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Pötzleinsdorf

Der Wiener von anno dazumal – und vielleicht gilt dies auch für manchen unserer Einheimischen von heute noch! – war sozusagen Großstädter mit Vorbehalt. So sehr er nämlich in seine Vaterstadt verliebt und während des Herbstes und Winters nur selten aus ihr herauszubringen war, so eilig hatte er es im Frühjahr, ihren Staub von den Füßen zu schütteln und in die Sommerfrische zu gehen, sei es, daß er irgendwo draußen ein Häuschen mit Garten oder gar eine Villa besaß, sei es, daß es ihm bloß vergönnt war, seine bequeme und gemütliche Stadtwohnung mit ein paar meist engen und feuchten Mietstuben bei irgend einem kleinen Weinbauern oder Krämer auf dem Lande zu vertauschen. Land aber war damals für den Beamten und Bürger bereits jene allernächste Umgebung der Haupt- und Residenzstadt, die heute in die äußeren Bezirke einbezogen ist, und im weiteren Sinne das ganze große, wäldergesäumte Gelände sanfter Hügel und lieblicher Talzüge, das sich etwa von Weidling am Bach um das Kahlengebirge herum und dann über Penzing, Hietzing und Mauer bis an den Fuß des Anningers hinzieht und nur zum geringeren Teile mit der Bahn erreichbar war. Was außerhalb dieses Bereiches liegt, war in jener Zeit schon fast das Ziel einer Reise und kam, abgesehen von den Kosten einer solchen, für den Berufsmenschen des Mittelstandes schon deswegen nicht in Betracht, weil ja ansonsten seine ganze freie Zeit auf die tägliche Hin- und Herfahrt zu und von der Stadt aufgegangen wäre. Denn außer der Dampftramway, die allerdings schon damals bis Mödling fuhr, gab es für die überwältigende Mehrheit derer, so sich einen Einspänner oder gar einen Fiaker nicht leisten konnten, bloß die Pferdebahn, die jedoch nur auf wenigen Linien die Grenze der zehn Bezirke überschritt, und über diese hinaus nur die sogenannten Stellwagen, die ihren Standplatz und Ausgangspunkt »Am Hof« in der Nähe des alten Kriegsministeriums hatten. Diese aber brauchten zur Bewältigung von Strecken, die heute in höchstens einer halben Stunde zurückgelegt werden, gut das Dreifache an Zeit und Strapazen. Wie ja überhaupt die Vorliebe des damaligen Wieners für den Landaufenthalt, besonders was die Familienväter betraf, etwas Rührend-Heroisches an sich hatte. Das habe ich irgendwie schon als Kind empfunden und empfinde es heute in dankbarer Erinnerung vertausendfacht.

Da hatte solch ein Bedauernswerter in der Gluthitze der hochsommerlichen Stadt meist bis in den tiefen Nachmittag hinein bei seinen Akten, Geschäftsbüchern oder sonstigen Hantierungen verbracht, hatte womöglich – wie es zum Beispiel mein Vater zu tun pflegte – während des lieben langen Tages außer dem Frühstück nichts anderes als eine sehr verspätete Kaffeehausmahlzeit zu sich genommen und mußte dann noch an die anderthalb Stunden und länger in der drangvoll-fürchterlichen Enge eines jener Stellwagen über glühendes Pflaster oder staubige Landstraßen dahinholpern, ehe er endlich gegen Abend abgehetzt und verschwitzt an seinem ländlichen Bestimmungsorte anlangte. Und all dies für nur einige Atemzüge in kühlerer freier Luft und im übrigen, um die Nächte in meist zu kurzen und zu schmalen strohsackharten Kleinhäuslerbetten zu verbringen und anderen Tags wieder in aller Frühe den fensterklirrenden, brutofendumpfen, nach heißer Lederpolsterung stinkenden Rumpelkasten in die Stadt zurück zu besteigen. Nur wenn man das Glück hatte, einen Platz auf dem Kutschbock oder gar über diesem auf dem Dache des Stellwagens zu ergattern, genoß man, während der Fahrt wenigstens, den Anhauch sommermorgendlicher Frische, mußte dies aber durch das Gefühl bezahlen, sich im schwankenden Mastkorb einer Schaluppe zu befinden, jeden Augenblick – falls man sich nicht krampfhaft anhielt – in Gefahr, kopfüber herunterzupurzeln. Und dennoch, ich habe meinen Vater, den ich im Laufe meiner Kinderjahre diese wahre Marterfahrt hunderte Male mitmachen sah, niemals über sie klagen gehört. Es erging ihm mit ihr offenbar genau so wie den Wöchnerinnen: wenn die Tortur überstanden war, so war sie nicht nur vergessen, sondern es schien sogar die Vorstellung von ihr restlos entschwunden zu sein. Denn sonst wäre nicht einmal das bißchen bescheidenen Frohsinns möglich gewesen, das sich doch immer wieder an jedem jener Sommerabende einstellte, sei es, daß man nach einem kleinen gemeinsamen Spaziergange das Abendbrot im »Salettl« des Mietgärtchens, sei es, daß man es hie und da in einem der einfachen Gasthäuser des Ortes einnahm. Da brannten dann die stillen, blassen Kerzenflammen der Gartenlampen, Nachtschmetterlinge taumelten an ihre windwehrenden Glaskugeln, und immer gab es da in der Nachbarschaft ein verstimmtes Klavier, das irgend einen abgedroschenen Walzer oder melancholischen Gassenhauer spielte. Dies alles habe ich von frühester Kindheit an jeden Sommer erlebt, ob nun der Landaufenthalt Grinzing oder Dornbach, Weidlingau oder Perchtoldsdorf hieß; zum ersten Male aber mit vollem Bewußtsein und Verstehen in meinem siebenten Lebensjahre, und zwar zu Pötzleinsdorf.

Mein Vater hatte nach dem Tode meiner Mutter geziemende Trauer gehalten, dann aber wieder geheiratet und seinen Hausstand in die Mädchenwohnung seiner zweiten Gattin, in die Schmidgasse Nr. 5 übersiedelt. Das Haus, das mit einem anderen von gleichem Baustil den Eingang in den mittleren und ältesten Abschnitt dieser Gasse flankiert, steht, mit einer ganz schmalen Front in die Lenaugasse, heute noch genau so wie damals und ist ein höchst merkwürdiges Haus. Man hat das Gefühl, als wäre es mit seinem Gegenüber ehemals in der Art eines gewesen, daß etwa ein Schwibbogen stadttorartig die beiden Zwillingsgebäude verbunden habe. Aber ob dies nun der Fall gewesen oder nicht, das Gäßchen zwischen ihnen ist eng, steil und düster wie die Einfahrt in eine uralte Stadt, und dementsprechend war auch die Aussicht aus der dreizehnfenstrigen Wohnung im ersten Stockwerk, in der ich sieben Jahre meiner ersten Kindheit verbracht habe. Welch ein Gegensatz zu dem Räume meiner frühesten Spiele in der Radetzkystraße! Dort hatte der Wipfel eines Baumes aus dem Hofe bis zum Fenster heraufgeragt und der Blick über ihn hinweg nach der Ferne silberschimmernder Dächer getastet. Dort war das Stiegenhaus hell und der Gangflur heiter und geräumig gewesen. Immer hatte es dort auch anheimelnd nach frisch gebranntem Kaffee und anderen nahrhaften Dingen gerochen, und selbst, wenn jemand überraschend aus einer der braunlackierten Nachbarstüren getreten war, so war dies ein freundliches Begegnen gewesen. Sogar der Rauchfangkehrer, vor dem sich kleine Kinder doch so sehr zu fürchten pflegen, hatte in dem Hause unter den Weißgärbern nichts Schreckhaftes an sich gehabt. In der Schmidgasse hingegen war das Stiegenhaus stockfinster, kaum ein natürlicher Lichtstrahl fiel jemals darein, und immer roch es da auf eine höchst verdächtige Weise nach übeln Waschküchendünsten, rußenden Petroleumlampen und Katzen. Vorzimmer und Küche der elterlichen Wohnung glichen wahren Räuberhöhlen an Finsternis und Kälte, empfingen bloß einen matten Tagesschein aus engen, trüben Lichtschächten und waren überdies mit frostigen Steinplatten gepflastert. Und mit den eigentlichen Wohnräumen, die allerdings eine ziemlich lange Enfilade bildeten, stand es nicht viel besser. Abgesehen von dem Eckzimmer, dessen Fenster zum Teil auch in die Lenaugasse hinausgingen, wurden sie nur bei ganz seltenem Sonnenstande eines unmittelbaren Strahles teilhaftig, während sie sich für gewöhnlich mit den bloßen Reflexen von bevorzugteren Fenstern der Nachbarschaft begnügen mußten.

Da nun hatte man einen ganzen langen Winter und überdies in einer auch menschlich neuen Umgebung gelebt, hatte blutleer, wie man gewesen, von einem Husten zum andern gefroren, war nur an ganz heiteren und windstillen Tagen auf einen Spaziergang längs der Lastenstraße oder in den Rathauspark mitgenommen worden und hatte im übrigen, mit der Nase an der Fensterscheibe, das bloße Nach- und Zusehen gehabt, wenn beneidenswert abgehärtete und unbeaufsichtigte Gassenjungen auf ihren kleinen Schlitten das steile Gäßchen nachmittagelang immer wieder heruntersausten oder, mit den Händen in den Hosentaschen, auf dem gegenüberliegenden Gehsteig schliffen. Da schrillten die hellen Bubenpfiffe durch die eisigklare Winterluft, die Schneeballen flogen hin und wider, und einzig der von ängstlicher Elternsorge und ewigem Lebertran heimgesuchte Knabe blieb von diesem beglückenden Treiben unerbittlich ausgeschlossen. Was man ansonsten durch die Fenster zu sehen bekam, waren nur die wenigen Fußgänger des reinlichen aber unbelebten Viertels, dafür aber sehr viele Leichenwagen, die, teils leer, teils unheimlich befrachtet, vom Allgemeinen Krankenhause und dem Garnisonsspitale auf dem Alsergrund ihren gewohnten Weg über die Schlössel- und Lenaugasse auf die Lastenstraße und von dort auf den Zentralfriedhof nahmen. Nur selten kam hier Militär vorüber und fast niemals mit fröhlich-klingendem Spiele, sondern höchstens als das Ehrengeleite eines Offiziersleichenbegängnisses. Den einzigen wirklich heiteren Anblick bot nur der alte Greisler gegenüber, der seine in Körben und Kistchen ausgelegten Äpfel jeden Morgen mit seinem dampfenden Knasteratem anhauchte und hernach sorgfältig mit seinem blauen Schnupftuch glänzend rieb. Er war das würdige Gegenstück zu der von meinem Vater mitgeheirateten Köchin, die das schwarzgriffige Familienbrotmesser zum Hühneraugenschneiden verwendete, wobei es zum Entsetzen des Knaben ohne Ströme von Blut nur selten abging. Als er dieses Ungeheuerliche aber eines Tages nicht mehr bei sich behalten konnte, wurde er wegen verderbter Phantasie und böswilliger Verleumdung wie überhaupt wegen seines hinterhältigen und lügnerischen Charakters gehörig abgestraft.

Aber all dies Düstere, Frostige und Unheimliche des Winters ging doch allmählich vorüber, und eines Morgens war der Tauwind aus der Gegend des Semmerings und Schneeberges hergekommen, schmelzte die graugewordenen Schneehaufen in den Gassen und Gäßchen der alten Vorstadt, daß sie als schmutzige Gießbäche die steilen Rinnsale herunterfluteten, verklärte die stehengebliebenen Pfützen durch den blauen und goldenen Widerschein des Himmels und belebte die noch winterkahlen Wipfel und Sträucher der Vorgärten an der Lastenstraße mit dem jubelnden Stimmentumult der Sperlinge. Da flogen in den Familiengesprächen unter der abendlichen Petroleumhängelampe die Sommerpläne auf wie die ersten Falter, die sich in die junge Wärme wagen; der Name Pötzleinsdorf fiel nun immer öfter, geheimnisvolle Expeditionen wurden von den Eltern, während der Knabe bei der Großmutter zu Hause bleiben mußte, an Nachmittagen und Abenden in die Umgebung unternommen, und dann – als freilich beide Rathausparke schon längst die smaragdgrüne Seide ihrer gepflegten Rasenflächen entbreitet und die überwältigende Blütenpracht all ihrer Sträucher und Beete entfaltet hatten – stand wirklich eines frühen Vormittags ein behäbiger offener Landauer vor dem Hause, viele Koffer, Hutschachteln und messingbügelige, buntgestickte Reisesäcke wurden aufgeladen, und aus der Atmosphäre von Kampfer, Naphthalin und Zacherl-Pulver, welche die Stadtwohnung in den letzten Tagen verpestet hatte, ging es hinaus in Ferne und Frühling!

Von den Strapazen des damaligen Stellwagenverkehres habe ich bereits erzählt. Nun, die Fahrt in dem hochbepackten, schwerfälligen Wagen, dessen Pferde ein alter schnauzbärtiger Fiakerkutscher von einem hohen Bock herab lenkte, war nach heutigen Begriffen auch nicht eben eine Lustreise, und doch ist sie mir unvergeßlich geblieben als die erste in meinem Leben, deren ich mich in vielen Einzelheiten erinnere. Zuerst fuhren wir die bergansteigenden Gassen und Gäßchen der Josefstadt hinan, hierauf durch die Alservorstadt über den Gürtel nach Währing, und dann begann jenseits des schwarzgelben Linienmautschrankens, immer freier und weiter werdend, das Gelände. Heute bildet die Straße nach Pötzleinsdorf eine fast ununterbrochene Zeile von Zinshäusern, Industrieanlagen, Lagerschuppen, Remisen usw., damals aber führte sie bisweilen noch über freies Feld von Dorf zu Dorf, und Weinhaus und Gersthof hießen die einzelnen Siedlungen, deren heiter-idyllische Ländlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Mancherlei Lastfuhrwerke begegneten da, aber auch bäuerliche Heu- und Düngerwagen, und Herden wurden getrieben. Behäbige Einkehrgasthäuser und Meierhöfe luden zu Aufenthalt und Rast im Schatten einzelner uralter Dorflinden, jenseits weißer oder grauverwitterter Lattenzäune warfen Obstbäume ihr schütteres Schattengegitter auf wildgrünende Grashänge, die Felder sanken von beiden Seiten zur Straße heran, und der Landmann ging wenige Schritte von der Fahrbahn entfernt hinter dem Pflüge einher. Vor allem eines Augenblickes entsinne ich mich, in dem mir all dies Neue und Erstmalige besonders beglückend zum Bewußtsein kam. Da war am Rade oder an der Bremse des schwerfälligen Wagens etwas in Unordnung geraten, die Pferde standen, der Kutscher kletterte brummend vom Bock, und nun war mit einem Male, durch das Aufhören des Gerassels und durch die Beruhigung der eben noch aufgewirbelten Staubwolken, große Stille und Reinheit der Lüfte um uns. Und in sie erklang zum erstenmal im Leben des Kindes der überschwengliche Jubel der Lerchen. Eine goldene Telegraphenstange am Rande der Straße wies in das unwahrscheinliche Tiefblau des frühsommerlichen Himmels, hielt leise-metallisch-dröhnend den Orgelpunkt gegen die zarten Triller und Kadenzen der Vogelstimmen, und die Welt ringsum war erfüllt vom warmen Brotduft der Erde. Dann schien das Gebrechen am Wagen behoben zu sein, und im flotteren Tempo – während freundliche Waldhänge immer näher kamen – ging es dem dunkelgrünen Laubtore einer Lindenalle entgegen. Als aber ihr kühler, gründämmernder Schattenflur, an Gärten und Villen vorüber, durchfahren war, verbreiterte sich die Straße zu einer Art schmalen, langen Platzes, der Wagen hielt vor dem Hause Pötzleinsdorfer Hauptstraße Nr. 68, und so hieß für mich in den nächsten drei Sommern meiner Kindheit der Himmel.

Ob der Name Pötzleinsdorf wirklich von den Herren von Becelinesdorf stammt, deren einer bereits 1136 als Zeuge bei der Stiftung des Klosters Heiligenkreuz genannt sein soll, muß ich den Gelehrten überlassen, aber uralt ist das Dörfchen mit seiner kleinen Kirche, die noch von damals her im holdseligen Blumenschmuck der Maiandachten vor mir steht, ganz gewiß. Die enge, vielfach gekrümmte Dorfstraße, die zu ihr führt, ist linker Hand von niederen, dickmauerigen Dorfbürgerhäuschen eingesäumt, deren einzelne mit ihren altertümlichen Erkern und Giebeln auf manches Jahrhundert zurückblicken mögen, während die rechte Gassenfront durch basteiartige Steinböschungen dem steilen Abfall eines Hügels abgerungen ist. Da schreitet man denn an hohen Mauern vorüber, Steintreppen, in diese eingelassen und gegen die Straße durch eiserne Gittertüren abgeschlossen, leiten zu den Vorgärten empor, deren Zäune von Gebüschen und Schlingblumen grünend und blühend überwuchert sind, und oben stehen, wie Schwalbennester an den sie noch überragenden Abhang angeschmiegt, die Landhäuser und Villen. Solchen gleichsam hängenden Gärten begegnet man auch ansonsten vielfach in den hügeligen und tälerreichen Umgebungen Wiens, aber nirgends meines Wissens so geschlossen und charakteristisch wie eben in Pötzleinsdorf, und es ist gar kein Zweifel, daß auch sie es sind, die dem Wohngelände um Wien jene Ähnlichkeit mit weit südlicheren Stadtumgebungen verleihen. Um Bozen herum, am Posilippo Neapels, ja sogar auf der Märcheninsel Madeira habe ich mich an sie erinnert gefühlt und, umglüht vom Blütenrausche der Glyzinien und Rosen, der freilich bei weitem schlichteren Heimat gedacht.

Das Häuschen nun, vor dem der bemeldete Viersitzer gehalten, stand und steht auch heute noch wie damals auf einer Mauerterrasse von der Art, wie ich sie eben beschrieben. Es gehörte einem freundlichen, graubärtigen Postkontrollor, der in seinen freien Stunden Weinbau betrieb, und beherbergte nach der Straße zu eine Sommerwohnung, die meine Familie, und eine Jahreswohnung, die eine uralte Dame mit einem Mops, kurzweg Fräulein Moni genannt, innehatte. Ein heller Flur führte mitten durch das ebenerdige Häuschen; wenn man ihn aber durchschritten hatte, so stand man mit einem Schlage in der ländlichsten aller Idyllen. Ein schmaler, langhingestreckter Hof, in dem links die Hausherrnleute wohnten und rechts ein Holzschuppen samt Ziegenstall untergebracht war, leitete, holperig gepflastert, zunächst noch sanft bergan, mündete über ein paar verwitterte Holzstufen in ein etwas breiteres und steileres Geviert, das mit Nuß- und anderen Obstbäumen bestanden war, und entließ einen ganz oben durch ein stark verwachsenes Zauntürchen in den geheimnisvollen und verbotenen Bereich des hausherrlichen Weinberges. Dies alles war, wie gesagt, eng, kleinbäuerlich und höchst bescheiden und dennoch eine ganze, große und funkelnagelneue Welt. Vor aller Freude an Gras und Baum war bisher drohend die strenge Tafelvorschrift gestanden, daß das Betreten der Rasenflächen verboten und daß Hunde an der Leine zu führen seien. Hier aber kühlte, feuchtete und kitzelte duftender Grasboden die nackten Sohlen des blutleeren Stadtknaben; hinter einem blühenden Holunderstrauche war ihm ein kleines Stückchen Erde zugewiesen, auf dem er Linsen, Bohnen, Kukuruz und Kapuzinerkresse mit eigenen Händen anbauen durfte, und nun lag er alle Tage stundenlang an seinem Äckerchen auf dem Bauche und konnte es nicht erwarten, daß endlich ein zarter Keim seiner eigenen Saat der Erde entsprieße und Zeugnis gebe von seinem Anteil an Gottes unendlichem Schöpferwerk. Doch dies war nur eines der Wunder, die es hier zu entdecken gab! Denn da waren doch auch die Tiere! Fremde, nicht recht geheure Wesen, vor denen man sich bisher immer nur in acht zu nehmen hatte. Denn das Pferd, so hieß es, schlüge aus und der Hund beiße. Hier aber biß die Hofhündin mit nichten, sondern sprang gutmütig an einem empor und leckte einem Hände und Wangen. Und eines Morgens hatte sie sogar acht winzigkleine, lichtblinde und torkelnde Junge um sich versammelt, lag beschaulich-müde in einer Ecke des Hofes auf dem Fragment eines alten Laufteppichs, und die Kleinen sogen abwechselnd an den schwarzen, glänzenden Wärzchen ihrer Mutterbrust. Und dann die Ziege im Stall! Sie stank zwar beträchtlich und hatte eine unsäglich stumpfsinnige Art, den lieben langen Tag wiederzukäuen, aber Milch gab auch sie, und diese spritzte unter den kundigen Eutergriffen der Hausfrau in einen großen, braunen irdenen Topf und schäumte darin weiß, glitzernd und prickelnd wie die Faumborte des heißgeliebten Abzugbieres, von dem noch bei anderer Gelegenheit zu reden sein wird. Und welche Anregungen gingen erst von den beiden halbwüchsigen Töchterchen der Hausherrnleute aus! Zum erstenmal im Leben war man da Kind mit anderen wenn auch älteren Kindern. Wäre man ohne sie jemals auf den Gedanken gekommen, Regenwürmer, Käfer und Grillen zu fangen oder gar getrocknete Nußblätter in Seidenpapier zu rollen und zu rauchen? Was tat es, daß einem hernach zum Sterben übel wurde? Selbst die dreitägige Diät, welche man auf Grund einer durchaus falschen Diagnose daraufhin diktiert bekam, konnte die Indianerromantik solcher Genüsse nicht verkümmern. – Pötzleinsdorf, erstes bewußtes Erlebnis des Landes, richtunggebend vielleicht für ein ganzes Leben! Ich schließe die Augen, und jenes Paradies freien und kühnen Schweifens durch Fliederdickichte und windschwankende Obstbaumkronen steht, als hätt' ich's erst gestern verlassen, vor mir! Im Hofe riecht es nach Stall, Heu und brenzlichem Holzfeuerrauch, grüne Perlen springen und kollern, wenn man zum Auslösen zugelassen ward, unter ungeschickten Knabenfingern aus gründuftenden, innen so feuchtglänzenden Erbsenschoten, die Ziege bockt in übermütigen Sätzen durch den Garten, der Hofhund winselt erbarmungswürdig um die vier seiner Jungen, die man ihm heimlich ertränkt hat, Fräulein Monis fauler, fetter Mops hingegen bellt vom Vorderhausfenster mit der Bissigkeit aller Sterilen auf die Straße hinaus, und die alte Dame selbst sitzt im Vorgärtchen und sieht mit ihrer schwarzbebänderten Spitzenhaube und dem winzigen Seidensonnenschirmchen genau so aus wie die »Spennadelmadam« auf Großmutters kirschholzbraunem Nähtisch. Und Riedi und Gusti, die beiden lustigen Mädels, was mag wohl aus ihnen geworden sein? Mütter gewiß, vielleicht schon Großmütter sogar! An solchen Erinnerungen merkt man, wenngleich man noch immer in derselben Haut zu stecken vermeint, wie alt man in Wirklichkeit geworden und wie gering an Dauer ein Menschenleben ist, gemessen an dem Dasein von Bäumen und an der Beharrlichkeit von Dingen. Das holperige Pflaster im Hofe des Pötzleinsdorfer Hauses wird wohl noch das nämliche sein wie damals, vielleicht sind inzwischen nicht einmal alle Fensterscheiben zerbrochen, durch die ich als Sechsjähriger geblickt habe, und der große Nußbaum beim Hühnerstall im rückwärtigen Garten ist bloß um vierzig Jahre älter geworden, und am Ende sieht man's ihm nicht einmal besonders an.

Allein das Pötzleinsdorf von damals hatte der kindlichen Schau- und Erlebnislust noch ganz anderes zu bieten als die bloße Idylle. Weißgärber-Erinnerungen lebten auf und wurden Wirklichkeit im größten Stile. Denn die nächste Umgebung Wiens waren damals Manövergelände. Mehrmals im Sommer fanden, vom Hermannskogel herüber bis in die Dornbacher Gegend, Truppenübungen statt. In aller Herrgottsfrühe, wenn das Zivil noch in den Federn lag, pflegten sie zu beginnen, und so um 11 Uhr vormittags waren sie meistens zu Ende. Da rückten dann die Regimenter von der Salmannsdorfer oder Neuwaldegger Gegend her durch den Ort und zwar Freund und Feind, der letztere durch weiße Binden an den Kappen gekennzeichnet; und gerade gegenüber dem Hause Nr. 68, wo heute die Endstation der Elektrischen ist, hielten sie gewöhnlich Rast. Befehle ertönten, Signale schmetterten, und die strengen Doppelreihen lösten sich im Nu zum heitersten Durcheinander eines Feldlagers. In Reih' und Glied standen nun nur mehr die Gewehrpyramiden längs der Straße. Die Mannschaft lag teils im Baumschatten, teils umdrängte sie den nahen Brunnen. Aus zinnernen Menageschalen gluckste es in die trockenen Kehlen der braungebrannten Burschen, während die Hornisten kurzen Prozeß machten und aus ihren Marschtrompeten tranken. Die Herren Offiziere aber, mit den großen gelben Feldbinden, frühstückten fürnehmer in Anton Brehms Gasthaus. Und jeden Sommer wenigstens einmal wohnte der Kaiser einem Pötzleinsdorfer Manöver bei, meist mit seinem Generaladjutanten, manchmal auch mit seinem Sohne, dem Kronprinzen. Und gerade unter den Augen des Knaben pflegten sie die Sättel zu verlassen, um den goldrädrigen Wagen zu besteigen, der sie dem Hurrajubel der Soldaten und den Hochrufen der Sommerfrischler in raschem Trabe entführte. Das waren große Anblicke für die damalige Zeit, und wenn die Majestät etwa gar in Brehms Gasthaus für ein Achtel Gespritzten einen funkelnagelneuen Silbergulden auf dem Tisch zurückgelassen hatte, so war dies ein Ereignis, dessen Kunde von Mund zu Mund ging einen Sommer lang.

Aber selbst solche Schauspiele und Erlebnisse verblaßten gegen den eigentlichen Höhepunkt des Pötzleinsdorfer Sommers, und dieser war in der Mitte des Monats Juli das Schulfest. Am bergwärtigen Ende des Dorfes, zur linken Hand vom Fußwege nach Neuwaldegg, befand sich damals und befindet sich vielleicht auch heute noch eine geräumige Waldwiese, die, auf allen Seiten von schattenden Baumwänden umgeben, zum Festplatz wie geschaffen war. Dahin nun marschierte unter den Klängen einer Veteranenkapelle am Nachmittage des Schulschlusses alles an Einheimischen und Sommerfrischlern, was Kinder hatte. Am Ziele angekommen, empfingen einen sofort andere Musikanten, die noch falscher bliesen als die Veteranen, und eine wahre Katzenmusik von Werkeln zum Drehen des Ringelspieles und zu den Schwingungen der Riesenschaukel verwandelte die stille Waldwiese in eine Art von Prater. Aber auch andere, geräuschlosere Belustigungen gab es: so stand zum Beispiel ein kleiner Esel den Kindern für kurze Ritte zur Verfügung, ein himmelhoher Maibaum forderte mit seinen Preisen, die hoch oben unter dem buntbewimpelten Reisigwipfel angebracht waren, zu Wettkämpfen im Klettern heraus. Doch nur die Geschicktesten und Verwegensten erklommen ihn, da er, bis über Manneshöhe mit Seife eingerieben, so glatt war, daß alle Versuche, ihn zu bezwingen, fürs erste mißglückten. Jedesmal aber, wenn einem der Knaben das Kunststück gelungen war, spielte die Kapelle einen Tusch, und das Publikum klatschte Beifall. Weit weniger sportlich, dafür aber um so lustiger, war ein anderer Wettbewerb, welcher sich das »Wurstspringen« nannte. Zwischen zwei ziemlich hohen Pfosten hatte man wagrecht eine Schnur gespannt, und von dieser hinwiederum hing an einem Bindfaden eine Zervelatwurst, in Wien »Saffaladi« genannt, in solcher Höhe, daß nicht einmal die ausgewachsensten Repetenten im gewöhnlichen Stande an sie mit dem Scheitel heranreichten. Die Kunst bestand darin, einen Anlauf zu nehmen und die Wurst derartig anzuspringen, daß man sie mit den Zähnen erschnappen konnte. Da war es nun urdrollig mitanzusehen, wie sich etwa zehn oder zwanzig Knaben den Mund, die Nase und die schwitzenden Wangen an dem tückisch ausweichenden Happen abwischten, ehe es dem elften oder einundzwanzigsten gelang, des bereits gründlich eingespeichelten Bissens habhaft zu werden. Dieses nicht eben hygienisch zu nennende Spiel erregte indessen damals keine sanitären Bedenken, sondern bloß die ungetrübteste Heiterkeit bei jung und alt, besonders aber bei dem mit glühenden Wangen neidvoll zusehenden Stadtkinde, das freilich viel zu ungeschickt und schüchtern gewesen wäre, um sich an derartigen urwüchsigen Konkurrenzen zu beteiligen. Ihm winkte dafür nach manchem unbeholfenen Eselstritt und manchem verfehlten Windbüchsenschuß auf Trommler und Trompeter der Schießbude eine Schinkensemmel und ein Seidel Abzugbier in der Buschenschenke der Festwiese. Das waren an sich gewiß keine besonderen Genüsse, und dennoch: nie wieder seither haben Schinkensemmel und Bier so herrlich geschmeckt wie damals! Es war, als hätten sie von dem kühlen, würzigen Kräuterdufte der nachmittägigen Waldwiese angezogen und als äße und schlürfte man dieses köstliche Arom als etwas Körperliches mit. Dann sank allmählich der zögernde Abend des Mittsommers heran, die bekannten Sternbilder erhoben sich zart über die immer dunkleren Wipfel, Hornsignale stiegen allenthalben aus der tief dämmerigen Wiese auf, über die sich ein leichter blauer Schleier abendlicher Feuchtigkeit unversehens gebreitet hatte, und die ganze große Festgesellschaft ordnete sich nun rasch zu einem einzigen langen und breiten Zuge. An der Spitze wieder die Veteranenkapelle, hernach die Feuerwehr, die zum Ordnungsdienste ausgerückt war, und dann, inmitten einer dunkelwallenden Menschenmenge, der zauberhafte Lichtertanz der vielen bunten Lampions! Und unter den Klängen der lieben, unvergeßlichen altösterreichischen Militärmärsche ging es jubelnd und singend wieder der Ortschaft zu. Erleuchtete Gasthausgärten nahmen dort die Erwachsenen auf, der Duft zwiebelgewürzter Speisen vermengte sich prosaischappetitlich mit den poetisch-schwülen Gerüchen der Linden und des Jasmins, und bis tief in die Nacht hinein lauschte man aus seinem Kinderbette auf ferne Geigen- und Ziehharmonikaklänge, die der Wind bald leiser, bald stärker durchs offene Fenster in die Stube trug.

Das Fest ist aus, und so sei denn Abschied genommen nicht nur von ihm, sondern auch von den Erinnerungen an Pötzleinsdorf und an jenen Abschnitt der Kindheit, der damals seligste Wirklichkeit war. Die vier Jahrzehnte, die seither verflossen sind, bedeuten viel im Leben eines Menschen und wenig für die Dinge der Natur und für alles, was als Menschenwerk gleichsam ein Teil von ihr geworden. Das alte Pötzleinsdorfer Pfarrkirchlein, das schon manchen Wandel der Zeiten mitgemacht haben mag, wird vermutlich noch viele Jahrhunderte überdauern, und die gotischen Dorfbürgerhäuschen, welche den Kern der Altsiedlung bilden, wird die Zerstörungswut der Erneuerer und Spekulanten hoffentlich noch lange verschonen. Ganz gewiß unverlierbar aber bleibt wohl noch für unabsehbare Läufte die zart und lieblich hingeschwungene Linie der Pötzleinsdorfer Hügel und Berge. Mögen ihre Wälder auch immer wieder schlagreif werden und der Axt anheimfallen, sie werden auch immer wieder aufgeforstet werden, und wenn schon einmal die Menschenhand dabei versagen sollte, so wird die alte Erde kraft eigenen Schöpferwillens neue Schösse aus den Wurzeln treiben und die sonnigen Blößen überwuchern mit der holden, duftenden Wirrnis von Sträuchern, Kräutern und Beeren. Und das Auge, das etwa von der Höhe des Belvederes oder gar von der Türmerstube des Stephansdomes dem Zuge der Hügel vom Leopoldsberge bis zu den Dornbacher Höhen folgt, wird nicht allzusehr merken, ob dort oben Wälder stehen oder bloß der junge, wilde Anwuchs, den Gott gesät hat. Wir haben's nach dem großen Kriege erlebt, als die Verzweiflung der Darbenden und Frierenden Hand anlegte an die Schattenpracht des Wienerwaldes, und erleben es bereits heute, daß sich die Wunden von damals, wenigstens fürs Auge, wieder zu schließen beginnen. Es geschieht ja alles, was uns begegnet, nur in dem winzigsten Bruchteile von einem einzigen ganz kleinen Atemzug der Ewigkeit. Das Antlitz der Erde verändert sich nur ganz unmerklich im Laufe eines Jahrtausends, das unsere aber in kaum einem halben Jahrhundert?! Die ungefähre Antwort auf dieses melancholische Fragezeichen sei für heute ein kleines Gedicht, das mir der Münchner Meister Clemens von Franckenstein vor vielen Jahren einmal gar holdselig in Töne gesetzt hat. Es heißt »Kinderaugen« und lautet:

Kinderaugen, wie Seen rein,
Von lenzenden Ufern umschlossen,
Perlen, in die ein flüchtiger Schein
Himmlischen Leuchtens gegossen.

Kinderlippen, wie Blüten hold,
Heimlichem Reifen gesegnet,
Kindertränen, heiliges Gold,
Das auf Blumen regnet.

Kinderfragen, so hell und klug,
Süßer Torheit Geläute,
Nennt mir den Weisen, der weise genug,
Daß er sie alle deute!

Kinderwünsche, wie Segler im Meer,
Und Wunder an Ihren Borden –
Kinder! Wie lange ist das her,
Und was sind wir geworden!


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