Ottilie Wildermuth
Die alte Freundin
Ottilie Wildermuth

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Die alte Freundin

1. Im Bauernhof.

Dorf Berghalde gehört gewiß unter die anmutigst gelegenen Dörfer der schönen süddeutschen Lande. Es hat schon etwas Besonderes in seiner Lage, da es in der Ebene anfängt, sich allmählich den Hügel hinaufzieht, auf dem Kirche und Pfarrhaus steht, und dann erst noch überragt wird von dem alten Schlosse, das von der Stirn des bewaldeten Berges herabschaut, der sich hinter dem Hügel erhebt.

Es ist das Schloß der Freiherren von Urspring, jetzt etwas zerfallen und nicht mehr bewohnbar, aber das ist ja eben das Schöne bei alten Schlössern; meinte doch ein kleiner Knabe, dem man das schöne, ganz neuerbaute Zollernschloß bei Hechingen zeigte: »Sieh, Fritz, jetzt siehst du einmal ein ganzes, rechtes Ritterschloß« – »Ach, das ist doch kein rechtes, das hat man mit Fleiß gemacht.«

Dorf Berghalde lebte so ziemlich in gutem Frieden mit Gott und Obrigkeit. Der noch junge Pfarrherr, erst seit kurzer Zeit im Orte angestellt, stand recht in Ehren. Mit der »Herrschaft«, die selten das Schloß ihrer Väter besuchte, kamen die Leute in wenig Verkehr; Herr von Urspring war Offizier, hatte im Dorfe längst keine Herrschaftsrechte mehr und besaß nichts zu eigen als die Schloßgebäude und etwas Grund dahinter. Wenn er je und je einmal wieder für kurze Zeit in den wenigen bewohnbaren Zimmern des Schlosses weilte und mit seinen raschen Braunen durch das Dorf fuhr, so gab es wohl auch ein paar Unzufriedene, die dem Wagen mit Neid nachsahen. »Ja, die sitzen in der Kutsche und fahren fürs Pläsir, wenn unsereins sich abschinden muß,« bemerkte bei solcher Gelegenheit der rote Peter, ein übel beleumundeter Taglöhner des Dorfes.

»Na, Peter, bei dir ist's nicht so gefährlich mit dem Abschinden,« sagte lachend der Brunnenbauer, der es gehört, »du schaffst ja nur so lang, bis du genug hast um einen Rausch zu trinken und den schläfst du nachher zwei Tag lang aus.« Peter wurde ausgelacht und knurrte fort im stillen.

Der Brunnenbauer durfte schon ein Wort sagen; denn sein stattliches Haus, auf einer kleinen Anhöhe am Eingange des Dorfs gelegen, vor dem ein besonders klarer Brunnen floß, war eins der schönsten im Ort; er war ein wohlhabender Mann und ein verständiger Bauer, bei dem man Rat suchte in allen wichtigen Fällen des Landbaus. Seine Frau, eines Schulmeisters Tochter, galt freilich für ein bißle stolz, weil sie nicht viel Gemeinschaft mit den Weibern im Dorf hielt, auch ihrem einzigen Töchterlein Regine nicht oft gestattete, sich mit den Dorfmädchen herumzutreiben.

Es fehlte Regine daheim nicht an Spiel- und Tummelplätzen in dem schönen Grasgarten voll stattlicher Obstbäume, im Gemüsegarten hinter dem Haus, wo Stachelbeeren und Johannisbeeren in reichlicher Fülle wuchsen, – auch nicht an Spielkameraden, da sie zwei Brüder hatte. Der ältere, Jakob, der sich früh schon als tüchtiger Bauernsohn zeigte, der mußte freilich in all seiner freien Zeit schon aufs Feld; David dagegen, der jüngere, der »knütze« Schlingel, wie ihn hie und da sein Vater nannte, der allzeit trieb, was er nicht sollte, der war desto besser aufgelegt, mit ihr zu spielen. David konnte allerlei »besteln«, wie es die Bauern nennen, d.h. zimmern, flechten und schnitzeln, vor allem schön malen; er zeichnete ihr die schönsten Bilder auf die Schiefertafel oder auf Papierstückchen, oder blies auf selbstverfertigten Rohrflöten, – die Geschwister unterhielten sich allezeit gut zusammen, so lang sie keine Händel hatten.

Aber eine rechte, eigentliche Kameradin hätte Regine doch gern gehabt; das einzige Nachbarkind, Gretchen, das Töchterlein der Wäscherin in dem kleinwinzigen Häuslein neben dem Brunnenhof, die war jünger als sie und so gar klein und leibarm; die durfte nur so nachtrippeln und hie und da Handlangerdienste thun, wenn sie und David zusammen spielten.

Zu fein oder, wie die Landleute sagen, »zu zuckerig« für ein Dorfmädchen sah Regine gar nicht aus; sie war robust und rotbackig und viel besser aufgelegt sich im Dorf herumzutreiben, als hie und da Sonntags mit der Mutter zu der Base auf den Thalhof zu gehen, was so ziemlich der einzige Ausflug war. Sie mochte die Base wohl gern, aber es war ihr doch dort ein bißchen langweilig. Dem Kaffee, den ihr die Base in einem kleinen Täßchen aufwartete, fragte sie nicht viel nach und solang Mutter und Base miteinander redeten von lauter Leuten und Dingen, die ihr nicht wichtig waren, hatte sie gar nichts zur Unterhaltung, als die alte, große, graue Katze der Base, die erst noch zu faul war zum Spielen, die nur auf dem Stuhl am Ofen saß und sie mit ihren großen, grünen Augen boshaft anblinzelte.

Platz zum Spielen wäre im Hause der Base gewesen; es war ein großes, altes Bauernhaus samt Scheuer, das sie ganz allein bewohnte, – die Güter, die dazu gehörten, waren in Pacht. Die Base, die eine etwas wunderliche Person war, benützte im Haus nur die große Stube am Eingang, in der auch ihre Schlummerstätte, das alte Himmelbett ihrer Eltern stand. All der andre Raum in Haus und Scheuer war leer; Mietsleute gibt es auf dem Dorf nicht viel, da fast jeder sein eigen kleines oder größeres Haus bewohnt, und die Base wollte auch keine. Gäste hatte sie dagegen genug in Haus und Scheuer, obgleich sie keine Gastbetten besaß, nur Stroh genug auf dem Boden und weiches Heu, das ihr der Pächter lieferte, der seine eigne Scheune im Dorf hatte. Die alte Base nämlich nahm alle »Schucklersleute« und Schnurranten bei sich auf, die ihren Weg in die etwas abgelegene Gegend fanden: Orgelspieler, Harfenmädchen, Zigeuner, Seiltänzer, Kesselflicker, wer da vorüber kam und um Herberge bat, der wurde bei der Base eingelassen, wenigstens für eine Nacht; er bekam ein Lager auf Heu und Stroh, morgens und abends eine reichliche Suppe, aber der Hausordnung der alten Bäbel (Barbara) mußte er sich fügen: Mannsleute kamen in die Scheuer, Frauenspersonen und Kinder ins Haus; die Thüren wurden geschlossen, sobald zu Nacht gespeist war, auch durfte keiner länger als zwei Nächte da verweilen.

Die Leute im Dorf und besonders auch die Verwandten der alten Bäbel hatten lang genug geschimpft darüber, daß eine angesehene, wohlhabende Bauerntochter solch eine »Schucklersherberg« aus einem rechten Bauernhause mache; sie hatten auch lange genug prophezeit, daß die Bäbel solch seltsame Gastfreundschaft noch werde teuer büßen müssen; das Zigeunervolk werde sie ausstehlen und am Ende gar noch »abmurgsen«, so daß man sie eines schönen Morgens in dem ausgeplünderten Hause tot, mit abgeschnittenem Halse finden werde. Das war aber schon lange her; die Bäbel, die keine großen Reichtümer mehr zu hüten hatte, – sie hatte ihr Geld dem Brunnenbauer zur Verwaltung übergeben und nahm für sich nur, was sie brauchte, und das war nicht viel – die alte Bäbel war noch nicht ausgestohlen und noch nicht »abgemurgst« worden.

Das große, öde Haus, wo sie jetzt wohnte, war ein schönes, stattliches Bauernhaus gewesen zu ihres Vaters Lebzeiten, aber es ging die Sage, der alte Thalbauer sei ein harter, böser Mann gewesen. In einer Winternacht hatte eine Zigeunerfrau mit einem kleinen Kinde um Gottes willen um ein Obdach bei ihm gebeten, der Bauer hatte ihr ein Stück Brot hinausgeworfen und gerufen: »Kann kein Lumpenvolk aufheben!« Am nächsten Morgen aber hatte man die Frau mit dem Kinde erfroren im Felde gefunden. Seither war kein Glück mehr in Haus- und Viehstand gewesen: der Thalbauer, vom Schlag getroffen, hatte noch einige Jahre elendiglich gelebt. Die Bäbel, seine einzige Tochter, wollte nicht heiraten; sie hatte nach seinem Tod die Güter verpachtet und nur ein Gärtlein und das Haus behalten, in dem sie von nun an jedermann aufnahm, der Einlaß suchte, ohne sich zu kümmern um das Gerede der Leute.

Regine wäre nun schon gern zu der Base gegangen zu Zeiten, wo etwa Spielleute bei ihr waren oder Komödianten, oder so ein Örgelein, auf dem Kaiser Napoleon mit der Marie Luise herumtanzt und der Preußenkönig dazu eine Prise nimmt; aber wenn die Mutter auf dem Weg zur Base nur von weitem eines der grünen Deckelwägelein entdeckte, in dem solche Leute reisen, so kehrte sie wieder um, und den David, der über die Maßen gern mit solchem Volk verkehrte, wollte sie gar nicht mehr zur Base lassen. Da wünschte freilich Regine manchmal einen andern Zeitvertreib und sie war seelenvergnügt, als eines Morgens die Mutter zu ihr sagte: »Regine, hol mir das neue Körbchen, zieh eine saubere Schürze an und kämm dein Haar ein bißchen, wasch auch deine Hände! du kannst der Frau Pfarrerin ein Küchegrüßlein bringen; darfst aber keinen so dummen Bockskopf mehr an das Pfarrjungferlein machen, wie das letzte Mal, daß Herr Pfarrers denken müssen, die Leute in Berghalde haben gar keine Manier! Also, du richtest schön aus: Eine gehorsame Empfehlung von deiner Mutter und sie sei so frei und schicke der Frau Pfarrerin einen kleinen Küchengruß.«

War ein ganz appetitlicher Küchengruß, den die Brunnenbäuerin sauber in ein neues Körbchen ordnete: in die Mitte ein Töpfchen goldklaren, schönen Honig, wie er aus dem Bienenstock im Grasgarten gewonnen wurde, zu beiden Seiten auf grünen Blättern eine Balle ganz frische herrliche Butter, welche die Bäuerin so schön wie keins der Weiber im Dorfe zu bereiten verstand, ringsum ein Kranz frisch gelegter Eier; darüber deckte die Bäuerin eine weiße Serviette mit roter Borde. »So, nun trag's sachte und benehm dich manierlich!« befahl sie nochmals der Regine, die das Körbchen auf den Kopf nahm und etwas ängstlich, aber doch sehr vergnügt, die steilen Stäffelein hinaufstieg, die hinter dem Dorf zu Kirche und Pfarrhaus führten. Das Körbchen war nicht schwer und Regine trug es so leicht und sicher wie die größeren Bauernmädchen in Süddeutschland die schwersten Lasten tragen.

2. Im Pfarrhaus

Die Frau Pfarrerin und ihr Töchterlein saßen mit der Arbeit unter dem großen Kastanienbaum vor der Hausthür, der Kirche gegenüber, es war im Garten noch etwas zu sonnig; Gertrud zählte eben zum zwölftenmale nach an ihrem Strickstrumpf, ob die aufgegebene Zahl denn noch nicht gestrickt sei, als Regine, atemlos und glühend rot im Gesicht, aber doch sehr freundlich, mit ihrem Körbchen, das sie nun in den Händen trug, anrückte. Ein bißchen verlegen war sie doch und richtete einen gehorsamen Befehl von ihrer Mutter aus und die Frau Pfarrerin soll auch so frei sein und das Küchengrüßle nehmen. Diese wußte schon wie es gemeint war; sie sprach ihre aufrichtige Bewunderung der schönen Butter aus und dankte sehr freundlich. »Nun, Regine, so heißt du doch?« sagte sie, »du wirst nicht zu eilen haben; so geh einmal mit ihr, Gertrud, und zeig ihr dein Gärtchen! Darfst dein Strickzeug zusammenmachen.«

Das war Gertrud ein sehr willkommener Befehl, denn Stricken war ganz und gar nicht ihre Liebhaberei; er erleichterte ungemein die neue Bekanntschaft der Mädchen. »Komm, Regine!« rief sie seelenfroh und führte das Bauerntöchterlein in den Pfarrgarten, der, soweit es in der kurzen Zeit möglich gewesen, schon recht nett angelegt und angepflanzt war; – bei dem alten Herrn, der früher dagewesen, waren nur Kraut und Rüben, Bohnen und Erbsen darin gewachsen; bei dem Amtsverweser, der nach ihm gekommen, nichts als Unkraut. – Gertrud zeigte Regine ihr Gärtchen, das ihr der Taglöhner, der unter Anweisung der Frau Pfarrerin den Garten baute, auf einem Rasenplätzchen angelegt hatte. Es war mit Immergrün eingefaßt und waren blühende Tag- und Nachtblümchen darin eingesetzt, in der Mitte ein Rosenstock. Das gefiel Regine sehr wohl, sie hatte noch nicht daran gedacht, in dem großen Garten daheim sich ein eigenes Stückchen Land geben zu lassen. »O, so laß ich mir auch eins machen!«, rief sie, »und mein David, der ist so geschickt, der soll Ihr um das Gärtchen da ein schönes Zäunlein von Weiden herum machen,« sie wußte noch nicht recht, wie sie das Pfarrtöchterlein anreden sollte. »Wirst doch du zu mir sagen,« sagte Gertrud, welche von der Mutter oft zur Freundlichkeit ermahnt wurde, »du wirst gerade so alt sein wie ich; in acht Tagen ist mein Geburtstag, da werd' ich elf.« »Ja, so alt bin ich auch,« sagte Regine mit einigem Selbstgefühl. »Das ist ja geschickt,« meinte Gertrud, »so können wir schön miteinander spielen! Gib acht, ich hole meine große Puppe herunter; hast du auch schöne Puppen?« »Ich nicht mehr,« sagte Regine etwas beschämt, »bei uns auf dem Dorfe haben nur die kleinen Mädchen Docken, aber ich spiele gerne damit.«

So wanderten denn die Mädchen hinauf, um die Puppen zu holen; Frau Pfarrerin gab ihnen ein paar süße Brötchen, wie sie immer bereit hatte für unerwartete Gäste, und ein Musbrot dazu; sie trugen die geputzte Staatspuppe, Antonie genannt, nebst dem kleinen Kind im Wickelkissen, das um ein gut Teil größer war als die Staatsdame, samt dem Wägelchen in den Garten hinunter. Regine hatte schon lange nicht mehr mit Puppen gespielt; sie lernte es aber bald wieder. Sie war Kindswärterin und Gertrud die Mama, es ging prächtig zusammen; Gertrud war ganz glücklich, daß jetzt wieder jemand ihre schönen Sachen bewunderte. Der Vater war vorher Diakonus in einer kleinen Stadt gewesen, da hatte es ihr nicht an Gespielen gefehlt, die sie hier oft vermißt. Die Mädchen waren so vertieft ins Spielen und Erzählen, daß Regine erst ans Heimgehen dachte, als es zu dunkeln begann. Auch der Herr Pfarrer war noch in den Garten heruntergekommen und hatte ein paar freundliche Worte mit ihr gesprochen, und Frau Pfarrerin beschenkte sie mit einem niedlichen Büchschen, darin ein glänzender Fingerhut war; Gertrud befahl ihr dringend an, doch recht bald wieder zu kommen, und so ging das Bauerntöchterlein ganz glücklich nach Haus.

Die Mutter war gar nicht böse über ihr spätes Heimkommen, als sie ihr erzählte, wie schön es gewesen sei im Pfarrhaus und Pfarrgarten, und wie sie recht bald wieder kommen müsse; es freute sie gar sehr, wenn ihre Regine bei Pfarrers freundlich aufgenommen war.

Von da an war die Freundschaft der Mädchen im schönsten Zug und verging fast kein Tag, wo sie nicht zusammenkamen. Gertruds Mutter sah bald, daß Regine ein gut erzogenes Mädchen sei, wenn auch manchmal noch etwas unbeholfen in ihren Manieren; Regine mußte ihr Strickzeug mitbringen und es ging auch bei Gertrud viel leichter, seit sie in die Wette stricken konnten; nachher hatten sie freie Pürsch im Garten und auch auf weiten Spaziergängen. Gertruds Gärtchen wurde wirklich von dem geschickten David mit einer netten Einfassung von geschlungenen Weiden umgeben, und Regine brachte schöne rote Nelkenstöcke von ihrem Garten herauf. Obst gab es im Pfarrgarten nicht viel, der frühere Pfarrer hatte die Bäume etwas verkommen lassen; aber drunten in des Bauern Grasgarten, da waren dafür köstliche Birnen, saftige Pflaumen und rote Äpfel im Überfluß; so hatte Gertrud sich's noch nie schmecken lassen! – denn in der kleinen Stadt hatten sie keinen eigenen Garten gehabt. Der geschickte David, der ganz manierlich und zahm wurde, seit das Pfarrtöchterlein kam, der machte ein künstliches Mühlwerk am Bächlein draußen zu Gertruds Vergnügen; er wußte verborgene Stellen im Walde, wo es schöne Haselnüsse gab, und fing sogar ein junges Eichhörnchen, für das er ein niedliches Häuschen zusammenzimmerte, und das bei Gertrud so zahm wurde, daß es ihr die Nüsse aus der Hand fraß.

Sogar Viktor, Gertruds kleines Brüderlein, wurde den Mädchen manchmal anvertraut; Regine konnte besonders nett mit ihm umgehen und es war so schön, wenn sie das Kinderwägelein bei sich hatten und miteinander Zigeuners spielten. Einmal war Gertrud auch mitgegangen zu der alten Base im Thal. Regine hatte nicht gewagt sie dazu einzuladen, weil es ihr selbst so langweilig dort vorkam; Gertrud aber, die hatte die größte Lust dazu, als Regine ihr einmal von der Base und ihrer seltsamen Gastfreundschaft erzählte. »O hör, das muß ja herzig sein! Rechte Zigeuner wohnen da und Komödianten und Spielleute? O, da wollen wir hin!« »Närrisch! Die kommen nicht alle zusammen, und gar zu oft kommen ja solche Leut' nicht hierher,« sagte Regine; »auch kehrt meine Mutter gleich um, wenn sie von weitem so ein Wägelein sieht; die meiste Zeit ist's langweilig bei der Base. Nun, wir wollen's probieren!«

Es war kein grünes Wägelein zu sehen, als die beiden Mädchen am Sonntagnachmittag mit der Bäuerin hinausgingen; Sonntags waren Musikanten und dergleichen Leute meist fort in den Dörfern, nur ein blinder Geiger saß auf der Bank vor dem Hause, wegen dessen brauchte die Bäuerin doch nicht wieder umzukehren! Der spielte den Mädchen ein paar schöne Stücklein, für die ihn Gertrud mit ihrem ganzen Taschengeld von zehn Kreuzern belohnte; dann streiften sie durch all die leeren Räume, in denen Regine allein sich sonst ein wenig fürchtete. Sie fanden da und dort noch einen bunten Fetzen, eine kleine Schelle oder sonst einen Nachlaß der verschiedenen Gäste, die schon da oben gehaust; Gertrud machte aus, das nächste Mal müsse David mitkommen, vielleicht sogar das kleine Gretchen, dann könne man da oben prächtig Räubers spielen oder sonst schöne Sachen. Die Bäuerin war bedenklich bei diesem Plan, »hört, man weiß nicht, was das Schucklersvolk da alles zurückläßt!« Die Base aber versicherte, es müsse immer wieder sauber gekehrt und gelüftet werden. Sie freute sich, daß das Pfarrtöchterlein zu ihr kam; sie brachte nach dem Kaffee noch besonders schöne rote Äpfel und zeigte ihr allerlei Raritäten aus alten Zeiten, die sie noch bewahrt hatte: eine Brautkrone von Flittergold, daran allerlei Münzen und bunte Steinchen herabhingen, ein feines silbernes Geldbüchschen, wie ein Herz geformt, von durchbrochener Arbeit, – Gertrud ging ganz befriedigt von der Visite bei der Base nach Haus.

Wer allein etwas betrübt über die neue Freundschaft war, wenn auch in aller Stille, das war das kleine Gretchen. Ihr war, wenn sie aus der armseligen Hütte der Mutter kam, des Brunnenbauers Haus allezeit als das beste und schönste erschienen, höher hatte sie nie geschaut; zu der großen Regine blickte sie fast mit Verehrung auf und war glücklich, wenn die sich hie und da herabließ mit ihr zu spielen, wenn sie ihr kleine Dienste thun durfte. Sie dachte nicht daran, daß, wenn sie wachse, auch Regine größer und älter werde; sie freute sich nur, bis sie, wenn sie recht geschwind wachse, die Regine einholen und dann vielleicht noch ihre rechte Kameradin werden könne. Jetzt war alles anders; Regines Sinnen und Trachten stand nur darauf, wie sie, wenn sie ihre Tagesarbeit gethan, bald genug zu Pfarrers Gertrud kommen könnte, und wenn Gertrud bei ihr war, so vergaß sie ohnedies das arme, kleine Gretchen ganz, bei dem es mit dem Wachsen eben gar nicht geschwind ging, das immer ein etwas kleines verkommenes Wesen war. Gertrud ließ sie noch eher mit ankommen; die hatte entdeckt, daß das kleine Dinglein, dem niemand Unterricht gab, gar nicht dumm war und ganz geschickte Fingerlein hatte. Sie konnte, wenn sie ein paar Stückchen Papier fand, nette Puppen und Kleidchen dazu ausschneiden, wußte auch viele schöne Lieder und hatte ein helles Stimmlein, sie zu singen. Regine aber sah es nicht gern, wenn Gertrud sich mit der Kleinen abgab. »Ach laß das, das Getüftel ist langweilig!« rief sie, »komm, wir wollen auf den Berg steigen, man baut jetzt droben am Schloß, das kleine Ding kann nicht mit, für die ist's zu hoch! Da, Gretel, hast mein Vesperbrot, ich hol' mir nachher wieder eins.« Sie wußte nicht, wie mit gar betrübten Äuglein Gretchen ihnen nachsah; sie wollte dem Kinde nicht weh thun, sie dachte eben nur an das, was ihr gerade lieb war.

3. Im Ritterschloß.

So waren ein paar Jahre vergangen, ohne daß die Freundschaft viel Störung erlitten, als hie und da einen vorübergehenden Streit, ein kleines Trutzen, das aber selten länger als einen Tag anhielt. So viel spielen durften die Mädchen nicht mehr; Regine aber durfte mit Gertrud arbeiten unter Anleitung der Frau Pfarrerin und an ihren Lehrstunden beim Vater teilnehmen, was freilich nicht so regelmäßig geschah, da es auch in Haus und Hof viel für sie zu schaffen gab. Die Mutter hätte es schon gern gesehen, wenn sie Arbeit und Unterricht des Pfarrtöchterleins ganz geteilt hätte; da war aber der Vater bestimmt dagegen: er wolle keine »Stadthettel«, und wenn sie auch zu jung war, um eigentlich teil an Feldarbeiten zu nehmen, so mußte sie doch im Haus tüchtig mit angreifen und bei Hauptgeschäften mit aufs Feld. Das that aber der Freundschaft keinen Abbruch; Gertrud selbst ging manchmal mit, bei der Obsternte, beim Heumachen oder beim Kartoffelnherausthun, bei der Weinlese ohnehin, und arbeitete eine Weile mit den andern, wenn auch die große Hausmagd mitleidig rief: »Jungferlein, laß Sie's gehen, zu dem ist Sie nichts nutz.« David zündete am Schluß ein helles Feuer an von dem dürren Kraut, wobei Kartoffeln gesotten oder gebraten wurden, und war ein Heller Jubel dabei.

Von Gretchen war nicht mehr viel die Rede; so klein es war, mußte es in den Freistunden zwischen der Schule schon das ganz kleine Kind einer Nachbarin hüten; es that das nicht ungern, es hatte kleine Kinder gar lieb, und da es so nett erzählen konnte, so sammelte sich bald ein Häuflein anderer Kinder um das Wägelchen, worin der Kleine lag, und Gretchen mußte neben seinem mühseligen blauen Strickstrumpf und neben dem Kleinen, den sie beschwichtigen sollte, noch allerlei Geschichten erzählen und Spiele angeben; Regine kümmerte sich nicht viel darum.

Es war ein Ereignis für Berghalde, als im Schloß, wo lang vorher schon gebaut und gehämmert worden war, die gnädige Herrschaft nun wirklich zu längerem Verbleiben einzog. Frau von Urspring war sehr leidend und sollte auf dem Lande leben, auch der Freiherr wollte sich für eine Weile vom Militär zurückziehen und das Schloß seiner Väter bewohnen; man sagte, sie haben eine Erbschaft eingethan, die ihnen den Bau möglich machte.

Was wohnlich gemacht wurde, das war nicht das rechte eigentliche Schloß, dessen verfallene Türme so stattlich ins Thal hinabschauten; um das herzustellen hätte es größere Reichtümer gebraucht, als der Freiherr von Urspring aufzuwenden hatte; es war ein hinten angebautes Haus, wohl früher die Wohnung eines Beamten, das jetzt schön hergerichtet wurde. Die Leute erzählten gar viel, welch schöne Tapeten jetzt an den Wänden dort seien, was für fürnehme Möbel und Geräte man hinaufgeführt habe; es freute die meisten, wenn auch nicht alle, daß die Herrschaft jetzt wieder recht unter ihnen wohnen werde. Man hatte oben vor dem Eingang einen schönen Triumphbogen errichtet; die jungen Bursche vom Ort hatten alles, was von alten Büchsen, Pistolen und Flinten im Ort war, zusammengebracht und schoßen und krachten damit dermaßen, daß die gnädige Frau Kopfweh bekam und recht froh wurde, als die Einzugsfeierlichkeit vorüber war.

Die »Herrschaft« hatte zwar nichts mehr zu gebieten im Dorf, doch war ihre Anwesenheit immerhin noch eine Wichtigkeit; besonders Gertrud und Regine sprachen viel zusammen davon, wie wohl das Fräulein sein werde. Sie hatten beim Einzug bemerkt, daß ein junges Mädchen, etwa in ihrem Alter, mitgekommen war. Ein bißchen anders als andere Menschenkinder mußten sie sich das adelige Fräulein doch vorstellen. Es that Gertrud gar zu leid, als sie einmal von einem Besuch bei Regine zurückkam und hörte, daß der Herr Baron und seine Frau dagewesen seien; das Töchterlein war nicht mit gewesen, aber sie hatten gefragt, ob Pfarrers Kinder haben. Seitdem mußte sie gar oft hinaufschauen und sich besinnen, ob sie wohl auch das junge Fräulein noch werde kennen lernen.

Es war die Zeit der ersten reifen Erdbeeren und Gertrud und Regine zogen, wie sie schon oft um diese Zeit gethan, in den Wald hinauf unter Anführung Davids, der alleweil that, was er nicht sollte, der aber die besten »Plätze« im Walde wußte, wo die meisten Erdbeeren zu finden waren. Sie fanden auch wirklich ganz wunderschöne reife und aßen nach Herzenslust. »Aber etwas müssen wir heimbringen, Mama ißt sie auch so gern,« sagte Gertrud. Der kunstreiche David mußte, wo Klebbinsen wachsen, und flocht daraus ganz niedliche grüne Körbchen, eins für Regine und eins für Gertrud, in welche die allerschönsten Erdbeeren gesammelt wurden; für sich machte David kein's, »zum Schleck hab' ich g'nug 'gessen,« meinte er, »und für den Hunger ess' ich drunten lieber ein Stück Brot.«

Es gingen zweierlei Wege vom Wald ins Thal; der steilere führte am Schloß vorüber, der andere war etwas bequemer. »Warum gehn wir den Stäffelesweg?« fragte David. »O, der ist nicht so glatt,« sagten Gertrud und Regine fast zugleich: – sie wollten's nicht recht gestehen, daß sie gern am Schloß vorbeikommen mochten, in der Hoffnung, das junge Fräulein zu sehen.

Von dem Neubau, der jetzt hübsch hergerichtet war, führte eine luftige Brücke, die ehemalige Zugbrücke, zum alten Schloß hinüber, vor dem ein frisch angelegter grüner Rasenplatz war und kleine Beete, auf denen allerlei schöne Frühlingsblumen blühten. Ein elegantes Tischchen und eiserne Gartenstühle standen dort, daran saßen, mit zierlicher Arbeit beschäftigt, zwei Damen, die Baronin und die Gouvernante; Adele aber, das junge Fräulein, sprang mit einem Schmetterlingsnetz auf dem Rasen herum. Ach, wie schön und wie vornehm kam das alles der Gertrud vor! und Adele trug ihr blondes Haar in Locken, die mit einem blauen Bande gebunden waren, und ein weißes Kleid mit himmelblauer Schärpe, am hellen, lichten Werktag!

Fast etwas näher als nötig war, gingen die Mädchen an dem Rasenplatz vorüber, David hielt sich in gehöriger Entfernung. – »O, wie schöne Erdbeeren!« rief Adele verwundert, »unsere im Garten sind ja noch gar nicht reif!« Die Mädchen zögerten noch verlegen, da schob aber Regine die Gertrud etwas voran und flüsterte: »Gib ihr dein's, du kriegst dann mein's!« So trat denn Gertrud etwas schüchtern vor und bot ihr Körbchen dem Fräulein an: »Da, wenn Sie sie gern mögen...« »Aber die darf ich nicht alle nehmen!« rief Adele mit glänzenden Augen. »O, im Wald droben gibt's grad' g'nug!« schrie David aus dem Hintergrunde hervor, zu Regines großer Verlegenheit.

Die Gouvernante kam herbei, sie erlaubte Adele die Erdbeeren anzunehmen und sprach sehr freundlich mit Gertrud. »So, du bist des Pfarrers Töchterlein? und das sind ein paar junge Freunde vom Dorf, die dir den Weg gezeigt haben. Nun, ich hoffe, du und unsere Adele sollt euch noch mehr sehen, freundlichen Dank indes!« Auch Adele bot Gertrud noch die Hand und sagte eifrig: »Du mußt zu mir kommen, ich bin oft so allein; dann mußt du mir auch zeigen, wo die schönen Erdbeeren wachsen!«

Die Kinder wandelten heimwärts; Regine nötigte Gertrud, ihre Erdbeeren der Mutter heimzubringen, »meine fragt nicht so viel danach,« versicherte sie. Gertrud sprach immer von dem jungen Fräulein und ihrem weißen Kleid und der blauen Schärpe. »Was sie nur Sonntags trägt, wenn sie Werktags schon so flott ist?« besann sie sich. Regine sprach gar nicht viel, ging auch nicht mehr mit hinein ins Pfarrhaus, wie sie sonst schon gethan, und auf die Bemerkung Davids: »Du, i mein', die da droben sei ein Fratzle,« gab sie keine Antwort; sie mußte selbst nicht recht, warum ihr's betrübt zu Mut war.

Zwei Tage darauf aber sprang Regine sehr vergnügt die Treppen zum Pfarrhause hinauf; ihre Mutter butterte heut und sie hatte vom letzten Martinimarkt ein kleines Butterfaß mitgebracht, darin die Mädchen sich selbst Butter bereiten durften, die dann in kleine niedliche Bällchen geformt wurde; das war immer ein Hauptspaß für Gertrud gewesen und das Butterbrot von der selbstbereiteten Butter schmeckte so köstlich.

Regine wollte geschwind wie sonst auch in die Pfarrstube springen; aber Lisbeth, die Pfarrmagd, hielt sie zurück. »Wirst jetzt nicht hinein können. Regine,« sagte sie wichtig, »die gnädige Frau ist drinnen und die Gubernante, wie sie sie heißen, und das junge gnädige Fräulein! will's unserer Gertrud sagen, daß sie herauskommt zu dir.« Regine war etwas verdutzt, daß sie nicht wie sonst in das Wohnzimmer gehen sollte; Gertrud kam heraus, ganz aufgeregt von ihrem vornehmen Besuch, etwas rot und verlegen. »Was hast du wollen, Regine? Adele vom Schloß ist bei mir. Willst du nicht ein bißchen hereinkommen?« setzte sie etwas zögernd hinzu.

»Wir buttern heut, da hab' ich fragen wollen, ob du nicht kommst; wirst aber jetzt nicht wollen?« »Du bist recht freundlich,« sagte Gertrud, die sonst gar keinen so höflichen Ton mit Regine anschlug, »aber ich könnte wirklich jetzt nicht, weißt, es ist der erste Besuch von Adele...«

»Weiß wohl, adieu,« sagte Regine und ging rasch wieder fort. »Wie einfältig, daß sie das übel nimmt!« dachte Gertrud und doch gab's ihr einen kleinen Stich ins Herz, als sie ihre gute Kameradin so plötzlich fortgehen sah.

Aber eine Ehre war's ihr doch, daß das Fräulein zu ihr kam, und daß sie gleich eingeladen wurde, sie zu besuchen.

Wohnten sie auch droben nicht in Rittersälen, so waren doch die Zimmer so schön eingerichtet, wie Gertrud noch keine gesehen hatte, und Adele hatte ein eignes, ganz niedliches Zimmer mit einem kleinen Sofa und Theetisch, daran die Mädchen aus ganz feinem zierlichem Theegerät allein Thee trinken durften; auch hatte sie schöne Album und Bücher mit prächtigen Kupfern und Lesebücher mit Geschichten, die Gertrud so schön vorkamen, daß sie gern alle auf einmal gelesen hätte; es war wirklich eine Herrlichkeit im Schloß und bald war sie dort fast mehr als im Pfarrhause.

Das war alles sehr rasch gekommen. Die Gouvernante hatte oft schon gewünscht für Adele, die sehr lebhaft und flüchtig war, noch eine Gefährtin für Spiel und Unterricht zu finden. Zudem war es Zeit, den Vorbereitungsunterricht für die Konfirmation bei Adele zu beginnen, den der Pfarrer geben mußte; auch da war es besser, wenn sie nicht allein war. Seine Gertrud hätte der Pfarrer natürlich zu den andern Kindern im Dorf genommen, denen er den Unterricht in der großen Schulstube erteilte; für das Freifräulein von Urspring war nicht daran zu denken, daß sie in einer Stube mit Michel und Hans, auf einer Bank mit Grete und Liese sitzen sollte! So kam denn der Herr Pfarrer wöchentlich viermal aufs Schloß, um da die beiden Mädchen zu unterrichten.

Und der Frau Pfarrerin konnte es natürlich nur lieb sein, daß Gertrud Französisch und andre schöne Dinge, auch feine Handarbeiten bei Fräulein Seeger mitlernen sollte.

Ach, wie war das so schön, aufs Schloß zu steigen jeden Morgen, in so eleganten Zimmern zu verweilen, wo das gewöhnliche Wohnzimmer viel schöner war, als der Mutter beste Stube, in der die grünbezogenen Möbel beständig weiß zugedeckt waren, um sie vor Staub zu schützen; wie reizend das Dejeuner und Gouter, in Adeles niedlichem Zimmer oder draußen auf dem Rasenplatz! Das Lernen freilich war oft minder angenehm; Gertrud war vom Vater an ein ernstes Aufmerken und fleißiges Arbeiten gewöhnt. Adele aber war eine wilde Hummel, die allerlei Possen trieb; unter den ernstesten Lektionen zupfte sie Gertrud heimlich am Kleid oder kribbelte sie mit den Fingern, um sie lachen zu machen; malte ihr, wenn sie einen Augenblick vom Buch aufsah, Fratzengesichter und Störche in ihr Schreibheft, und wenn Fräulein Seeger ernstlich böse ward, so sagte sie lachend: »O liebe Fräulein Lulu (sie hieß Luise), das ist Ihnen gar nicht ernst; warum soll ich denn Weltgeschichte lernen? Das ist ja alles schon so lange vorbei!« An solch ein Lernen war Gertrud nicht gewöhnt, Fräulein Seeger auch nicht, und wenn Adele lachend herumhüpfte, so dachte sie nicht, wie sie, die man für ein gutmütig Kind hielt, der Lehrerin ihren Beruf und das Leben oft blutsauer machte.

Die Herrschaft blieb auch über den Winter da, weil Adele vor ihrer Konfirmation nirgends eingeführt werden sollte. Etwas hübscher gekleidet mußte Gertrud jetzt schon werden, die Kattunkleidchen und baumwollenen Schürzen, die sie sonst für Alltag getragen, thaten's nicht mehr auf das Schloß; es wollte ihr auch daheim allerlei nicht mehr recht gefallen, so daß die Mutter oft in stiller Sorge war, Gertrud werde verwöhnt, und es ihr zu Zeiten fast lieber gewesen wäre, die alte Kameradschaft mit Regine hätte noch bestanden.

Ja, für die gute Regine da hatte Gertrud eben fast gar keine Zeit mehr frei! Die Frau Pfarrerin, der es leid that um die alte Freundin, hatte schüchtern angefragt bei der Gouvernante, ob das gutbegabte Mädchen nicht vielleicht auch an einer Lektion teilnehmen könnte. »Liebe Frau Pfarrerin, das geht wohl nicht,« hatte Fräulein Seeger geantwortet; »Frau Baronin achtet gewiß den Bauernstand, will auch den Kindern vom Dorf einmal ein ländliches Fest geben; – aber zu täglichem Umgang für das junge Fräulein, da taugt denn doch eine Bauerntochter nicht; es wird auch für Ihre Gertrud besser sein, wenn sie nicht zu viel Verkehr mehr mit dem Mädchen hat, – es nehmen sich da doch gewisse Manieren an...«

Der Herr Pfarrer, der zugegen war, dachte im stillen, die respektvolle Aufmerksamkeit, mit der die Bauernkinder drunten seinem Unterricht lauschten, sei bessere Manier, als der rastlose Mutwillen der reizenden Adele, mit dem sie auch in seinen Unterricht so oft Störung brachte.

Gertrud selbst wollte ihre alte Freundin nicht kränken; sie besuchte sie einigemal, besonders als der Frühling wieder kam, aber sie war auf einmal nicht mehr daheim in Haus und Hof drunten; in den hübscheren Kleidern konnte sie sich nicht wie sonst umtreiben im Grasgarten, die zwei Mädchen wußten nicht so recht mehr, was sie miteinander anfangen sollten, und Gertrud war fast froh, als die Stunde schlug, wo sie zum Musikunterricht aufs Schloß sollte. Der kecke David, der auch beleidigt war, daß das Pfarrjungferlein nach ihm so gar nichts mehr fragte, der stand hinter der Hecke und sang ihr ein Spottliedlein nach:

»Gang mer aweg mit Sammetschühle,
Gang mer aweg mit Bändele!
Bauremädle sind mer lieber
Als so Kaffeepümpele« –

was Gertrud sehr übel nahm, so daß sie sich vornahm, nichts mehr mit dem groben Buben zu reden.

»Besuch mich doch auch wieder!« hatte sie zu Regine gesagt; die Mutter hatte ihr aufgetragen, die alte Kameradin einzuladen. »O, du bist ja gar nicht mehr daheim, bist immer auf dem Schloß,« sagte Regine in halbgekränktem Ton. »Ach nein, komm nächsten Sonntag!« bat Gertrud, bei der sich auch ihr gutes Herzchen regte, »da haben wir keine Lektionen und Adele fährt meistens aus mit ihren Eltern, dann kann ich ganz wohl daheim bleiben; nicht wahr, du kommst?« sagte sie im Ton der alten Freundschaft, »dann kochen wir einmal wieder, das mag Adele nicht.« Regine versprach es gern; es machte ihr die alte Liebe und Freude am Verkehr mit ihrer Gertrud auf und sie zählte in der Stille Tage und Stunden, bis es Sonntag sei.

Auch Gertrud freute sich wieder auf die alte Gespielin und dachte der fröhlichen Zeiten, die sie zusammen gehabt; sie richtete am Sonntag ihr Kochgeschirr zusammen und die weiße Schürze. Es war ihr seither oft ein leiser Stich ins Herz gewesen, wenn sie Regine von weitem gesehen, nun sollte alles wieder schön und gut werden! So ein paar Stündchen hie und da konnte sie immer noch für ihre Regine finden.

Sie stand im Garten, um sie zu erwarten; die Mutter war oben mit einer Freundin, die bei ihr zu Gast war, – da kam nicht Regine, wohl aber der Diener vom Schloß in seiner flotten Livree, in der ihn die Leute zuerst für einen General gehalten. »Eine Empfehlung von der gnädigen Frau und sie machten heute mit dem jungen gnädigen Fräulein eine Fahrt aufs Lustschloß, Fräulein Gertrud möchten auch mitkommen; wir fahren aber gleich.«

Ausfahren! Aufs Lustschloß, das sie noch nie gesehen und von dem sie schon Wunderdinge gehört hatte! Ach, das war gar zu herrlich! Sie war noch sehr selten mit ausgefahren, da sonst der Freiherr selbst mitfuhr und deshalb für sie kein Raum war; nun an dem schönen Tag in dem prächtigen offnen Wagen! Und das neue Sommerhütchen, das Fräulein Seeger mit dem Adeles aus der Stadt verschrieben, das hatte sie auch noch nicht aufgehabt, und den neuen Sonnenschirm, den ihr Adele geschenkt; wie schön konnte man das heute einweihen!

Atemlos stürzte sie zur Mutter hinauf: »Mama, der Bediente vom Schloß war da und hat mich eingeladen; ich darf mitfahren aufs Lustschloß, weißt, das haben wir noch gar nicht gesehen! Du erlaubst es natürlich? Und da muß ich doch mein weißes Kleid anziehen?«

Sie eilte fort, ohne recht auf Antwort zu warten; die Mutter, gerade im eifrigen Gespräch mit ihrer alten Freundin, ließ es geschehen. Erst als Gertrud im weißen Kleid und neuen Hut freudeglühend noch geschwind kam, um adieu zu sagen, fiel ihr ein: »Aber, Kind, hast du nicht gesagt, du habest auf heute Regine eingeladen?«

»Ach weißt, so förmlich eingeladen nicht,« sagte Gertrud verlegen; »sie sagte nur, sie komme vielleicht und es ist auch ungewiß, ob sie daheim nur weg kann. Wenn sie je noch käme, so bitte sie nur, daß sie nächsten Sonntag wieder kommt, da bleibe ich dann ganz gewiß daheim! Sie kann auch meine neuen Bücher sehen, wenn sie will, aber ich glaube, sie kommt gar nicht.«

Fort war sie wie der Sturmwind, und die Mutter, die ihr so gern die Freude gönnte, wollte sie nicht zurückhalten, obschon ihr die Ausrede etwas verdächtig war.

Regine drunten, die hatte indes kaum, erwarten können, bis die Stunde schlug, wo Herrn Pfarrers gewiß abgegessen hätten! Die Mutter ging heute zu der Base, wollte aber Regine nicht nötigen, mitzukommen; sie freute sich selbst für sie, daß sie einmal wieder das alte Vergnügen genießen sollte, und Regine schlug das Herz vor Freude, als sie die Stäffelein zum Pfarrhaus hinaufstieg. Sie war ein vernünftiges Mädchen, so entschuldigte sie selbst Gertrud über alle Vernachlässigung der letzten Zeit. »Sie hat's nicht bös gemeint, sie hat ja wohl nicht anders können und sie mag mich doch!« sagte sie zu sich selber. »Wenn wir nun heut recht vergnügt miteinander sind, so kommt sie wohl auch gern wieder zu mir, und es wird wieder alles recht.«

Geputzt hatte sich Regine auch zu dem Besuch; ein nagelneues lila Zitzkleid, das die Mutter ihr am letzten Markt in der Stadt gekauft hatte, und einen neuen, runden Strohhut mit breitem, rotem Band, – sie dachte in der Stille, selbst wenn das gnädige Fräulein heut käme, dürfte sie sich wohl sehen lassen. Sie trug in ihrem Körbchen ein paar große Stücke goldgelben Rahmkuchens, den Gertrud besonders gern aß und den die Mutter gestern beim Brotbacken extra für sie gemacht hatte. Sie läutete an der Hausglocke, die Pfarrmagd steckte oben den Kopf aus dem Fenster: »Unsere Gertrud ist nicht daheim, der Bediente hat sie aufs Schloß geholt,« rief sie mit einigem Stolz, »sie ist ausgefahren mit der gnädigen Herrschaft.«

Da saß die arme Regine auf der Bank vor dem Haus, auf der sie so oft mit ihrer Gertrud gespielt und geplaudert hatte, und weinte zum Herzbrechen – das war die alte Freundschaft, die wieder anfangen sollte! So unglücklich, so betrogen und verraten konnte kein Mensch auf der Welt sein, als sich jetzt des Brunnenbauers Töchterlein vorkam. Jetzt wollte sie aber keinem Menschen in der Welt etwas Gutes mehr zutrauen!

Die Frau Pfarrerin hatte die Hausglocke gehört. »Drunten sitzt 's Brunnenbauers Regine und heult,« sagte auf ihr Befragen die Magd, die selbst etwas betreten war über den Jammer des Mädchens; die Pfarrfrau ging eilig hinunter, um sie zu beruhigen und mit herauf zu nehmen. Das Körbchen mit dem Kuchen stand auf der Bank, Regine aber war schon auf dem Heimweg, sie sah sich nicht ein einziges Mal mehr um. »Jetzt ist alles, alles vorbei,« dachte sie immer wieder und wieder in ihrem traurigen jungen Herzen.

Die Mutter, der Regine abends ihr ganzes bitteres Herzeleid, ihren Grimm über die stolze, falsche Gertrud klagte, redete ihr gütlich zu: »So schwer mußt's nicht nehmen; wer weiß, ob du's nicht auch so gemacht hättest! und früher oder später laufen eure Wege doch auseinander.« Regine aber wollte sich nicht trösten lassen, es war eine bittere Erfahrung für ein so junges Leben. Daß das kleine Gretchen ihr ein zierliches Buchzeichen, das die Stricklehrerin sie hatte aus buntem Papier flechten gelernt, heimlich in ihr Gesangbuch gelegt, das hatte sie freilich auch nicht beachtet und den verlangenden Blick nicht gesehen, mit dem das Kind wartete, ob wohl Regine eine rechte Freude daran habe.

Ein etwas böses Gewissen hatte Gertrud zuerst, so leichtfüßig sie auch den Schloßberg hinauflief; aber es war doch gar zu herrlich, als sie mit der gnädigen Frau, mit Adele und Fräulein Seeger in dem schönen, bequemen Wagen saß, der so pfeilschnell hinausflog in das weite, herrliche Land. Der Berg, der dem Dorf zu steil abfiel, verlief oben in eine Hochebene. Hier war Gertrud fast noch nie gewesen, da der Pfarrer und seine Frau ihre Gänge lieber im Thal machten.

Aber das Lustschloß? Wo blieb denn das? Sie sah gar nirgends Zinnen und Türme eines Schlosses ragen; da, – noch eine Wendung, an einem kleinen Obstwäldchen vorbei, da stand mitten auf wundervoll grünem Rasen, in dem reizende Blumenboskette angepflanzt waren, das Lustschloß, ringsum ein kleines Wäldchen von Tannen und vorne, da wo die breiten Stufen hinabführten, lag jenseits des Rasens ein kleiner, klarer See, alles still, ganz stille ringsum, nur eine Schildwache wanderte gleichförmigen Schrittes auf und ab.

Daß das Schlößchen ganz im Rokokostile gebaut und möbliert sei, wie Fräulein Seeger den Mädchen erklärte, hatte Gertrud nicht gewußt, war ihr auch gleichgültig; ihr kam es vor wie ein Feenschloß aus der Märchenwelt: die breite Freitreppe, an deren beiden Seiten zwei steinerne Löwen Wache hielten; das Dach von blauem Schiefer; die seltsam geschnörkelten Verzierungen an den hohen Fenstern; vor allem der Blick auf den See, wo ein paar schneeweiße Schwäne ihre Kreise zogen; die tiefe Stille, die über allem lag, – das deuchte ihr zu wunderbar, sie wagte zuerst gar nicht laut zu reden.

Adele, die respektierte das wunderbare Schloß gar nicht so; sie sprang die Freitreppe auf und ab; sie versuchte durch die hohen Fenster zu schauen, die aber von innen mit Läden verschlossen waren. Gertrud war ganz in Angst, die Schildwache möchte ihren Säbel ziehen, und recht erleichtert, als die wilde Hummel von der Mutter herabberufen wurde an ein Tischchen im Grünen, wo, abermals wunderbarerweise, bald Kaffee mit Rahm und Butterbrot aufgetragen wurde, der herrlich schmecken mußte an einem so wunderschönen Platz.

Ja woher kam denn der? Doch nicht aus dem verzauberten Schlosse, das rund und rundum verschlossen, in so tiefem Schweigen dalag? Ach nein, der kam von der Frau Kastellanin, die in einem netten, weißen Hause, etwas in den Bäumen versteckt, hinter dem Schlosse wohnte und die Erlaubnis hatte, eine kleine Kaffeewirtschaft zu halten. Nein, so hatte Gertrud noch nie Kaffee getrunken! Da blieb kein Gedanke übrig für die arme Regine, die eben in tiefer Betrübnis vom Pfarrhaus heimwärts ging.

Die Frau Kastellanin kam selbst zu der gnädigen Herrschaft, deren Namen sie vom Kutscher erfahren hatte: »Die Herrschaften wollen doch auch unser Schloß besehen?«

»Gewiß,« sagte Frau von Urspring, »wenn es erlaubt ist.«

»O warum nicht? Durchlaucht haben da nichts dagegen, im Gegenteil, es ist ja ohnehin jammerschade, daß unser schönes Schloß so lotterleer steht, mit gehörigem Respekt zu sagen; aber im Stande muß doch alles sein, sind auch in letzter Zeit einige Zimmer im untern Stock neu eingerichtet worden. Man sagt schon lange davon, daß Durchlaucht, die verwitwete Frau Herzogin mit Prinzessin Manuela hier einen Aufenthalt nehmen werden. Durchlauchtige Prinzessin sind gar zart, sind schon in Italien und an allen möglichen Kurorten gewesen und wollen's auch noch hier probieren. Möchte wohl wissen, wo es gesünder sein könnte und schöner als hier.«

Die Kastellanin öffnete, Frau von Urspring blieb im Freien zurück, sie hatte schon Schlösser genug gesehen; Gertrud, mit weit offenen Augen, trippelte in stiller Ehrfurcht sachte auf dem Streifen, der auf den prächtigen Teppichen gelegt war, sorgsam, ja nicht darüber hinauszutreten; Adele jubelte laut auf vor Freude und Verwunderung und mußte von Fräulein Seeger immer in Ordnung gehalten werden, weil sie beständig hin und her hüpfen wollte, da die wunderbare Uhr betrachten, um die zwölf Stunden in verschiedenen Gewändern herumkreisten; dort das hohe glänzende Papageienkäfig bewundern, darin zwei Paar buntfarbige Papageien sich höflich gegenübersaßen, freilich nur ausgestopfte, und während Gertrud den Saal anstaunte mit den deckenhohen Spiegeln und Bildnissen alter Fürsten und Prinzessinnen, zum Teil in ganz altertümlichen, wunderlichen Trachten, entdeckte Adele mit Freudengeschrei in einem Seitenkabinett ein Hundehäuschen, fast wie eine Kapelle gestaltet (wozu Fräulein Seeger ernsthaft den Kopf schüttelte), darin, gleichfalls ausgestopft, »der Leibmops selig der höchstseligen Frau Fürstin,« wie die Kastellanin berichtete, noch mit ganz bissigem Gesicht unter der Thüre lag. Reizende Porzellanfigürchen, zierliche Tassen und Kännchen, kunstvolles Geräte aller Art war da zu sehen; die Mädchen wären gar nicht fertig geworden mit Bewundern, wenn nicht der Frau Kastellanin die Zeit lang geworden wäre und Fräulein Seeger zur Eile getrieben hätte.

Daß es hier wunderschön sei, war für Gertrud keine Frage; aber daß man da recht eigentlich wohnen, essen und schlafen könne, das konnte sie sich doch nicht vorstellen. Als sie aber zum Schluß aus besonderer Vergünstigung noch die unteren Zimmer sehen durften, die für die Möglichkeit, daß die Herzogin komme, neu hergerichtet waren, dachte sie: »Ja, da ließe sich leben fast wie im Paradiese.«

Da war der Gartensaal, dessen breite Glasthür auf die Freitreppe führte, ganz mit roter Seide ausgeschlagen; schöne Gewächse waren noch nicht viel da, weil das Kommen der hohen Herrschaften noch ungewiß war, aber in den Nischen standen weiße Marmorbilder, eine Flora, eine Ceres, eine Pamona, und man sah so prächtig hinaus auf den grünen Rasen und an den blauen See. Dann aber erst das Kabinett für Prinzessin Manuela (was war das schon für ein schöner Name!), ganz in Himmelblau, und ein so wundernetter Arbeitstisch, mit Perlmutter eingelegt, an dem hohen Fenster – daß Prinzessinnen auch arbeiten, hatte Gertrud nicht gedacht –; ein klein wenig ließ die Frau Kastellanin sie hineinschauen und all das zierliche Gerät von Perlmutter darin bewundern. »Ja, sie thun der armen jungen Durchlaucht alles zuliebe, weil sie so viel krank ist,« sagte mitleidig die Kastellanin. – Gertrud war's wie im Traum, daß es Menschen auch so gut haben können; selbst krank sein dünkte ihr herrlich, wenn man in himmelblauem Zimmer, auf solch reizendem gesticktem Fauteuil ruhen dürfe.

Bedenket, daß es das erste Fürstenschloß war, das Gertrud gesehen, und dazu vor dreißig Jahren, wo die Welt noch lange nicht von so viel Pracht und Eleganz verwöhnt war, wie heutzutage!

Auch Adele plauderte der Mutter erstaunlich viel vor von den Herrlichkeiten des Schlosses und meinte: »Nicht wahr, Mama, wenn wir unser Schloß, unser rechtes, altes Ritterschloß wieder herbauen, dann gibt's auch so schöne Säle, und dort im Erker, da läßt du mir dann ein himmelblaues Zimmer einrichten, oder vielleicht rosenrot? Aber ich will lebendige Vögel, keine ausgestopften, auch keinen Mops, aber einen schönen Windhund; nicht wahr, dann bin ich wie ein Burgfräulein?«

»Das alte Schloß wieder aufzubauen und herzustellen, das wäre wohl selbst dem Herzog zu teuer,« sagte lächelnd die Mutter; »es sieht oft eher aus, als sollten die Schlösser abgebrochen statt neu gebaut werden.«

»Da haben gnädige Frau recht,« fiel bedenklich die Frau Kastellanin ein, die sich verpflichtet glaubte, den Herrschaften Gesellschaft zu leisten; »die Leute werden gar wüst und wollen nicht mehr recht begreifen, daß nicht alles gleich sein kann in der Welt. Kein Respekt mehr, sag' ich oft. Die alten Herren haben's vielleicht mitunter ein bißchen schlimm getrieben, den jungen verdanken sie ihre Gutthat nicht. Gnädiges Fräulein haben vorhin gemeint, die arme Schildwache müsse umsonst so viele Langeweile ausstehen, ich aber wollte, man hätte nicht bloß eine, um unser Schloß zu beschützen; man hört oft rohe Redensarten, wie es schade sei, daß so ein Bau leer stehe, wo so viel arme Leute keinen Unterschlupf haben. Ja wohl da! das würde bald sauber aussehen, wenn man die hereinließe!«

»Wir können freilich nicht alles ausgleichen,« sagte Frau von Urspring, indem sie aufstand, denn ihr Wagen war angespannt. »Wer sich redlich mehrt, dem wird wenigstens ein Kämmerlein nicht fehlen, und in den prachtvollen Schlössern sind schon viele schwere Herzen gewandelt. Es ist oft nicht so ungleich, als es scheint. Guten Abend, Frau Kastellanin!«

Auch die Heimfahrt war herrlich durch die sternhelle Nacht; Gertrud konnte daheim gar nicht genug erzählen, wie schön der Tag gewesen. War ihr freilich leid, als ihr die Mutter das Körbchen mit den Frühkirschen brachte und ihr sagte, wie tief gekränkt Regine wieder abgezogen sei.

»Aber nicht wahr, Mütterchen, ich mußte doch gehen? Das konnte ich doch nicht ablehnen?« fragte sie immer wieder; »wie würde das Adele übel genommen haben und die gnädige Frau!«

Die Mutter vertröstete sie; man wolle schon sehen, es bei Regine wieder gut zu machen; aber einen leisen Stachel behielt Gertrud doch im Herzen, als sie unter den Bildern des wunderbaren Schlosses, die ihr vorschwebten, endlich einschlief.

Am Dienstag darauf wurde die Pfarrmagd zu Brunnenbauers gesandt mit einer Einladung an Regine, den Nachmittag bei Gertrud zu verbringen. Das war sonst nie geschehen. Gertrud war hinuntergehüpft und hatte beim Gehen gesagt: »Gelt, morgen kommst, Regine?« Diesmal aber hatte sie allerlei Gründe gewußt, warum sie nicht selbst gehen konnte, und hatte von der Mutter erlangt, daß die Magd einladen mußte, die ohnehin eine Bestellung im Dorf zu machen hatte. Die Bäuerin ließ sagen: es thue ihr leid, aber ihre Regine habe heute nicht Zeit, ins Pfarrhaus zu kommen. »Die Leute sind auch unnötig empfindlich,« meinte die Mutter. Man schickte nicht wieder und Regine kam nicht mehr, – es war Gertrud schon lieb, daß sie nicht mehr gehemmt war in ihrem Verkehr mit der munteren Adele; aber ein bißchen that ihr doch das Herz weh, so oft sie hinuntersah an das Bauernhaus drunten, wo sie so oft vergnügt gewesen war; sie mochte gar nicht mehr gern ins Thal spazieren gehen, weil sie sich scheute, Regine zu begegnen. Es wäre so viel einfacher gewesen, sie wäre einmal hinunter gegangen, hätte Regine die Hand geboten und gesagt: »Es thut mir leid, nimm mir's nicht übel!« Aber es fällt jungen und alten Herzen gar schwer, zuzugeben, daß sie unrecht gehabt, und doch würde so viel Verdruß und Herzeleid auf Erden damit abgeschnitten und erspart.

4. Die Konfirmation.

Die Zeit des Vorbereitungsunterrichts war nun vorüber, am ersten Sonntag im Mai sollte die Konfirmation sein. Frau von Urspring konnte sich nicht entschließen, ihre Adele mit den Bauernmädchen und Buben in der Dorfkirche konfirmieren zu lassen. Die kleine Kapelle oben im Schloß wurde mit vieler Mühe gereinigt und so weit hergestellt, um die vornehmen Gäste, Paten und Onkel Adeles, die zu der feierlichen Handlung eingeladen waren, würdig empfangen zu können. Der Pfarrer war nicht gern auf den Wunsch der gnädigen Frau in betreff dieser Sonderkonfirmation eingegangen; doch sagte er es ihr endlich zu, als sie ihm so rührend vorstellte, wie sehr Adeles alter Großvater wünsche, sein Enkelkind in der Kapelle seiner Ahnen, die so lange im Verfall gewesen, eingesegnet zu sehen. »Und ich denke, es versteht sich von selbst, lieber Herr Pfarrer,« fügte Frau von Urspring hinzu, »daß Ihre Gertrud, die seither mit Adele den Unterricht geteilt, auch teilnimmt an der heiligen Handlung. Ganz allein könnte unsere Kleine doch etwas schüchtern sein, da sie, obwohl sonst so lebhaft, doch im Antworten nicht sehr gewandt ist; mit Gertrud wird es ihr leichter. Sie erlauben mir wohl, daß ich den beiden Kindern den gleichen Anzug besorge: ein weißes Gewand mit Schleier, was ja so viel anmutiger ist, als das traurige Schwarz der Landleute hier; so sind sie wie Schwestern.«

»Dafür, gnädige Frau, danke ich,« sagte der Pfarrer mit entschiedenem Ton; »ich habe auf Ihren Wunsch meiner Gertrud den Unterricht mit Ihrer Tochter erteilt; eingesegnet aber soll sie werden mit den Kindern des Dorfes, damit es nicht scheine, als ob der Pfarrer sich zu vornehm dazu dünke; auch für Kleid und Schleier danke ich herzlich, so lieblich der Jugend das weiße Gewand steht. Es ist einmal nicht Sitte hier, und ich denke, das ernste Gewand paßt auch für die Jugend zu der ernsten Feier; je weniger an diesem Tag die Mädchen überhaupt an ihr Kleid denken, desto besser ist es.«

Die Frau Pfarrerin meinte zuerst, sogleich abweisen hätte man das freundliche Anerbieten der gnädigen Frau nicht sollen; sie hätte gerade nicht ungern ihre Gertrud im weißen Kleid und Schleier in der Schloßkapelle mit dem jungen Fräulein gesehen; aber sie mußte ihrem Gatten recht geben, als er ihr seine Gründe sagte. Adele, die war am meisten unzufrieden darüber. »Ach geh, wie ist doch dein Papa so wunderlich! – weißt, ich verehre ihn ja sehr, – aber 's wäre doch so viel schöner gewesen, wenn wir zwei miteinander eingesegnet worden wären, als wenn ich allein da aufsagen soll vor den alten Tanten und dem vornehmen Großpapa; könnten wir ihn nicht noch recht bitten, Trudchen?« Das wollte Gertrud nicht, wenn es ihr zuerst auch leid war, nicht mit Adele zu sein, und beinahe eine Verlegenheit, wieder unter die Dorfkinder zu gehen. Aber sie hatte ihres Vaters Unterricht wohl zu Herzen gefaßt und sah in der Konfirmation nicht nur ein paar ernste Stunden, mit denen man aus der Schule eingeführt werde unter die Erwachsenen, sondern eine heilige Feier, in der sie mit freiem, klarem Willen ihr junges Herz sollte fürs ganze Leben dem Herrn zu eigen geben und bei ihm die Kraft suchen, den rechten Pfad zu einem seligen Ziele zu finden. So fügte sie sich gern des Vaters Wunsch.

Zusehen durfte sie doch der Feier in der Schloßkapelle. Ein prächtiger Fußteppich und ein gesticktes Kissen lagen vor dem Altar und schön geputzte Damen saßen in den alten, geschnitzten Stühlen. Gesang hatte man nicht und die Orgel in der Kapelle war längst schadhaft; aber man hatte ein Harmonium herbeigeschafft, auf dem der Schulmeister einen Choral spielte. Adele, die allein auf einem Stuhl in der Nähe des Altars saß, hatte nur wenige Fragen zu beantworten, in die der Pfarrer die christliche Glaubenslehre und das Bekenntnis gefaßt hatte; vor dem Altar stehend, sagte sie ihr leises Ja zu dem feierlichen Gelübde, und es sah sehr schön aus, wie die schneeweiße, zarte Gestalt auf dem reichen Teppich kniete, um den Segen zu empfangen. Adele aber, als Gertrud tiefbewegt ihr nachher die Hand gab, flüsterte ihr zu: »Hab' ich's auch recht gemacht? O, wie bin ich so froh, daß es vorüber ist! War mein Kleid nicht sehr zerknittert?« Das ging Gertrud durch die Seele, obgleich sie nichts darüber sagen konnte. Die Teilnahme an der festlichen Familientafel hatte der Pfarrer für sich und sein Töchterlein dankend abgelehnt.

Es war doch auch schön, als am nächsten Sonntag die Glocken der Dorfkirche zusammenläuteten und Gertrud zwischen Vater und Mutter hinabstieg zum Dorf, wo vom Schulhause aus der Zug der Kinder zur Kirche wallte: all die Mädchen schwarz gekleidet, mit blühenden Straußlein in der Hand, die Knaben mit mächtig großen Sträußen im Knopfloch. Regine und Gertrud gingen zusammen, jede hatte ein Sträußchen von Rosenknospen, Frührosen, die Regine lang vorher schon in der sonnigsten Gartenecke ganz besonders gepflegt und begossen hatte, denn es war noch nicht Rosenzeit; all die anderen Kinder hatten nur Hyazinthen, Narzissen oder Tulpen, wenn nicht gar gemachte Blumen. Es war diesen Morgen ein schönes Bouquet, so groß wie ein kleiner Teller, vom Schloßgärtner gebracht worden für Gertrud; als aber bald darauf Regine vor der Pforte stand und schüchtern fragte: »Gertrud, ich habe die Röslein für dich und für mich gezogen, willst nicht ein Sträußlein davon?« da hatte Gertrud aus eigenem Antrieb das prachtvolle Bouquet in ein Glas gestellt und sich mit Regines Sträußchen geschmückt.

Die Mädchen hatten schon tags zuvor Frieden geschlossen, beim Stellen, wie man es nennt, als in der Schulstube die Fragen und Antworten noch einmal überhört und die Reihenfolge der Kinder bestimmt worden war, damit es bei der Feier selbst in guter Ordnung zugehe. Sie saßen nach etwas scheuem Gruße nebeneinander; als Regine die Antwort auf die Frage aufzusagen hatte: »Was heißt den Nächsten lieben?« die lautet: »Den Nächsten lieben heißt nicht nur, es mit demselben getreulich meinen, ihm alles Gute von Herzen wünschen und gönnen, sondern auch seine Schwachheit mit Geduld ertragen u.s.f.,« da hatte sie sich in der Stille geprüft, ob sie so die Gertrud lieben könne, und sie hatte gefunden, daß sie es gewiß getreulich mit ihr meine und ihr alles Gute von Herzen wünsche und gönne; etwas Ähnliches war auch in Gertruds Seele vorgegangen, und nach dem Schluß der Probe hatten sie sich, unbemerkt von den anderen Kindern, zugleich die Hände geboten; Gertrud hatte gesagt: »Nicht wahr. Regine, du bist nicht mehr böse auf mich?« – »Ich, o behüte Gott!« hatte Regine aus überströmendem Herzen erwidert; »ich bin nur ein dummes Ding gewesen, daß mir's damals so weh gethan! Ich trag' dir gewiß und wahrhaftig nichts mehr nach!«

So wandelten sie denn jetzt versöhnt nebeneinander zur Kirche, wo die Gemeinde andächtig sang: »Herr, sie sind Dein, Laß ihre Reih'n Dir an Dein Herz geleget sein.«. Und als der Chor der Kinder sich erhob zu dem feierlichen Gesang: »Stärk uns, Mittler, Dein sind wir«; als sie alle mit einer Stimme zuletzt das feierliche Gelübde sprachen: »Herr Jesu, Dir leb' ich. Dir leid' ich. Dir sterb' ich. Dein bin ich tot und lebendig, mach mich, o Jesu, ewig selig! Amen«; als jedes seine Hand in die des Geistlichen legte und niederkniete zum Segen, da fühlte Gertrud tief, daß es schön ist, mit vielen sich zu einen in einem heiligen Glauben; daß es einen Punkt gibt im Leben, wo Rang und Glanz der Erde ihre Bedeutung verlieren, weil uns da die Ahnung aufgeht von einem viel höheren und schöneren Erbe, das uns aufbehalten ist. Gar stille ging sie an der Mutter Hand wieder den Weg in das Pfarrhaus hinauf, wo nur ein Onkel und die ihr besonders liebe Tante Marie, eine Schwester der Mutter, das bescheidene Festmahl teilten.

5. Im Fürstenschloß.

Die heilige Feier war vorüber und das Leben kam wieder in seinen Alltagsgang. Gertrud und Regine grüßten sich freundlich, wo sie sich begegneten. Regine brachte auch selbst hin und wieder ein Küchengrüßlein ins Pfarrhaus; aber die alte Kinderfreundschaft lebte doch nicht mehr so recht auf. »Bleib, wo du bist,« sagte zu Regine ihre Mutter; »eure Wege gehen nun einmal doch nicht zusammen; dann gab' dir's früher oder später wieder einen Herzstoß wie dazumal, von weitem könnt ihr gut Freund bleiben.« Auch gab es für Regine nun täglich mehr zu thun in Haus, in Hof und Garten, so daß nicht viel Zeit zu heiterem Mädchenverkehr übrig geblieben wäre.

Dagegen ging sie nun mehr mit Gretchen um, deren Mutter indes gestorben war, und die man als so ein »Gottswillenkind«, wie man's im Dorfe nennt, auf dem Hofe behielt. Das kleine Ding war so flink und so willig zu jeder Hilfe, so froh. wenn sie mit Regine etwas gemeinsam thun durfte, so glücklich, wenn die ihr etwas mitteilte von den schönen Liedern und Geschichten, die sie droben im Pfarrhaus gelernt und gelesen hatte, und Regine fand, daß sie ein ganz gescheites kleines Weselein sei, das sie in allem wohl verstand und manchmal noch ganz besonders gute Einfälle hatte.

Gertrud mußte nun freilich auch ihre Lehrzeit bei der Mutter beginnen, in der Küche, in Besorgung der Wäsche und allerlei häuslicher Arbeit; sie that es gern, aber sie freute sich, doch alle Tage auf den Nachmittag oder Abend, der sie hinaufführte zum Schlosse. Der munteren Adele droben wurde bei der kränklichen Mama und dem ernsten Fräulein Seeger die Zeit oft gar lang und sie konnte kaum erwarten, bis Gertrud kam, mit der sie dann herumstreifen, im Garten sitzen und lesen oder singen konnte; war ihr freilich auch das oft nicht genug zur Unterhaltung, und sie freute sich ungemein auf den Winter, wo sie in die Residenz sollte zu ihrer Tante, der Frau Oberst von Norden. Auch Gertrud sollte da ins Haus ihres Onkels, des Studienrats, um Stunden in allerlei weiblichen Arbeiten zu nehmen, und Adele machte schöne Pläne, wie sie dann erst recht beisammen sein wollten.

»Weißt, bei meiner Tante ist's ein bißchen steif und die Cousinen sind älter als ich, die predigen mir immer, was sich schickt und was sich nicht schickt, – aber wir wollen's schon machen, daß wir zusammen kommen; wenn allemal deine Stunden aus sind, dann wandern wir ein bißchen miteinander herum, zur Parade, in den Schloßgarten, an den schönen Läden vorbei, und du mußt oft mit uns ausfahren; ins Theater gehen wir auch miteinander, die Tante soll dir ein Billett schicken, dann plaudern wir nachher zusammen darüber, – o, wie wird das herrlich sein!« Adele hüpfte vor Vergnügen und auch Gertrud freute sich auf die Herrlichkeiten der Residenz, die sie seither nur bei kurzen Besuchen gesehen, und sie kam jetzt erst so recht ins Feuer der ersten Freundschaft mit ihrer Adele hinein, die zu einer gar lieblichen Erscheinung heranwuchs.

Ausfahren durfte Gertrud nun öfter als zuvor mit der Herrschaft in der lieblichen Gegend; Adele erklärte es zwar manchmal auch für langweilig, da man selten unterwegs anhielt, weil Frau von Urspring meist zu müde dazu war; für Gertrud war solche Ausfahrt aber immer eine neue Freude.

Einmal ging's auch wieder zum Lustschloß, das den Mädchen noch wie ein Feensitz vorschwebte; diesmal aber durften sie nicht wie damals im kühlen Baumschatten den guten Kaffee der Frau Kastellanin trinken. Frau von Urspring war sehr elegant gekleidet, in einer grauseidenen Robe und einem duftigen Spitzenhut; sie machte heute der alten Frau Herzogin ihre Aufwartung, die nun endlich mit Prinzessin Manuela in dem Lustschloß eingezogen war. Fräulein Seeger und die jungen Mädchen mußten aussteigen, ehe die Freifrau mit dem Wagen am Schlosse vorfuhr, und durften sich ergehen in dem Park, bis sie wieder zurückkam. »O, Mama, nimm mich mit!« bat Adele, »ich möchte gar zu gern Prinzessin Manuela sehen und möchte wissen, ob sie jetzt nicht lebendige Papageien hat, und unser Diener sagt, die Prinzessin habe ein kleines Reitpferd und einen schneeweißen Windhund, o Mütterchen, das muß herzig sein!« Adele wäre fast im Wagen in die Höhe gehüpft.

»Es geht nicht, mein Kind,« entschied die Mutter. »Für mich ist es Pflicht, der Frau Herzogin meine Aufwartung zu machen, du dürftest erst kommen, wenn du ausdrücklich befohlen würdest; zu einer Vorstellung bist du noch zu jung, die Prinzessin ist einige Jahre älter als du.«

» Befohlen will ich überhaupt gar nicht werden,« meinte die übermütige Adele, »und so tiefe, vornehme Verbeugungen lerne ich erst machen, wenn ich nächsten Winter Tanzstunde habe. Komm nur, Gertrud, nicht wahr, da im Walde ist's lustiger!« und höchst vergnügt durchzogen sie miteinander den Park, solang Mama im Schlosse war.

Frau von Urspring rühmte sehr auf dem Heimweg die Freundlichkeit der fürstlichen Dame und die liebliche Erscheinung der jungen Prinzessin.

»Beinahe hätte ich dich noch im Wald suchen lassen. Adelchen,« sagte sie; »Durchlaucht hat so freundlich nach dir gefragt und sagte mir, ihre Enkelin, die von zarter Gesundheit ist, fühle sich oft so allein und würde dich wohl gerne einmal sehen, – ich denke aber doch, es ist besser, man wartet eine bestimmte Einladung ab.«

Adele war die Prinzessin im Augenblick gar nicht mehr so wichtig; sie hatte einen sehr schönen Schmetterling im Walde gefangen und ging jetzt schon mit dem Plan um, eine großartige Schmetterlingsammlung anzulegen. Der Fräulein Seeger, die ihren flüchtigen Zögling schon kannte, war es noch nicht bange um das Leben der vielen schönen Tierchen, sie wußte wohl, daß solche Pläne selten ausgeführt wurden.

Im Juni war Adeles Geburtstag, zu dem Gertrud selbstverständlich lange zuvor schon eingeladen war. »Diesmal muß es besonders schön werden,« verhieß ihr Adele, »die Schokolade und die Festtorte, die genießen wir auf dem Rasen; nachher aber muß eine ganz schöne Lustfahrt gemacht werden, ich sag' dir noch gar nicht wohin; gib acht, Gertrud, das wird schön!«

Auch Gertrud dachte diesmal mit besonderem Vergnügen an den Geburtstag, weil sie ein so gar schönes Geschenk für Adele fertig gemacht hatte. Die Tante aus der Stadt hatte das Material geschickt und Fräulein Seeger ihr ganz heimlich Anweisung dazu gegeben. Es war ein Arbeitskörbchen von zierlichem Weidengeflecht, in das eine Blätterguirlande gestickt war; auf dem Boden war in ganz feinen Grund ein Bouquet von Rosenknospen genäht, das Körbchen mit weißem Seidenband gefüttert und mit grüner Chenille eingefaßt. Gertrud war lang vor dem Geburtstag damit fertig geworden und konnte nun kaum erwarten, bis er wirklich kam. Sie betrachtete es alle Tage wieder und meinte, so schön habe doch auch Adele noch nichts gesehen.

Endlich kam der wichtige Tag, ein prächtiger, klarer Sommertag. Morgens hatte Gertrud nicht fort können, da große Wäsche auf dem Rasen aufzuhängen und zu hüten war; den Nachmittag hatte ihr die Mutter aber trotz der Wäsche freigegeben, und seelenvergnügt, ihr Körbchen sorgsam mit einem Tuch bedeckt in der einen Hand, ein schönes Sträußchen von Rosen in der andern, eilte Gertrud aufwärts den viel betretenen Pfad zum Schlosse.

Da war's aber diesmal nicht so leicht hineinzueilen wie sonst. Auf dem Rasenplatz hielt ein prächtiger Wagen, nicht der des Freiherrn; ein fürstliches Wappen mit Krone war auf dem Schlage, kohlschwarze Rappen mit silberbeschlagenem Geschirr stampften ungeduldig den Grund.

Gertrud schlüpfte etwas verblüfft an dem Wagen vorbei, Nannette, das Stubenmädchen, trat ihr entgegen. »Ach, Gertrud! ja so. Sie kommen zu unseres Fräuleins Geburtstag! Sie sind wohl so gut und gehen inzwischen in mein Stübchen da nebenan. Denken Sie, die gnädige Frau Herzogin selbst mit der jungen Prinzessin sind vorgefahren, der Herrschaft den Besuch zu machen! Diese Ehre hätten mir uns gar nicht gedacht, wir sind recht froh, daß wir doch all unsere schönen Möbel mit hierher genommen haben! ...«

Die aufgeregte Nannette hatte gern noch weiter geplaudert, aber die Schelle der gnädigen Frau ertönte sehr rasch und sie sprang eilig fort: »Na, zu was haben sie mich denn nötig droben?«

Da saß Gertrud in der Stube des Dienstmädchens, in die sie sonst kaum geblickt hatte, wenn etwa ein Auftrag an Nannette zu bestellen war; – da saß sie mit ihrem Körbchen und ihrem Rosensträußchen, es kam ihr vor, die Knospen lassen schon die Köpfe hängen. Sie sagte sich selbst wieder und wieder, es sei ja natürlich, daß man sie nicht gleich hineinführe zu den fürstlichen Damen, und Adele könne gar nichts dafür, daß diese gerade heute gekommen seien: es half aber nichts, das Herz wurde ihr schwerer und schwerer und sie senkte das Köpfchen wie ihre Röslein.

Endlich ging die Thür auf; die gnädige Frau, die sonst meist auf dem Sofa ruhte, kam selbst, sehr eilig, etwas verlegen. »Ach, liebe Gertrud, ich höre eben erst, daß du hier bist; denk, die junge Prinzessin, die zuerst zu uns gekommen ist, hat solches Wohlgefallen an unserem Adelchen gefunden, daß sie sie noch heute für den Nachmittag mit sich nehmen will; Durchlaucht, die Frau Herzogin, sagt, es sei ein Mißgriff gewesen, daß sie die Prinzessin ohne jugendliche Gesellschaft in das einsame Lustschloß mitgenommen. Soeben kleidet Nannette sie noch an und ich konnte nur geschwind abkommen, solange mein Mann der Frau Herzogin unsere Aussicht vom Schloßturme zeigt. Bitte, warte nur noch ein wenig, du trinkst dann mit mir und Fräulein Seeger Adeles Festschokolade.«

»Danke,« sagte Gertrud, die aufsteigenden Thränen hinunterschluckend, »ich will doch lieber gleich nach Hause. Mama hat heute so viel zu thun. Wollen Sie die Güte haben und Adele, wenn sie zurückkommt, das Körbchen geben?« Und sie bot ihr schönes Körbchen dar, die Arbeit vieler Wochen, den Stolz ihres Herzens, über das sie in Gedanken schon Adeles lauten Jubelruf gehört hatte.

»Wie schön, liebes Kind!« sagte die Freifrau, die wohl ein wenig empfand von dem, was in der jungen Seele vorging, »da muß dir Adele selbst danken! Ich muß aber eilen; soll mich freuen, wenn du bleibst.« Gertrud stand seitwärts im Gebüsch, als bald darauf die herzogliche Equipage vorüberrollte; Adele erblickte sie nicht, sie saß der jungen Prinzessin gegenüber und schaute, noch etwas verlegen, aber doch mit strahlendem Vergnügen in das feine, zarte Gesicht Manuelas. Gertrud stieg leise, langsam bergabwärts.

Als die Mutter eilig, um nach ihrer Wäsche zu sehen, aus der Thür trat, da saß ihr Töchterlein, das sie in Lust und Freude droben im Schlosse wähnte, auf der Bank vor dem Hause, auf derselben Bank, wo einmal Brunnenbauers Regine gesessen war mit ihrem Körbchen Kuchen; sie weinte so bitterlich, wie damals das Bauernkind geweint hatte, und konnte vor Thränen kaum der erschrockenen Mutter erzählen, wie es nichts geworden sei mit aller Geburtstagsfreude und wie Adele ihr schönes Körbchen nicht einmal gesehen habe, weil sie mit der Prinzessin davongefahren sei. »Und ich weiß wohl,« schloß Gertrud mit strömenden Thränen, »es ist jetzt alles aus und Adele gehört gar nicht mehr zu mir, o, ich weiß es gut!«

»Sei nur zufrieden!« sagte die Mutter und nahm sie tröstend bei der Hand; »komm, nimm Viktor mit! wir wollen die Wäsche im Grasgarten holen, die prächtig getrocknet ist. Mußt früher oder später lernen, daß es nicht allemal wird, wie wir's uns ausgedacht.«

Indessen saß Adele auf der Veranda des Lustschlosses mit Prinzessin Manuela, neben ihnen, in dem vergoldeten Käfig, ein lebendiges Pärchen goldgrüner Inseparables; zu ihren Füßen ruhte das weiße Windspiel, prachtvolle fremdartige Blumen dufteten um sie und in kristallenen Schalen wurde ihnen köstliches Fruchteis serviert. Die etwas bleiche und müde Prinzessin fand großes Wohlgefallen an dem muntern, drolligen Wesen Adeles, die bald die erste Schüchternheit verloren hatte; Adele gefiel es gar zu gut in der fürstlichen Umgebung, die doch noch um ein gut Teil schöner war, als die im Schlosse daheim; sie lachte und plauderte und hatte wohl kaum Zeit, an die arme Gertrud zu denken und an ihre getäuschte Hoffnung.

Am anderen Tag kam sie selbst ins Pfarrhaus, ob aus eigenem Antrieb, ob auf Befehl der Mutter oder Fräulein Seegers, das weiß ich nicht. Sie rühmte sehr das schöne Körbchen; aber sie zeigte auch ein reizendes Armband von Emaille, das sie von der Prinzessin hatte annehmen müssen, als diese erfahren hatte, daß ihr Geburtstag sei. »Von ihrem eigenen Arm weg, Trudchen, denk dir! Ob's ihrer Großmama recht gewesen, weiß ich nicht; aber ich glaube, sie darf thun, was sie will, weißt, weil sie kränklich ist; – es ist mir oft leid, daß ich nicht auch kränklich bin! – Ich werde jetzt freilich manchmal zu ihr müssen; denke, man stellt die kleine Gondel wieder her, mit der dürfen wir auf dem See fahren, und sie hat einen Pony, ein kleines Pferdchen, und will auch noch das ihres Bruders für mich kommen lassen aus der Stadt; der braucht's nicht mehr, weil er jetzt auf großen Pferden reiten lernt; denk dir, reiten, was muß das herrlich sein, Trudchen!«

Sie merkte wohl, daß Gertrud nicht so ganz einstimmen konnte in ihr Vergnügen, und sagte tröstend: »Gib acht, Trudchen, ich bringe noch zustande, daß du auch eingeladen wirst aufs Schloß. Weißt, die Prinzessin hat oft Langeweile, da können wir zwei sie noch besser unterhalten als eins allein. Einen Pony wird sie freilich für dich nicht haben, aber im Schloß ist's auch ohne das so schön!« Gertrud setzte keine große Hoffnung auf die Einladung ins Schloß, wenn sie sich auch in der Stille besann, ob sie denn ein Kleid hatte, das schön genug wäre, um vor der Prinzessin darin zu erscheinen.

Sie hat kein solches gebraucht; ob nun Adele nicht Zeit und Gelegenheit gefunden, der Prinzessin von ihrer Freundin zu sagen, oder ob doch ein Pfarrtöchterlein auch auf dem Lande nicht als geeigneter Umgang für eine Prinzessin erachtet wurde: – Gertrud hat das Lustschloß nicht mehr betreten. Sie hörte erzählen von den Leuten, wie Adele mit der Prinzessin in der kleinen Gondel auf dem See schiffte, auf den zierlichen Ponies durch die Felder und Wälder droben ritt. »Da gehöre ich nicht hin«, sagte sie und ein bitteres Weh zog ihr das Herz zusammen.

Die Freundschaft der jungen Mädchen war darum nicht gleich abgeschnitten; Gertrud wurde manchmal zu Adele gebeten, sie hatte noch mit ihr französische Lektionen bei Fräulein Seeger, und der munteren Hummel that's auch dazwischen wohl, einmal mit der Freundin frei herumzustreifen. »Weißt, im Schloß muß ich so gar gebildet sein,« sagte sie, »bei dir ruhe ich wieder aus!« – aber das Alte war's doch nicht mehr.

Das zeigte sich noch mehr in dem Winter, den die Mädchen in der Residenz zubrachten. Adele war zwar noch zu jung, um bei Hof präsentiert zu werden, an dessen rauschenden Festen auch die zarte Prinzessin nicht teilnehmen sollte; aber Manuela hatte noch immer viel Freude an der munteren Gesellschafterin, und so wurde diese, zum großen Vergnügen ihrer vornehmen Tante, öfter in's Schloß eingeladen, durfte bei Konzerten zuhören, bei lebenden Bildern zuschauen; sie saß im Theater in der adeligen Loge, wo Gertrud hie und da aus dem bescheidenen Versteck einer Parterreloge hervorlugte; sie fuhr mit der Prinzessin in dem prachtvoll bespannten Schlitten mit kostbarem Tigerfell klingend vorüber, wenn Gertrud aus ihrer Schneiderstunde kam, und nur selten und flüchtig konnten die Freundinnen sich sehen und grüßen; es war nicht das Alte mehr. Daheim achtete man nicht so viel auf Gertruds Herzenskummer, es sah düster und gefährlich aus in der Welt draußen, man hörte von Aufruhr und Kriegsgeschrei. – Die junge Gertrud, die dachte nur an ihre verlorene Freundschaft, und als ein Perlenringlein zerriß, das Adele ihr einmal geflochten, da seufzte sie gar wehmütig:

Sie hat die Treu' gebrochen.
Das Ringlein sprang entzwei.

6. Abwärts.

Mit kaum beginnendem Frühling wurden die jungen Mädchen wieder nahe zusammengeführt. Frau von Urspring konnte die Residenzluft nicht ertragen, sie war auf dem Schloß geblieben und sehnte sich, Adele noch bei sich zu haben, ehe sie in eine Pension nach Genf kommen sollte. Auch für Prinzessin Manuela wurde die Frühlingsluft auf dem Lande besser befunden, als die der Stadt, und Gertrud sollte jedenfalls nach Haus, um daheim bei der Mutter die Haushaltung zu lernen.

»Wir schicken unsern Wagen zur nächsten Poststation,« hatte Frau von Urspring der Pfarrfrau angeboten, und diese, die wohl das stille Herzeleid ihrer Gertrud kannte, freute sich, daß die Mädchen doch nun zusammen heimreisen sollten. Aber der Wagen kam mit Gertrud allein; Adele war eingeladen worden, mit Prinzessin Manuela gleich von der Residenz aus im Hofwagen zu fahren, und wurde vom Lustschloß aus nach Hause gebracht; so fing es gleich wieder in der Heimat für die arme Gertrud mit Herzweh an, um so mehr, als auch Viktor, ihr heranwachsendes Brüderlein, in eine auswärtige Kostschule gekommen war. Der Pfarrer wurde hie und da zu der alten Frau Herzogin berufen, die sich gern mit dem frommen, gescheiten Manne unterhielt. »Weiß nicht, Herr Pfarrer,« sagte sie bei seinem ersten Besuche nach Manuelas Rückkehr, »ob ich klug gethan habe, mit dem Kinde hierher zu ziehen. Ich dachte, hier sei Ruhe und Frieden, während in der Welt draußen Krieg und Empörung ist und bis in die fürstlichen Gemächer der Streit der Parteien dringt. Aber ich finde, daß auch hier die Leute aufgereizt sind in blindem Haß gegen Höherstehende: meine Dienstboten werden ohne Grund verhöhnt oder aufzustiften gesucht, rohes Gesindel wird zum öftern in der Nähe des Schlosses gesehen, – es wird mir oft unheimlich hier zu Mut. Weisen Sie doch die Leute gehörig zurecht, Herr Pfarrer!« – »Die eine Belehrung am nötigsten hätten, die kommen nicht zu mir,« sagte lächelnd der Pfarrer; »ich fürchte, dieser Sturm ist zu heftig, als daß er durch Worte noch beschwichtigt werden könnte, und wären es Worte der ewigen Wahrheit; wieweit er gehen wird, das weiß Gott, der zur rechten Zeit ein Ziel setzen wird.«

»Aber ich bitte Sie, Herr Pfarrer, wenn es nun käme wie bei der ersten französischen Revolution?« rief die aufgeregte Dame, »was soll ich thun, um Gottes willen? Ich getraue mir nicht mehr ohne Schutz nach der Residenz zurückzufahren; wenn ich die Schloßwache hier verstärken lasse, so könnte das erst aufregen, man sagt auch, selbst die Soldaten seien nicht mehr zuverlässig – was ist zu thun?«

»Vielleicht ist es das Beste, wenn Durchlaucht baldmöglichst mit der Prinzessin in die Schweiz reisen,« meinte der Pfarrer; »wir hier können zunächst nichts thun, als daß jedes fest bleibt auf seinem Posten. Sie haben keine Pflicht, als sich und die Prinzessin zu schützen.«

Zu der Reise aber kam es nicht. Bis im Lustschlosse nur die nötigsten Vorbereitungen getroffen wurden, wuchs der Sturm mehr und mehr an; man hörte da und dort von Gewaltthaten, singend und schreiend zogen Freischaren umher. Die Frau Herzogin, die sonst den Leuten ziemlich fremd geblieben war, that ihr möglichstes mit Gutthaten und Almosen; statt des Dankes kamen frech Fordernde bis ans Schloß und bedrohten die Schildwache, – die Prinzessin war auch im Augenblick zu leidend, um die Reise zu wagen.

Herr von Urspring war eilig nach der Residenz zu seinem Regiments berufen worden und wollte sehen, ob dort für Frau und Tochter noch sicheres Quartier sei; Adele, aufgeregt durch all die Kunde von Krieg und Kriegsgeschrei, wäre am liebsten gleich mitgegangen, sie wollte so gern auch einmal eine Revolution sehen; – sie sollte das Vergnügen noch haben.

Es war eine schwüle Nacht zu Anfang Juni, als Adele neben dem Sofa der Mutter saß, da sprang atemlos Nannette herein:

»O gnädige Frau, o, wie geht's zu in der Welt! Man hört johlen und schreien von weitem, und brennen thut's, und – draußen stehen die höchstselbstige Frau Herzogin und die junge Prinzessin in der stockfinstern Nacht...«

»Was, die Herzogin?« Ehe die Freifrau sich erhoben, war Adele schon hinausgesprungen und führte die alte Dame und Manuela herein, die betäubt, bleich und zitternd niedersanken auf die dargebotenen Sitze.

»Aber, um Gottes willen, Durchlaucht, zu dieser Stunde?«

»Die Stunde ist gleich,« sagte bebenden Tones die Herzogin, »unser Leben ist bedroht, eine Freischar zieht gegen das Schloß; unsere Schildwachen sind zu ihnen übergegangen, – ich weiß nicht, wie sie jetzt droben hausen; wir stehen in höchster Gefahr, kann Ihr Mann uns schützen?« – »Mein Mann ist ja fort,« rief die entsetzte Edelfrau, »der Kutscher auch, wir haben keinen Mann im Hause als unsern alten Johann...« »Und der hinkt!« rief kläglich Nannette dazwischen, die sonst nicht gewagt hätte, in Gegenwart der Frau Herzogin im Zimmer zu bleiben. »Es ist wie im Jahre 1790 auf die Hohen, auf den Adel abgesehen,« rief immer angstvoller die Herzogin, »wir sind verloren! ...«

»Guillotiniert!« bestätigte die heulende Nannette.

»Wir wollen uns drüben im alten Schloß verstecken,« schlug Adele vor, der jetzt schon das Gelüste nach ein bißchen Revolution vergangen war, »da findet man uns nicht.«

»Geht nicht,« entschied Madlene, die Köchin, die ganz ungebeten sich mit zum Rate eingefunden hatte, »geht nicht; drüben ist keine einzige ordentliche Stube mehr, keine gute Treppe, die Frau Durchlaucht und unsere gnädige Frau gingen zu Grund, und am Ende thäten sie einen erst noch da auch suchen. Gehen die Herrschaften ins Pfarrhaus hinunter; der Herr ist ja nicht adelig, die Leute haben ihn gern, viel Geld suchen die Kerle da auch nicht; aber schnell!«

Fahren konnte man vom Schloß ins Dorf nur auf großem Umweg; in den fürstlichen Wagen draußen hatten sie in der Schnelle allerlei gepackt, Pelzmäntel, Schmuckkästchen, Frisiermäntel, das packte die rasche Madlene aus und belud damit den hinkenden Johann: hinunter ins Pfarrhaus! Frau von Urspring, aller Schwachheit vergessend, ließ sich in einen Shawl wickeln von Nannette, der Madlene schnell noch ein Körbchen mit Eßwaren an den Arm hing; die zitternde Herzogin faßte den Arm ihres Enkelkindes; Adele und Nannette folgten und so eilte der seltsame Zug die Stufen hinab, die zum Pfarrhaus führten. »Aber du, Madlene?« rief die Freifrau zurück, als sie die resolute Köchin noch allein oben stehen sah, »was willst du thun? Du kannst das Haus nicht schützen.«

»Ich, gnädige Frau? Ich mach' jetzt Feuer und koch' und back' und brat', was ich kann, und wenn die Kerle kommen, so geb' ich ihnen zu essen und zu trinken genug; mir thun sie nichts und das Beste im Haus kann ich derweil verstecken – aber machen Sie geschwind!« Der Rat war überflüssig, sie gingen so schnell sie konnten.

Der Pfarrer saß unten bei Frau und Tochter und las ihnen eben aus Zeitungen und Wochenblättern vor, wie so gar schlimm und bedrohlich es in der Welt aussehe, ohne Ahnung, daß der Sturm so nahe sei; da schellte es gewaltig an der Hausthüre, so daß die ganze Familie alsbald hinausstürzte. Sie blieben starr vor Erstaunen, als sie die unerwarteten Gäste in der Hausflur erblickten. Adele und die schnabelschnelle Nannette waren die ersten, die mit geflügelten Worten sie von der Lage der Dinge unterrichteten. »Ja, lieber Herr Pfarrer, beschützen Sie uns nur,« schloß Adele, »Nannette meint, Ihnen thun die Leute nichts, weil Sie so brav seien, und nicht adelig, und nicht reich. Platz werden wir schon haben, ich kann bei Gertrud schlafen.«

Der Pfarrer führte die Damen ins Zimmer, wo man der Herzogin und der Freifrau bequeme Sitze im Sofa bereitete; Prinzessin Manuela setzte sich auf ein Taburett zu den Füßen der Großmutter und legte ihr Köpfchen auf ihren Schoß. Die Pfarrfrau, ohne sich zunächst über die Zeitereignisse zu besinnen, eilte mit dem Instinkt einer Hausfrau in die Küche, um Thee zu kochen für die Damen, während Nannette helfen sollte, Betten zu rüsten; nur Gertrud stand noch etwas bestürzt neben Adele, die bald den alten Ton wieder gefunden hatte.

Der Thee war noch nicht fertig, als abermals die Hausklingel tönte und atemlos das kleine Gretchen vom Brunnenhof drunten hereinstürzte. Sie trat in die Stube, unbeirrt von der ungewohnten Gesellschaft; ihre Botschaft war viel zu wichtig.

»Herr Pfarrer,« begann sie, sobald sie zu Atem kam, »mein Bauer läßt Ihnen sagen. Sie sollen flüchten mit der Frau und Jungfer Gertrud, so geschwind Sie können, 's ist böser, als man gewußt hat, es kommen Freischaren von oben runter und unten durchs Thal herauf; die Soldaten sind selber dabei, sie johlen und schreien und zünden Häuser an; in L. haben sie die braven Schulschwestern fortgejagt, die Lehrer mit Prügeln forttransportiert; der alte Herr Pfarrer Hahn hat sich hinter der Holzbeuge und nachher im Kornfeld verstecken müssen, bis sie ihn in einem Bauernkittel über die Grenze gebracht haben; – nur schnell!«

»Will der Bauer auf dem Hof uns aufnehmen?« fragte der Pfarrer, während seine Frau schon Nötiges und Unnötiges zur Flucht zusammensuchte.

»Da wär's nicht sicher,« sagte Gretchen, »auf die reichen Höfe haben sie's gerad abgesehen; der Bauer und die Frau wollen auf dem Platze bleiben und sehen, ob sie das Haus retten können; Sie aber und wir anderen sollen zu der Base hinaus, da sucht man uns nicht und der Base thun sie auch nichts, weil's die Lumpenleut' so gut haben bei ihr; ich weiß einen versteckten Weg von hier, nicht durchs Dorf – den kann ich Sie führen.«

»Aber – haben wir alle dort Raum?« fragte zweifelhaft die Pfarrfrau, auf ihre Gäste schauend.

»Alle,« versicherte Gretchen; »wie er ist für so fürnehme Leute, kann ich nicht sagen, aber es ist doch alles besser als totgeschlagen zu werden.«

»Ja, eilet!« sprach der Pfarrer, »ich will in Gottes Namen hier bleiben auf meinem Posten und sehen, ob eine ruhige Vorstellung etwas über die Leute vermag.«

»Du willst uns verlassen?« rief angstvoll Gertrud.

»Herr Pfarrer,« sagte Gretchen – kein Mensch wußte, woher das kleine, schüchterne Ding jetzt so ein keckes Mäulchen gefunden – »meinen Sie nicht, Ihne Ihr Pfosten sei bei den armen Frauensleuten da, die niemand haben zur Beschützung als den knappigen (hinkenden) Bedienten (Johann hörte das zum Glück nicht)? Was Sie mit den Kerlen reden, das hilft jetzt nichts; nur fort!«

Und nun machte sich die gemischte Karawane auf den Weg; der Pfarrer führte die beiden Damen, Gertrud und Adele hatten die Prinzessin in ihre Mitte genommen, jede trug ein Körbchen; Johann half abwechselnd der Pfarrfrau und Nannette auf dem steilen Wege, den das flinke Gretchen sie abwärts führte zu der alten Thalbauerin. Auf der Scheuer war über der Tenne eine große Stube – zu den Zeiten des alten Thalbauers war sie oft als Tanzboden benutzt worden, da der mit allen Wirten der Gegend Handel hatte und seine Leute daheim wollte tanzen lassen; – die Flüchtlinge waren auf der Leitertreppe dort hinaufgeklettert, denn selbst das Haus hielt man nicht für sicher genug. Die Base, die zuerst nur gar schwer begreifen konnte, warum mitten in der Nacht die große Gesellschaft zu ihr komme, der sie doch gleich ansah, daß das keine Spielersleute seien, gab Regine, die auch herübergekommen war, ihre Schlüssel; »da, machet was ihr wollt! ich lieg' wieder in mein Bett, mir thut niemand nichts.«

Der alte Tanzboden also war jetzt Salon, Speise- und Schlafzimmer für die herzogliche und freiherrliche Familie, für Pfarrers, für Regine und Gretchen aus dem Bauernhaus, für Nannette und Johann – der Brunnenbauer und seine Frau waren im Dorfe zurückgeblieben.

Ein alter wackliger Tisch stand inmitten des Raumes, den eine Öllampe, die Regine von der Base herübergebracht, sehr spärlich erleuchtete; Gretchen, die manchmal ausgeholfen hatte, wenn die Base krank gewesen, war besonders gut hier daheim; sie schleppte mit Hilfe Johanns und Regines verschiedene hölzerne Stühle und Bänke und allerlei zweifelhaftes Gerät herbei, um wenigstens Plätzchen zum Ausruhen zu gewinnen für die erschöpfte Gesellschaft. Es war merkwürdig, was mit der Stunde der Not für ein Leben und Regen in die kleine Kreatur gefahren war, so daß erst durch ihr Beispiel auch die anderen zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft wurden und vor allem Regine sich als rüstige Hilfe bewährte. Sie zündete Feuer an auf der Feuerstelle, die sich die früheren Gäste des Hauses unten aufgebaut hatten, und machte Wasser siedend in der großen Pfanne, die sie bei der Base drüben geholt. Ein rechtes Glück, daß mit manchen unnötigen Dingen aus Schloß und Pfarrhaus doch die Theebüchse mitgekommen war, eine Theekanne freilich nicht; aufs Theebereiten verstanden sich Gretchen und Regine nicht, da bei dem Brunnenbauern nur Kamillenthee getrunken wurde, wenn jemand krank war; da wußte aber Nannette Bescheid, die, freilich sehr mit Seufzen, in zwei braunen irdenen Töpfen Thee und Milch auftrug; etwas Zwieback hatte die Frau Pfarrerin mitgenommen, und Schwarzbrot genug, selbst Butter brachte Regine aus der Vorratskammer der Base. Weder die Frau Herzogin und Prinzessin Manuela, noch auch die Freifrau hatten jemals aus solchen Gefäßen Thee getrunken, der dazu noch in alten irdenen und einem Zinnschüsselchen serviert wurde, die immer wieder gereinigt werden mußten, da nur drei vorhanden waren – aber vielleicht hatte ihnen doch kein Thee aus feinstem Sèvresporzellan so wohlgethan wie dieser; denn die Nacht wurde kühl. Der hinkende Johann war immer noch etwas erstarrt; er konnte sich nicht darein finden, daß er unter solchen Umständen servieren sollte, zumal noch der Frau Herzogin! Gretchen und Nannette aber ermunterten ihn doch so weit, daß er mit Regines Hilfe aus alten Bänken in der Ecke eine Art Ruhelager zustande brachte, von denen eines mit den Pelzdecken vom Schloß für die Frau Herzogin, das andere mit einer weichen Unterlage von Heu, mit dem Shawl der Frau Pfarrerin bedeckt, für die Freifrau hergerichtet wurde.

Das Abendessen war vorüber; Wein gab es nicht, Johann aber hatte seine Seele mit einem Schlückchen Heidelbeergeist erquickt, von dem die Base für böse Zufälle einen kleinen Vorrat besaß. Der Pfarrer hatte aus dem Psalmbüchlein, das er stets bei sich hatte, die schönen Worte des 91. Psalms gelesen: »Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibet, der spricht zu dem Herrn: meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.« Er saß am Tisch; neben ihm seine Frau, die den Kopf an ihn lehnte und einschlief, obgleich sie oft meinten ganz von ferne rohes, wüstes Geschrei und Gesinge zu vernehmen, sie war so müde. Auch die Frau Herzogin war eingeschlummert auf ihrer seltsamen Lagerstatt und mit ihr die Prinzessin, die sich zu ihren Füßen niedergelegt hatte. In einer Ecke des Gemachs, in respektsvoller Entfernung von den Herrschaften, saß Nannette, künstlich balancierend auf einem dreibeinigen Stuhl, und Johann, an die Wand gelehnt, leistete ihr Gesellschaft; Regine, Gertrud und Adele, deren Munterkeit diesmal ziemlich gedämpft war, saßen in der anderen Ecke auf einem Sofa von Heu und Stroh, das Gretchen und Regine zusammengetragen; Gretchen allein, das ruhte nicht, kein Mensch wußte, wo sie eigentlich herumstöberte und was sie unten alles zusammentrug aus dem Haus drüben und von den Dachböden.

»Sie hat aber doch sicher etwas Gescheites im Sinn,« sagte Regine zu Gertrud; »du glaubst gar nicht, wie klug das kleine Ding ist.«

»Geschickt ist sie immer gewesen,« sagte Gertrud, »schon wie mir als klein mit ihr spielten; wir haben nur damals nicht viel mit ihr gemacht.«

»Ist wahr,« sagte Regine mit einem Seufzer; »ich habe sie jetzt recht gern, aber ich bin erst so an sie gekommen, wie – wie du nichts mehr von mir gewollt hast; weißt, von dem Tag an, wo ich dir den Rahmkuchen hab' bringen wollen.«

»O Regine, ich hab's gewiß nicht bös gemeint; aber ich habe doch seither oft und oft an dich gedacht, als mir's auch so zu Mut geworden ist, wie dir damals.« Und weil in dieser Nacht allerlei Schranken geselliger Scheu fielen, so erzählte sie jetzt vor Adelen, wie sie sich gefreut auf die Geburtstagsfeier, auf die Freude, die sie mit ihrem Körbchen machen werde, und wie ihr das Freudenlichtlein ausgeblasen worden sei.

»Ach, du gute Gertrud! es war mir herzlich leid,« sagte die leichtbewegliche Adele mit Thränen in den Augen, »aber – siehst du, wie hätt' ich's denn anders machen sollen? Ich konnte die Prinzessin doch nicht wieder fortschicken.«

»Freilich,« sagte Gertrud nachdenklich, sie wußte doch nicht, ob das recht sei, was ihr so weh gethan; »ich habe auch so gedacht, als ich damals zu der Fahrt aufs Schloß ging, aber – ich spüre doch, daß es nicht recht war.«

»Das brauchen wir alles jetzt nicht mehr,« rief die schnellberuhigte Adele, »wir sind alle hintereinander hergerannt; Regine hat dem Gretchen weh gethan und Gertrud der Regine und ich der Gertrud, und wenn vielleicht eine Kaisers- oder Königsprinzessin käme, so ging mir's mit Prinzeß Manuela gerade so; jetzt aber sind wir hier zusammengewürfelt und Regine hat uns zu Obdach geholfen und das kleine Gretchen ist am allernützlichsten. Da müssen wir uns eben alle miteinander lieb haben, keins darf sich vornehmer dünken und keins dem andern etwas übel nehmen; so ist's für alle recht und so soll es jetzt bleiben!«

»Dieser Freundschaftsbund würde in guten Tagen doch nicht lang halten, liebe Adele,« sagte lächelnd der Pfarrer, der zu ihnen getreten war; – seine Frau war erwacht, da der Lärm etwas näher kam. »Was hier die Not zusammengetrieben, das wird nachher doch wieder auseinandergehen, wenn jedes seine eigne Bahn zieht.«

»Aber wie soll man's denn machen, wenn man doch alten Freunden nicht ungetreu werden soll?« fragte Gertrud. »Kann man nur die lieb haben, die uns gleich stehen?«

»Gewiß nicht; aber es löst sich alles in dem Wort: die Liebe suchet nicht das Ihre! Hättest du, Gertrud, nicht das deine gesucht, so wäre dir dein Versprechen an Regine damals doch wichtiger gewesen, als die Fahrt zum Lustschloß, und nachher hättest du Adele die Freundschaft der Prinzessin neidlos gegönnt ...«

»Ja, und ich hätt's Gertrud gegönnt, daß sie Kutschen fahren durfte, und hätte nicht so dumm geheult,« gab Regine zu.

»Sicherlich,« gab der Pfarrer zur Antwort. »Auch wo uns nicht Not und Todesgefahr zusammentreibt, können wir doch einander lieb bleiben, uns helfen und dienen, jedes an seiner Stelle.«

»Mit der Todesgefahr ist's auch am Ende nicht so gefährlich,« sagte lachend Adele, »es kommt ja niemand und unser Schreck war wohl unnötig.«

Da krachte plötzlich ganz in der Nähe ein Schuß und vor dem Haus der Base erhob sich ein wüstes Geschrei. »Raus, Alte, raus mit dem vornehmen Gesindel, das Ihr versteckt habt! raus!«

»Laßt mich in Ruh'!« rief die Alte, die Gretchen ein bißchen unterrichtet hatte, aus ihrem Schiebfensterlein, »ist niemand drüben als so ein paar Spielleut' und Schnurranten; lasset mich, bei mir ist nichts!«

»Der Alten darf nichts geschehen,« schrie der rote Peter, einer der ersten unter der Freischarentruppe, die sich in seltsamer Kleidung und Bewaffnung vor dem Haus herumtrieb, »aber die Alte vom Schloß, die Baronin, der Pfaff, die sind alle durchgegangen, die müssen da sein und ihr Geld haben sie mit; raus mit ihnen!«

»In der Scheuer ist Licht!« schrie einer, »da sind sie!«

Schreckensbleich war drüben die Herzogin aufgefahren bei dem Lärm; ihr schwebten aufs neue alle Greuel der französischen Revolution, die sie als Kind miterlebt, vor Augen und angstvoll hielt sie ihr Enkelkind umschlungen; auch die Freifrau saß totenbleich mit weitoffnen Augen da; ratlos sah der Pfarrer sich um, keine Hilfe, keine Waffen, keine Möglichkeit der Flucht!

So lang die drüben sich noch mit der Base stritten und den Rest ihres Heidelbeergeistes austranken, war aber das kleine Gretchen nicht müßig gewesen. »Runter zu mir ein Paar von euch!« rief sie, »wir müssen Schucklersleut' vorstellen; wer kommt mit? Johann, Nannett'! du kannst nichts, Regine; wer kommt sonst?«

»Ich,« rief Adele, aufgeregt durch die Gefahr, und pfeilschnell sprang sie Gretchen nach die Treppe hinunter; selbst der hinkende Johann that sein Bestes, wenn er auch der letzte war. »Die Leiter weg!« kommandierte die Kleine, und die Treppe wurde weggezogen. Das Lämplein hatte sie mitgenommen, und während die droben in Angst und Dunkelheit saßen, putzte sie sich und Nannette, auch Fräulein Adele mit allerlei Fetzen, alten Tüchern und Kleidern, die sie zusammengesucht, zigeunerartig heraus; Nannette erhielt einen Bündel in den Arm. »So, das ist ein kleines Kind, das schwaigst du, gehst mit auf und ab! Johann, Sie dürfen nur Ihren Rock umdrehen, die alte Kappe da aufsetzen, da ist eine Geige von dem blinden Spielmann, der bei der Base gestorben; können Sie geigen?«

»Nein,« sagte Johann kläglich.

»Thut nichts, nur gegeigt, wir singen.«

»Auf, auf!« schrie es draußen, »wo geht's die Stieg' nauf? Wo ist das Gesindel? raus mit eurem Geld!«

Mit einem gewaltigen Stoß ward das Scheunenthor eingeschlagen. Da hockte beim Scheine des trüben Lämpchens und des Feuers, das noch auf dem Herd glimmte, Nannette in ihrer Herzensangst und schüttelte und wiegte ihr Wickelkind hin und her, daß ihm hätte der Atem ausgehen müssen, wenn es ein lebendiges gewesen wäre; weiter vorne stand im umgekehrten Rock Johann, der bedurfte gar keiner Schauspielkunst, um recht elend, lotterig und schlotterig auszusehen; Adele, ein rotes Tuch um den Kopf, mit hochklopfendem Herzen, aber doch mit heimlicher Freude an der Geschichte, stand zur Seite, und Gretchen, barfuß und lumpig, als ob sie nie ein ordentlich Röckchen angehabt, rief kläglich im Ton der Zigeuner, den sie oft genug gehört: »Na, was wollet ihr, daß ihr arme Leute so erschrecket?«

Die Freischärler waren etwas verblüfft, doch rief einer: »Nichts von euch! der Pfaff ist hier versteckt und die Aristokraten von da droben, raus mit ihnen! Wo geht's die Stieg' nauf?«

»Ist keine Stieg' da,« rief Gretchen, »wären gern selber nauf gewesen mit dem armen kranken Balg meiner Schwester da, mit dem uns die Alte nicht in ihr Haus gelassen hat – gar nichts da droben ...«

»Ja, die verfluchten Aristokraten müssen da sein, und ihr Geld; nauf!« schrie der rote Peter und suchte fluchend die Treppe.

»O gebet's mir auch, wenn's das Geld findet,« bat Gretchen kläglich, »ist gar kein Verdienst nirgends jetzt für uns arme Leut', gar keins.«

»Spiel auf, krummer Kerl!« befahl einer der Bande dem Johann, der kraftlos seine Arme sinken ließ.

»Geig, Alterle, geig!« ermutigte ihn auch Gretchen, »und du, Rosel, sing!«

Zu niedergeschmettert, um sich zu empören über das freche Ding, strich Johann die einzige Saite seiner Geige, daß es ein Jammer war. Um das böse Spiel zu verdecken, das in Johann allerdings nicht einen Geiger von Profession erkennen ließ, hob Gretchen im schönsten Bänkelsängerton an, so laut sie konnte, ein Lied zu singen, in das Freifräulein Adele von Urspring, hellen Tones mit einstimmte:

»Wir ziehen, wir fahren über Länder, übers Meer,
Wir kamen zum Lande, zum Lande daher;
O, da ist es ein Jammer, da ist's eine Not,
Wer's nicht mit dem Volk hält, den schlagt man zu tod.«

Der improvisierte Gesang fesselte die Freischärler nicht sehr; der rote Peter schnüffelte herum nach einer Treppe nach oben, auch das herzhafte Gretchen überkam allmählich heimliche Angst vor der Roheit der Leute. – »Kannst wahrsagen, kleine Hexe?« schrie da einer und hielt ihr die Hand hin. In ihrer Herzensangst schwatzte sie ihm allerlei vor von einem großen Schatz und einem Offiziershut mit Federbusch. »Mir auch!« rief ein andrer, während Adele, der alle Abenteuerlust vergangen, sich an Nannette machte, die alleweil noch ihr Kindlein schaukelte und dazu sang:

»Sole, sole, schlaf Wohle,«

in einem Ton, als ob der Wurm gestorben wäre und sie sein Leichenlied sänge.

»Da sieht's letz (gefährlich) aus,« sagte die Kleine in ängstlichem Ton, indem sie in die rauhe, harte Hand starrte, die ihr der Freischärler hinstreckte, »Euch könnt's bös gehen, da seh' ich etwas wie eine Kugel ...« – »Soldaten kommen!« rief jetzt Nannette hell auf, »Preußen!« denn in dem Augenblick hörte man ganz nah das Schmettern einer Trompete. Nun waren freilich auch fahnenflüchtige Soldaten unter den Freischaren und der einzelne Trompetenstoß da draußen klang nicht gerade wie preußische Feldmusik; doch ein böses Gewissen hört scharf, aber nicht genau, die Furcht vor den Preußen war lange schon unter den Aufrührern; daß sie hier nicht viel zu suchen hatten, sahen sie schon, und so ging's auf und davon, ohne Ziel und Ordnung, fort, nur fort, hinaus auf der anderen Seite der Schlucht, in welcher der Thalhof stand.

»Sind's Preußen?« fragte hochaufatmend die bleiche Adele.

»Glaub's kaum,« sagte Gretchen und öffnete die Thür – da kamen die Preußen in der Gestalt des kunstreichen David, der alleweil that, was er nicht sollte, und der diesmal doch das Beste gethan hatte, was er konnte! Er hatte voriges Jahr mit einem Trompeter, der bei ihnen im Quartier lag, Freundschaft geschlossen und Trompetenblasen gelernt; der hatte ihm später eine ausgeschossene Regimentstrompete verehrt, die er billig für ihn erstanden; oft genug hatte der biedere David die Leute mit seinem unzeitigen Trompeten geärgert, diesmal war's aber am Platz gewesen. Der Trupp, der die Flüchtlinge im Thalhof so erschreckt – keine ordentliche Freischar, nur Gesindel, das sich zusammenthat, um auf die allgemeine Rechnung zu plündern –, war, nachdem sie im Lustschloß die Fenster zertrümmert und ein paar Spiegel zerschlagen, und bei Madlene, der Schloßköchin, gegessen und getrunken hatten, auf dem Brunnenhof gewesen; durch reichliche Gaben von Wein und Schnaps und das Präsent eines Kronenthalers an jeden Mann hatte der Bauer, der im ganzen beliebt war, sich vor Plünderung bewahrt; aber einige darunter, die von der Flucht der Herzogin und der Freifrau gehört, waren doch nicht zufrieden; sie dachten sich, daß diese Säcke voll Goldstücke mitgenommen, und so kam's, daß sie noch bis zu der versteckten Wohnung der Base gedrungen waren.

Nun waren sie fort. Mit Hilfe Johanns, der sich kaum von seiner ungewohnten Leistung auf der Violine erholt hatte, und Nannettes, die glücklich über die Befreiung jetzt all ihre alte Gewandtheit wieder fand, wurde die Leiter angelegt und Adele und Gretchen stiegen hinauf, die beiden andern folgten. Die Herzogin und die Freifrau, die sich schon blutigem Tod verfallen geglaubt, immer die schauerlichen Jakobiner der französischen Revolution im Auge, lehnten halb ohnmächtig auf ihrem Lager; der Pfarrer ungeduldig, daß er durch die weggezogene Treppe abgehalten war, den Mädchen drunten zu helfen, stand an der Luke, um, wenn es nötig wäre, einen verzweifelten Sprung zu wagen; Gertrud und Regine, Arm in Arm verschlungen, neben ihnen Prinzessin Manuela, hatten zugehört und waren voll Bewunderung von Gretchens Geistesgegenwart.

Nun sprach der Pfarrer noch aus tiefster Seele im Namen aller die Psalmworte: »Lobe den Herrn, meine Seele und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Der dein Leben vom Verderben errettet, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.«

Gretchen aber war jetzt auch erschöpft; es setzte sich in die nächste Ecke, lehnte den Kopf an die Wand und schlief augenblicks ein; die Öllampe verlöschte und wachend oder schlafend, todmüde von der Erregung, leichten Herzens über die Befreiung brachte die ganze Gesellschaft den Rest der Nacht in tiefer Stille zu. David, der wackere Trompeter, fand bei der Base Unterkunft.

Schluß.

Die Preußen waren doch noch gekommen, wenn auch nicht mit Davids Trompete, und Ordnung und Ruhe war allmählich wieder hergestellt worden im Lande. Auch die Flüchtlinge jener Nacht hatten sich jedes wieder an seine eigene Stelle begeben.

Die Base hatte nicht viel Genuß mehr gehabt von den reichen Geschenken, mit denen die Frau Herzogin und die Freifrau ihr ihren Dank zeigen wollten; es war schwer gewesen, ihr nur begreiflich zu machen, um was es sich gehandelt in jener Nacht. Als sie aber vernommen, daß ihr Haus die Zufluchtsstätte geworden sei, die ihre unfreiwilligen Gäste geschützt habe, wenn nicht vor dem Tod, so doch vor Raub und Mißhandlung, da faltete sie ihre Hände und sagte: »Gott Lob und Dank, jetzt kann ich im Frieden sterben, der Herr wird es annehmen zur Sühne für meines Vaters Schuld!« – und sie ist gestorben im Frieden.

Vieles ist anders geworden im Lauf der Jahre, die seit jener Juninacht vergangen. Die Frau Herzogin ist längst gestorben; Prinzessin Manuela, die nie zu kräftiger Gesundheit erstarkt ist, lebt meist in Italien; wer aber dort bei ihr ist als liebste Dienerin, ihre treueste Pflegerin, ja ihre Gesellschafterin und Vorleserin zuzeiten, das ist Gretchen, das kleine Gretchen, das ihr in jener Nacht so lieb geworden und in der selbst die Großmama so reiche Gaben, solch unerschöpflich heitern Humor und so treue, bescheidene Hingebung entdeckt hat, daß sie sie zur Dienerin ihres Lieblings ausbilden ließ und sterbend noch ihre Manuela in Gretchens treue Obhut empfahl.

Das Schloß ist nach dem Tode der Freifrau von Urspring nicht mehr viel bewohnt morden. Adele, längst vermählte Gräfin von Wetterau, lebt in der Residenz, immer noch sehr lebhafter und etwas flüchtiger Natur, fast zuviel der Unterhaltung von außen bedürftig, wenn auch manches über sie ergangen, was ihren leichten Sinn ernster machen konnte. Doch vermag nicht die brillanteste Theatervorstellung, selbst ein Hoffest nicht, sie abzuhalten von einer Zusammenkunft, die alljährlich zu Anfang Juni stattfindet auf dem Thalhof am Jahrestag jener denkwürdigen Nacht.

Der Thalhof ist stattlich hergebaut und nicht mehr die alte Lotterfalle wie dazumal; auch ist er nicht mehr die Heimat der fahrenden Leute, obwohl ihn kein Armer verläßt ohne eine reichliche Gabe. Regine regiert darauf als Hofbäuerin mit einem braven tüchtigen Mann, während ihr Bruder Jakob dem Vater beisteht als einziger Erbe des Brunnenhofes.

Der alte Tanzsaal über der Scheune ist schön gesäubert und hergerichtet, wenn auch nicht gerade ein eleganter Salon – es liegen Fruchtsäcke an den Wänden aufgespeichert; das stört aber die jungen Komtessen nicht, die sich als Kinder besonders das ganze Jahr gefreut haben auf das Jahresfest auf dem Thalhofe. Da kommt denn auch jedesmal Frau Gertrud, längst eine ehrsame Pfarrfrau, nicht gar zu weit vom Hof, die auch sonst treue Freundschaft hält mit der verständigen Bäuerin und manchen häuslichen Rat von ihr holt; ihr Vater ist noch im alten Pfarrhaus, und ungefährdet, ein treuer Hirt seiner Gemeinde; sie hat zwei rotwangige Mägdlein und drei muntere Knaben zur Versammlung mitzubringen, und da bei Regine nach und nach sieben Buben und Mädchen herangewachsen sind und am Jahresfest alles an einer Tafel speist, so ist's schon der Mühe wert, daß die Festtafel, immer reichlich besetzt von Frau Regine, während die Gräfin den Nachtisch und die Pfarrfrau das Backwerk zum Kaffee mitbringt, im Saale gedeckt wird.

Es war schön gewesen, als die Kinder noch klein waren, wenn die blondlockigen Bauernkinder mit dem Finger im Mund etwas blöckisch die zwei zarten Komteßchen anstarrten mit ihren kurzen Kleidchen und spitzenbesetzten Höschen, aus denen sie die bloßen Kniee streckten, bis die Pfarrkinder als glückliche Vermittlung dazwischen kamen und lustige Spiele instand brachten oder fröhliche Wanderungen in den Wald zum Himbeersuchen.

Nun freilich sind die Mädchen erwachsen und der Kontrast ist größer geworden, und die Schmalzküchlein und großen Butterbrote des Thalhofs sind den jungen Damen nicht so wichtig mehr; aber von Kindheit an gewöhnt, sich herzlich zu begegnen, finden sie sich doch auch jetzt noch freundlich zusammen. Sie hören gerne wieder zu, wenn die Mütter sich erzählen von den alten Tagen und von jener Schreckensnacht; sie wandeln miteinander in den Wald und die jungen Stimmen klingen gar lieblich zusammen im Gesang, wenn auch nicht alle in einer Musikschule gebildet sind. Frau Gertrud hält fest darauf, daß jedesmal vor dem Abschied noch die Psalmworte gelesen werden, mit denen ihr Vater sie getröstet hat in jener Nacht. So scheidet dann alt und jung, jedes an seine Stelle, aber im Bewußtsein, daß in freundlicher Hilfeleistung auf Erden und in gläubigem Aufblick nach oben der Punkt liegt, der den Unterschied der Stände nicht aufhebt, wohl aber sie verbindet in dem, was über jedem irdischen Stand steht.

Die männlichen Sprößlinge vom Hof, vom Pfarrhaus und von der Residenz sind zum Teil schon in der Welt zerstreut und finden sich selten mehr zu der Zusammenkunft ein; aber ein schöner, stattlicher Mann mit mächtigem schwarzen Barte ist ein häufiger und willkommener Gast dabei. Das ist der kunstreiche David, der nicht Trompeter geworden ist, trotz jenes glücklichen Trompeterstückleins, wohl aber durch die Fürsprache des Pfarrers und den Beistand der Frau Herzogin ein Künstler, und das ein rechter, der den Namen seiner Heimat zu Ehren gebracht hat.

Obgleich er sonst meist großartige historische Bilder malt, hat er doch der Prinzessin Manuela, die er nebst dem getreuen Gretchen manchmal auf seinen Kunstreisen sieht, lange schon versprochen, zwei Bilder zu malen, das eine die Gruppe oben im Tanzsaal in jener Schreckensnacht auf dem Thalhof, das andere die schöne Scene unten in der Scheune, wo der hinkende Johann, der inzwischen zu seinen Vätern versammelt worden, so glänzend als Violinist aufgetreten ist. Weiß nicht, ob es schon in einer Kunstausstellung aufgestellt worden ist.


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