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Es regnete in Strömen. Zwischen dem zerklüfteten Gestein stürzte das Wasser in lauter kleinen Kaskaden hernieder; es wusch den steilen Bergpfad aus und füllte jede Vertiefung des Bodens. Soweit das Auge reichte, war alles von den thalabwärts rauschenden Fluten überströmt.
Dicht am Wege saß ein kleiner Knabe auf einem Stein. In großen Tropfen lief das Wasser ihm an den dünnen Haaren, dem schmalen Gesichtchen bis auf die kleinen nackten Füße herab. Jede Faser seines durchlöcherten Anzugs hatte es durchdrungen. Doch schien das Kind seine mißliche Lage wenig zu empfinden. Ruhig und geduldig saß es auf seinem feuchten Sitz und blickte mit großen blauen Augen stillzufrieden in den strömenden Regen hinein. Hie und da betrachtete es wohlgefällig eine kleine, entsetzlich magere Kuh, die neben ihm unter einem Felsenvorsprunge lag. Sie war so ziemlich vor den Wasserfluten geschützt und wenn zufällig einmal ein Tropfen sie traf, so sprang der kleine Knabe schnell empor und wischte ihn sorgfältig ab. Um eine Windung des spiralförmig aufsteigenden Weges bog ein schlanker, schwarz gekleideter Mann mit jugendlich schönem, ernstem Antlitz. Überrascht blieb er vor dem seltsamen Paare stehen; dann sagte er freundlich zu dem Knaben:
»Geh doch nach Hause, mein Junge, mit deiner Kuh! du kannst das Ende des Regens nicht abwarten.«
»Dann wird sie ja naß,« erwiderte das Kind und sah den Fremden verwundert an.
»Aber jetzt wirst du naß, Kleiner; ist das nicht schlimmer, als wenn die Kuh es würde?«
»Es ist ja die Betsy!« erwiderte der Knabe in einem Ton, in dem man etwa von der Königin spricht, »und Mutter Katy hat gesagt, ich solle gut acht auf sie geben.«
»Doch nicht besser als auf dich selbst?«
Diese Frage verstand der Knabe nicht; er schwieg einen Augenblick, dann sagte er mit großem Nachdruck:
»Die Betsy hat fünf Pfund gekostet und sie gibt Milch.«
»Das ist freilich etwas anderes,« entgegnete der fremde Herr und lächelte, obschon es ihm eigentlich recht traurig zu Mute ward bei den Worten des Kindes.
»Und wie heißest du denn?« fragte er weiter; »wer sind deine Eltern?«
»Ich heiße John. Meine Eltern sind Mutter Katy und Vater O'Brien.«
»Wo wohnt ihr?«
»Wenn man dort drüben um die Ecke biegt und dann eine Weile grade aufsteigt und dann wieder links um den Felsen herumgeht, dann liegt unsre Hütte grade über einem.«
»Hast du denn noch viele Geschwister?«
»Nein, nur fünf außer dem Baby.«
»Wie alt bist du denn?«
»Pfingsten zehn Jahre gewesen, grade so alt wie Schwester Mary, zwei Jahre jünger als Ned.«
»So seid ihr Zwillinge, Mary und du?«
»Ja, – nein, – mich hat man auf einem Stein vor der Thür gefunden.«
»Armes Kind! darum bist du wohl deinen Hausgenossen nicht so viel wert als ein Stück Vieh!« dachte der Fremde; dann legte er freundlich seine schmale weiße Hand auf Johns nassen Kopf und sagte:
»Wann kommst du morgen abend nach Hause, John? ich möchte dich gerne besuchen.«
»Mich? o Herr!« stammelte der Knabe und in freudigem Erstaunen blickte er den Fremden an, »um sechs Uhr komme ich mit Betsy heim; darf ich dann vor der Thür auf Sie warten?«
»Gern, wenn dir's Vergnügen macht,« erwiderte der Angeredete und setzte dann, nach herzlichem Abschied von dem kleinen John, seinen Weg in die Berge hinein fort.
Er hatte übrigens den Pflegeeltern des Knaben unrecht gethan, wenn er annahm, dieser werde schlecht von ihnen behandelt, weil er ihr eigenes Kind nicht sei. Mutter Katy und Vater O'Brien machten nicht den geringsten Unterschied zwischen dem kleinen John und ihren rechten Sprossen. Sie hatten ihn wie diese als ein Geschenk des Himmels hingenommen und keinen Augenblick daran gedacht, sich seiner wieder zu entledigen, als er ihnen, ein kleines hilfloses Wesen, so unverlangt vor die Thür gelegt worden war. John wuchs mit den jungen O'Brien auf, als gehöre er selbstverständlich dazu, hungerte so oft und wurde so selten satt wie sie, ging barfuß mit ihnen und hatte überhaupt den gleichen Anteil an der vielen Not und den spärlichen Freuden der Familie, wie jedes andere Glied derselben. Ja er wurde weniger ausgescholten und geschlagen als seine Pflegegeschwister, weil er stiller und artiger war als sie, keine Widerreden gab wie die vorlaute Mary und nicht so viel verdarb wie der wilde Ned!
Der Tag, an dem für die Familie O'Brien das Morgenrot einer bessern Zukunft aufging, der große Tag, an dem Betsy, die Kuh, im Triumph ihren Einzug in der Hütte hielt, deren einzigen Raum sie von nun an mit sämtlichen neun Familiengliedern, ihren Hühnern und ihrem Schweine teilen sollte, war für ihn wie für die andern ein Festtag gewesen.
Und daß er Betsy hüten durfte, das war eine Vergünstigung, die John nur seiner besonders großen Artigkeit verdankte.
Nie in seinem Leben hatte er sich so stolz gefühlt, als in dem Augenblicke, wo Mutter Katy ihm den größten Schatz des Hauses mit den Worten: »Dir allein kann ich sie anvertrauen!« übergab. Was Wunder, daß er bei dem plötzlich hereinbrechenden Wolkenbruch mehr an Betsys Bequemlichkeit als an sein eigenes, unbedeutendes Persönchen dachte!
Dennoch hatte es dem armen Knaben in tiefster Seele wohl gethan, daß der schöne junge Herr sich so freundlich darum bekümmerte, ob er naß werde ober nicht. Wie ein Wesen höherer Art war er ihm erschienen, so ernst und doch so mild. Und es war – erst nachdem der Herr sich entfernt hatte, dachte der kleine John mit einem Schauer von Ehrfurcht und Entzücken daran – es war noch dazu Se. Hochehrwürden selbst, der neue Pfarrer des Dorfes gewesen!
Und er hatte ihm, dem armen kleinen John einen Besuch zugesagt! – Es dauerte lange, bis dieser die ganze Tragweite eines solchen Versprechens zu fassen vermochte. Der Rest des Tages, den er mit Betsy auf dem grasigen Bergabhang zubrachte, verging ihm trotz Hunger und Nässe schnell, so viel hatte er über dies frohe Ereignis nachzudenken. Und doch konnte er's dann wieder kaum erwarten, bis er nach Hause kam und Eltern und Geschwistern erzählen durfte, was ihm heute Wunderbares zugestoßen war.
Seinem Worte getreu, erklomm der junge Priester am folgenden Abend den steilen Pfad, der zu O'Briens Hütte führte. Das Herz war ihm schwer. Wie ein Centnergewicht lag der Gedanke an all die Not, die ihm während des kurzen Aufenthalts an seinem neuen Bestimmungsort entgegengetreten war, auf seiner Seele. Der aufrichtige Wunsch, der leidenden Menschheit helfend und tröstend nahezutreten, hatte den feingebildeten Mann aus der Mitte aller geistigen Genüsse einer Großstadt in diese arme Gegend getrieben. Aber bald mußte er erfahren, daß das Elend, das ihm hier entgegentrat, zu groß war, als daß er allein ihm hätte abhelfen können. O wenn er nur imstande gewesen wäre, ein einziges, wirklich nützliches Werk zu thun und nur einem einzigen dieser armen, verkommenen Bergbewohner zu einem bessern Dasein zu verhelfen! Einem einzigen? – Vielleicht dem blassen, elternlosen Knaben, den er am Wege getroffen? Es lag etwas in dem Blicke dieses Kindes, in dem sanften geduldigen Ausdruck seines schmalen Gesichtchens, das ihm wunderbar das Herz bewegte und ihm im Wachen wie im Traum vor Augen stand.
So alt wie dieses arme Findelkind wäre jetzt der kleine Bruder gewesen, den er verloren hatte, noch ehe er ihn gesehen, in jener Schreckensnacht, wo das Haus seines Vaters, der das Haupt einer irischen Verschwörung gewesen war, von der Polizei umzingelt wurde. Wie durch ein Wunder war damals der Vater seinen Verfolgern entkommen. Die zarte Mutter aber und das neugeborene Knäblein hatte der plötzliche Schrecken getötet. Er selbst hielt sich zu jener Zeit auf einer entfernten Schule auf und so tief erschütterte die Kunde von dem plötzlichen Zusammenbruch seines Elternhauses das junge Gemüt, daß er von da an beschloß, auf die Freuden der Welt für immer zu verzichten und sich ausschließlich dem Studium der Theologie und dem ernsten, entsagungsvollen Beruf eines Predigers hinzugeben. Sein Vater sandte ihm von Amerika aus, wohin er geflüchtet war, die Mittel zu seinen Studien. Eine Kluft, breiter und tiefer als die weite See, die zwischen ihnen lag, trennte seine Bestrebungen von denen des einzigen Sohns. Ganz und voll gab dieser sich dem einmal erfaßten Lebenszwecke hin. Aber allein, recht allein fühlte er sich doch oftmals dabei, und einsam und steil wie der rauhe Gebirgspfad, den er jetzt rüstigen Fußes emporstieg, erschien ihm gar manchmal das Leben, das vor ihm lag. – Wie, wenn jetzt eine weiche Kinderhand in der seinen geruht hätte, ein paar kleine Füße neben ihm hergetrippelt wären? – John, kleiner John, ob man dich wohl aus dem Elende deines jetzigen Lebens herausziehen und zu einem Freund und Gefährten des Einsamen heranbilden könnte?
Die Nachricht von dem bevorstehenden Besuch des neuen Pfarrers rief im Hause O'Brien keine kleine Aufregung hervor. Mutter Katy machte verzweifelte, nie dagewesene Versuche, sich, ihrer Familie und ihrem Haus ein einigermaßen anständiges Aussehen zu geben. Sie verbrauchte an diesem einen Tag mehr Wasser als sonst in einer ganzen Woche. Was von der Kinderschar die Arme rühren konnte, stand ihr nach Kräften bei dem lobenswerten Werke bei.
Noch vor der Stunde, zu der Johns neuer Freund seinen Besuch angemeldet hatte, war die große That der Reinigung vollbracht, zur hohen Befriedigung von Mutter Katy selbst, deren Antlitz heute nur an einigen vergessenen Stellen um Mund und Augen seine gewöhnliche, schwärzlich-graue Farbe zeigte. Ihr Haar klebte dank eines verschwenderischen Gebrauchs von Wasser an den Schläfen fest und war hinten säuberlich aufgesteckt. Im Lächeln vollster Zufriedenheit zogen ihre roten Lippen sich fast von einem Ohr zum andern, so daß die ganze Pracht der großen weißen Zähne dabei zum Vorschein kam, und ihre kleinen schwarzen Augen funkelten vor Freude und froher Erwartung. Das Baby, an das man sonst den Luxus besonderer Kleidungsstücke nicht rückte, hatte man zur Feier des Tages in ein altes Tuch gehüllt. Es lag warm und weich auf der Mutter Schoß und saugte friedlich an einem Lutschbeutel. An der Garderobe der anderen Kinder waren die zahlreichen Risse zum Teil notdürftig zusammengesteckt, die Flecken kunstvoll in den Falten verborgen worden.
Kaum konnte die unmüßige Schar die Ankunft des verehrten Gastes erwarten; unaufhörlich rannte sie zur Thür hinaus und wieder herein, bis der wiederum heftig herabströmende Regen sämtliche Kinder am warmen Herdfeuer an der Mutter Seite festhielt. Nur John blieb trotz aller Unbill der Witterung draußen stehen und wartete auf den Herrn Pfarrer. Daß dieser sich durch das schlechte Wetter von der Erfüllung seines Versprechens möglicherweise abhalten lassen könne, kam weder ihm noch einem der anderen Familienglieder in den Sinn.
Und siehe, er kam! – er kam wirklich! – Tief unten am Berghang tauchte die hohe schlanke Gestalt in dem schönen schwarzen Anzug auf. Rasch emporklimmend auf dem schlüpfrigen Pfad kam er näher und näher und bald stand der Herr Pfarrer vor dem kleinen John, reichte ihm mit seinem herzgewinnenden Lächeln die Hand und sagte:
»Du lässest dich ja wieder naß regnen, Kleiner!« »Ich habe auf Sie gewartet,« erwiderte John mit strahlendem Blick.
Nicht ohne Beschämung dachte der junge Geistliche daran, wie er lange Zeit sehr im Zweifel gewesen war, ob er bei solch schlechter Witterung den beschwerlichen Gang unternehmen solle, und sich einzureden versucht hatte, der Knabe werde das ihm flüchtig gegebene Versprechen vergessen haben und ihn auf keinen Fall bei diesem strömenden Regen erwarten.
Jetzt ward er von dem glücklichen John im Triumph ins Innere der Hütte geführt, wo, malerisch von den flackernden Flammen beleuchtet, Katy mit ihren Kindern am Feuer saß. Groß war die Verlegenheit und Freude bei seinem Erscheinen. Mit einem mehr gutgemeinten als gelungenen Versuch zu einem Knickse erhob sich die Mutter und ließ dabei das unglückliche Baby schier ins Feuer fallen. Die kleine Betty versteckte das Köpfchen in die schützenden Falten ihres fadenscheinigen Rocks; Ned, Mary, Tom und Fred pflanzten sich mit offenem Mund und Augen vor dem jungen Pfarrer auf und starrten ihn an, als wäre er das erste menschliche Wesen, das sie je gesehen. O'Brien, der es nicht für nötig gehalten hatte, seine eigene Person mit in das allgemeine Reinigungswerk aufzunehmen, hielt sich zuerst wohlweislich etwas im Hintergrunde bei Betsy, der Kuh, und Muff, dem Schweine, auf. Bald aber siegte seine angeborene Gastfreundschaft über das kleinliche Gefühl der Eitelkeit, er trat grinsend näher und streckte dem geistlichen Herrn seine breite, schwielige Rechte hin.
Es war ein Glück, daß der brave Mann und seine Familie nicht ahnten, welchen Eindruck ihre Behausung auf den Besucher machte, der freilich nicht wußte, wie es sonst darin aussah. Mit leisem Schaudern blickte er sich in dem engen, dumpfigen Raume um, der Menschen und Tieren zugleich zum Aufenthalt diente und jeglicher Spur von Bequemlichkeit entbehrte. Der Fußboden bestand aus feuchten Ziegelsteinen, die Decke ward von rohen Querbalken gestützt, auf denen ein paar magere Hühner ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Drei oder vier zerbrochene Stühle, ein dreibeiniger, durch einen Aufbau von Steinen mühsam aufrecht erhaltener Tisch, – das war das ganze Ameublement der Wohnung; aufgeschüttete Haufen von altem Stroh und Laubmerk mit ein paar Lappen darüber schienen die Lagerstätten der Familie, etliche zersprungene Töpfe und irdene Scherben ihr Koch- und Eßgeschirr zu sein. Der junge Pfarrer hätte weinen mögen, indes Katy ihm strahlenden Angesichts die Kuh, das Schwein und die Kinder zeigte; ihn fühlen ließ, wie Betsys Knochen schon viel weniger spitz heraus stünden als sonst und wie Muff bereits etwas Fett ansetze, und gar betrübt ward ihm zu Mute, als sie ihm in vollem Mutterstolz berichtete, daß der zwölfjährige Ned schon seinen Namen schreiben könne und John und Mary ein Gebet auswendig wüßten.
Doch ließ er sich das nicht merken und bewunderte pflichtschuldig alles, was man von ihm bewundert haben wollte, trank auch mit einiger Selbstüberwindung einen Becher von Betsys Milch und ging aufs teilnehmendste auf alles ein, was Katy ihm von ihren Verhältnissen erzählte. Auch richtete er hie und da ein ermutigendes Wort an den schweigsamen O'Brien. Dabei mußte er aber wieder und wieder den blassen Knaben ansehen, der etwas abseits von den anderen am Feuer stand und seine leuchtenden Blicke nicht von ihm wandte.
Armer kleiner John! Sollte er, in dessen Wesen so viel unbewußte Feinheit lag, aus dessen Augen ein so tiefes Gemüt sprach und ein so klarer Verstand, hier in dieser armseligen Umgebung zu einem ebenso elenden Leben heranwachsen, wie das seiner Pflegeeltern war?
»Und John ist euer eigenes Kind nicht?« fragte der Herr Pfarrer die Frau des Hauses, indem er sich auf den Stuhl niederließ, den der Kleine ihm ans Feuer gerückt hatte.
»So wie man das heißen will. Er ist uns so lieb wie unsere eigenen Kinder, aber er ist so zu sagen ein Findling.«
»Wißt ihr, wer ihn euch eigentlich gebracht hat?«
»O'Briens Schwester Nelly war's, die als ganz junges Mädchen zur Stadt gekommen ist und dort bei feinen Herrschaften gedient hat. Sie muß es wenigstens gewesen sein, denn am Pfingstabend haben die Leute drunten im Dorf sie mit einem Bündel unter dem Arme gehen sehen und am Pfingstmorgen fanden wir das Baby vor der Thür.«
»Könntet ihr euch denn von dem Kleinen trennen?«
»Ew. Hochehrwürden meinen, ob wir ihn wieder hergeben möchten? Jetzt gewiß nicht mehr, denn jetzt ist er übers Schlimmste hinaus und kann so gut auf die Betsy passen.«
»Wenn ihn aber jemand zu sich nähme, der ihn etwas lernen ließe und ihm ordentliche Kleider gäbe? Ich zum Beispiel?« »Ew. Hochehrwürden selbst?« rief Katy in maßloser Verwunderung. »Das wäre freilich ganz etwas anderes, da wäre das Kind für Zeit und Ewigkeit geborgen. O'Brien, Alter! hast du's gehört? Kinder, denkt euch doch! John darf vielleicht zu Sr. Hochehrwürden kommen! Du, Johnny, du!«
»Ist das wahr?« fragte der Knabe, und in so seliger Freude leuchteten seine Augen auf, daß der junge Priester fühlte, er könne jetzt nicht mehr zurück, wenn er auch sein so flüchtig gegebenes Versprechen gar nicht ernst gemeint und dessen Tragweite nicht überlegt hätte.
»Das fehlte noch,« sagte acht Tage später Kitty, die alte Wirtschafterin des Pfarrers, indem sie brummend ihre mageren Hände am Feuer wärmte, »daß Se. Hochehrwürden mir solch einen Streich spielte! Gelehrte und heilige Leute können bei all ihrer Klugheit oft schrecklich dumme Dinge thun. Nicht genug, daß er von seiner kleinen Einnahme so viel wegschenkt, daß wir oft kaum satt zu essen haben, und er für alles Bettelvolk offene Tafel hält, nun muß er mir auch noch den ersten besten hergelaufenen Schlingel ins Haus nehmen, ganz ins Haus! Wenn's noch ordentlicher Leute Kind wäre, aber so ein Wechselbalg, von dem man nicht weiß, ob er überhaupt Christenmenschen zu Eltern hat! Sagt man doch, daß es Sitte der Bergkobolde sei, den Leuten ihre junge Brut vor die Thüren zu legen. O weh, was kriegen wir wohl für eine Bescherung ins Haus! Fahrt hin, Friede, Ordnung und Sauberkeit! Der fremde Range wird uns bald das ganze Häuslein von unterst zu oberst kehren. Behext ist mein junger Herr allbereits von ihm. War er doch taub gegen all meine vernünftigen Einwendungen und befahl mir so fest und ernst, wie er nur selten befiehlt, alles für heut abend zurecht zu machen, wo er den Kleinen holen wolle. Selbst holen! als ob der Schlingel nicht Grund genug hätte, mit Freuden auf allen Vieren allein den Berg herabzulaufen, wo solch ein großes Glück ihn hier erwartet!«
So brummte und schalt die Alte vor sich hin, stand dazwischen auf, um zu sehen, ob auf dem Tische, darauf sie das einfache Abendbrot für den Herrn zurecht gesetzt hatte, auch alles an seinem Platze stehe, und ob das Theewasser, das im Kessel brodelte, nicht aus dem Kochen komme, warf ein neues Scheit Holz ins Feuer und holte Morgenschuhe und Hausrock des jungen Pfarrers, um sie am Herde zu wärmen. Die Arbeit wurde der Alten manchmal schwer, doch machte es ihr Freude, das ganze kleine Häuslein so gut in Ordnung zu halten, daß alles darin vor Sauberkeit glänzte. Deshalb war es ihr nicht übel zu nehmen, wenn sie für ihr Schmuckkästchen besorgt war und das Eindringen eines jugendlichen und ohne Zweifel schlecht erzogenen Insassen fürchtete. Im Gedanken an all das Ungemach, das ihr der Zögling der Familie O'Brien mutmaßlich zufügen konnte, traten der sonst nicht leicht gerührten Alten ordentlich Thränen in die Augen. Schwer seufzend hielt sie in ihrer Arbeit inne. Da ging auch schon die Thür auf und, ein schmächtig Büblein an der Hand führend, trat ihr Herr herein. »Gott segne deinen Eingang, kleiner John!« sagte er freudig aber ernst zu seinem jungen Begleiter. »Sieh, das ist unsere gute Kitty,« fügte er dann hinzu. Und John trat näher, machte einen höflichen Knicks und küßte die runzlige Hand der Alten, die diese ihm etwas zögernd entgegenstreckte. Dann blickte er mit seinen schönen blauen Augen schüchtern zu ihr auf. Ganz eigen ward es der alten Frau zu Mute bei diesem Blick, so warm und weich wie schon lange nicht mehr und ein linder Tropfen fiel auf des Knaben Scheitel, als sie sich niederbeugte, um einen leisen Kuß auf seine Stirn zu drücken.
Als der kleine John eine Stunde später zum erstenmal in seinem Leben sich in ein sauberes Bettlein niederlegte, das ihm ganz allein zur Verfügung stand, war ihm, als sei alles nur ein Traum und er müsse am andern Morgen wieder in Mutter Katys Hütte auf seinem Laubsack neben Tom und Ned erwachen.
Aber es war kein Traum! – Die Sonne, die den Knaben am folgenden Morgen in aller Frühe weckte, schien in ein kleines freundliches Kämmerlein mit schneeweiß getünchten Wänden und sauber gescheuertem Fußboden. Dem Bette gegenüber stand ein Tisch mit einem Stuhl davor, an einem Haken in der Ecke hing ein nagelneuer Anzug, schöne blaue Strümpfe lagen auf der Decke und vor dem Bett, o Wunder! standen ein paar prächtige Lederschuhe mit nägelbeschlagenen Sohlen, dergleichen John noch nie an einem der andern Dorfbewohner gesehen, geschweige denn selbst getragen hatte. Das war fast zu viel der Herrlichkeit und das Beste dabei war noch, daß er sich unter einem Dache mit dem Herrn Pfarrer befand, dem guten, freundlichen Herrn, der ihm vom ersten Augenblicke an, da er ihn gesehen, wie der Inbegriff alles Guten, Schönen und Hohen vorgekommen war. Um immer in seiner Nähe sein, ihm dienen und gehorchen zu dürfen, hätte John gern gehungert und gedürstet, und die schwersten Entbehrungen auf sich geladen, und jetzt ging es ihm auch sonst so gut!
Mit Thränen des Dankes und der Freude faltete der kleine, in der Not des Lebens früh gereifte Knabe die Hände und bat den lieben Gott von ganzem Herzen, ihm doch zu helfen, daß er sich ihm und den guten Menschen, zu denen er ihn geführt, auch dankbar erweisen und ihnen all ihre Güte wenigstens etwas vergelten könne.
Am anderen Morgen schlief Kitty ausnahmsweise länger als sonst in den Tag hinein. Dies machte sie, die sich sonst etwas auf ihr Frühaufstehen zu gute that, schon von vornherein verdrießlich. Brummend stand sie auf und gedachte mit Seufzen und Klagen der vermehrten Arbeit, die ihrer wartete. Die kurze Anwandlung von Rührung, die sie gestern beim Anblick des kleinen, verwaisten Knaben übermannt hatte, war schnell vorübergegangen. Sie sah so finster und griesgrämig aus wie je, als sie schlürfenden Schritts die kleine Küche betrat, um an die gewohnte Tagesarbeit zu gehen.
Wie angenehm aber war sie überrascht, als sie bereits ein hellflackerndes Feuer dort vorfand, über dem der mit Wasser gefüllte Kessel schon zu singen begann. Sauber geputzt standen ihre und des Herrn Pfarrers Schuhe bereit und ein Häuflein feingeschlagenen Holzes lag neben der Herdstelle. Auch ein Eimer voll frischen Wassers war geholt worden und jetzt erschien der Vollbringer aller dieser guten Werke, der kleine John selbst; er hielt einen großen Besen in der Hand und schickte sich an, die Küche auszufegen. Als er Kitty erblickte, stellte er sein Instrument beiseite, kam ehrerbietig auf sie zu und küßte ihr zum Morgengruß die Hand. Er war sauber gewaschen und gekämmt, das scharfe Auge der Haushälterin fand an dem ganzen kleinen Persönchen nichts zu tadeln. Aufs neue hatte der Anblick des Kindes ihren Groll besiegt; sie mußte wohl oder übel seinen freundlichen Gruß freundlich erwidern und ihm für seine Thätigkeit ein paar anerkennende Worte sagen. Als sie dann im weiteren Verlauf des Morgens sah, wie willig und geschickt der Knabe sich zu aller Arbeit erwies, erlaubte sie ihm sogar, als Zeichen ihres höchsten Vertrauens, dem Herrn Pfarrer den Frühstückskaffee aufs Zimmer zu bringen.
Der kleine John zitterte vor Freude, als Kitty ihm das Theebrett mit dem sauber geordneten Geschirr in die Hand gab; klirrend schlugen Tasse und Zuckerdose zusammen, so daß die Alte ängstlich ausrief:
»Ich sehe, John, das ist zu schwer für dich! Laß mich's nur selbst hineintragen; es wäre ein zu großes Unglück, wenn Sr. Hochehrwürden Lieblingstasse zerbrochen würde!«
»O nein, nein, ich lasse nichts fallen!« erwiderte rasch der Knabe und hielt mit gewaltsamer Anstrengung das Theebrett so fest, daß nichts sich darauf bewegte. Dann machte Kitty ihm die Thür auf und er stand in dem freundlichen, sonnenbeschienenen Zimmer, wo zwischen seinen Büchern und seinen Blumen auf hartem Ledersofa der junge Pfarrer saß und den schüchtern Eintretenden liebevoll begrüßte: »Guten Morgen, kleiner John, bist du schon so fleißig? und hast du denn gut geschlafen in deinem neuen Bettchen? Komm, setze die Sachen hierher auf den Tisch, dann hol' dein Schüsselchen und trinke ein wenig von meinem Kaffee.«
»Das fehlte auch noch!« brummte Kitty, als John herauskam, um dem Geheiß Folge zu leisten, »du mit Sr. Hochehrwürden Kaffee trinken! dergleichen hätt' ich mein Lebtag nicht gewagt!« Als sie aber in die leuchtenden Augen, das freudestrahlende Gesichtchen des kleinen John blickte, glätteten sich ihre Züge wieder, willig gab sie dem Knaben sein blechernes Schüsselein und sagte gar nicht unfreundlichen Tones: »Da, geh nur hinein, ist wohl das erste Mal in deinem Leben, daß du mit ordentlichen Leuten zusammen in einer saubern Stube sitzest.«
Wohl war es das erste Mal und es kam John vor, als sei er geradezu in den Himmel versetzt, als er, der bisher seine Mahlzeiten nur auf freiem Felde oder in O'Briens rauchiger Küche eingenommen, nun dem guten Pfarrer gegenüber vor dem mit einem blendend weißen Tuche bedeckten Tische saß und zu einem großen Stück Weißbrot den duftenden Kaffee genießen durfte. Wie eines Engels Stimme drangen die freundlichen Worte seines Wohlthäters, der ihn nach seiner bisherigen Lebensweise, nach Pflegeeltern und Geschwistern fragte, an sein Ohr. War es denn möglich, daß ihm, gerade ihm, dem kleinen John, der sich als armes Findelkind bisher geringer gedeucht hatte als der ärmste aller Dorfbewohner, solch hohes Glück zu teil wurde?
Erst zaghaft und schüchtern, dann immer mutiger und lebhafter beantwortete er die Fragen des jungen Pfarrherrn und erzählte ihm von seinem Leben in O'Briens Hütte, von dem wilden Ned, der ihn so oft gequält, von der klugen sanften Mary und dem wunderbaren Baby und wie sie alle, außer den ganz Kleinen natürlich, von früh bis spät gearbeitet hätten und jede Woche einen Tag gefastet, um das Geld zur Kuh zusammenzubringen; – wie man jetzt aber fast immer genug zu essen habe, da die brave Betsy die Familie mit Milch versorge und Mutter Katy sogar ab und zu etwas Butter auf den Markt bringen könne.
Halb ergötzt und halb gerührt hörte der Pfarrer zu.
»Du hast viel gelernt da droben auf den Bergen,« sagte er dann, »vieles, was du nirgends sonst so gut hättest lernen können und was dir im spätern Leben wohl zu statten kommen wird. Aber zum Lesen und Schreiben und andern derartigen Studien hattest du wohl keine Zeit, was?«
»Nein, Ew. Hochehrwürden, aber Mary und ich sollten es lernen, wenn Ned es erst wußte. Ned ist ein paarmal in die Winterschule gegangen, er kann schon seinen Namen schreiben, aber lesen kann er noch nicht.«
»Da hättest du, fürchte ich, deinen Wissensdurst lang bezügeln müssen, falls ein solcher bei dir vorhanden ist, kleiner John. Möchtest du denn aus einem Buche lesen können?« fragte der Pfarrer in freundlichem Ton.
»O ja!« erwiderte John mit leuchtenden Augen.
»Gut, dann will ich dich's lehren. Sobald das Kaffeegeschirr weggeräumt ist und wir den Morgensegen gelesen haben, wollen wir unsere Studien beginnen und ich werde dir in dem großen Bibelbuch da droben mit den schönen Bildern die Buchstaben zeigen, ist dir das recht?«
Johns ganzes Gesichtchen strahlte vor Freude und froher Erwartung. Sollte es denn immer schöner und schöner kommen hier in seinem neuen Paradies?
Und es kam immer schöner. Neue, ungeahnte Freuden brachte dem armen Waisenknaben jeder Tag, den er in dem kleinen Pfarrhause zwischen den Bergen verlebte. Was er sich früher in seinen kühnsten Träumen nicht zu wünschen gewagt: ein behagliches Quartier, hinreichende Nahrung, saubere Kleider und ein warmes Bettlein, das hatte er jetzt. Dabei durfte er – und dies war für ihn der Gipfelpunkt alles irdischen Glücks – den ganzen Tag um den Herrn Pfarrer sein, ihm allerlei kleine Dienste leisten, als: seine Bücher abstäuben, seine Kleider reinigen, seine bescheidenen Mahlzeiten auftragen und sein Zimmer ordnen. Die letztere Arbeit ließ der Prediger viel lieber von John besorgen als von der alten Kitty, die nicht immer sehr rücksichtsvoll mit seinen Schriftlichkeiten verfuhr und am liebsten jedes lose umherliegende Papier in den Ofen gesteckt hätte, gleichviel ob es eine gelehrte Abhandlung oder das Konzept einer Predigt enthielt. Dabei behandelte der gütige Herr den kleinen John nicht wie einen Diener, sondern wie seinen jüngeren Bruder und Freund. Fast immer ließ er ihn bei sich am Tische sitzen und oft nahm er ihn mit auf seinen Gängen in die Berge, wobei der Knabe ihm dann mit einem großen Korb voll Lebensmitteln folgen durfte, die man droben unter die armen Leute verteilte. Viele alte Bekannte traf John auf diesen Besuchen, auch bei Vater O'Brien wurde oftmals zum Jubel der ganzen Familie Halt gemacht. Überhaupt war es eine Freude zu sehen, wie freundlich der Knabe von all seinen ehemaligen Freunden begrüßt wurde. Da war keiner, der ihn um sein Glück beneidet hätte. Es hieß nur immer: »Guten Tag, kleiner John! – Wie schön, daß dir's so gut geht! – Es ist eine Freude zu sehen, wie groß und stark du wirst. – Ja, ja, du hast gut lachen, Johnny! – Aber du vergißt unsereinen doch nicht in deinem Glück, das ist nett von dir, kleiner John; bist immer ein guter Junge gewesen und verdienst, daß dir's wohlergehe.«
Nein, vom Neid und von der Bosheit der Welt, wovon der Herr Pfarrer in seinen Predigten so herzbeweglich zu reden wußte, hatte der kleine John nichts zu leiden. Er durfte nur Liebes und Gutes erfahren von jedermann; sogar die alte, brummige Kitty, von der fast noch niemand ein freundliches Wort gehört hatte, schalt beinahe niemals mit ihm und sorgte wie eine Mutter für sein Wohl.
Am schönsten war's aber doch, wenn der Knabe ganz allein mit dem Herrn Pfarrer war, wenn er an seiner Hand durch die Berge streifte und der gelehrte Herr ihn mit sinnigen Worten auf die Blumen und Pflanzen, die zwischen dem Gestein emporkeimen, auf das Leben der Tierwelt, die unter Gras und Gestrüpp ihr Wesen treibt, aufmerksam machte. Der kleine John hatte immer die Blumen geliebt und war niemals grausam gegen arme, wehrlose Tierchen gewesen; nun der junge Prediger ihn aber auf den kunstvollen Bau der erstern aufmerksam machte und ihn in das verständige Thun und Treiben der letztern einweihte, betrachtete er jene mit ganz besonderem Interesse und faßte eine wirkliche Liebe zu den kleinen fleißigen Ameisen, den zierlichen Käfern und Würmchen, die, unbeachtet von den meisten Menschen, nach fest geregelten, weisen Gesetzen eine eigene, reichbewegte Welt im kleinen bilden. Und gar daheim, in der traulichen Studierstube, wenn John neben seinem Herrn vor der aufgeschlagenen großen Bibel saß, ging ihm erst recht eine neue, wunderbare, unbekannte Welt auf. Da bekamen die toten Buchstaben Leben und Gestalt unter des gütigen Meisters Worten und erzählten dem eifrig lauschenden Schüler Dinge, die er noch nie zuvor vernommen. Wohl kannte der kleine John den lieben Gott und wußte, daß dieser alle Dinge erschaffen hat und unser Schicksal in seinen Händen hält, – auch vom Jesuskindlein und der Jungfrau Maria hatte er gehört. Wie dies alles aber sich aneinanderfügt, wie im wunderbaren Werk von sieben Tagen die Welt aus Gottes Schöpferkraft hervorgegangen, wie die ersten Menschen schon den unmittelbaren Zusammenhang mit ihrem Schöpfer verloren und ihre Nachkommen sich trotz einzelner gewaltiger Gottesmänner, die laut für den Herrn zeugten, tiefer und tiefer in Schuld und Sünde verstrickten, bis endlich der Sohn Gottes durch seinen freiwilligen Tod die Menschheit mit dem Schöpfer versöhnte, – das alles war dem Knaben im ganzen wie im einzelnen neu. Tag und Nacht hatte er den schönen Geschichten von Noah und Abraham, Isaak und Jakob, den seltsamen Erlebnissen des jungen Joseph, dem wunderbaren Wüstenzug der Israeliten, den mancherlei Erfahrungen Davids, des königlichen Sängers, zuhören können. Und wie innig rührte ihn gar die Geschichte des Heilandes selbst, die lieblichen Erscheinungen bei seiner Geburt, sein Leben voller Liebe und sein Tod am Kreuz! – Die ganze Welt und alles, was darin war, erschien ihm in einem neuen, verklärten Lichte, nun er wußte, welch eine Fülle von Liebe der Herr über sie ergossen hatte. Mit Feuereifer warf er sich auf die edle Lesekunst, sowohl um seinem Lehrer Freude zu machen, als auch um so bald als möglich das, was dieser ihm aus den Büchern vortrug, selbst lesen zu können. Er begriff schnell und leicht und machte auch in den Fächern, die ihn weniger fesselten, im Schreiben und Rechnen große Fortschritte.
Der junge Prediger aber hatte fast ebensoviel Freude am Unterrichten seines kleinen Schülers, als dieser am Lernen. Es war schön, diese glänzenden Kinderaugen in so eifriger Hingabe und Spannung auf sich gerichtet zu sehen; schön war es, auf den Gängen durch die Berge die kleine Hand in der seinen zu fühlen, die Kinderfüßchen neben sich hertrippeln zu hören, und das warme Verständnis, das die unschuldige Kinderseele, wenn auch oftmals nur in leisem Ahnen, den höchsten Dingen entgegenbrachte, that dem einsamen Manne von Herzen wohl. Sein Leben erschien ihm mit einemmal reicher und schön wie nie zuvor; ohne daß er's wußte, ward sein Gang leichter und rascher, seine Haltung aufrechter und freier, wenn er, von einem Berufsgang heimkehrend, an das strahlende Gesichtchen, den freudigen Gruß dachte, womit der kleine John ihm schon von weitem entgegeneilte. Die Fürsorge für ein Wesen, das ganz sein eigen war, zog seine Gedanken von dem allgemeinen, rettungslosen Elende der Menschheit ab, dem er sonst mit düsterer Schwermut nachzuhängen pflegte; unter dem Einfluß der warmen, selbstlosen Liebe des kleinen Knaben ward er selbst wieder zum Kinde. Jugendlust und Jugendfreude wachten in dem kaum dem Jünglingsalter entwachsenen Manne wieder auf und zu ihrem unsäglichen Erstaunen sah die alte Kitty Se. Hochehrwürden manchmal zur Dämmerstunde mit dem kleinen John im Garten Ball spielen oder Turnübungen machen.
Aber nicht nur der junge Pfarrherr, auch seine alte Haushälterin hatte sich durch den Einfluß des neuen Ankömmlings ganz allmählich, aber sichtbarlich verwandelt. Man flüsterte sich im Dorfe zu, daß Kitty viel weniger brumme und viel freundlicher aussehe als sonst, nun der kleine John im Hause weilte, der ihr so viel Arbeit abnahm und immer bemüht war, ihr Freude zu machen. Die Liebe dieses Kindes taute selbst ihr altes, verknöchertes Herz, das im Leben wenig Liebe genossen hatte, auf, daß es wieder warm und jung ward und aufs neue sich mit andern freuen, für andre fühlen konnte.
Der kleine John, der niemals an sich dachte, sondern nur an das, was andre für ihn thaten, und stets das Gefühl hatte, er erweise sich ihnen lange nicht dankbar genug für ihre Güte, ahnte nicht, daß er mit seinem freundlichen, liebevollen Wesen und seinem sanften, glücklichen Gesicht Licht und Sonnenschein in das stille Pfarrhaus gebracht hatte, so daß dessen Bewohner den Tag segneten, an dem er zuerst über ihre Schwelle getreten war.
Zwei Jahre waren's her seit jenem Tage und es regnete wieder einmal gerade so heftig wie dazumal. Es regnet ja fast immer auf diesen kahlen Bergen. Und diesmal hatte es noch viel anhaltender geregnet als sonst, viele Tage lang. Und zu dem Wasser, das in Strömen vom Himmel herniederfloß, gesellten sich die Wassermassen, die aus dem schmelzenden Schnee droben auf dem Gipfel der Berge entstanden waren. Das alles brauste, zu einer gewaltigen Flut vereint, donnernd ins Thal herab, erbarmungslos alles zerstörend, was auf ihrem Wege lag. Trübe Wassermassen wogten da, wo Wiesen, Garten und Felder im ersten Schmuck des Frühlings geprangt hatten. Mancher armen Familie war das Dach über dem Haupte, der Boden unter den Füßen hinweggeschwemmt worden, und um die spärliche Ernte des Jahres war's geschehen.
Am Fenster seines Dachkämmerleins saß der kleine John und dachte schweren Herzens an das Elend der armen Bergbewohner, das durch diese Wassersnot größer als je geworden war. Er hätte weinen mögen, wenn ihm einfiel, wie schwer es O'Brien jetzt fallen mußte, etwas Futter für Betsy herbeizuschaffen, ja für die Familie selbst die nötigen Nahrungsmittel zu besorgen. Und all die andern guten Leute auf den Bergen, die immer so freundlich gegen ihn gewesen waren und sich über sein Glück gefreut hatten, als wäre es ihr eigenes, – auch sie mußten nun Leiden und Entbehrungen aller Art ertragen, indes es ihm so wohl erging. Sie hatten, wenn er bei O'Brien oft hungrig und durstig gewesen war, manchmal ihr letztes Stückchen Brot, ihr einziges Glas Milch mit ihm geteilt, und niemals hatte einer von ihnen ihm ein hartes Wort gesagt. Er liebte sie alle so sehr und konnte doch so wenig für sie thun! Ach wenn er ihnen nur einmal so recht zeigen dürfte, wie dankbar er für ihre Güte und Freundlichkeit war! Kein Opfer schien ihm zu groß, als daß er es nicht freudig für sie hätte bringen können. Und doch hatte der kleine John schon gethan, was in seinen Kräften stand, um die Not der armen Überschwemmten zu lindern. Er stand der alten Kitty treulich bei in der Verpflegung der Unglücklichen, die, vom Wasser aus Haus und Hof vertrieben, in dem kleinen Pfarrhaus ein Unterkommen suchten, und teilte sein Bett mit zwei obdachlosen kleinen Knaben. Aber das war in seinen Augen noch lange nicht genug.
Es war Sonntag, und von fern und nah strömten die Leute aus den Bergen ins Gotteshaus; oft auf halb zerstörten Wegen, oft mit Gefahr ihres eigenen Lebens mitten hindurch durch die Flut. Aber sie kamen alle, jung und alt, denn sie fühlten, daß in ihrer großen Not kein anderer ihnen helfen könne als der Herr allein. Der heutige Gottesdienst sollte auch ganz besonders der Bitte um Minderung der bösen Flut geweiht sein.
Recht wie eine Schutzwehr gegen die wilden Wogen stand, auf einer Landzunge in den Strom hinausgebaut, das Kirchlein da. Einem silbernen Bande gleich schlängelte dieser Strom sich sonst durch das liebliche Thal. Jetzt glich er einem brandenden Meere, das ungestüm das kleine, baufällige Gotteshaus umwogte. Daß dieses aber im Ernst vom Wasser gefährdet werden könne, glaubte niemand. Fester als die dünnen Wände der Gebirgshütten waren seine Mauern. Und steht nicht die Kirche unter dem unmittelbaren Schutze des Herrn? Das arme Volk, das durch die wilden Wasser, das rollende Gestein der Berge seinen Weg sich herab erkämpft hatte, glaubte sich nirgends so sicher als im Gotteshaus. Überdies lag die Landzunge, darauf es stand, ziemlich hoch über dem Wasserspiegel, wenn sie auch niedriger als das angrenzende, steil aufsteigende Ufer war.
Es regnete, regnete und regnete. Zum erstenmal in seinem Leben empfand der kleine John eine gewisse Scheu, sein sicheres Kämmerlein zu verlassen und den feuchten, beschwerlichen Weg zur Kirche anzutreten. Und es läutete doch schon und in Scharen zogen die Kirchgänger am Hause vorbei. Er kannte sie alle mit Namen. Da waren auch O'Brien und Mutter Katy. Sie nickten nach seinem Fenster herauf und die letztere lachte übers ganze Gesicht, obschon sie wenig Grund zum Lachen hatte, die arme Seele. Wie war es den beiden nur möglich gewesen, am heutigen Tage von ihrer Höhe herabzukommen?
Alles im Hause war schon zur Kirche, bis auf die alte Kitty, die heute für das halbe Dorf zu Mittag kochen mußte. John hatte ihr von Tagesanbruch an fleißig bei der Arbeit geholfen und sich dabei etwas verspätet. Jetzt aber war er schon längst mit seiner höchst einfachen Toilette fertig. Warum zögerte er noch?
Halb beschämt sprang er von seinem Fensterplätzchen weg und eilte hinab, wo Kitty am Feuer stand und das Mittagessen zubereitete. »Komm, setz dich noch einen Augenblick her und trink ein Schälchen heißen Kaffee!« sagte sie freundlich, »du hast heut früh tüchtig dran müssen, kleiner John!«
Bei dieser ungewöhnlich weichen Anrede kamen dem Knaben die Thränen in die Augen, er wußte selbst nicht warum. Ihm war so wohl und doch so traurig zu Mute, er hätte weinen und jubeln mögen zugleich, ohne daß ein äußerer Grund dazu vorhanden war.
Freundlich dankend nahm er den erquickenden Trank aus der Alten Hand. Warm und wohlig umspielte das helle Herdfeuer seine kalten Füße. Es war hier so traulich und so angenehm und draußen im strömenden Regen so unfreundlich und John schauderte, wenn er ans Hinausgehen dachte. Und doch war heute niemand in der ganzen weitzerstreuten Gemeinde, der sich vor dem Kirchgange gescheut hätte, auch der gute Pfarrer, der so zart war und oft so hustete, hatte hingehen müssen. Wie konnte John, der dem lieben Gott so vielen Dank schuldig war, auch nur einen Augenblick mit dem Fortgehen zögern? Er, der soeben noch von einer großen Liebesthat geträumt hatte, durch die er seinen Mitmenschen gern seine Dankbarkeit und Hingebung bewiesen hätte, – er scheute jetzt vor dem kurzen Weg ins Gotteshaus zurück!
Alle Schwäche mutig überwindend, erhob sich John von seinem warmen, behaglichen Sitze, nickte Kitty einen freundlichen Abschiedsgruß zu und eilte, sein Gesangbuch unterm Arm, durch Sturm und Regen in die Kirche. Er war der letzte, der den überfüllten Raum betrat, und schwer fiel hinter ihm die Thür ins Schloß. Da waren sie denn alle beisammen, die heils- und trostbedürftigen Seelen der armen Berggemeinde. Auf ihren ernsten, gramdurchfurchten Gesichtern lag tiefer Friede und innige Sammlung in Gott. Draußen wallten und stürmten die wilden Gewässer, prasselnd schlug der Regen an die nur unvollkommen schließenden Fenster. Drinnen aber war Friede und Ruhe, und durch die tiefe, andächtige Stille klang warm und ergreifend die Stimme des jungen Priesters, der den Blick seiner bedrängten Gemeinde über die trüben Wasser hinweg zu den Bergen lenkte, von denen die Hilfe kommt. Dann trat er vor den Altar und mächtig übertönte der Gesang der versammelten Gemeinde und der seine das Brausen des Stromes und das Prasseln des Regens. Andächtig, mit gefalteten Händen lauschte John den Worten seines geliebten Wohlthäters. Und doch nicht so andächtig wie sonst. Er hatte durch die überfüllte Kirche nicht zu seinem gewohnten Sitz im Pfarrstuhl vordringen können und stand im Gange dicht bei der großen Eingangsthür. Da er sich von der anstrengenden Arbeit des Morgens noch recht müde fühlte, geschah ihm das Stehen sauer und doch war es gut, daß er stehen mußte, denn sonst hätte ihn, dem heute nacht seine beiden Schlafgefährten wenig Ruhe gelassen hatten, am Ende gar der Schlummer übermannt. So schon wurde es ihm recht schwer, seine Blicke wie sonst unverwandt auf den Altar zu richten. Immer aufs neue wollten ihm die Augen wieder zufallen.
Da, – was sieht er durch seine halbgeschlossenen Lider feucht schimmern? was schlängelt sich langsam auf den steinernen Platten hin? – Ein Streifen Wasser ist's! Wo kommt er her? Die Thüren sind ja zu! Die kleine Kirche hat deren drei: die große, schwere Eingangsthür am vorderen Portal dem Lande zu, links davon an der langen Seitenwand eine kleinere Pforte nach einem Nebenweg hinaus und hinten im Chore, der dem Haupteingang gegenüber fast in den Fluß hineingebaut ist, ein ganz kleines Pförtlein, das rechts vom Altar ins Freie führt und sonst dem Prediger zum Privateingange dient. Heute ist es aber nicht zu benützen, denn das Wasser, dessen Anprall gerade an dieser Seite besonders heftig ist, hat den Weg, der hier am schmälsten Vorsprung der Landzunge um das Kirchlein herumführt, ganz überflutet. Niemand von den frommen Kirchgängern denkt an diesem Morgen an die enge, ganz in grünem Geranke versteckte Seitenpforte, niemand, selbst der alte, halbblinde Küster nicht und noch weniger der junge Pfarrer, der für die Dinge der Außenwelt gar keinen scharfen Blick hat, bemerkte, daß das Holzwerk ganz unten an diesem Pförtlein etwas gerissen war.
Und kein einziger von der andächtig versammelten Gemeinde sieht, wie während des Gottesdienstes, zuerst nur leise und langsam, das Wasser durch die kleine Ritze sickert. Als John es entdeckt, da ist es schon zu spät, denn unter dem Druck der Wogen nimmt der Schaden mit Blitzesschnelle überhand, weiter und weiter klafft die Ritze auseinander, breiter und breiter wird die kleine Rinne. Schon fühlt John das Wasser um seine Füße spielen. Er kann es nicht lassen, er schreit laut auf; aber der schwache Ton verhallt in dem einen markerschütternden Schrei, der jetzt aus dem Munde sämtlicher Kirchgänger das Gotteshaus erbeben macht: »Das Wasser kommt!«
Unaufhaltsam strömend bricht es herein durch den jetzt weit auseinandergeborstenen Spalt, und nachdem einige vergebliche Versuche gemacht worden sind, diesen zu verstopfen, bricht krachend das ganze Holzwerk zusammen und in Todesangst drängt die Menge den beiden andern Thüren zu. Die eine Seitenpforte ist verschlossen, die Hauptthür ist nur durch einen besondern Griff zu öffnen und die Leute in ihrer Angst drücken ungeschickt daran herum.
»Sollen wir ertrinken wie in einer Mäusefalle?« schreit ein roher Gesell.
»Macht Platz, ich schließ euch auf!« ertönt beruhigend des Pfarrers Stimme durch das wilde Getöse. Rasch nimmt er dem vor Schreck erstarrten Küster die Schlüssel ab und eilt damit der Seitenpforte zu. Drüben an dem Haupteingange hat sich die Menge so zusammengedrängt, daß es ihm unmöglich ist, sich hindurchzuzwängen. Und die Wasser dringen und dringen mit Macht herein. Da sieht er unter all der aufgeregten Schar dicht an der Thür ein einziges ruhiges, geduldiges Gesichtchen. Es ist der kleine John.
»Johnny, mach auf!« ruft er ihm zu, so laut und hell, daß es durch das Getümmel der Menschen, das Gebrause der Wogen hindurch von dem Knaben verstanden wird. Instinktartig macht die Menge ihm Platz und mit sicherem Griff öffnet er, der dies schon oft für seinen Herrn gethan hat, die schwere Thür.
Dann strömt es mit einem einzigen Schrei der Erlösung hinaus, hinaus ins Freie! – Noch ist der Weg zur Rettung nicht abgeschnitten, wenn die Halbinsel auch nur noch durch einen schmalen Pfad mit dem hohen sicheren Ufer zusammenhängt.
Aber schnell! um Gottes willen schnell! denn mit immer stärkerer Gewalt strömen die Wasser zu der hinteren Pforte herein. Es ist ein Schreien, ein Drängen, ein Stöhnen in der noch soeben in stille Andacht versunkenen Menge, ein wilder, verzweifelter Kampf um das Leben.
Die Seitenthür hat der Pfarrer mit Hilfe des Küsters ausgehoben, er hilft so gut er kann den Greisen, den Frauen, den Kindern hinaus. Doch können immer nur wenige auf einmal durch die enge Pforte hindurchkommen. Die meisten drängen deshalb dem Haupteingange zu.
Weit, weit steht dieser offen. Der kleine John hält den Thürflügel fest, sonst würde dieser, der nach innen aufgeht, von dem anstürmenden Menschenschwalle zugedrückt werden. Die Thür ist schwer, es kostet den schwachen Knaben eine Anstrengung, die fast über seine Kräfte geht, sie gegen den Andrang offen zu halten. Und dabei fühlt er, wie das Wasser höher und immer höher an ihm emporsteigt. Aber er bittet den lieben Gott immer wieder um neue Kraft, und er ist so glücklich und dankbar, daß er sich all den guten Leuten aus dem Dorfe nützlich erweisen kann. Sie sehen ihn kaum, auch wenn sie daran gedacht hätten, auf ihn zu blicken, denn er steht zwischen Thür und Mauer eingeklemmt im Schatten. Aber er sieht, er kennt sie alle.
Da ist O'Brien und Katy, letztere freilich fast unkenntlich, denn ihre sonst so roten Wangen sind bleich vor Schrecken und ihr Mund zieht sich nicht in frohem Lachen auseinander. Doch ist sie jetzt getrost, denn durch die offene Thür sieht sie Rettung für sich und die Ihrigen. Da ist auch der lustige Ned und die bucklige Mab und Nachbar George und der alte Mac Rior, – alle, alle eilen sie durch das geöffnete Thor der Freiheit, dem Leben zu, dem Leben, das, so elend und reich an Sorgen es auch für sie sein mag, ihnen allen doch so teuer ist.
Und das Wasser steigt und steigt und steigt.
Schon geht es dem kleinen John bis unter die Arme, bald hat es die Thürklinke und die kleine Hand, die diese so krampfhaft festhält, überflutet; schon drängen auch die letzten der Kirchgänger hinaus. Und das ist gut, denn John fühlt seine Kräfte schwinden. Eisiger Frost durchschauert ihn, aber wie Feuer brennt die Thürklinke in seiner Hand; seine Füße berühren den Boden nicht mehr, das Wasser hat ihn emporgehoben, das Wasser, das ihm jetzt bis zum Halse geht. Ihm ist, als höre er draußen des Pfarrers Stimme, die ängstlich seinen Namen ruft, er möchte antworten, aber er kann es nicht. Noch einen Blick wirft er hinüber nach dem Altar, wo in wunderbarer Majestät und Milde das Bild des gekreuzigten Heilandes steht, hoch über den trüben Wasserwogen. Wie oftmals schien es dem kleinen Knaben, wenn er voll Andacht zu ihm emporblickte, als lächle der Herr ihm freundlich zu. Aber so holdselig wie heute hat er ihn noch niemals angeschaut, ihm ist, als breite er seine beiden ausgespannten Arme voll Liebe ihm entgegen. Eine wunderbare Seligkeit, ein himmlischer Friede durchzieht des Knaben Herz; er hört nicht mehr das Rauschen der Wogen, er fühlt das kalte Wasser nicht, das jetzt über seinem Haupte zusammenschlägt und seine Hand von der Thür hinwegreißt, – in unaussprechlich lieben Tönen klingt der Gesang der Engel an sein Ohr und jauchzend begrüßt im himmlischen Gefilde die nie gekannte Mutter ihr geliebtes Kind.
Durch die Reihen der Geretteten, denn gerettet sind alle, wenn auch einige im verzweifelten Kampfe mit dem Elemente schier das Leben eingebüßt haben, geht der junge Pfarrer ernst und bleich. Unter den vielen, vom überstandenen Schreck noch blassen und zitternden Menschen suchte er das eine, liebe Gesicht, das ihm vor allen teuer ist. So viele hat er gerettet, mit genauer Not ist er selbst, der letzte von allen, dem Tode entronnen. Der kleine John aber ist nirgends zu finden. In Todesangst will der Pfarrer nach der Kirche zurück, laut tönt sein banger Ruf über das Gebrause der Wogen. Aber mit wilder Gewalt walzten diese sich ihm entgegen und jetzt – spülen die Wellen eine Leiche ans Land, – das einzige Opfer der schrecklichen Flut. Es ist der kleine John.
Der Priester setzt sich nieder auf das nasse Gras und nimmt den leichten Körper auf den Schoß. Ein Lächeln seliger Freude liegt über dem stillen Gesicht und ein so tiefer Friede. Ist er denn wirklich tot? – es kann, es kann ja nicht sein! Vielleicht schlägt das Herzlein noch! vielleicht können Thränen und Gebet das fliehende Leben zurückhalten! – Und wenn es schon entflohen wäre? – Wem der Herr sein heilig Amt verliehen, kann er dem nicht auch die Kraft geben, Tote zu erwecken, wie er es gethan?
Aber kein Leben kommt mehr in die zarte Gestalt und bitterlich weinend beugt der junge Pfarrer sich über das bleiche Totengesichtchen. Teilnahmsvoll wollen die Leute sich nahen, sie alle haben den kleinen John ja lieb gehabt und wissen, daß er für sie gestorben ist. Als sie aber den Schmerz ihres Seelsorgers sehen, weichen sie still zurück.
Am folgenden Morgen kam ein seltener Gast in das stille Pfarrhaus. Der Postbote war's, der einen Brief aus fernen Landen brachte.
»Von meinem Vater, aus New-York,« sagte der bleiche junge Pfarrer, indem er ihn mit einem müden Lächeln öffnete und las. Er lautete also:
»Mein lieber Sohn!
»Willst Du Dich nicht sofort auf den Weg machen und Erkundigungen nach einem gewissen Jack O'Brien einziehen? Seine Frau heißt Katy. Die Leute wohnen in Deiner Gemeinde. Bin ich recht unterrichtet, so ist ihnen vor nunmehr elf Jahren an einem Pfingstabend ein kleiner, wenig Wochen alter Knabe vor die Thür gelegt worden. Nach diesem, lieber Arthur, erkundige Dich vor allem, denn er ist mein Sohn, Dein totgeglaubter kleiner Bruder, wenn anders die Person mich nicht unerhört belogen hätte, die mich gestern an ihr Sterbebett berief. Es war die ehemalige Wärterin des Kleinen. Im wilden Trubel jener unseligen Nacht, wo die Sitzung unseres geheimen Bundes von der Polizei entdeckt ward und ich, alles andere zurücklassend, schleunigst die Flucht ergreifen mußte, hat sie nach ihrer Aussage das Kind von der toten Mutter Seite weggerissen und ist in blinder Hast mit ihm davongelaufen. Am andern Tag erst, als sie sich in den Bergen verloren herumirrend wieder fand, kam ihr mit dem klaren Bewußtsein der Gedanke, daß das Würmchen eigentlich eine große Last für sie sei. Geradezu umbringen konnte sie es aber nicht, so ging sie weiter ins Gebirge hinein, wo in einem abgelegenen Nest ihr Bruder wohnte, und legte es diesem ohne weiteres vor die Thür. Das Schicksal hat sie hernach weit in der Welt herumverschlagen, bis sie endlich hier in einem Hospital krank und elend gelandet ist. Als sie dort zufällig hörte, daß ich nicht, wie sie damals irrtümlich geglaubt, den Haschern in die Hände gefallen sei, sondern als ziemlich reicher und angesehener Mann hier lebe, ließ sie mich zu sich kommen und vertraute mir, ehe sie das letzte Sakrament nahm, obiges Geheimnis an. Durch einen glücklichen Zufall ist es Dir leicht gemacht, die Wahrheit ihrer Aussage zu bestätigen. Thue das, und wenn Du dann das Kind findest, so scheue keine Kosten, es zu einem guten und tüchtigen Manne zu erziehen; ich habe in letzter Zeit vortreffliche Geschäfte gemacht und bin in der Lage, aufs beste für euch sorgen zu können. Auch habe ich alle Aussicht, demnächst von der Verbannung zurückberufen zu werden, und will dann, des politischen Treibens müde, meinen Lebensabend in der Heimat bei meinen Kindern beschließen.«
Stumm zeigte der junge Mann seiner alten Haushälterin diesen Brief. Als sie aber, nachdem sie ihn gelesen hatte, laut zu schluchzen anfing, sagte er sanft, wenn auch mit zitternder Stimme:
»Still, Kitty! Johnny und ich hätten uns nicht inniger lieb haben können, wenn mir gewußt hätten, daß wir Brüder seien. Und wäre dem kleinen John die Wahl gelassen worden zwischen dem glücklichen, sorgenfreien Leben, das seiner bei Vater und Bruder harrte, und dem schönen Tod, den er gestorben ist – ich weiß gewiß, dann hätte er den letzteren erwählt. Um ihn weine nicht, arme Kitty, sein Los ist ihm aufs lieblichste gefallen.«
Das Kirchlein, darinnen der kleine John den Märtyrertod gestorben ist, haben die Wellen zerstört. Da, wo es gestanden hat, erhebt sich jetzt, durch feste Steinwälle vor den Wogen geschützt, ein großes, schönes Gotteshaus. Der Vater hat es zum Andenken an sein Kind erbauen lassen und ist selbst ein regelmäßiger Gast darin. Er wohnt bei seinem ältesten Sohne im Pfarrhaus, das jetzt etwas größer und mit mehr Bequemlichkeiten ausgestattet ist als früher.
O'Brien hat, ebenfalls durch die Güte von Johns Vater, weiter unten im Thal eine neue, geräumige Hütte bekommen, sein Hausstand ist durch eine zweite Kuh vermehrt worden, erfreut sich überhaupt eines allseitigen Gedeihens. Katy lacht womöglich noch mehr als früher, nur wenn vom kleinen John die Rede ist, füllen ihre schwarzen Augen sich mit Thränen.
Dicht neben dem Pfarrhause steht ein hoher, stattlicher Bau. Darinnen haben zwölf elternlose Knaben aus den Bergen freundliche Aufnahme gefunden und werden unter der Aufsicht des Priesters und seines Vaters zu tüchtigen Männern herangebildet. Beide haben in der Sorge für diese muntere Schar Trost und Frieden gefunden, wenn auch keiner ihrer Pfleglinge ihnen den kleinen John zu ersetzen vermag.
Dieser aber wird sich noch im Himmel über all das Gute freuen, das in seinem Andenken den armen Bergbewohnern erwiesen wird.