Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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21

Als Schandera mit Ljuba in Duhanitz den Bahnhof verließ, umgaben Gendarme in Korkhelmen, mit Repetierstutzen und aufgepflanztem Bajonett, den Perron. Viele Menschen waren des Sonntags wegen hierhergereist. Hoch lag der frische Schnee, immer neue Lasten häufte der Nordwind. Ljuba war grau im Gesicht, sie schüttelte sich in ihrem Mantel. Der Vorstand trat mit der Ehrerbietung des Kunstkenners zur Seite. Auf dem Bahnhofsplatz, wo die jungen Burschen, in ihre roten Fäuste hauchend, die Ortsfremden musterten, scharrten kahle Pferdchen, lustig rasselten ihre Schellen. Die Droschken waren zu Droschkenschlitten umgebaut. Der Kutscher mit dem Muschikfell nahm ohne eine Frage seinem 130 Gespann die rotgeränderten braunen Kotzen und die Haferkübel fort. Das größere Pferd, ein Schimmel mit kurzem Schweif, rieb sich an der Stange, ärgerlich wiehernd. Gegen Duhanitz zu war das Licht schweflig fahl. Die Schlittenkufen krachten.

Schandera saß im Rücksitz neben Ljuba, die durch die vereisten Scheiben blickte, und das Geschehnis dieser Woche irrte an ihm vorbei: Thereses Überführung nach Leitmeritz, wo sie hatte begraben sein wollen. Vier Tage war es her, daß der Fourgon auf die Geleise der Nordwestbahn geschoben wurde, vorgestern war das Begräbnis gewesen, zu dem niemand außer Schandera und dem verwitweten Hauptmieter der Toten sich einfand. Nun war das schon beinah unwirklich, das Nachtlogis im Kaiser von Österreich, das Kelchhaus, das gegenüberlag, der Sturm an den Fensterläden, die singenden Schläge der Uhr, das Erwachen, der Besuch im Magistrat, der Gang zum Friedhof, das Elbeufer in Morgenhelligkeit, der eingefrorene sächsische Raddampfer »König Johann«. Und nichts blieb als ein achtlos zugeschaufeltes Loch in der harten Erde, Thereses Nachlaß, ihre Möbel, die sie in Linz deponiert hatte, und ein verweinter Laut, Thereses Stimme. Aber da war es Schandera, als ob er sich nicht mehr erinnern könne, wie diese Stimme klang. Umsonst suchte er. Sie war ausgelöscht.

In der Decke, die über ihre Knie gebreitet war, regte sich Ljuba. Der Schlitten fuhr stockend durch das Grubenrevier, entlang den Bretterzäunen. Von Plakaten waren sie voll, die »svoboda«, Freiheit, und »rovnost«, Gleichheit, begehrten, und überall standen die Massen, in Kampfbereitschaft. Viele der jungen Arbeiter waren 131 für den Festtag hergerichtet, mit blauen Hüten, Gummikragen, roten oder bunt getüpfelten Krawatten, die aus dem Winterzeug sich zwängten, und sie rauchten Sport wie die Herren; die alten hatten Manchesterhosen, ein Jackett und unter dem knotigen Hals ein Baumwollhemd. »Worauf warten sie?« fragte Ljuba. »Morgen«, sagte Schandera, »wird ein großer Streik beginnen.« Auf den Gassen von Duhanitz waren Gendarme verteilt, Karabiner am Rücken, durch die Wucht, mit der ihre Stiefel in den Schnee hackten, und ihre gesträubten Schnurrbärte die Strenge des Dienstes markierend. Sie bewachten das Lokal, in dem ein Abgeordneter aus Prag sprechen sollte und in dessen Torweg die Streikagitatoren Posten gefaßt hatten. In einer Schneerinne feierte schwarz und plump eine Maschine, deren Elektrizität nachmittags das Kino drinnen in einer Scheune trieb. Drei Neuheiten waren das marktschreierisch angepriesene Programm, »Todbringende Liebe«, »Die Jagd auf den Rauchfangkehrer« und »Die Spionin«.

Graue Gänse watschelten einen Seitenpfad hinunter, an dem mit kleinen Vorgärten das Wohnviertel der Grubendirektoren und der Ingenieure endete. »Wie weit ist es noch zum Spital?« fragte Ljuba. »Gleich an der nächsten Biegung der Straße«, versicherte Schandera. Dabei spürte er die Kälte ihrer Hand. »Wann geht der Zug?« fragte Ljuba wieder. »Werden wir Erik sicher mitnehmen?« Sie begann einen Traum zu erzählen, den sie gegen Morgen gehabt hatte: »Ich war am Kai und sah Therese vor mir hergehen, im weißen Brautkleid, mit silbernem Schleier. Plötzlich schwebte sie die Mauer hinab. Sie langte nach einem Ring, ließ ihn los und schwamm mit 132 dem Strom, der um Grasbänke und Steine strudelte. Und nun versank sie. Aber Erik war es, der hochkam, und so dehnte er die Arme nach mir.«

Schandera unterbrach sie: »Kannst du die goldenen Buchstaben lesen? Nemocnice.« Sanft klingelten die Schlittenschellen. Der Verwalter war am Tor und gab einem Geistlichen den Vortritt, der über den Spitalshof nahte, behäbig, mit der weltlichen Röte des Biertrinkers, und von seinen genagelten Sohlen sich den Schnee hieb. Es war der Kaplan, dem das Seelenheil der Kranken und die sonntägliche Andacht oblag. »Gelobt sei Jesus Christus!« begrüßten ihn, bis zur Stirn und zu den Wangen im brettstarren Linnen ihrer Hauben, die Schwestern.

Über dem Treppenabsatz im Vestibül lächelte das Fräulein auf dem Öldruck. Heute bildeten nicht die Patienten in ihren Kitteln Spalier; die Säle waren zu. Schandera fragte den Verwalter nach Dr. Geyer. »Der Herr Primarius ist noch zu Haus«, antwortete der Einarmige, »ich weiß nicht, ob er selbst die Visite hat. Er fährt dann sofort nach Prag. Hat der Herr Primarius mit dem Herrn Doktor telefoniert? Nun, dann wird er vor zehn Uhr da sein.« Zaudernd ging er auf Schanderas Wunsch ein, schon jetzt zu Erik gebracht zu werden.

Das reservierte Zimmer im oberen Stockwerk war leer. Ein Arbeiter, der in dicken Strümpfen über den Zementboden des Korridors ging, erklärte, der Herr Student sei im großen Saal. Durch die halboffene Tür sah man in den langen Raum, über zwölf eiserne Betten hin, auf Schränkchen mit Glasplatten und Schüsseln und auf entfleischte Köpfe, die sich nur wenig hoben. Ein Tisch stand vorn, ein paar ältere Männer spielten Karten, und 133 da das Rauchen verboten war, hingen ihnen die Pfeifen, ohne zu brennen, aus den Mundwinkeln. Am Fenster lehnte Erik in der für ihn zu weiten Krankentracht. Ungestüm drängte er zu Schandera, zu Ljuba. Rasch zog er sie in sein Zimmer. »Ist Doktor Geyer schon da?« fragte er. »Ich darf doch mit euch? Es ist so traurig hier, wenn sie auch alle gut zu mir sind. Ich habe nichts mehr, als daß ich denen drüben beim Färbel zuschaue.« »Ja, Doktor Geyer wird dich wohl heute entlassen«, sprach Ljuba, ihn vor sich haltend, auf ihn ein.

Größer war Erik in dieser Zeit geworden. Er redete rauher. Die Schläfen wichen zurück, der Hals wies einen neuen roten Schnittrand. Schandera mußte hinwegsehen, zum Fenster hinaus, in das Panorama des Wintertags. Eine Sekundärbahn rollte durch die baumlose Landschaft. Da und dort lief, wie ein Tier geduckt, einer der unbeaufsichtigten, abgekoppelten Wagen. Eine Maschine heulte. Schwer tappte jemand in das Zimmer, der Geistliche. »Entschuldigen«, sagte er, »ich muß an den Bücherkasten.« Aus Fächern in der Wand holte er schwarzgebundene Romane und stockfleckige religiöse Zeitschriften. Dann, zu Ljuba und Erik blinzelnd, schloß er wieder die Tür. Jemand klopfte. Es war mit ihrer blonden Ergebung die Schwester Vinzentia. »Der Herr Primarius ist da«, sagte sie, »er macht die Runde.« Der Blick Eriks folgte ihr.

Ein ungleicher Schritt erschallte. Dr. Geyer spähte mit seinen Vogelaugen in die Stube, seine Hand schützte die Gläser seiner Hornbrille gegen das Licht. Dann erkannte er Schandera, und indem er sich verneigte, bat er Ljuba vorgestellt zu werden. Er verschwendete huldigende 134 Komplimente an die große Künstlerin; und dennoch glitzerten seine Pupillen in gewohnheitsmäßiger Ironie. »Nun, wie geht es, junger Herr?« fragte er dann Erik, »schön geschlafen? Zeig' her!« Er prüfte die Temperaturlinie auf dem Pappschild über dem Bett nach. »Sehr erfreulich! Was ist, junger Herr, willst du heim?« Erik lachte mit einer stillen Träne. Dr. Geyer nickte ernst und forderte Schandera auf, ihn in das erste Zimmer zu begleiten. Um seinen Mantel wehte ein Duft von Karbol.

Er blieb mitten im Korridor stehen. »Schlimm ist es noch nicht, Verehrter, wohl möglich, daß er Ihnen gesund wird. Ein kleiner Infektionsherd an der Spitze der linken Lunge, man muß seine Ausdehnung hindern. Ich glaube, daß er vernarben kann. Die Halsdrüsen sind nun enteitert. Sollte der Junge wieder Blut spucken, so geben Sie ihm Eispillen, wie er sie mit sich hat, nach Rezept. Das übrige tut Doktor Brandeis. Und Sonne, Sonne, Ruhe, vielleicht nochmals in Grado auf dem heißen Sand oder besser in Lussin Piccolo. Eine Wachstumskrise, ich hoffe, das wird vorübergehn.« Er wusch sich in einem flachen Emailbecken die Hände. »So, jetzt ersparen Sie mir, mich von Ihrer Gemahlin zu verabschieden. Mein Zug fährt in dreißig Minuten. Sie haben dann, bis der Junge fertig ist, Zeit genug zum Vieruhrzug. Speisen Sie im Werkshotel, nur sorgen Sie, daß Sie noch vor Abend fortkommen! Heute wird es bißl tumultuarisch in Duhanitz.« Er zog seinen Rock, seinen Pelz an. »Krupka, der Schlitten!« rief er durchs Fenster hinaus. Er stürmte von dannen.

Schandera ging zurück zu Ljuba und Erik, der schon den Spitalskittel mit seinen Kleidern vertauscht hatte und die Nachricht, daß er der Gefangenschaft ledig sei, 135 mit überschwenglichem Ausdruck der Freude hörte. Doch es schien, als wolle sein Blick sich von der Schwester Vinzentia nicht trennen. »Ich muß noch in den großen Saal«, beharrte er. Er ließ nicht ab, bis er ein letztes Mal bei den Arbeitern gewesen war, die, hüstelnd und an den Bändeln ihrer leinenen Gadjehosen zupfend, hervorkamen. In der Kanzlei drunten quittierte der Verwalter. Das Öldruckbild zwischen den Palmenwedeln lächelte, eine Lampe glühte in der Dämmerung des Operationsraums. Das Tor fiel zu.

Vom Spitalshof wanderten sie durch das Villenviertel, dem Ring von Duhanitz entgegen, an dem das Werkshotel, ein dreistöckiges Haus, lag. Die Menge, die vor den Branntweinschenken ihren Sonntag beging, war noch angeschwollen. Eine blutrote Fahne wurde herumgetragen, eine Bergarbeiterkapelle schwenkte ein und blies die revolutionäre Hymne in dunklen Stößen über die Versammelten hin. Vor dem Rathaus sprach einer der Führer. Eine Trompetenfanfare gab das Signal. Zahllose Hände wurden mit einem Mal gehoben. Burschen, Männer und Frauen sangen ungeübt die proletarische Marseillaise. Im Werkshotel saß eine Gesellschaft von Grubenbeamten hinter den dichten Vorhängen des Speisesaals. Sie heischten ungeduldig Militär.

Der Tag wurde stumpf. Von draußen das Murren, Singen und Kreischen. Dann stob ein Mietsschlitten durch den schwarzen Menschenwall, einen Gendarmenkordon, über Gassen, Grubendistrikt und schweigende Felder zum Bahnhof, an dem die Laternen aufblitzten. 136

 


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