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Jugendfreundschaft und großes Lügen

Meinen Freund Karl S. hatte ich eigentlich schon in meinem achten Lebensjahre kennengelernt, als wir in der zweiten Volksschulklasse bei den Piaristen einander zum ersten Male begegneten. Es war – wenigstens von mir aus kann ich dies sagen – eine Liebe auf den ersten Blick! Mit größter Lebendigkeit erinnere ich mich dessen, wie S. uns eines Tages mehrere Wochen nach Schulbeginn von unserem guten Klassenlehrer mit einer gewissen Behutsamkeit als neuer Kamerad vorgestellt wurde. Sein späteres Eintreten mag mit einer Krankheit zusammengehangen haben, die er wohl soeben überstanden hatte; und so sah er denn auch aus. Auf den schmächtigen Schultern einer zarten, für sein Alter mittelwüchsigen Gestalt, saß ein verhältnismäßig großer, etwas spitzer Schädel, dessen reiches, offenbar schon lange nicht geschorenes Haar das ohnehin schmale, etwas mädchenhafte Gesicht mit den leicht geröteten Augenlidern noch zarter und kränklicher wirken ließ. Das Merkwürdigste aber an dem neuen Ankömmling war, daß sein Haupt, das er in den Nacken zurückgeworfen trug, dort nicht ganz festzusitzen schien. Karl balancierte es vielmehr förmlich auf dem oberen Ende der Wirbelsäule, und es gelang ihm, besonders beim Gehen, nicht immer, es in der sicheren Ruhe des Gleichgewichtes zu erhalten. Von dieser Arbeit des Balancierens, die er in Wirklichkeit natürlich völlig unbewußt verrichtete, schien er derart in Anspruch genommen zu sein, daß er wenig Aufmerksamkeit für seine Umgebung aufzubringen vermochte. Er sah vielmehr über diese hinweg, und dies gab seinem Auftreten etwas Stolzes, ja beinahe Hochmütiges, während es in Wahrheit die Schüchternheit, Unsicherheit und Weltfremdheit eines bisher von ängstlicher Elternliebe behüteten Knaben gewesen sein dürfte, die ihn sich so gehaben ließ. Kurzum, Karl S., der neue Mitschüler, war auf den ersten Blick durchaus anders als alle anderen Buben der Klasse; er schien – auch schon aus den auffallend kleinen Händen und Füßen, sowie aus seiner besseren Kleidung zu schließen – einer edleren, feineren und überlegeneren Rasse anzugehören als wir anderen, und in seinen Augen, für die wir einfach nicht auf der Welt waren, schleierte eine Ferne und Fremde, ein Wissen um Träume und Leiden, von denen unser keiner auch nur eine Ahnung hatte. Für mich aber war dies offenbar der Grund, weshalb ich mich sofort von ihm angezogen fühlte.

Indessen, unsere nähere Bekanntschaft kam trotzdem zunächst nur schwerfällig in Gang. Das rührte wohl auch daher, daß jener Teil des Schulweges, den wir gemeinsam hatten, nur ein paar Häuser der Maria-Treugasse lang war und daß Karl überdies von einer alten Dienerin namens Julie aus der Schule abgeholt zu werden pflegte. So fanden die Gespräche, die wir etwa angeknüpft hatten, immer vor seinem Haustore ein rasches Ende, und die ersten zwei Jahre unserer Kameradschaft verliefen ohne eigentlichen privaten Verkehr. Höchstens daß wir an Nachmittagen einander zufällig auf dem Spielplatze des Schönbornparkes trafen. Trotzdem scheint unsere Zusammengehörigkeit dem Lehrer nicht entgangen zu sein, und als es sich für uns beide darum handelte, von der vierten Volksschulklasse mit Überspringung der fünften ins Gymnasium überzutreten, da war es eines Tages beschlossene Sache unserer Väter, daß wir den vorbereitenden Unterricht gemeinsam nehmen sollten. Damit war der Grundstein gelegt zu einer Knaben- und Jünglingsfreundschaft, die in seltener Ausschließlichkeit und Innigkeit wie unter der Einwirkung schicksalhafter Vorbestimmung andauerte bis in die gemeinsamen juristischen Studienjahre und, über diese hinaus, bis zu jenem Wendepunkte in jeder Jugendfreundschaft, wo sich des einen oder des anderen plötzlich solche Bindungen bemächtigen, welche die bisherige rückhaltlose Mitwisserschaft und Mitbeteiligung des Freundes einschränken. Meist ist jener Wendepunkt der Augenblick, wo das Weib in das Leben des jungen Menschen eintritt. Denn träumen von der Einen, die man sich zugedacht glaubt, kann man noch gemeinsam; der reale Besitz an jener aber, die dann übrigens in Wirklichkeit meist ganz anders aussieht als die Geträumte, richtet Schranken auf. Die Unbedingtheit gegenseitigen Zugehörens hat unmerklich ein Ende genommen; Geheimnisse und Vorbehalte in der Aufrichtigkeit treten wie Schatten dazwischen, und ist die Erwählte des einen, wie dies zu Zeiten wohl so kommen mag, auf die frühere, mit dem andern gemeinsame Welt des Geliebten eifersüchtig, so sind Entfremdung und Abfall gesät, und Gleichgültigkeit, ja gelegentlich sogar Mißtrauen schießen in die Halme. Hier von irgendjemandes Schuld zu sprechen, geziemt sich, zumindest für die rückschauende Betrachtung, nicht. Denn all dies, so schmerzlich es auch für das unmittelbare Erleben sein mag, vollzieht sich eigentlich außerhalb des Moralischen und mit einer Selbstverständlichkeit und Zuverlässigkeit, die an die unentrinnbaren Gesetzlichkeiten des Naturgeschehens erinnert. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß von all der Unendlichkeit, die ehemals zwei Jünglingsherzen wie nichts mehr später im Leben in eines zusammenzufassen vermochte, eines Tages kaum viel mehr übriggeblieben ist als ein kleiner Bezirk wehmütiger Erinnerungen, in dem sich vielleicht auch noch eine gewisse gemeinsame Ideologie oder im besonderen Glücksfall das gegenseitige Gefühl erhalten hat, daß der eine dem andern gegenüber einer wirklichen Gemeinheit nicht fähig wäre.

Allein von all diesem herben und trüben Bodensatze im schäumenden Becher der Jugendfreundschaft hatten wir damals weder Wissen noch Ahnen. Im Gegenteil! Von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr wuchsen wir in eine tiefere Übereinstimmung hinein, und je weiter sich unser gemeinsamer Horizont ausrundete, desto vielfältiger und farbiger wurde die Welt unseres brüderlichen Erlebens. Und dies nicht nur durch das Homogene sondern auch durch das Heterogene in unseren Wesen. Wir glichen in der Tat zwei Kreisen, die einander zum allergrößten Teile decken; und was die freibleibenden Segmente betraf, so ergänzten sie einander in der Weise, daß, was dem einen fehlte, dem andern zu Gebote stand. Damit soll jedoch, weiß Gott, nicht gesagt sein, daß wir zusammen etwa ein vollkommenes Geschöpf Gottes bildeten. Im Gegenteil, es gab eine Menge sehr brauchbarer Eigenschaften und Begabungen, die wir alle beide nicht hatten, aber das focht uns bei unserem restlosen gegenseitigen Genügen weiter nicht an. Dabei war es immer so, daß ich Karls bei weitem differenzierteren seelischen Organismus als eine Art Kontrollapparat meiner eigenen Empfindungen betrachtete und gelten ließ. Dieser Träumer verfügte von frühester Kindheit an über einen Verstand, der unbestechlich klar und ohne Zugeständnisse an die Banalität des Praktischen war, während ich, obwohl der Lebenswachere, schärfer Beobachtende und Umsichtigere, dazu neigte, das richtig Beobachtete bis hart an die Grenze des Unrichtigen zu verallgemeinern, so zwar dem Grundsätzlichen nahekommend, dabei aber – dank einer nach oben und unten hin ausschweifenden Phantasie – den Boden unter den Füßen bisweilen verlierend. Indessen, wohin ich mich auch mitunter verlief und verwirrte, ob ins allzu Sublime oder ins allzu Massive – wie der Polarstern in der Nacht des Schiffers, so stand im einsamen Dämmer meiner Kindheit der Stern der Liebe zu diesem Knaben über meinem Leben. Ich hätte ihn nicht verlieren können, und Gott hat es mir damals auch erspart, ihn zu verlieren. Dort aber, wo der liebe Gott einmal Miene machte, die Rolle des Mentors über unsere Freundschaft zurückzulegen, da sprang ich kurzerhand selber für ihn ein und spielte die Rolle mit einer Energie zu Ende, die vor nichts zurückschreckte. Doch davon später! Vorläufig haben wir beide die Aufnahmsprüfung ins Gymnasium mit mehr oder minder schwachem Erfolge bestanden, büffeln gemeinsam Latein und Realien, wobei ich für die Sprachen und er für die Mathematik weniger Untalent zeigte, und spielen im übrigen wie die Volksschüler mit Glas- und Kittkugeln »Anmäuerln« im Schönbornpark und mit Bleisoldaten und Holzhäusern in Karls elterlicher Wohnung. Und besonders diese letztere Spielerei war in Art und Umfang, wie wir sie gemeinsam betrieben, für mich eine neue, mich völlig berauschende Welt.

Daß meine frühe Knabenzeit abseitig und von Zärtlichkeit nicht gerade fühlbar übersonnt war, dürfte dem Leser dieser Aufzeichnungen kaum entgangen sein. Einen Spielkameraden hatte ich, bevor ich zu Karl ins Haus kam, überhaupt nicht gekannt, was übrigens auch für ihn, wenn auch aus anderen Gründen, zutraf. Was Spielsachen anbelangt, so hatte ich natürlich auch Zinnsoldaten, Holzhäuser, Bäume, Tiere und Bausteine, aber in solchen Mengen und Ausführungen, wie Karl als der zärtlich geliebte und verwöhnte Spätling wohlhabender Eltern sie besaß, hatte ich dergleichen noch nie beisammen gesehen. An färbigen, mit schwarzen Fenstertupfen bemalten, meist rotdächerigen Holzhäusern gab es in seinem Spielkasten so viele, daß man mit ihnen getrost zwei stattliche Städte auf dem ausgezogenen Speisezimmertische aufbauen konnte. Über Soldaten aller Waffengattungen samt schwerer und leichter Artillerie verfügte er gleichfalls in genügender Anzahl, um zwei wohlausgerüstete Armeen auf die Beine zu stellen. Daß diese Streitkräfte Feinde sein und einander mit Krieg überziehen ( bellum inferre alicui! ) mußten, war selbstverständlich. In diesem Sinne wurden also die Städte gebaut und die Schlachtreihen geordnet, und dabei enthüllten sich Veranlagungen und Charaktere der beiden obersten Kriegsherren. Ich zum Beispiel errichtete meine Stadt mehr vom malerischen Gesichtspunkte. Aus Schachteln türmte ich eine Art Festungsberg, krönte ihn mit einer wohlgefügten Ansammlung von Häuschen, die eine starke Burg darstellen sollten, und besetzte die Stufenhänge des Hügels mit dichtem Gehölze aus Spielzeugbäumen. Um diesen festen Kern legte ich meine Stadt an: enge, gekrümmte Gassen und Gäßchen, die sich womöglich auch noch den Schloßberg hinanzogen, das Ganze umwallt von einer Bastei aus Bausteinen. Nach derselben malerischen Methode verfuhr ich auch bei der Anordnung meiner Schlachtreihen. Auf dem Vorfelde meiner Bollwerke stellte ich die Truppen in Karrees und dichtgeschlossenen Phalangen auf, die Reiterei in der Attacke begriffen, die Geschütze zu Batterien gruppiert. Mit einem Wort, meine Bauart ergab das reizvolle Bild einer Stadt etwa aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges, die von einem Heerbann Tillys oder Wallensteins verteidigt wurde, und dürfte so ziemlich den Stahlstichen entsprochen haben, die ich in alten Geschichtswerken der väterlichen Bibliothek gesehen hatte. Anders ging Karl zu Werk. Er gründete seine Stadt weitläufig, ohne Festungsberg und ohne Bäume und schützte sie nur auf der Angriffsseite durch einen Wall, der bei der gleichen Anzahl von Bausteinen natürlich beträchtlich höher und stärker ausfiel als meine Ringmauern. Die Truppen aber entwickelte er in losen Plänklerketten, jede dichtere Ansammlung von Infanterie, Reiterei und Geschützen vermeidend. Schön war das nicht, aber...! Merkwürdige Antinomie in der rätselhaften Gesetzlichkeit zweier Knabenseelen: der Träumer baute nüchtern, und der Erdenschwerere baute romantisch, und die Romantik – rächte sich wie immer! Denn dann, wenn die mühevolle Aufstellarbeit vollendet war, begann nach formeller Kriegserklärung die Kanonade aus Geschützen aller Kaliber von Bohnen und Erbsen. Und da, ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen, was sich auf meiner Seite ereignete! Jedes Geschoß riß nicht nur das eine getroffene Haus, sondern gleich eine ganze Gaffe nieder. Vom Festungsberg herunter stürzten die krönenden Zinnen, die Bäume von den Hängen kollerten nach und richteten weitere Verheerungen an. Und nicht anders erging es meinen tapferen Verteidigern: reihenweise wurden sie oft von einer einzigen Saubohne hingemäht. Nur die Kavallerie hielt sich infolge ihrer größeren Bleischwere länger auf den Beinen, wurde aber erbarmungslos zu wüsten, wirren Knäueln zusammengeschossen, in denen Freund gegen Freund den Pallasch schwang und in der Karriere der Attacke einsprengte. Es dauerte meist nur wenige Minuten, daß sich auf meiner Seite ein Feld vollständigster Zerstörung ergab, während ich ganze Munitionsdepots auf die lockeren Reihen und weitläufigen Anlagen meines Gegners in fruchtlosem Schnellfeuer verschoß. Da glühten die Wangen und blitzten die Augen der beiden Befehlshaber, wilde kriegerische Rufe entstürzten ihren Lippen, die Drahtfedern der Geschütze knarrten bei jedem Abschuß, zu Hunderten kollerten die Hülsenfrüchte auf dem Parkettboden herum, so daß man achtgeben mußte, über sie nicht zu fallen; und dann, wenn das Kampfgetöse aufs höchste gestiegen war, erschien gewöhnlich – die alte Julie, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, rief außer Jesum, Mariam und Josef noch eine stattliche Anzahl anderer Heiliger an und schalt Karl mit mehr besorgten als strafenden Worten, um aber auch schon im nächsten Augenblick auf dem Boden zu knien und ihrem vergötterten Milchenkelkinde das Zusammenklauben der Projektile zu ersparen! Dann ruhte die Schlacht, Karl hatte wie gewöhnlich gesiegt, und ich fand keinen Atemzug lang, daß dies nicht in Ordnung gewesen wäre. Aber auch, wenn es einmal umgekehrt ausfiel, es gab keinen Hader zwischen uns, keine niederen Instinkte brachen aus, kein Triumph des Siegers, kein Rachegefühl des Unterlegenen. Das Spiel war für heute zu Ende, um morgen wieder zu beginnen, und so fort, freilich mit immer ernsteren Gegenständen, durch alle, alle Tage einer gemeinsamen Kindheit und Jugend. Und so war es denn auch ein Spiel, ein friedlichstes Messen von Kräften, das gelegentlich zu einer schweren Bedrohung unserer Freundschaft führte. Und das kam so:

Eines Tages rangen Karl und ich miteinander in knabenhaftem Übermut. Aber der Parkettboden war glatt, wir beide, noch fest umschlungen, glitten aus, und ich stürzte dabei mit dem Hinterhaupte auf die scharfe, harte Kantenecke einer offenen Schreibtischlade. War es das Möbel oder war es mein Schädel, was so gekracht hatte? Einen Augenblick lang blieb ich betäubt, dann erhob ich mich etwas unsicher und griff mir an den Kopf. Er blutete nicht, aber eine große, dicke Beule war im Nu aufgeschwollen. Über diesen Ausgang unserer Unterhaltung zutiefst erschrocken, wurden wir kleinlaut. An diesem Tage spielten wir nicht weiter. Ich schlug vor, keinem Menschen von dem Vorfalle etwas zu sagen, wir schworen's einander zu, und dann begab ich mich, noch etwas schwindelig, auf den Heimweg.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit dumpfen, pochenden Schmerzen, die ich natürlich verschwieg. Denn hätte ich sie verraten, so wäre ich gefragt worden, wie ich mir die Beule zugezogen, und hätte ich zugegeben, daß mir dies beim Spielen mit Karl geschehen sei, so wäre mir unfehlbar – dazu kannte ich meinen Vater nur zu gut! – der weitere Verkehr mit ihm verboten worden. Und dies durfte nicht sein! Um keinen Preis der Welt durfte dies sein! Allerhand Pläne gingen mir für den Fall der Entdeckung durch den Kopf, nahmen aber noch nicht feste Umrisse an. Dieser Zustand der Angst den Freund zu verlieren, dauerte zwei Tage. Da ich während ihrer natürlich zur Schule mußte, so ging in dieser Zeit ein wahrer Platzregen von »Nichtgenügend« über mein wundes, benommenes Haupt nieder. Besonders der Mathematiker und der Naturgeschichtler hatten es auf mich abgesehen. Dabei wuchsen die Schmerzen von Stunde zu Stunde, zogen sich vom Hinterhaupt zum Nacken herunter und von dort in die linke Seite des Halses. Dann platzte die Bombe!

Am dritten Nachmittage nach dem Ereignis wurde ich von den Eltern zum gemeinsamen Spaziergange befohlen. Widerrede gab es nicht, obwohl mein schlechtes Aussehen nicht unbemerkt geblieben war. Aber gerade deshalb mußte ich mit, weil es doch keinen anderen Grund haben konnte, als daß ich zu wenig in frischer Luft war. Also gingen wir – ich immer drei Schritte den Eltern voran – durch die Schmidgasse hinunter, am Rathaus vorüber der Inneren Stadt zu. Da warme Jahreszeit war, trug ich einen sogenannten Girardihut. Aber wie trug ich ihn?! Zum Ärger meiner Eltern – schief und in die rechte Stirnseite gedrückt. Zweimal ermahnte mich der Vater im guten, den Hut ordentlich aufzusetzen, dann riß ihm die Geduld. Mit ein paar Schritten war er bei mir und preßte mir mit einem wuchtigen Ruck den harten Innenrand des Strohhutes in die richtige Lage. Ich hätte aufschreien mögen, muckste jedoch nicht. Da war aber auch schon eine verdächtige Bläue bemerkt worden, die sich aus den Haaren hinter dem linken Ohre in den Nacken verbreitete. Diese Entdeckung ereignete sich genau beim Wetterhäuschen des an die Stadiongasse grenzenden Rathausparkes. Der Spaziergang wurde sofort abgebrochen.

Zu Hause angekommen, nahm man mich alsogleich ins Gebet. Ob mir etwas wehtue? Nach einigem Zögern: Ja. Was mich schmerze? Ich wie früher: Der Kopf. Wo? – Ich schwieg. Da machte der Vater kurzen Prozeß und fuhr mir durch die Haare, und im nächsten Augenblicke riß er die Hand an die Augen: Eiter, Blut! – Ich verlor die Besinnung.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Sofa und hatte den Kopf mit nassen Tüchern umwickelt. Der Vater saß bei mir und hielt meinen Puls. Seine Stimme drang gütig und weich durch den Dämmer zu mir. Hätte er mich in dieser Stunde befragt, wer weiß, ob ich ihm nicht die Wahrheit gestanden hätte. Gegen Güte wäre ich wehrlos gewesen, und vielleicht hätte dann auch er Verständnis dafür gehabt, daß hier niemandes Schuld sondern nur ein böser Zufall am Werk gewesen. So fürchtete ich, befragt zu werden, und sehnte mich zugleich darnach um der Güte willen. Allein die Frage – wohl in der besten Absicht, mich in meinem Zustande zu schonen! – blieb aus, und wieder einmal ereignete es sich in meinem damaligen Leben, daß ich ganz nahe daran gewesen wäre, mich kindlich aufzutun, und daß der Augenblick des Vertrauens und der Wahrheit vorüberging. Noch während mein guter Vater besorgt und schonungsvoll an meinem Lager saß, schmiedete ich die Pläne, wie ich ihn nunmehr am besten belügen würde. Dann kam, von der Mutter herbeigeholt, der Arzt und konstatierte eine Wunde, die bis an den Schädelknochen reiche und derart verwahrlost sei, daß man Gott zu danken haben werde, wenn nicht allgemeine Blutvergiftung eintrete. Sonst wurde nicht viel gesprochen. Der Hausarzt war kein Mann von Worten. Statt dessen arbeiteten Sonde und Eiterlöffel unbarmherzig in meinem Schädelloch, während die Mutter eine Kerze über mich und der Vater meine beiden Hände an den Gelenken hielt. Dann begann es im Zimmer nach Karbol und Jodoform zu riechen, und ich wurde zu Bett gebracht. Einige Tage schwankte mein Zustand zwischen Tod und Leben, dann aber obsiegte das Blut den Keimen der Verwesung, die Wunde vernarbte, und nach ungefähr einer Woche konnte ich wieder zur Schule gehen. Die Prüfung der körperlichen Leidenskraft war glücklich überstanden, nun aber kam die bei weitem schwerere auf Erfindung, Geistesgegenwart und Entschlossenheit.

Mein Vater hatte sofort am Tage nach der Entdeckung die Anzeige beim Direktor des Gymnasiums erstattet. Die Untersuchung konnte aber erst eingeleitet werden, wenn meine Aussage vorlag. Denn bisher war Bestimmtes aus mir nicht herauszubringen gewesen. Vor dem gefürchteten Direktor aber, so hoffte mein Vater, würde ich schon Farbe bekennen. Er irrte sich. Denn auch jenem gegenüber sagte ich nichts anderes, als daß mir ein unbekannter Junge die Wunde auf dem Schulwege von hinten beigebracht und dann Reißaus genommen habe. Es dürfte ein Real- oder Bürgerschüler gewesen sein. Auf Personsbeschreibungen ließ ich mich nicht ein. Daraufhin schrieb der Direktor von Amts wegen an die Leiter der betreffenden Anstalten, und auch dort wurden Untersuchungen eingeleitet, Verhöre mit den verrufensten Raufbolden vorgenommen etc. Schon schienen Anhaltspunkte gewonnen, die auf bestimmte Täter hinwiesen, und Verdachte verdichteten sich. Aber so oft ich einem der Beschuldigten gegenübergestellt wurde, erklärte ich mit dem besten Gewissen der Welt, daß es eben dieser nicht gewesen sein könne. Schließlich mußte das Verfahren als ergebnislos eingestellt werden. Es war die aufregendste Episode meiner Knabenzeit und hätte mir trotz ihres guten Ausganges verhängnisvoll werden können, wenn ich mir auf meinen Triumph auch nur einen Augenblick lang etwas eingebildet hätte. Hatte sich denn meine Intelligenz nicht stärker erwiesen als die meiner Examinatoren? War nicht eine gewisse Romantik darin, daß ich mich durch all die hochnotpeinlichen Verhöre hindurch gehalten hatte wie ein ausgepichter Verbrecher? Hatte ich meine Peiniger nicht geflissentlich auf falsche Spuren gelockt und sie auf Abwegen der Untersuchung sich festrennen lassen, mit ihnen spielend wie die Katze mit dem Mäuschen?! Nichts von alldem – dies kann ich ebenso wahrhaft bekennen wie meine Schlechtigkeit! – ging in mir vor. Aber zu denken gab die Sache immerhin: da brauchte man also nichts anderes, als eine Fiktion, als etwas völlig aus der Luft Gegriffenes mit der nötigen Umsicht auszuhecken und nachher kaltblütig zu vertreten, und dieses Hirn- und Lügengespinst wirkte dann genau so, ja vielleicht sogar überzeugender als die Wahrheit! Gefährliche Erkenntnis in der Seele eines zehnjährigen Knaben! Sie hätte mich damals ebenso gut auf Abwege bringen können, als sie mir später vielleicht geholfen hat, meinen Fiktionen künstlerische Gestaltung zu geben. So sehr liegen die scheinbar disparatesten Möglichkeiten in ein und demselben Menschen beschlossen: Vorspiegler falscher Tatsachen oder Poet! Und vielleicht hat man sich für den letzteren nur deshalb entschieden, weil man zum ersteren nicht die Courage gehabt hätte. Gott weiß es.

Was aber war indessen mit Karl gewesen? Nun, er war aus der ganzen verwogenen Komödie nicht nur durch die Umstände sondern auch durch mich absichtlich ausgeschaltet geblieben. Nicht daß ich bei ihm weniger Interesse an unserem weiteren Verkehre vorausgesetzt hätte! Aber sein mir zwar im Gedanklichen weit überlegenes Wesen wäre der dreisten Rolle im Kampfspiele mit den Wirklichkeiten schwerlich gewachsen gewesen. Dies wußte ich und hatte es daher allein übernommen, ihn mir zu retten. Ich sage ausdrücklich und betone: ihn mir! Denn nicht aus Schonung für ihn oder aus einem anderen edlen Beweggrunde hatte ich den Zufall, der ihn hätte schuldig oder doch mitschuldig erscheinen lassen können, verschwiegen, sondern nur mir zuliebe hatte ich um ihn gekämpft, weil mich die Liebe zu ihm beglückte und weil mein Knabenleben wieder bettelarm geworden wäre ohne ihn. Und der Preis hat das Wagnis wahrhaftig gelohnt! Denn ohne Bedrohung von außen mehr wuchsen wir von jetzt ab gemeinsam ins Leben hinein, und es dürfte kaum irgend ein besonderes Erlebnis gegeben haben, das bis zu unserem zwanzigsten Jahre einem von uns allein begegnet wäre. Wir waren Kinder, dann Knaben, dann Jünglinge zusammen, die zuerst mit Bleisoldaten und schließlich mit Träumen spielten, mit Träumen von dem, was aus uns werden sollte, und mit Träumen von dem großen Unbekannten, das die Ahnenden der Mannheit am meisten beschäftigt: vom Weibe. Als wir uns für Literatur, Philosophie und die schönen Künste zu interessieren begannen, lasen wir die selben Bücher und besuchten die selben Ausstellungen und Galerien, und dabei war immer Karl mit seiner feineren Witterung für Wert und Zeitgemäßheit der Wegweiser. Aber auch das Gelände um Wien sah uns, als wir dann selbständiger wurden, immer vereint auf seinen vielen, von heimlicher Schönheit gesegneten Wegen. Und auch da war zumeist Karl der Pfadfinder, ob wir nun von der Schönbrunner Gloriette aus den sehnsüchtigen Blick über die zarten blauen Schatten der Voralpen hinaus nach dem Süden entsandten, oder ob wir vom Kahlenberg herab, über das Grinzinger Wiesen- und Rebengelände hinweg, auf das golden entbreitete Wien sahen. Später aber, als immer stärker die große, zerstreuende Unruhe nach dem Weib-Erlebnis über uns kam, hielt es uns mehr in der Stadt zurück und in ihr dort, wo das Leben sich abspielte, das wir nur erst aus Büchern kannten und von dem wir noch ausgeschlossen waren. Durch die lichtdurchfluteten Ausstellungsparke des Praters mit ihrem mondänen Treiben schweiften wir da ebenso, wie wir ein andermal in irgend einem abseitigen Gasthausgarten saßen, wo sich einfache Handelsleute aus der Leopoldstadt mit ihren oft so traurigschönen Frauen von den Mühen des Geschäftstages erholten. Im Stehparterre des Burgtheaters, wenn Sonnenthal den Nathan, Baumeister den Patriarchen und Mitterwurzer den Al-Hafi spielten, standen wir genau so Schulter an Schulter wie im Deutschen Volkstheater, wenn Tyrolt den alten und Marrinelli den jungen Schalanter darstellte. Woferne aber Pablo de Sarasate im großen Musikvereinssaale das Violinkonzert von Mendelssohn spielte, da gaben wir's nobler und saßen auf Galeriesitzen nebeneinander. Und dann, wenn solch ein gemeinsames Erlebnis im Geiste, wenn solch ein Abend mit dem ganzen Zauber und der ganzen Grazie des damaligen Wiener Lebens vorüber war und wir etwa im Parkett des Burgtheaters oder der Hofoper schöne, edelrassige Frauen und elegante oder bedeutende Männergestalten genug gesehen hatten, dann trieb es uns oft noch lange über die Ringstraße oder durch die nächtlichen Parke des Rathausviertels. Oder wir saßen dort auf einer der vielen Bänke und sahen, indessen wir schwiegen – und wie sehr verstanden wir die Kunst solch beredten Schweigens! – nicht viel mehr von einander als unsere dunkeln Umrisse und die glimmenden Spitzen unserer Zigaretten. Da konnte es manchmal, besonders in lauen Föhnwindnächten, sein, daß durch die damalige Stille der Wiener Nacht, die nur selten durch ein leise rollendes Fuhrwerk ein wenig aus ihrem Schlummer aufgestört wurde, der lange, sehnsüchtige Pfiff einer Lokomotive vom Südbahnhof herübergeweht kam. Das bedeutete dann für unsere von aller Fülle noch ungelebten Lebens drängende und bedrängte Phantasie die frühen Blütengärten Merans, die sonnenweiße Kalkküste der Adria oder die bergespiegelnde Wellenfläche des Wörthersees, lauter Gegenden, die Karl schon in jungen Jahren mit eigenen Augen gesehen, während ich sie nur aus seinen schwärmerischen Erzählungen kannte, aber in meinen Träumen nicht weniger liebte als er in der Erinnerung an wirklich Geschautes.

Aber nicht immer vermochten wir das Unbestimmte und Sehnsüchtige in uns zum Schweigen in einsamen Parkanlagen zu bändigen. Immer öfter, zumal an Frühlingsabenden, verlockte uns die Militärmusik, die von dem Restaurant im Volksgarten herüberklang, uns in das Menschengewühle der Kastanienalleen, die den drahtumgitterten Gasthausgarten umgeben, zu stürzen. Junge Handelsangestellte, Studenten, Soldaten und unter diesen vor allem die stattlichen Burggendarmen fanden dort mühelos die Bekanntschaften, die sie suchten, ja, die sie kaum zu suchen brauchten, weil sie ihnen von selbst zuflogen, während es uns unerprobten Knaben die Stimme verschlug, wenn wir uns anschickten, eines der vielen Ladenfräuleins oder Dienstmädchen anzusprechen. Da wurden wir denn, nach so vieler anfänglicher Abenteuerlust, allmählich auch hier schweigsam, schämten uns unserer Schüchternheit und sahen aneinander vorüber, indessen die vielen eleganten Menschen an den weißen Tischen jenseits des Zaunes unter den berückenden Klangen der Musik und beim silbernen Geklapper vieler Bestecke aller Erfüllungen des Lebens teilhaftig zu sein schienen, die wir ersehnten. Dann rief der Wächter die Sperrstunde des Parkes aus, der bunte Schwarm verzog sich, von Bänken abseitiger Alleen erhoben sich die eng aneinandergeschmiegten Schatten der Liebespaare, und auch wir traten den Heimweg an. Das große Erlebnis, nach dem wir in allen Nerven fieberten, hatte sich wieder einmal nicht ereignet. Dafür aber gab es Nächte, in denen der Mond über der Josefstadt stand, während wir zwischen den plätschernden Springbrunnen der beiden Rathausparke hindurch Arm in Arm nach Hause wanderten. Da warf die dunkle Riesenzypresse des Rathausturmes ihre Schattenspitze scharfumrissen bis in die Nähe des Burgtheaters; kreideweiß leuchtete die Flanke der Universität, und die bronzenen Quadrigen auf dem Dache des Parlaments waren angeglüht vom milden, metallischen Lichte. Wie Wahrzeichen unserer eigenen Zukunft umstanden uns diese Symbole der Kunst, der Wissenschaft und der Gesetzgebung, von denen aus sich ein ununterbrochener Strom der Belebung in das Gefäßsystem der heimatlichen Kultur ergoß. Und an dieser dereinst in irgend einem Sinne mitzuarbeiten, war über aller Wirrsal unseres noch gärenden Blutes und über allen gelegentlichen Abwegen der Leitstern, der uns leuchtete. Mag auch das helle Lichtlein an unserem Horizonte bisweilen umwölkt worden sein von den verfänglichen Dünsten des Lebens, wir haben es immer wieder gefunden, und dies wäre vielleicht nicht so gekommen ohne eine Gemeinsamkeit, in der wir aneinander das Maß aller Dinge waren. Und auch heute noch, wenn ich – ach, nur zu selten! – in das blasse, durchgeistigte und vom Leben heimgesuchte Gelehrtenantlitz meines Jugendfreundes schaue, dann ist es wie der Blick in einen edelgeschliffenen Spiegel, der mich untrüglich darüber belehrt, was mir gelungen ist und was ich verfehlt habe. Denn an meinen Abgründen ist er gestanden, und woraus mein Gutes und Böses fließt, hat er an den Quellen geprüft. Er weiß um die Spannweite meiner Flügel, und die Gewichte, die mich nach abwärts ziehn, hat er gewogen in seiner Hand. Ihn, wenn ich's auch versuchte, belöge ich nicht und, mich selbst zu täuschen, unter seinen Augen erlahmte ich. Und dieses wäre doch erst die eigentliche Sünde wider den Geist, die nicht verziehen wird! Jene andere aber, die ich als zehnjähriger Knabe vermocht habe, um den Freund mir zu retten, vertrete ich vor Gott und den Menschen und – segne sie.


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