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Er hatte ein Bett in der Vaczi Körut, das Zimmer teilte er mit zwei Medizinern. Am Morgen gingen sie in die Hautklinik, er blieb liegen. Vor elf stand er auf und ging an der Donau spazieren. Die Dampfer sah er gern, die schwermütig dahinfuhren auf hellgrünem Wasser der glänzenden Stadt in das abendliche Dunkel der südungarischen Tiefebene, dann mischte er sich unter die Spaziergänger der großen Promenadestraßen, sehr viel Schönheit gab es zu sehen und sehr viel Anmut. Manchmal verfolgte er Damen, wenn sie es nicht bemerken konnten. Er liebte nicht bloß ein schönes Gesicht; auch ein kleiner Hut mit weißen Federn, die Farbe eines Strumpfes, ein Samtband auf gut modelliertem Hals waren wert, eine Viertelstunde und länger 49 betrachtet zu werden. Die Sprache verstand er nicht, sie bereitete ihm Sensationen: ein Wort klang wie ein Leidenschaftsausbruch, ein Vokal zwischen vielen Konsonanten wie ein Jagdsignal, ein Satzfetzen wie eine religiöse Beschwörung.
Nach vier Wochen hatte er Gesellschaft. Die Mediziner brachten ihn in eine Kneipe, dort saß er schweigsam zwischen Studenten und Künstlern, die meisten waren beides und nichts. Viele Rassen und Nationen sprachen den Budapester Verständigungsjargon, Magyaren, Österreicher, Russen, Polen, Serben, Rumänen, Italiener und Griechen. Alle trieben Politik, manchmal gab es Schlachten, die die Polizei beendete. Gewöhnlich sprach man über Kunst, Armut und Reichtum.
Das ersparte Geld der Mutter trug er in einem Lederbeutel unter der Weste; er kaufte Vergnügungen der Großstadt. Gern ging er in die Oper, aber auch mindere Kunst zog ihn an; in Varietés, kleinen Musikcafés im Stadtwäldchen, billigen Barlokalen verbrachte er halbe Nächte. Kein einzelner Mensch wirkte auf ihn, es war der Betrieb, der ihn 50 faszinierte. Stundenlang konnte er sitzen und beobachten: die Hand einer Geigerin, die Locke eines Zigeunerprimas, das Gespräch zweier Lebemänner, die Begeisterung einer Provinzlerin, das Atmen beweglicher Masse. Die Stadt jagte ihn, machte ihn unruhig; am Morgen war er so müde, daß er bis zum Abend im Bett bleiben wollte, um elf suchte er wieder Menschen, Farben. Atemlos beobachtete er am meisten sich selbst; es war nicht leicht, in dieser Stadt zu atmen.
Nach einem halben Jahr, als er sich Rechenschaft gab, hatte Schönheit der Welt sich angesammelt in seiner aufspeichernden Brust. Aber sein geschärftes Auge, sein kritisierendes Ohr hielt Wache, warnte vor Wiederholungen, und es wiederholte sich vieles. Zigeunermusik war Zigeunermusik, die Andrassystraße war die Andrassystraße, alles zusammen war als Erlebnis groß – es mußte Größeres geben. Aufgerissen waren alle Türen des Vergnügens, die ihm zugänglich waren; die andern ahnte er nicht, er vermutete Uniformität, fade Variation, geistloses Gepränge. Störrisch riß er die Brust vieler Abende 51 auf, die Vorratskammer vieler Erlebnisse – sie war leer. Mit vielen Menschen hatte er Tage und Nächte verbracht, in Theatern und Konzerten war er der Kunst nachgegangen, nun fragte er nach dem Sinn und Zweck des Lebens, es gab keinen.
Er ging ins Rabbinerseminar und fand dort Karikaturen seines Vaters. Man ereiferte sich um nichts, um Satzungen, um Formeln, erstarrt in der Bewegung der Jahrtausende. Er hatte mehr Kenntnisse als die meisten andern und schlug daraus Kapital, gab Lektionen, setzte vermeintlichen Gotteseifer in Wurst und Bier um; er stellte es kaltblütig fest.
Nur Äußerlichkeiten waren unverändert: lange schmutzige Bärte, unersättliche Augen, übelriechende Mäuler über entheiligten Büchern. Die Atmosphäre widerte ihn an und zog ihn an, er war in ihr verankert und machte sich jeden Tag gewaltsam frei zu einem Jenseits, das Licht, Freude, Frauen, Musik hatte. Am Abend in der Kneipe glitten im Zigarettenrauch zwei Welten ineinander: Tänzerinnen tanzten auf dem Teppich schmutziger Bärte, Chansonetten sangen aus der Bibel, feine Damen aus der 52 Andrassystraße schnitten sich die Haare ab und saßen zusammengepfercht in der hebräischen Schule unter den Augen des Vaters. Er wußte, daß er träumte, er formulierte: in zwei Welten hatte er geblickt, nun störte eine die andere, in Wirklichkeit leugnete er beide. Darin wurde er bestärkt, als er eines Tages einen frommen Rabbinatskandidaten auf den Knien einer Kokotte sah. Es gab ihm einen Ruck: so bin auch ich. Sprungbereit belauerte er Häuser, Menschen, die Musik der Stadt. Irgendwo mußte ein Berührungspunkt zweier Welten sein. Er ging in die Börse und sah das Aufflattern menschlichen Glücks, sah das hilflose Händeringen Geprellter und Zerschmetterter. In Vergnügungslokalen sah er, wie reife Männer, denen eine gefestigte Weltanschauung wohl zuzutrauen war, unter der Berührung einer käuflichen Hand schwach wurden. Im Seminar beobachtete er die Zähigkeit hungriger Jünglinge, die sich in einen Satz verbissen, der sie nichts anging. All dies war sinnlos, war Starrkrampf, Betrug, jeder betrog und jeder ließ sich betrügen, jeder war allein mit seinem Betrug, allein in seinem Starrkrampf. 53
Spinoza sprang er an, Nietzsche hatte er im letzten Jahr des Gymnasiums genascht, nun fraß er sich durch, eine zähe Ratte, zu Kant, Schopenhauer, Fichte, wahllos gefräßig, immer gieriger, bei Mach hielt er entsetzt inne. Die überfütterte Ratte erbrach Sterne, Weltsysteme, Plato, Jesus, Moses, Maimonides, gemeint und gesucht war immer nur: das Weib. Jedes Ziel war das Weib, jeder Gedanke war das Weib. Die Hände, die ruhelos ruhten, träumten vom Weib. Das Weib thronte überall, verlockend im Schreiten, Sitzen, Liegen, Stehen, ein Arm, ein Ohr, ein Haar, eine kleine Bewegung des Körpers, ein Lächeln, sogar ein häßliches Grinsen war aufregend. Alberts Blick war ein Lasso, unermüdlich lächerlich ungeschickt ausgeworfen an jedem Ort. Wie Gott unerreichbar wandelten Weiber durch Straßen, Gärten, Cafés. Zu den Augen junger Mädchen, zu den Schenkeln schreitender Frauen tastete sein Blick sich hin, keine Frau ließ er aus; waren ihre Reize auch gering und ärmlich – unter der Hülle ahnte er Leidenschaft. Alle Frauen verzauberte er in sein Kabinett. In riesigen Betten 54 stellte er sich sie vor, in Wälder verschleppte er sie, jeder Baum im Wald war eine Pyramide von Weiberröcken, Weiberhemden, im Moos lagen alle nackt. Der Sohn des Talmudisten sah sich eingestellt im ungeheuren Plan. Eine schwache Stelle mußte sein im ungeheuren Plan, ein Grenzpunkt zwischen Diesseits und Jenseits, ein Angriffspunkt. In der Andrassystraße suchte er ihn, in den Spelunken der Kanalgäßchen; am Donauufer stand er und blickte aus, vielleicht kam der Angriffspunkt herangeschwommen, oft stand er gebannt von einem Augenpaar und dachte: jetzt. Die Ekstase seiner Augen brannte mitternächtig im Sonnenschein belebter Plätze, auf den Parkbänken müder Kindermädchen, in den Koloraturen der Oper, endlich umkreiste er immer enger einen Punkt, einen Platz in der Kneipe der Mediziner, den Platz der Choristin Etelka Tirey.
Zuerst hatte er nur die Vision zweier Farben: blond und blau. Etelka stammte aus einem Dorf an der Theiß, näheres wußte niemand. Von den Frauen wurde sie für dumm gehalten, die Männer dachten abwartend: sie träumt. Sie war indifferent, 55 den Strohhalm der Limonade hielt sie stundenlang zwischen den Zähnen. Wenn sie aufstand, überragte sie alle, als Primadonna hätte sie vielleicht Figur gemacht, aber daran war nicht zu denken, die Kolleginnen von der Oper lachten über ihre Stimme.
Albert wußte nicht, daß es ihre Augen waren, die die Luft so blau färbten, er sah sie in einer Wolke über der grauen Marmorplatte, die andern waren nur noch Relief, sehr interessant, aber ohne Beziehung zu seiner Sehnsucht. Er umkreiste Etelka, das thronende Weib. Fassungslos hörte er, wie das Stroh des Sessels krachte, wenn sie sich setzte, ihr Körper füllte den Sessel aus, das war eine betäubende Vorstellung. Er näherte sich ihr sehr langsam. Eine Woche lang saß er immer am Nebentisch, Schüchternheit, längst abgelegt, war wieder da. Er warf sich seine Armut vor, er fühlte sich ganz als lästiges Insekt, er verglich sich mit den andern und fand sich häßlicher, dümmer, abschreckender als alle, obwohl es im Lokal Bucklige gab, Krüppel mit Prothesen, Syphilitiker mit halber Nase.
Endlich sprach er sie an. Sie schien darauf gewartet 56 zu haben, sie wandte ihm voll das Antlitz zu, mit einer jähen Bewegung, die überraschend war. Er gab sich preis, lieferte sich ihr aus, erzählte seine Jugend. Gib dir keine Mühe, sie ist dumm, indolent, indifferent, sagten die Blicke der andern, er geriet in Wut, wurde herausfordernd, sagte ein laszives Wort. Da stand sie auf und ging; er folgte. Nach einer Viertelstunde erzählte sie ihre Geschichte: bis zum sechzehnten Jahr war sie Dienstmädchen in Szegedin gewesen, eine Zeitlang hatte sie Schweine gefüttert, seit dem Herbst war sie Chordame. Das Konservatorium hatte ihre Ersparnisse aufgefressen, nun hieß es geduldig sein und warten. Sie war ganz von Ehrgeiz verbrannt, das überraschte ihn; er sagte es, sie lächelte, auch das Lächeln war voll Ehrgeiz.
»Ich bin sehr allein«, gestand sie, das Geständnis machte ihn glücklich. »Ich will Ihnen dienen, ich will Ihr Sklave sein, ich gebe Ihnen unbeschränkte Macht über mich«, sagte er heiß, da war der Pakt geschlossen. Im Stadtwäldchen nahm sie seinen Arm. Aus Neugier hatte er beim Oberkantor in Prerau 57 Bücher über Stimmbildung gelesen, nun verwertete er seine Kenntnisse, sie horchte auf. Sie sang ein paar Takte, er sagte brennend: »Sie müssen lernen, lernen.« Ein Stipendium für arme Rabbinatskandidaten war ihm sicher, im nächsten Herbst hoffte er das Geld zu bekommen, er wollte es ihr schenken. Er begann regelmäßig das Seminar zu besuchen, um des Stipendiums nicht verlustig zu werden; in vier Jahren konnte er Rabbiner sein. Nie wird das sein, dachte er fröhlich, Etelka ist Christin, sie ist meine Zukunft. Die Möglichkeit eines anderen Studiums ließ er beiseite; sein späteres Leben konnte er sich so wenig vorstellen, daß er jedes praktische Studium für überflüssig hielt.
Das Brennende seiner Hingabe erschreckte Etelka zuerst, dann begann sie seine Leidenschaft schön zu finden; sie hatte sich sehr lange nach Leidenschaft gesehnt. Sie gingen nicht mehr in die Kneipe, er mietete ein Zimmer, das nur ihm gehörte, dort besuchte sie ihn. Immer sprach sie von ihrer großen Zukunft, gewaltsam unterdrückte er ein Skeptikerlächeln, er zwang sich, an Etelkas Stimme zu 58 glauben, obwohl er alles an Etelka mehr als die Stimme liebte; jeden Finger, jedes Haar. Je genauer er sie kannte, desto unfaßbarer zerfloß ihm ihr Bild, wie in der ersten Stunde war sie wieder die Vision zweier Farben: blond und blau.
Sie dachte nicht daran, sich ihm hinzugeben, er bat sie nicht darum, er wußte: zwei Feuer sind wir, einmal werden wir eins. Aber nie war er ihrer sicher. Oft überflogen ihn die Schauer des Fremden, das in ihrem Gesicht war. Dennoch fühlte er sich seltsam geborgen, seit er sie kannte. Einen kleinen Vorteil erblickte er darin, daß er etwas jünger als sie war; sie verschwieg ihr Alter, er schätzte dreiundzwanzig, aber was waren Jahre, was war Zeit, eine Hängematte über duftendem Heu war die Zeit. Es war süß, über der Erde zu schaukeln, immer höher, immer erdenferner.
Im Sommer schrieb er nach Hause, er wolle die Ferien in Budapest verbringen. Beschwörende Briefe der Mutter kamen, er verbrannte sie. Etelka durfte nicht wissen, daß er hungerte, drei Schüler waren ihm geblieben, die mußten kleine Summen 59 vorstrecken. Er nährte sich von Brot; und kaufte Wein, wenn Etelka kam. Am offenen Fenster stand ein Tisch mit einer Weinflasche und einem Glas, das nach Odol roch. Etelka trank, um ihn nicht zu verletzen. Die Abende waren unerträglich heiß, sie saßen am Fenster und warteten auf das tägliche Gewitter. Dann fuhren sie an die Donau. An einem dieser Abende gab sie sich ihm hin. Das änderte nichts, sie blieb Vision.
Eines Abends, als Etelka nicht kam, ging er in ein kleines Sommertheater. Vor ihm saß eine Dame in Schwarz, zwischen dem schwarzen Haar und dem schwarzen Kleid leuchtete der weiße Nacken. Befremdet merkte er, daß er die Bühne und alles vergaß; unwiderstehlich zog ihn der weiße Nacken an, er mußte vor der Pause den Saal verlassen, sonst hätte er die Zähne in den Nacken bohren müssen. Dieses Erlebnis schmetterte ihn nieder. Ein Geheimnis hatte sich aufgetan. Er liebte Etelka und war vom Nacken einer fremden Frau verzaubert, deren Gesicht er gar nicht gesehen hatte. Am nächsten Abend legte er bereuend das Gesicht 60 auf Etelkas Nacken. »Was hast du«, fragte sie verständnislos. Er schwieg verstört, er wußte: Dämonen hatten noch immer Macht über ihn. Grauenhaft war dies: daß jedes große Gefühl von einem aufleuchtenden Stück fremder weiblicher Haut erschüttert werden konnte. Wenn alle Menschen mir gleichen, dachte er, was kann ein Mensch dem andern bedeuten. Wie kann die Welt weiterbestehen, wenn wir alle ungeheurer Magie unterworfen sind! Wenn ich aber anders als die andern bin: kann es jemals eine Gemeinschaft geben, wo ich bin? Oder bin ich nur das Geschlechtsorgan eines Dämons? Wenn ich Etelka alles sagen könnte, mit letzter, allerletzter Aufrichtigkeit alles sagen, o, das wäre gut, das wäre erlösend. Aber nie werde ich den Mut haben, ja ich muß sogar trachten, so viel wie möglich vor ihr geheimzuhalten; denn wenn sie alles wüßte, wäre alles aus.
Wenn sie alles wüßte, wäre alles aus: der Rhythmus dieses Motivs begann ihn zu verfolgen, jeder Wagen ratterte ihn, die Drehorgeln auf dem Hof sangen ihn, sogar in der Umarmung peinigte ihn der 61 Rhythmus: wenn sie alles wüßte, wäre alles aus. Tagelang dachte er über die Herkunft seines Dämons nach: er kam zur Überzeugung, alles sei vererbt, vererbt auch der Dämon. Die verhaltene Sinnlichkeit vieler Geschlechter schreit in mir auf, resümierte er. Auf bricht in mir eine tausendjährige Quelle. Vererbt ist auch der Schlamm, der mein Blut trüb und träg macht, die Talmudweisheit, die Talmudängstlichkeit. Alles, was ich hasse, ist in mir, ich bin in meiner Ghettohaut eingeschlossen; und wenn ich mir die Haut vom Leib reiße, ist nichts gewonnen, unter der Haut schlägt das Herz meiner Ahnen, und mein Hirn ist meiner Ahnen Hirn.
Etelka wußte nicht, daß er sie nicht umarmte, sondern umklammerte. Er klammerte sich an sie, sie war der gute Gott. Ein irrsinniger Verirrter, lag er an Etelkas Brust, an der heiligen Mauer, die das Allerheiligste einschloß: Etelkas Herz.
Im zweiten Jahr fiel ihm das Stipendium zu, er brachte Etelka das Geld. Am selben Tag gingen sie zu Török, dem berühmten Gesangslehrer. Etelka sang, der alte Mann saß nervös am Klavier, brach 62 ab, ließ sie noch einmal beginnen. Immer müder wurde sein Gesicht, er ließ sie nicht zu Ende singen. »Lernen Sie kochen«, sagte er.
Albert stützte sie, eine Stunde gingen sie auf und ab. Sie hörte ihm nicht zu, verabschiedete sich plötzlich, rief ihm nach: »Ich werde mich nicht erschießen.«
Da wußte er, daß es viele Wege für sie gab. Er saß in seinem Zimmer und wartete auf sie, sie aber hatte Pläne, Aufgaben, die Straßen der Welt lagen vor ihr ausgebreitet. Vielleicht hatte sie schon gewählt und er wußte es nicht. Er lebte ganz für sie, für wen aber lebte sie? Unerträglich war dieses Nichtswissen, es war unmöglich, eine Vision zu lieben, die in der Oper sang, in Cafés vielleicht Geschäfte machte; er mußte sie kennenlernen.
Ich müßte immer in ihrer Nähe sein, dachte er, sie ist ganz von Ehrgeiz zerfressen. In der Oper müßte ich immer in ihrer Nähe sein, dort sähe ich sie anders als hier. Vielleicht wäre der Anblick niederschmetternd; aber alles lieber als die ewige Selbsttäuschung. Wenn ich singen könnte, wäre ich 63 ihr näher, überlegte er; immer an ihrer Seite, bei den Proben, beim Einstudieren neuer Aufgaben, am Abend während der Vorstellung . . . Er stand auf und versuchte zu singen. Einmal hatte er gesungen, an einem unvergeßlichen Tag. »Bist du meschugge«, hatte der Oberkantor gemurmelt, »meschugge,« murmelte er nun selbst, sein Gesang war Gekrächze. Abschließend sagte er laut: »Ich bin verrückt.«
Aber die langen Abende (es ließ ihn nicht los, er mußte den Gedanken zu Ende denken), die langen Abende, wie verbringt sie sie? Sitzt sie vor einem Notenblatt in ihrem Zimmer? Oder liegt sie wach im Bett? Oder hat sie Gesellschaft? Ist ihr jemand Vater und Mutter? Ich bin es nicht, das spüre ich; ich weiß nicht, was ich ihr bin, vielleicht nicht viel, vielleicht nur eine unwichtige Zerstreuung, eine Tändelei für leere Stunden.
Den Feind, der mir diesen Gedanken eingibt, kenne ich, lächelte er. Ich kenne dich, böser Geist des Zweifels: ich zweifle nicht, ich liebe. Du bist mir fremd geworden, ein böses Stück Vergangenheit, 64 Stück für Stück von mir abgetrieben wie ein Bandwurm in den Kot meiner Vergangenheit.
Um neun Uhr morgens schlich er sich in der Oper ein. Anfängerinnen trippelten furchtsam hinter Primadonnen, neben parfümierten Zuhältern standen armselige Hungerleider. Es war leicht, unter ihnen nicht aufzufallen, erwartungsvoll verschwand Albert in der Menge. Knapp vor Beginn der Probe stürzte Etelka herein, fünf Minuten lang mußte sie sich sammeln, Atem holen, ihr Gesicht war fahl. Wenn der Kapellmeister eine Sängerin beschimpfte, lebte Etelka auf, sie lebte auf wie alle Choristinnen. Gespensterhaft war dies subalterne Dasein Etelkas, von dem Albert nichts geahnt hatte. Ihn hatte das Wort Kunst gebrannt, wenn sie von ihrer Stimme gesprochen hatte; nun stand sie da wie eine Tippmamsell im Zimmer des strengen Chefs. Flüchtend redete er sich ein, nur heute habe Etelka zufällig einen schlechten Tag. Vielleicht hatte sie schlecht geschlafen, Böses geträumt, vielleicht hatte sie Kopfschmerzen, vielleicht war ihr etwas Schlimmes begegnet, jemand war ihr gestorben, jemand hatte 65 sie gekränkt. Aber er wußte: nichts war geschehen, niemand hatte sie gekränkt, niemand war ihr gestorben. Er wußte: wie heute steht sie jeden Tag hier, ein armes Geschöpf, ein verbissener subalterner Mensch, sogar ihr Körper schrumpft hier ein, wird hier schemenhaft, verdrängt die Vision. Erschreckt betete er: Werde wieder Vision! Er schloß die Augen.
Am nächsten Tag schlich er sich wieder ein, es wiederholte sich alles. Jeden Tag war er in der Oper und betrachtete das Gespenst Etelka. Sie ahnte nicht, daß er ihr nachschlich. Er lernte die ganze Armseligkeit ihres Lebens kennen, immer quälender schob sich der Gedanke vor: ich kann ihr nichts sein, kann ihr nichts werden. Ich bin der letzte eines widerlichen Geschlechts von Talmudisten, Bücher sind unser Heiligtum, Drehs sind unsere Kraft, in Ghettoversunkenheiten sind wir zu Hause, hier sind wir fremd, Lemuren sind wir hier, keine Etelka wächst für uns, ein andrer muß kommen, sie zu wecken.
Aber eine Stimme in ihm lehnte sich auf gegen 66 diese Lästerung und sprach: Lästre dich, verfluche dich, zerschmettre dich, unbesiegbar bist du doch. Steig nieder in den dunkelsten Schacht der Verzweiflung: auserwählt bist du doch, immer wieder den Blick zu erheben, immer wieder aufzustehn, immer wieder du zu sein, heute und in tausend Jahren. Halte heilig dein Blut, es peitscht dich und es reinigt dich, Gott ist in dir, der Geist Gottes ist über dir!
Etelka war ihm nicht mehr ein Mädchen Etelka, sie war ihm der Inbegriff aller Schöpfungsgewalten, er wollte ihr nicht mehr dienen, nicht mehr ihr Sklave sein: ringen wollte er mit ihr, ringen um sie, ringen um ihre Seele. Wenn sie bei ihm war, ein müdes Mädchen im armen Studentenzimmer, stieg eisige Fremdheit zwischen ihnen auf. Ein andrer muß kommen, sie zu wecken, stöhnte er, etwas will geschehen, etwas will werden, machtlos zuzusehen bin ich verdammt.
Sie fühlte seine Ohnmacht, sie brauchte eine Stütze, er sah ihr Suchen. Auf den Proben begann sie einen Regisseur zu umschmeicheln, einem Kapellmeister streichelte sie die Wangen. Jedes Du, das 67 sie einem Sänger schenkte, schmerzte Albert, unnahbar sollte sie sein, ihr Blick ein Schwert. »Wirf dich nicht weg!« schrie er sie einmal an, er stand grün am Bühneneingang, nie hatte sie ihn in der Oper bemerkt, nun war er verraten. »Wirf dich nicht weg!«, rief er verraten ihr zu. »Du sollst mir nicht nachspionieren«, antwortete sie böse. »Immer werde ich dir nachspionieren,« gab er böse zurück, »wo du gehst und stehst, auf allen Wegen werde ich sein, in der Nacht werde ich vor deinem Fenster stehn und den Schatten bewachen, den deine Lampe wirft, jeden deiner Blicke will ich bewachen, nichts soll mir entgehn.«
»Das nützt dir nichts«, trinmphierte sie, rannte davon; gelähmt, konnte er ihr nicht folgen. Am Abend blieb er zu Hause, sie kam nicht, am nächsten Tag blieb er zu Hause, sie kam nicht, eine ganze Woche ging er nicht aus, sie kam nicht. Er wußte: es ist aus. Auf dem Fußboden saß er, alle Glieder taten ihm weh. »Ich sitze Schiwwe«, lächelte er, wie um einen Toten saß er Schiwwe, wie ein frommer Jude verrichtete er seine Totenandacht. 68
Nach einer Woche raffte er sich auf. Etelka lebt! schrie er sich zu. In einem Café gegenüber der Oper setzte er sich nieder, es war zehn Uhr morgens. Etelka mußte in der Oper sein, hier wollte er sie erwarten. Am Fenster des vornehmen Großstadtcafés sitzend, fand er sich ungeheuer lächerlich. Judenjunge, Killejüngel im Großstadtcafé, höhnte er sich, alle Blicke im Café und auf der Straße schienen zu höhnen: Killejüngel im Großstadtcafé. Aufgewachsen in Marmorsälen, würde der Kultusvorstand Blum höhnen, wenn er mich hier sähe, dachte Albert. Aufgewachsen im dunkelsten Ghetto, empörte er sich: das ist nicht gutzumachen. Wenn Etelka kommt, will ich mich ducken, ganz verkriechen will ich mich, ganz klein will ich mich machen, sie soll nicht sehen, daß ich auf sie warte, sie soll nicht wissen, daß ich ihr nachlaufe, sie soll nicht glauben, daß ich ihr Spielzeug bin.
Er las Zeitung und merkte verwundert, daß er alles verstand. Sogar ein Fachblatt für Versicherungsmathematiker konnte er lesen – da blickte er auf, erblickte die Oper, angeekelt warf er die Zeitungen 69 auf den Sessel. Alles ist durch Etelka sinnlos geworden, dachte er verzweifelt, alles hat sie mir genommen. Alles konnte sie mir nehmen, so mächtig ist sie, mächtiger als mein Geist ist sogar ihr Strumpf, den ich anbete, so sehr hat Gott sich in mir erniedrigt. Und das muß man hinnehmen, das muß man als sein gottgewolltes Schicksal anerkennen, damit muß man sich abfinden, dagegen gibt es keinen Rekurs, keine Auflehnung und kein Gebet! Und diese monströse Tatsache heißt »Glück der Jugend«, ist der Brunnen der zartesten Empfindungen, der zauberhaftesten Verzückungen des Geistes, Musik der Welt! O ihr heiligen Kasteier in hohen Einsiedeleien vergangener Zeiten, sagt mir euer unbegreifliches Geheimnis, sagt mir das Geheimnis eurer Keuschheit! Eine böse Nachgeburt bin ich, sagt, wozu bin ich geboren, wem zur Lust bin ich geboren, welchem Dämon zur Lust muß ich leben!
Zur Oper starrte er hinüber. Bald wird sich auftun das Tor, auftauchen wird Etelka, sei tapfer, furchtsames Killejüngel, vielleicht wirst du Schreckliches 70 sehen. Gesteh, Killejüngel, selig wärst du, wenn Etelka mit verweinten Augen käme, selig wärst du, wenn sie ihren stolzen Körper nicht mehr hätte, sondern zwei gedemütigte Augen voller Tränen! Gesteh, Killejüngel, nichts könnte dich so glücklich machen wie ihr Unglück, denn du wüßtest: durch dich ist sie unglücklich, dir gelten ihre Tränen. Gesteh, Killejüngel, du zitterst vor dem Schrecklichen, das geschehen wird oder vielleicht schon geschehen ist. Zerschmettern würde dich der Anblick einer glücklichen, prangenden Etelka, o, nicht weiter denken, nicht denken an alles, was vielleicht geschehen ist, nicht denken an die Möglichkeiten! Unter der Marmorplatte faltete er verstohlen die Hände, ein Kellner sah es und lächelte, hingegeben faltete Albert unter dem Tisch die Hände: Gib, großer Gott, dem ich untreu war, daß Etelka mir erhalten bleibt, laß sie nicht untreu geworden sein, wie ich dir untreu geworden bin. Vergilt nicht Böses mit Bösem, dies eine Mal laß Gnade walten, und ich will anerkennen und lobpreisen deine Macht und Herrlichkeit!
Auftat sich das Tor der Oper. Der wohlbekannte 71 Kapellmeister kam quer über die Straße, es kamen viele Herren und Damen, und endlich kam auch Etelka. Albert duckte sich, furchtbar schnell schlug sein Herz. Etelka trug einen neuen kostbaren Hut, herrlich war sie anzusehen, sie hatte nicht geweint, in ihren blanken Augen war keine Trauer, unverändert war ihr Gesicht, eher noch schöner geworden. Plötzlich blieb sie stehen, sie blickte suchend nach allen Seiten, frohlockend sprang Albert auf. Sie sucht mich, sie erwartet mich, jeden Tag hat sie mich vergebens gesucht, vergebens erwartet, aber nun genug der Strafe, genug des Wartens, ich bin da, ich bin da! Er warf Geld auf den Tisch, mit zwei Sprüngen war er bei der Tür, da knickte er zusammen. Am Arm eines Mannes ging Etelka auf der andern Seite der Straße.
In diesem Augenblick drehte Etelka sich um, sie erblickte Albert, sie lächelte ihm zu, keine Spur von Verlegenheit war in diesem Lächeln. Albert schloß die Augen. Er hatte Etelkas Begleiter genau gesehen, es war ein Jude von vierzig Jahren, vielleicht etwas älter, ein Mann der großen Welt mit 72 überlegen forschenden Augen. Tränen der Wut kamen geflossen, weinend rannte Albert in seine Wohnung. Nach einer Stunde hatte er den ersten Schmerz überwunden. So zäh ist nur ein Jud', war sein erster Gedanke, ein Jud' kommt über alles hinweg, ein Goj hätte sich jetzt erschossen oder aufgehängt. Und Schiwwe bin ich auch im voraus gesessen, mein jüdischer Kopf hat alles im voraus gewußt; manchmal ist es doch unbezahlbar, das jüdische Blut. Und eine Schönheit ist der Herr Nachfolger auch nicht, alt ist er, mein Vater könnte er sein, sie kann ihn also nur des Geldes wegen genommen haben, dieses Luder, dieses Mensch, diese Chonte!
Da hielt er inne, hielt sich die Augen zu. Ununterbrochen sah er sie und ihn, er wollte sie nicht mehr sehen, wollte nichts mehr wissen, wollte Etelka nicht mehr beschimpfen, wollte sich zwingen, gar nicht mehr an Etelka zu denken, oder, wenn das nicht ging, nicht an die Etelka, die sich verkauft hatte, sondern an die andere, ja, an die gestorbene Etelka wollte er denken. Wenn mir das gelänge, dachte er, 73 wäre ich nicht kleiner, sondern größer geworden, das wäre ein bewunderungswürdiges Kunststück, das mich stolz machen könnte. Aber wie dieses Kunststück vollbringen? Ich will mir einbilden, der fremde Mann sei Etelkas Vater oder Bruder, nein, das geht nicht, es ist ja ein Jud', aber vielleicht ist er ein Operndirektor oder ein einflußreicher Theateragent, der sich kleine Vertraulichkeiten erlauben darf. Diese Möglichkeit besteht, ja es ist sogar wahrscheinlich, daß der Fall so liegt, sonst hätte Etelka mich nicht so unschuldig angelächelt. Jäh brach er diesen Gedanken ab. Narr! höhnte er sich. Hast du nicht den Mut, eine Tatsache zu glauben? Nicht die Kraft, mit allen trügerischen Hoffnungen Schluß zu machen? Armseliges Killejüngel! Keine Etelka wächst für dich, ein andrer muß kommen, sie zu wecken.
Aber der andre ist auch ein Killejüngel, wenn er auch heute wie ein Weltmann aussieht, brach sein Zorn von neuem los. Ich darf also nicht einmal meinem Judentum die Schuld geben, kein arischer Athlet hat mich besiegt; ich, der einmalige Albert 74 Wolf, ich allein bin zu schwach gewesen, Etelka zu fesseln.
Wider seinen Willen blieb er am Nachmittag und am Abend in seinem Zimmer. Tanzen hatte er gehen wollen, um den Schmerz zu betäuben, nie hatte er getanzt, heute hatte er in ein Fünfkreuzerlokal ins Stadtwäldchen tanzen gehen wollen, irgendeine dicke Köchin mit dicken roten Armen an die Brust pressen, sich gemein machen. Von Stunde zu Stunde verschob er den Aufbruch. Um neun Uhr abends klopfte es, er öffnete nicht, wer wird es schon sein, die Wirtin wird mir einen Brief der Mutter auf den Tisch legen wollen, sie soll warten, was weiß die Mutter von mir. Da klopfte es noch einmal, noch zweimal, Etelkas Stimme rief vor der Tür: »Ich bin's!« Auf den Fußspitzen ging er zur Tür. Zweierlei kann ich tun, dachte er erglühend, ich kann sie ermorden oder ich kann sie wie eine Hure behandeln. Dann öffnete er, blaß und unsicher trat Etelka ein, sie hatte nicht mehr die unbefangene Haltung. »Was verschafft mir die Ehre«, höhnte Albert, geriet in Wut über diese 75 Anrede, die eines betrogenen Ladenschwengels würdig war, der seine Dame hohnvoll behandeln will, »was willst du noch von mir«, fügte er hinzu, »wozu noch dieser taktlose Besuch«. Dann fühlte er Etelkas Gesicht auf seinem Gesicht, Etelkas Körper auf seinem Körper, Etelka sprach, noch nie hatte sie so viel gesprochen. Zuerst verstand er kein Wort, dann prägte es sich ihm ein, hundertmal wiederholte sie es, daß sie »nur ihn liebe, nur ihn liebe, nur ihn liebe«, der andre aber sei »notwendig«, weil sie sonst als Künstlerin untergehen müsse, das wolle sie nicht, lieber gar nicht leben, so aber werde sich alles glücklich fügen, Albert müsse ihr Geliebter bleiben und der andre werde ihr den Weg ebnen, nur dürfe Albert nicht eifersüchtig sein, das wäre dumm, zu Eifersucht habe er keinen Anlaß, er müsse ihr nur glauben. Er blieb stumm, da ließ sie ihre Hände für sich kämpfen, denen sie mehr Macht als ihren Reden zutraute, mit ihren Händen wollte sie ihn gewinnen, schon war er in weiße Nebel gehüllt, in den weißen Nebel der Sinnlichkeit, den er fürchtete seit seinem elften Lebensjahr. 76
Er fühlte sich schwach werden und stieß ihr die Faust gegen die Brust. Sie taumelte zurück. Er deutete eine Verbeugung an und sagte: »Ich danke für deine Offenheit, wir sind fertig miteinander.« Zu wenig gesagt, warf er sich vor, sie soll wissen, was ich von ihr denke, sie soll wissen, daß ich anders bin als sie, seine Stimme zersägte die Luft: »Ich habe kein Talent zum Zuhälter.« Jetzt muß sie gehn, dachte er, nach dieser Beleidigung muß sie gehn, tiefer konnte ich ihren Stolz nicht verletzen. Er blickte an ihr vorbei, da sah er sich im Wandspiegel, das ganze Zimmer sah er im Spiegel, Etelka saß auf dem Kanapee. Ein furchtbarer Vergleich drängte sich ihm auf: Als mein Vater meine Mutter mit Worten schlug, saß sie auf dem Kanapee, wie Etelka jetzt sitzt. Wie mein Vater stehe ich in diesem Zimmer, hassenswert ähnlich bin ich ihm. Nur das nicht, nur das nicht! Mit unsäglicher Anstrengung öffnete er den Mund, ein milderes Wort zu sagen, endlich stammelte er: »Ich bin jetzt erregt – bitte, laß mich allein.« Da stand sie auf und ging.
Mit immer schnelleren Schritten wanderte er durchs 77 Zimmer, es drehte sich und schwankte. Billig komme ich zum Erlebnis einer Seekrankheit, lächelte er, ich zähle bis zehn, dann will ich mich setzen und vernünftig denken. Aber als er saß, stöhnte sein Mund: Etelka! Wenn sie jetzt hier wäre, dachte er, verloren wäre ich, für immer verloren; ich hätte nicht mehr die Kraft, mich zu wehren. Im Zimmer hielt er es nicht aus, jetzt bin ich reif für die Köchinnen mit den dicken roten Armen, dachte er. Die Tür riß er auf, da stand Etelka vor der Tür, still war sie vor der Tür gestanden, nun kehrte sie mit ihm zurück, sie setzten sich. Jetzt bin ich verloren, dachte er und wußte nicht, war es Hoffnung oder Furcht. Hoffnung, stellte er fest, ich will mir keine Komödie vormachen, sogar aus dem Bordell würde ich mir sie noch holen. Sie wußte das und sprach kein Wort mehr. Sie fühlte, welche Macht dieses Schweigen ihr gab, o, nur kein Wort, jetzt erst wird er mich verstehen, dachte sie, bis zum heutigen Tag war alles Betrug. Die Etelka, die er sah, war Betrug, die Vision, die er liebte, war Betrug, jetzt wird alles besser sein. In seinen Augen sah sie ihren 78 Sieg, nun durfte sie wieder reden, sie sprach so sachlich von Zukunft und Glück, daß ihm graute, alles hatte sie genau ausgerechnet. Alles sei im Gang, erklärte sie, der Mäzen bereit, ihr ein Engagement in Wien zu verschaffen, dort sei er ein großer Herr, Albert müsse mit nach Wien, der Alte werde nichts davon wissen; sei einmal ihre Position in Wien gesichert, bekomme der Alte einen Tritt. Alles war fein eingefädelt. Albert mußte das einsehen, und um ihn vollends aufzuheitern, forderte sie ihn auf, seine Rolle mit der des Alten gefälligst zu vergleichen. Kleinlaut gab er alles zu, ja, du hast recht, Etelka, du bist klüger als ich, meine Auflehnung war dumm. Aber etwas in ihm lachte ihn aus: Bist doch nur ein Killejüngel, bist doch nur ein Handelsjud, sonst hättest du diesen Pakt nicht geschlossen; nur ein Killejüngel, nur ein Handelsjud schließt solchen Pakt.
Als Etelka gegangen war, wollte er schlafen; es ging nicht. Im Erdgeschoß war ein Weinlokal, dort ließ er sich nieder. Bisher hatte er nur Etelka zu Ehren hie und da einen Schluck Bier oder Wein genommen, nun trank er ein Glas Wein auf einen 79 Zug leer, das zweite Glas bewährte schon Zauber, das dritte machte ihn betrunken. In der Brusttasche fand er eine Postkarte, die bekritzelte er mit der Adresse seines Vaters, einen Satz schrieb er seinen Eltern: »Liebe Eltern, ich teile Euch mit, daß aus mir kein Rebbe wird.« Er ließ die Kellnerin die Karte aufgeben, dann legte er Kopf und Arme auf den Tisch, der ganze Raum begann sich weiß zu drehen, Etelkas weißes Kleid drehte sich wie ein Ringelspiel, und er war die Achse des Ringelspiels. Dann träumte er: Auf einer Wolke hoch im Blauen ritt er, die wanderte mit ihm langsam und träge über den Dächern Budapests, unten standen Leute mit Fernrohren und guckten ihm nach, Schutzleute standen ratlos und drohten mit Knüppeln in die Höhe. Die Wolke zog majestätisch über Budapest, das Tempo mußte aber täuschen, denn nach wenigen Augenblicken lag die Stadt weit, weit hinter ihr, nach einer Viertelstunde war sie schon über Wien, gleich darauf schwebte sie über Prerau, und jetzt segelte sie über den heimatlichen Gassen. In der Judengasse stand der Kultusvorstand Blum mit dem 80 Vater in eifrigem Gespräch, Familien saßen vor den Haustüren, Kinder spielten hinter dem Tempel, aber niemand blickte in die Höhe, gerade hier niemand. Plötzlich erschien Etelka in der Judengasse in seltsamer Maskerade, sie trug die Uniform des Gemeindepolizisten und rührte seine Trommel, alle Leute liefen herbei und scharten sich um die Trommlerin, sie aber hatte an der Brust über der Trommel mit einer Sicherheitsnadel die Karte an Wolf Wolf befestigt, alle Leute lasen: »Liebe Eltern, ich teile Euch mit, daß aus mir kein Rebbe wird.« Der Vater stürzte nieder, die Mutter lag plötzlich neben ihm und weinte, Männer und Frauen begannen zu schreien, der Kultusvorstand Blum wollte trösten, der Vater aber verfluchte den Sohn und die meisten Nachbarn bestärkten ihn in seinem Zorn und spuckten aus. »Muß man denn ausgerechnet Rebbe werden, ihr Narren«, schrie Albert und sprang von der Wolke ab, sprang mitten in die Versammlung, da wichen alle entsetzt zurück, sogar die Mutter wich entsetzt zurück, auf Händen und Füßen kroch sie zurück. Nur Etelka stand noch, er blickte sie an, 81 sie blickte ihn an, da sahen sie, daß sie nackt waren. Und sie schämten sich und suchten ein Versteck, aber alle Haustüren waren verriegelt und in allen Fenstern waren Männer und Frauen mit stechenden Blicken, und da es keinen andern Ausweg gab, lief er mit Etelka auf den Gemeindebrunnen zu, stürzte sie in die Tiefe und sprang ihr nach, da erwachte er. Schlaftrunken torkelte er in sein Zimmer und schlief gleich wieder ein, er träumte die ganze Nacht. Als er endlich erwachte, war heller Morgen. Angestrengt dachte er nach, er wußte nicht, ob auch die Karte an die Eltern Traum gewesen sei. Einerlei, dachte er, um so besser, wenn die Eltern endlich alles wissen. Dann mußte er über den komischen Traum lachen, besonders über den Sprung in den Gemeindebrunnen, der ja längst verschüttet war, die Gemeinde hatte seit vielen Jahren Hochquellwasserleitung. Heiterkeit blieb. Nun fand er alles erträglich, auch sein künftiges Verhältnis zu Etelka. Er sagte sich: Ich habe eine schöne Geliebte, der ein anderer, wahrscheinlich ein verwöhnter Mann, Reichtümer zu Füßen legt, während das Wichtigste, Liebe und 82 Zärtlichkeit, mir zufällt, dem armen Studenten. Neugierig trat er vor den Spiegel und betrachtete sich: So sieht ein Mann aus, dessen Liebe vielbegehrte Frauen suchen. Er gefiel sich zwar nicht sonderlich, die Nase war zu lang, der Mund zu dünn, aber er resümierte: Irgend einen Reiz muß ich ausstrahlen; vielleicht ist es mein Geist, vielleicht ist es gerade mein unfreundliches Gesicht, das Etelka an mich fesselt – jedenfalls kann ich zufrieden sein. Und jetzt gehe ich den Herrn Konkurrenten besichtigen.
Behaglich schlenderte er zur Oper. Am Kaffeehausfenster wollte er das Ende der Probe abwarten. Der Mäzen war unsichtbar. Fast mit Bedauern stellte Albert es fest: erschreckt nahm er wahr, daß er das Gemeinwerden seines Liebesglücks mit tollen Erwartungen und Hoffnungen verknüpfte. Schon sah er ein freundliches Heim, das ihm Etelkas Mäzen in Wien zu bieten hatte, schon sah er sich als Mittelpunkt, als Meister hoher Lebenskunst, schon sah er sich auf Reisen, sah sich in einem vornehmen Alpenhotel neben Etelka, der er einen 83 heuchlerisch-treuherzigen Brief an den Mann diktierte, der alles bezahlte. Wieder mußte er an den Kultusvorstand Blum denken, der, reich geworden, eines Tages in der hebräischen Schule erschienen war. Ehrfürchtig hatte der Vater zu den Kindern gesagt: »Der Herr Kultusvorstand unternimmt eine Reise nach Palästina, im heiligen Lande wird er für euch beten.« Schon sah sich Albert in Palästina, in der Sahara, in China, in Japan, in Indien, auf der Rückreise wollte er die großen Hauptstädte Europas besichtigen, in Paris, London, Rom Verbindungen anknüpfen, in Monte Carlo ein wenig spielen. Schon breitete er die Arme, um die ganze Welt zu umfassen – da verfiel sein Gesicht. Dies alles ist, wie es ist, weil ich ein Killejüngel bin, wütete er. So sind wir Juden: nicht umzubringen, nicht kleinzukriegen, etwas Furchtbares steckt in dieser Zähigkeit, in dieser Lebenskraft. Verflucht und verfolgt, tausendmal ausgespien und ausgerottet – immer wieder stehen wir auf, immer wieder beginnt in unserer Brust die Orgel zu brausen, die jüdische Orgel, grauenhaft ist dieser Segen, dieser Fluch! 84
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