Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Die Maifeier der Arbeiter war die erste große Demonstration seit der Zurücknahme des Standrechts. Von der Ferdinandsstraße kamen sie, Fabrik auf Fabrik, Vorort auf Vorort. Die Männer mit roten Nelken, den Schirm in 96 der Hand, ihre Regiezigarren rauchend, die Frauen mit roten Schärpen geputzt. Über ihnen schwebten Plakate, deren Inschriften den Achtstundentag heischten, Brot und Freiheit. Rote Fahnen zogen zur Franzensbrücke, der schwarzen Menschenschlange voran. Grau sah der Hradschin, um dessen Abhang ein grüner Schleier sich flocht, herab auf die roten Fahnen. Dann war, da im Juni die Reichsratswahlen sein sollten, eine Volksversammlung inmitten der Sofieninsel. Hunderte, Tausende marschierten über den Steg und umgaben den Altan des Konzerthauses, von dem ein Führer sprach. Der Wind verwehte seine Worte zu den Bäumen, zu der Badeanstalt, und trug sie ans Ufer. Es roch nach der Frühlingserde. Hinter dem Redner, der ein kleiner, bärtiger Mann war, tauchten mit ihren Kappen, fahl im Himmelslicht, zwei Polizeibeamte auf; der eine von ihnen war der Kommissär Okoun.

Am sechzehnten Mai kehrte das Johannesfest wieder. Mit Erik ging Schandera am Vorabend zur Karlsbrücke. Das flache Erzbildnis des Schutzpatrons, dessen Haupt die fünf roten Sterne kränzten, war umschlossen von einem hölzernen Baldachin, einer Kapelle mit einer Orgel, mit bunten Gläsern und Blumen. Stadtvolk hatte sich versammelt, Landvolk in Trachten farbig wie Pfingstrosen und Mohn. Aus den Dörfern Böhmens, aus der mährischen Hanna, aus der ungarischen Slowakei waren sie hier und beugten ihre Knie vor dem trauernden Heiligen. Ein Priester verrichtete die Zeremonien unmittelbar neben den ins Pflaster eingelassenen, viele Jahre schon unbenützten Schienen der Straßenbahn.

Der Abend umwob die Fluten der Moldau. Ein Feuerwerk wurde abgebrannt und säte seine goldenen und 97 silbernen Funken in die Luft. Schwärmer und Raketen stiegen von der Schützeninsel empor, Sonnen und Räder, und erloschen in einem Dunst von Salpeter, Schwefel und Magnesium. Von den Kais aus staunte die Menge, die so dicht war, daß niemand einen Schritt vorwärts konnte. Das Wasser belebte sich mit großen, ungefügen Kähnen und kleinen Nachen. Lampions glühten und streuten ihren zitternden Schein überall hin auf den Strom. Eine Woche lang dauerte das Fest des Johannes von Nepomuk. Von acht Uhr bis halb neun gleißte am Rand der Karlsbrücke der Heilige im Licht, Böllerschüsse machten die Scheiben der Häuserfronten klirren.

Erik sah an jedem Abend in das ferne Gleißen, bis es zusammenfiel. Er klagte über Müdigkeit, und dennoch wollte er nicht bald zur Ruhe. Er blieb am Balkon. Die Nacht breitete sich aus. Jetzt war sein Antlitz ohne Konturen, jetzt zerfloß es. Nachher saß er bei Milada, die ihm ihre heimatlichen Lieder vorsang: »An der Donau waschen Wäscherinnen, wo die Husaren vorüberziehn«, die Kirchweih zu Sobotischte, die Türkenbraut und den Räuber Janoschik. Oder er lernte in seiner Stube unter der Lampe. Abgezehrt schien sein Kopf mit den verdunkelten Augenhöhlen. Im Gymnasium war er einer der Besten geworden. Sein Feind war der bebrillte Tomek, der ihn einen Schwächling schalt und wohl auch mit lauernder Vorsicht auf den Namen seines Vaters anspielte, sein Freund jener Blonde, der ihm glich, Viktor Eisler, der Neffe und Pflegesohn eines Oberingenieurs in einer deutschen Maschinenfabrik in Smichow. Oft liefen sie miteinander hinauf in den Kinskypark, in dem die gelben Trauben des Cytisus blühten und bläulicher Flieder schon 98 knospte. Und sie entdeckten alle Fenster des Hauses am Riegerkai über die Moldau hin. Sie klommen über die Serpentinenwege des Parks bis zur Hungermauer und schlenderten durch das Tor auf dem Rücken des Hügels über die Halden um Smichow.

Die Zeitungen meldeten den jähen Tod des Professors Sauerwein. Er war in Triest und Duino gewesen und dann unten in Lapad, um wieder einmal die Adria zu malen. Während einer Bora hatte er eine Fahrt nach Lacroma unternommen, mit zwei einheimischen Fischern. Bei einem Bad an den Klippen war er in der Brandung ertrunken. Selbstmord, das ließen die Nachrichten verstehen. Wirr und gehässig kam die Roubiček. Sie zeigte Schandera Briefe des Künstlers, seine Untreue darzutun. Sie waren voll eines dumpfen Pessimismus. »Nichts hatte er mir gesagt«, jammerte die Schriftstellerin, »in Triest hatte er eine Geliebte, die Frau eines Schiffskapitäns. Schon immer wollte er den Bruch mit mir. Aber die andere sog ihn aus.« Und sie tat sich genug in Schmähungen.

Um die Mitte des Juni waren die Reichsratswahlen. Am Morgen des Wahltags streifte Schandera in den sonnenheißen Straßen umher. Flugzettel der Parteien lagen am Kai, in der Neustadt, Räder sausten, vor den Schullokalen standen die Schlepper. Auf die Mauern der Winkel, von denen sonst Geschäftsanpreisungen schrien, waren mit schwarzer Ölfarbe, durch Schablonen hindurch, die Namen der Kandidaten getüncht. In der Mittagspause wählten die Arbeiter. Dann, um sechs Uhr, war der Kampf entschieden, aber die Entscheidung selbst noch ungewiß. 99

Schandera begab sich vom Josefsplatz nach der Peripherie, dort, wo er einst Abgeordneter gewesen war. In einem genossenschaftlichen Laden in der Zatorska, zwischen Zinskasernen, war das Hauptquartier der Sozialisten, die bis jetzt das Mandat hatten, in der Sokolhalle das der Gegner. Ernst waren in der Zatorska die von der Not geschärften Gesichter. Parteibeamte kamen, wichen, sooft sich wer nach der Zählung erkundigte, aus, gingen wieder in das Innere des Ladens. Hastig rufend, stürzte ein verstaubter Radler von seinem Rad. In der lichtlosen Gasse wußten sie: die Schlacht war verloren.

Die Sokolhalle war nur ein paar Straßen entfernt, schon in freiem Gelände. Ein brodelnder Jubel wälzte sich von der Ecke der Jablonskygasse her; auf den Schultern wurde Krninsky, der Wahlhelfer des gestern noch namenlosen Siegers, der populäre Vertreter von Königinhof, getragen. Man sah, wie jeder Schritt seines Untermanns ihn hochschleuderte. Er hatte keinen Hut, langes Haar, das er über seine Stirn flattern ließ, einen seidigen Schnurrbart und bleckte lachend seine Vorderzähne. Am Außenrevier des Baumgartens trabte sein Gefolge entlang. Jetzt sangen sie das »Hej Slovane«. Unwillig schallte der Chor der Besiegten vom »Rudy prapor«, der roten Fahne, hinein. Bisweilen drehte Krninsky sich um, wie ein Marschall an der Spitze seiner Truppen. Sie schwenkten in die Belcredistraße, vor einem Caféhaus rückten sie auf, noch immer singend. Das Caféhaus hatte im ersten Stock einen Balkon mit Kitschornamenten, Petunien rankten sich daran. Jetzt trat Krninsky mit Feifalik, dem Sieger, dem Spediteur des Parteiblattes, heraus, von schallendem Händeklatschen begrüßt. Er hielt eine Rede, 100 selbstgefällig kreischend, mit emphatischen Betonungen. Dann winkte er seinen Trabanten, die ein donnerndes »Na zdar!« anstimmten.

Schandera suchte das Bräuhaus am Ufer auf, wo die Besiegten noch beieinander saßen. Der Abend war kühl, über der Hetzinsel, über den weißlich dampfenden Wiesen lag der Mond. Rotgelb glotzten die niederen Fenster der Wirtschaft, in Schwaden von Tabakwolken und Bierdunst. Drinnen standen unter den Einladungen zu den Tanzreunionen von Ferda Mestek auf Stühlen Leute, die redeten. Draußen gingen junge Arbeiter und Arbeiterinnen, die sie um die Hüften faßten, den Moldauwiesen zu. »Wählt Roubal!« war auf eine Mauer mit roter Farbe geschrieben. »Wählt Feifalik!« mit schwarzer und von den Jahren halb weggetilgt irgendwo: »Wählt Schandera!« Die Tore der Zentralschlachthalle öffneten sich für nächtliche Viehtransporte der Uferbahn.

 


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