfehlbar. Nichts wäre natürlicher gewesen, als daß der Großvater etwas gefragt hätte, zum mindesten mit freundlichem Hohn, ob er sich denn auch schon zu seinen Vätern versammelt habe. Aber das Furchtbare war, daß er nichts fragte. Und während die Hand des Beamten ihn schon weiterschob, wobei sein Blick mit amtlichem Befremden über Johannes streifte, drehten die Augen sich nur leise unter dem Mützenschirm, ohne Haß, ohne Neugier, nur mit einer sachlichen, aber gefährlichen Teilnahme, das leise Lächeln fraß sich unverändert um den linken Mundwinkel, und noch über die Schulter hinweg kam das leise, drohende, ätzende Wort vergangener Zeiten: »Früchtchen …« Weiter nichts.

Und dann waren sie um die Ecke des Gebäudes gebogen.

Mit dem Augenblick, wo das Tor sich hinter Johannes schloß, legte die Schande sich wie ein Mantel um seine Schultern. Er wußte nun, daß es alles nichts nützte, das andere Blut, der andere Name, das andre Gesicht. Er konnte den Mantel nicht abwerfen, und niemand sah, was unter dem Mantel war. Aber jedermann sah den Mantel. Seit er hier gewesen war, seit sein Name hier ausgesprochen war, seit Vater und Großvater Zerrgiebel zu ihm als zu ihresgleichen gesprochen hatten, war er unlöslich verflochten in ihr Geschick, in dies graue Haus, in jeden Hall der Korridore, trug jeder Stein gleichsam seinen Namenszug, jedes Rauschen der Pappeln den Klang seiner Stimme, die gebeten hatte, zu schwören.

»Es hat sich nichts geändert«, sagte er zu sich, aber er fühlte die Unwahrheit des Trostes in seine Seele tropfen und sie mit Bitterkeit vergiften. Er hatte verloren, mit dem Evangelium in der Hand, und er fühlte aus ganz weiter Ferne die Erkenntnis sich nähern, daß er das Evangelium mißbraucht hatte. Er hatte an den Lohn gedacht, an das stille, matt beleuchtete Zimmer, an die Arme, die ihn umschlungen hatten. Er hatte nicht wie ein Edelmann gekämpft, für die Schwachen und Schutzlosen, sondern wie ein Knecht, in Hoffnung und Erwartung, ja in Gier. Und es war ihm recht geschehen, daß er verloren hatte und daß er die Schande trug. Er war aus sich herausgetreten und hatte sein Leben in fremde Hand gelegt, in die Hand einer Frau und in die Hand eines Zuchthäuslers. Er war ein Spiel geworden, und sie würden würfeln um eine Beute.

Unterwegs, zwischen dem stoßenden Rhythmus des Zuges, als vor seinen geschlossenen Augen das graue Haus noch einmal sich aufbaute, fand er den einzigen Weg aus seiner Schande. Er suchte ihn nicht, sondern er empfing ihn gleichsam wie einen Stern, der aus den Wolken heraustrat, und er fühlte, daß auch dieser Tag ihm zum Segen werden würde, wenn auch über diesem Segen das Wort des Fluches stand: »In drei Jahren …«

Es war dunkel, als er wieder in der Stadt eintraf, und in dem Haus des Arztes war kein Fenster erhellt. Er wußte, daß sie den Tag mit Sorgfalt gewählt hatte und daß keine Gefahr bestand für den Weg, den er zu gehen hatte. Nicht die übliche Gefahr, aber die Haustür schlug mit einer erschreckenden Unerbittlichkeit ins Schloß, und die Treppenstufen knarrten wie unter heimlich geschleppten Lasten. Johannes griff nach dem Geländer und stand lange Zeit im Dunklen, die Augen auf das nackte Viereck der Glasscheibe in der Haustür gerichtet, durch das das Licht der Straße langsam wachsend hineinfiel. Er wußte nichts von der nächsten Stunde. Er wußte, was er sagen würde und was nicht geschehen durfte. Und wenn es geschähe, mußte er im Morgengrauen zum See gehen und sein Licht auslöschen von dieser Erde. Aber er wollte, daß es nicht geschähe. Er wollte es mit seiner ganzen Kraft, und er wußte, daß sein ganzes Leben von dieser Stunde abhing, ja, wahrscheinlich von den ersten fünf Minuten jenseits jener Tür, hinter der ein stilles Licht in das Dunkel hinausschimmerte. Er bebte am ganzen Körper und fühlte, wie seine Stirn feucht wurde, aber er lächelte verächtlich und sah mit kalten Augen gleichsam sich selbst zu, wie er Stufe für Stufe langsam in die Höhe stieg. Die Füße tauchten wieder vor seinen Augen auf, die beiden gleitenden Bänder, deren eines ihn nun emportrug und deren anderes mit einer süßen Lockung sich an ihn drängte, damit er hinübertrete und schwindelnd in eine blühende Tiefe sänke, wo die Mühe des Steigens aufhörte, die Qual des Wählens, des Kämpfens, des Ringens mit sich selbst.

»Karsten oder Zerrgiebel …«, flüsterte er vor sich hin, und mit verzerrtem Lächeln hob er die Hand zur Klingel.

Aber bevor er den Finger auf das kühle Elfenbein legte, erlosch drinnen das Licht, die Tür ging auf, und eine fieberheiße Hand riß ihn hinein. Zwei Arme umfingen ihn, tastend im Dunklen, aber bevor sie ihn umklammert hatten, rettungslos, wie er wußte, sagte er laut und mit fast schülerhafter Deutlichkeit: »Er hat geschworen!«

Ein leiser Schrei ohne ein gesprochenes Wort, ein Atem, von dem sich Berge stürzten, und ohne Pause seine klare Stimme, deren schrecklich erkaufte Klarheit nur ihm bewußt war: »Er hat geschworen, aber er hat verlangt, daß ich keinen Lohn empfange … keinen Lohn … keinen Lohn … und ich habe es geschworen.«

Er tastete rückwärts ins Dunkle nach dem Lichtschalter neben der Tür, und als das Licht aufflammte, stand er vorgebeugt und starrte in ihr Gesicht, das, überfallen vom Licht, unverhüllt sich ihm darbieten mußte: es war ein Gesicht des Schreckens, der Verwirrung und des Schmerzes.

Er starrte hinein mit einer beleidigenden Gier des Wissenwollens, aber es war kein Zweifel: es war ein Gesicht des Schmerzes.

»Sie wollten es tun?« fragte er erschüttert. »Sie wollten es wirklich tun?«

Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und bat ihn mit einer Bewegung der Hand einzutreten. Er zögerte, aber er gehorchte. ›Keine Gefahr mehr‹, dachte er erschöpft, ›keine Gefahr mehr …‹

Eine kleine Tischlampe brannte, und Johannes sah Blumen, Früchte, Tee, Gebäck. Er dachte, daß es ein Opfermahl sei, was da bereitet war, und er schloß die Augen, weil das Wort ihn beunruhigte und irgend etwas ihn zwang, nach seinem Ursprung zu suchen.

Frau Lisa löschte das Licht im Flur. Dann fiel die Türe zu, und nun waren sie schrecklich allein. ›Wahrscheinlich ist er gestorben‹, dachte Johannes. ›Und das Mädchen auch … niemand wird läuten in dieser toten Stadt, die er getötet hat, der dort in dem grauen Hause sitzt … es wird mir nicht leicht gemacht, aber nur ein Knecht will es leicht haben …‹

Sie saß in einem Schaukelstuhl, die Knie heraufgezogen und die Hände um sie geschlungen. Johannes sah, daß sie sehr blaß war, und es kam ihm sehr deutlich zum Bewußtsein, daß er sie offen und ohne alle Verwirrung ansehen konnte.

»Weshalb hat er es verlangt, Johannes?« Sie sah ihn grübelnd an, und er fühlte, daß Gefährliches sich unter ihrer blassen Haut bewegte und verbarg.

Er bat, eine Zigarette rauchen zu dürfen und sah den Wolken nach. »Man weiß nie, weshalb er etwas verlangt«, erwiderte er. »Er ist wie ein Brunnen, mit feuchten und dunklen Wänden, und man weiß nicht, welches Gewürm in den Spalten verborgen sitzt. Er ist von einem Geschlecht, das immer eine Hand in der Tasche hat. Alle drei sind sie so.«

»Glauben Sie ihm oder nicht?«

»Gewiß glaube ich ihm, es ist kein Zweifel daran.«

»Aber weshalb hat er es verlangt? Wie kommt es, daß er es gewußt hat?«

»Er will immer was in der Hand behalten. Immer schon war er so. Er gibt nichts umsonst fort, auch die Rache nicht. Er liebt es, mich zu quälen, immer schon, und auch jetzt wollte er mich quälen. ›Sie kann ganz ruhig sein‹, sagte er, ›aber du, mein Liebling, du mußt etwas unruhig sein.‹ Lassen Sie es nun gut sein und fürchten Sie sich nicht mehr.«

Wieder fühlte er seine Stirn feucht werden, und seine Augen flohen von ihr zur Türe und wieder zurück.

»Aber du mußt etwas unruhig sein …«, wiederholte sie. »Verachten Sie mich?« fragte sie plötzlich.

Er schüttelte den Kopf mit einer überzeugenden Stummheit.

»Sagen Sie mir nur eines«, bat er nach einer Weile. »War ich … war ich ein Mittel oder war ich ein Zweck?«

Gleichzeitig mit der Frage fühlte er, daß er sie nicht hätte aussprechen dürfen, daß er auf eine verhängnisvolle Weise mit der Gefahr zu spielen begann. Er war über die Brücke gelangt, wider alles Erwarten, und nun verführte der Teufel ihn, denselben Weg noch einmal zurückzutasten. Er stand auf und machte einen Schritt auf die Türe zu, aber seine Augen hingen noch immer fragend an ihrem Gesicht, das ihm ganz zugewandt war, mit einem Lächeln, das er zum erstenmal an einem Menschenantlitz gewahrte.

»Sie waren ein Mittel, Johannes«, sagte sie leise, »zuerst waren Sie nichts als ein Mittel … aber dann wurden Sie ein Zweck, noch … noch bevor ich wußte, ob das Mittel helfen würde …«

»Ich muß jetzt gehen«, sagte er mit einer Stimme, vor der er erschrak wie vor einem Spiegel.

Sie stand bei ihm und hielt sein Gesicht zwischen ihren beiden Händen. »Es könnte sein, Johannes«, sagte sie mit unheimlicher Eindringlichkeit, »daß das alles keinen Sinn mehr für mich hat, die Angst und ob er es tut oder nicht tut. Daß das andere mehr Sinn für mich hat, ganz allein Sinn für mich hat, und daß ich sage: brich deinen Schwur, denn es ist mir gleich, ob er den seinen hält oder bricht …«

Johannes war ihrem Gesicht so nahe, daß er nicht das ganze Bild der fremden Schöpfung in sich aufnehmen konnte, nicht ihre beiden Augen zugleich in sich fassen konnte. Er war einem Menschenantlitz niemals so nahe gewesen, daß er sich in ihm gespiegelt hätte, und was ihm in dem feuchten Spiegel ihres braunen Auges nun entgegentrat, war ein Doppeltes, das ihn überwältigend ergriff: die Erinnerung an den leisen Schauer seiner Kindheit, wenn er sich über das Wasser eines Weggeleises beugte oder über den Rand eines Brunnens und von dort unten, aus einer fremden Ferne, wuchs ihm das Gegenbild zauberisch oder gespenstisch entgegen. Das war das eine. Das andere aber war, daß er zum erstenmal eines anderen Menschen war, nicht nur gedanklich oder seelisch, sondern in einer wunderbaren Wirklichkeit. Daß er aus dem Gefäß eines anderen Körpers aufstieg, auf unsichtbaren Leitern, die sich schweigend seinen fremden Füßen darboten, und daß er plötzlich in der feuchten Beseeltheit eines fremden Antlitzes auftauchte, ein Kind eines fremden Hauses, aber gehalten wie ein eigenes Kind, auf eine erschütternde Weise eines anderen Menschen eigen geworden und zu eigen genommen, auf der Schwelle eines fremden Tempels sitzend und sich nun entgegenwinkend, als gebe es keine Fremdheit mehr auf der Welt und als lade der fremde Körper, der das Bild empfangen und aufgenommen habe, beseligend ein, sich nun ganz in ihn zu verströmen wie in eine Heimat.

Lange vor der Erfüllung fühlte Johannes in diesem Blick des Auges das erschütternde Zerbrechen unbedingter Einsamkeit, das erste Hinübertreten in »das andere«, das Körper und Seele war, Blut und Atmen, ganz wie er selbst und doch unüberwindliche Ferne, eine Hingabe, die Empfängnis war, ein Verlust, der unersetzlicher Gewinn war, ein Außersichsein, das die erste wahre Erkenntnis der Einsamkeit vermittelte: ein Augenblick, in dem zum ersten und entscheidenden Mal der gesamte Sinn des künftigen Lebens, ja alles Lebens überhaupt, aller Möglichkeiten, Seligkeiten und Verzweiflungen, sich offenbarte, sich betäubend und doch mit eisiger Klarheit über das Kind stürzte, den Himmel seiner Seele gleichsam aufriß und spannte und auf die durchblutete Haut das Bildnis Gottes leuchtend schleuderte, zur Süße und zur Qual, wie es im Lächeln des Weibes sich offenbarte als im weitesten Fernesein, zu dem die Brücke alles Lebens sich jubelnd aufhob und schmerzlich senkte.

»Lassen Sie mich nun gehen«, sagte er mühsam. »Wenn Sie mich nicht gehen lassen, wird man mich morgen vormittags in dies Haus tragen und das Wasser wird aus meinem Haar auf die Erde fließen …«

»Hat dich schon eine Frau geküßt, Johannes?«

»Nein.«

»So soll dich niemand vor mir geküßt haben.«

Er ertrug auch dieses, mit geschlossenen Lippen, und dann ging er hinaus.

»Du wirst wiederkommen, Johannes«, sagte sie im Flur, aber sie war ihrer Worte nicht mehr mächtig, so sehr bebte ihr Mund.

Er hielt den Türgriff schon in der Hand, die brennenden Augen ihr unaufhörlich zugewandt. »In drei Jahren …«, sagte er laut.

Dann stürzte er sich in das Dunkel des Treppenhauses wie in einen Abgrund.

Aber der Abgrund spie ihn aus. Unverletzt schleuderte er ihn auf die dunkle Straße. Die Tür fiel hinter ihm zu, aber er wußte, daß sie wieder geöffnet werden konnte. Er lief die Straße hinunter, als glühten die Steine unter ihm, und seine fiebermatten Augen suchten nach dem nächsten Licht, das hell und befehlend seinen Kreis über ihn werfen und ihn nicht loslassen würde in das Schreckliche des Dunkels, das die Schritte verbarg, die Gedanken, die Blicke, die Versuchungen. »Karsten oder Zerrgiebel …«, sagte er vor sich hin. »Ich habe es noch nicht entschieden … ich muß bis an die Furt gehen, wo der Engel wartet, und bis zur Morgenröte mit ihm ringen …«

Angst fiel über ihn her, aus den sich entlaubenden Wipfeln, aus den dunklen Wolken, aus denen warme Tropfen ganz langsam fielen, aus der Stimme des Windes, der draußen um die Stadt ging und nach welkenden Wäldern roch. Es verlangte ihn, zu Percy zu gehen, vor sein klares Gesicht, das die Kühle und die Ruhe eines Steines besaß, und ihn zu fragen, ob ein Edelmann lügen dürfe, ob Pflicht ein Wort sei, in den Schulen und Kirchen erfunden, oder etwas was im Blute sich lebendig auf und ab bewege. Aber Percy war verreist, irgendwohin, und sein Zimmer würde leer sein und tot wie ein abgelegtes Kleid.

Es verlangte ihn, zu Luther zu gehen und zu fragen, ob es so heiße, daß, wer ein Zweck sei, sich verlieren dürfe. Ob es vielleicht heiße, daß er sich verlieren müsse, ob das die große Probe der Natur sei, die Probe auf die Tapferkeit, die Größe, das Opfer. Ob die Angst von der Natur sei oder von der Armseligkeit des Menschengeschlechtes. Aber Luther war verreist gleich Percy, irgendwo in die lombardische Ebene, wo sie nun die Weintrauben aus dem rötlichen Laube pflückten und wo die Marmorbilder in dunklen Gärten schimmerten.

Aber wo sollte man sonst hingehen und hinfliehen vor jenem Angesicht? Pinnow würde die Bibel aufschlagen und Frau Pinnow würde ihre kurze Pfeife rauchen. Und der Werkmeister würde Zahlen addieren und mit seinen hungrigen Augen durch ihn hindurchsehen in ein Land, wo es keine Erniedrigten mehr gab. Nein, es gab niemanden, zu dem er gehen konnte, damit die Zeiger sich drehten, ohne daß er es merkte, bis zur Morgenröte, die alles entscheiden würde. Denn er wußte, daß erst die Morgenröte es entscheiden würde, ob er aus dem Schilf aufstehen und immer tiefer in das Wasser hineingehen müßte, oder ob er jenen Weg durch die Wälder gehen würde, an dem Kreuzweg vorbei, wo seine Mutter auf ihn gewartet hatte, nach dem Karstenhof, wo sie die Stoppeln umpflügten und das Getier seine Gänge zum Winterschlaf bereitete.

Und dann saß er dem dunklen Hause gegenüber, auf dem Eckstein eines tiefen Torweges, vom Schatten verborgen, und hörte, wie die warmen Tropfen langsam und ganz vereinzelt auf die Straße fielen, die zwischen ihm und dem Hause menschenleer sich breitete. Das Licht in ihrem Zimmer war erloschen, der Schein einer fernen Laterne flackerte mitunter, vom Winde getrieben, über die graue Wand, und es sah aus wie ein totes Haus. Aber Johannes wußte, daß es nicht tot war. Wenn er den Atem anhielt, hörte er den Herzschlag hinter jenen Mauern und eine ferne, süße Stimme, die in die Nacht hineinsprach: »Du wirst wiederkommen, Johannes …«

Die Kirchenuhr schlug, und er hörte die Wellen über die Dächer hinausgehen, als breche die Zeit ihren Ring entzwei und lasse die Stücke achtlos auf die Straßen der Menschen fallen … Wenn sie nun an eines der Fenster träte und sich hinausbeugte, würde er aufstehen und über den Abgrund der Straße zu ihr gehen, mit geschlossenen Augen und einem erstarrten Lächeln um die todgeweihten Lippen. Er wußte, daß er es tun würde. Aber nichts geschah. Der Wind nahm zu, und er hüllte sich fester in seinen Mantel. ›Die Morgenröte ist es‹, dachte er wie im sinnlos kreisenden Fieber. ›Mit der Morgenröte ist es entschieden … das ist die Furt zur Ewigkeit …‹

Er mußte geschlafen haben, denn das Licht über der Straße hatte sich verändert, und der Regen fiel nun gleichmäßig auf die glänzenden Steine. Er saß geborgen und sah aus dem Frieden in das Bewegte hinaus, halb wie ein Wächter und halb wie ein Fahnenflüchtiger. Er wußte, daß sie nun schlief und daß die Brücke nicht mehr brechen würde unter ihm. Und während eine tiefe Trauer über das Verronnene dieser Nacht ihn ganz umhüllte, fühlte er die Freude überall durch das Gewebe der Trauer schimmern, nicht die Freude eines Sieges, denn er wußte, daß nicht er gesiegt hatte, sondern die Freude des Lebens, eines anderen Lebens als des bisherigen, eines tieferen, verstrickteren, gefährlicheren, die Freude des ersten Sturzes und der ersten Wunde, des ersten Verlustes und der ersten Bewahrung, die Freude und die Trauer der ersten Erschütterung, die nicht er allein geboren hatte, sondern die aus der Fremde in ihn hineingestürzt war wie in ein auserwähltes Gefäß, das er nun vor sich herzutragen hatte in die gesamte »Zukunft« seines Lebens.

Als die ersten Stare riefen, stand er auf und trat furchtlos auf die Straße. Noch einmal sah er an dem Hause hinauf, und dann ging er aus der Stadt hinaus, langsam zuerst und gleichsam noch zögernd und hinter sich lauschend, und dann immer schneller, als trete das Ziel seines Weges immer klarer aus dem Nebel der Frühe.

Als die letzten Häuser hinter ihm lagen, sah er das Frührot über dem Walde liegen, klar und gereinigt vom nächtlichen Regen. Er lächelte zu dem roten Schein hinüber, der die nasse Erde überleuchtete, und dann ging er den geraden Weg in die Wälder hinein, der zum Karstenhof führte. Er tat es als etwas ihm Zukommendes, und wiewohl er nicht gläubig war im Sinn der Kirche, schien es ihm, als stehe das Angesicht des Engels über den dampfenden Wäldern, mit dem er gerungen hatte eine Nacht lang auf dem Stein vor dem schlafenden Hause.

Aber auch in dieser Stunde wußte er nicht, wem von ihnen der Sieg zugefallen war.


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