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Auf dem Büßer lag schwer die Hand des Herrn, schwer auf dem Büßer lag des bösen Weibes Gewalt. Eine schreckliche Hochzeitsnacht baute Pyramiden des Ekels in des Mannes Brust, heiß atmete im Bett ein widerliches, häßliches Weib.
Vom Regen langen Wartens farblos geworden, atmete dünnes Frauenhaar.
Von der Dürre langen Wartens ausgetrocknet, atmete ein dünner Frauenmund.
Auf der glanzlosen Haut der dürren Arme und Beine atmete das Warten vieler Sommer und Winter. 156
Nicht mehr bemitleidet von der verhüllenden Bettdecke, forderte der widerliche, häßliche Leib grausam sein Recht.
Kein weißer Tag, keine schwarze Nacht segnete den grauen Leib des Weibes mit segnenden Farben der Barmherzigkeit.
Im Arm seines Weibes schlief der Büßer ein, im Arm seines Weibes erwachte er. Erwachend erinnerte er sich: Lieben muß ich dieses Weib.
Noch einmal beugte er sich nieder. Er zwang seinen Mund, noch einmal zu küssen des Weibes Mund. Er zwang seine Hand, noch einmal sich zu füllen mit den Häuten des Ekels. Er zwang seine Augen, zu ruhen auf der welken Haut des Weibes. Er zwang seine Männlichkeit, des Weibes welken Durst zu sättigen. Und er wußte, daß Gott es nicht sah, er wußte, daß Gott fern war.
Nahe war der Dämon. In große Zauberei gehüllt, zauberte er in das Bett des Ekels Bilder der Verführung. Großen rauschenden Frühling. Großen rauschenden Sommer. Des Himmels blaue Glocke. Etelkas weiße Brust. 157
Auffuhr der Büßer vom Hochzeitslinnen, das Weib lachte Gelächter des Hohns: »Steh auf, du mußt in den Tempel.«
Das Weib sprang aus dem Bett, in der breiten Nachtjacke stand das dürre Weib vor der Waschschüssel und dem kläffenden Spiegel, der Mann sah und hörte zu.
Mit Gewässern des Abscheus füllte sich das Gesicht des Weibes, Gewässer des Abscheus gluckste im Zimmer.
Der Zwicker saß wieder auf der Nase des Weibes, streng sagte das Weib: »Steh auf, du mußt in den Tempel.«
Albert ging in den Tempel, schon erwartete ihn der Kultusvorstand, grinste: »No, wie war's?«
Ohne Frömmigkeit waren die Augen der Tempelbesucher, spöttisch fragten sie: »No, wie war's?«
Albert betete zum großen Gott der Buße. Dann ging er in den Schlachthof und schlachtete zwei Gänse und zwei Tauben. Dann ging er in die hebräische Schule. Dann ging er nach Hause. In die Bücher des Vaters vergrub er sich. Das Weib 158 ging umher und sprach unaufhörlich mit unzufriedener Stimme.
Die Matrik müsse er ordentlicher führen.
Das Haus sei in schlechtem Stand.
Die Disziplin in der hebräischen Schule müsse straffer werden.
Das Einkommen müsse er durch Privatstunden vergrößern.
»Ich arbeite täglich bis neun Uhr abends«, sagte er und sah das Weib an.
»Du wirst bis zehn oder bis elf oder bis zwölf arbeiten«, sagte das Weib.
Des Mannes Hände zitterten vor Empörung, seine Stimme füllte sich mit Donner, schon wollte er aufschreien, schon losspringen auf das Weib, da sah er den Dämon. In große Zauberei gehüllt, zauberte er ins Haus des Ekels Bilder der Verführung. Großen rauschenden Frühling. Großen rauschenden Sommer. Des Himmels blaue Glocke. Etelkas weiße Brust.
Zurücksank der Büßer, sein Mund blieb geschlossen. 159
Erwachend erinnerte er sich: Lieben muß ich die Frau der Buße.
Lieben ihre Häßlichkeit.
Lieben ihre Lieblosigkeit.
Das böse Weib umtrampelte den Büßer. War er leise, war sie laut. Wenn er sie brauchte, war sie nicht da. Wollte er allein sein, war sie immer da. Immer besah sie das große Stück Mann, das gefangene Stück Mann, das ächzende Stück Mann, das gequälte Stück Mann. Wie einen lebenden Fisch, gekauft auf dem Wochenmarkt, besah sie das gekaufte Stück Mann.
Mit diesem Stück Mann ließ sich nicht viel anfangen, es war kein Prachtstück, weder in Kleidern noch nackt. Malvine verglich ihren Mann mit andern Männern. An den Sohn des Pferdehändlers dachte sie, an den Ingenieur aus Wien, das war ein Mensch, breitschultrig und elastisch und lustig, wie elegant war der schwarze englische Schnurrbart in dem braunen Gesicht! Oder der junge Mandl: was war das für ein Mann, der hatte blonde Haare, die gut rochen, und blaue Augen wie ein richtiger 160 Goj! Auch der junge Buxbaum war nicht ohne, der verstand es, sich zu kleiden und von der Welt zu erzählen, von Berlin und Paris – das waren Männer! Wenn die auf der Gasse waren, lebte alles auf, mit solchen Männern konnte jede Frau sich zeigen. Was man von Albert erzählte, war gewiß nicht wahr, leider nicht wahr. Unbeholfen war dieses Stück Mann wie sein Vater, keine Spur von Temperament, beim Beten war er in Ekstase, im Bett war er wie andere beim Beten. Auf diese Rasse hab' ich so viele Jahre gewartet!, dachte Malvine. Ihre Knie hatten Sehnsucht nach einer starken Männerrasse.
Zu kurzem Leben war die Sehnsucht ihrer Knie erwacht; nach drei Wochen war der Vorrat ihrer Sinnlichkeit verbraucht. Verkümmertes Blut hatte aufbegehrt, verkümmertes Blut war rascher gestillt als geweckt. Sie widmete sich ganz ihrem Ehrgeiz. Unermüdlich bürstete sie die Kleider ihres Mannes, sein Gesicht mußte glänzen, sein Zylinder mußte glänzen, bei allen angesehenen Familien der Gemeinde wollte sie mit ihm »Antrittsbesuche« machen. 161 Sie schleppte den Mann zum Pferdehändler, zum Fleischhauer, zum Lederhändler, zum Tuchhändler, überall setzte man ihnen Wein vor. »Trink nur, ich erlaub' es dir«, sagte sie überall zu ihrem Mann. Überall setzte man ihnen Mandelgebäck vor. »Eß nur, ich erlaub' es dir«, sagte sie überall zu ihrem Mann. Zärtlich streichelte sie seine Hände vor allen Leuten, knapp neben seinen Sessel rückte sie den ihren. Die versteht es, den Mann zu behandeln!, dachten die Leute. Inmitten würgenden Ekels saß Albert, der Wein stank, das Mandelgebäck stank, die Bilder geldgieriger Ahnen in Goldrahmen stanken, wie Jauche und Weihrauch stanken alle Besuchszimmer, wie Jauche und Weihrauch stank die Welt. Vergiß dich nicht, sei demütig!, rief er sich zu. Demütig atmete er den Gestank des Widerlichen, Gestank des Menschlichen ein; auch diesen Gestank mußt du lieben, rief er sich zu.
Malvine inspizierte die Matrikenbücher. Schlecht gefiel ihr Alberts Schrift, schlecht gezeichnet waren die Striche mit roter Tinte; sie legte ihm ein Lineal auf den Tisch, mit dem Lineal mußte er Strich für 162 Strich ziehen, pedantisch berechnete sie jeden Zwischenraum, Stärke und Länge jeder Linie.
Jeden Tag zitterten seine Hände vor Empörung, füllte seine Stimme sich mit Donner, jeden Tag wollte er aufschreien, losspringen auf das Weib – nie tat er es: immer sah er den Dämon, großen rauschenden Frühling, großen rauschenden Sommer, des Himmels blaue Glocke, Etelkas weiße Brust. Zurücksank der Büßer, sein Mund blieb geschlossen. Erwachend erinnerte er sich: Lieben muß ich die Frau der Buße.
Lieben ihre Häßlichkeit.
Lieben ihre Lieblosigkeit.
Grübelnd saß er im Zimmer der Verzweiflungen. Noch bin ich nicht auf dem richtigen Weg, erschrak er, die Stimme der Frau belauschend. Ein scharfes Messer Gottes war diese Stimme. Noch nicht hatte er erlernt, zu lieben Gottes scharfes Messer.
Grübelnd lag er im Bett der Verzweiflungen. Noch bin ich nicht auf dem richtigen Weg, erschrak er, den Körper des Weibes betrachtend. Ein scharfes Messer Gottes war dieser Körper. Noch nicht hatte er erlernt, zu lieben Gottes scharfes Messer. 163
Im rauschenden Regen des März lag er die Nächte wach. Einreden wollte er sich, eine Wohltat sei das schützende Dach, auf das der Regen klopfte, eine Wohltat, entronnen zu sein den Rauchriesenwolken, dem Hauptquartier des Dämons, Etelkas Nachtcafé, eine Wohltat, entronnen zu sein dem Dämon Etelka. Aber er konnte das schlafende Weib nicht lieben. Ekel schloß ihn ab von diesem Weib, der Gestank der Sünde war nicht verschwunden, sondern verwandelt in Gestank des Ekels.
Der Himmel der Verführungen trat ins Fenster.
Der Himmel des kommenden Frühlings, der große berauschende Frühling brach ein.
Um fünf Uhr morgens, am schlafenden Weib vorbei, am schlafenden Tempel vorbei, still durch die Judengasse zog der Büßer aufs freie Feld, der große berauschende Frühling brach überall ein.
Dankbar stand Albert im Duft der Frühe. Es hatte ausgeregnet, die Welt war rein und voller Wonne, dankbar erkannte der Büßer, daß viel gerettet war. Der Herr hatte ihn vor vielen Strafen verschont.
Im Duft der Frühe dachte er an das Erwachen 164 der Krankenhäuser und Isolierbaracken, an das Erwachen der Syphilitiker. Vor dieser und vor vielen andern Strafen hatte der Herr ihn bewahrt. Der Herr hatte ihn vor der größten Gefahr bewahrt, vor dem Nichterwachen aus dem Rausch der Sünde. Tausende weckte der Herr nicht aus dem Rausch der Sünde, erst auf dem Totenbett erwachten viele, und manche nicht einmal auf dem Totenbett.
Neun Männer waren mit ihm im Tempel. Neun bezahlte Schnorrer. Zwei Kronen zahlte die Gemeinde jedem für jeden Tempelbesuch.
In der ersten Bank saß Haschel Baruch, der rotbärtige Dienstmann. Die Gebetriemen zog er straff wie den Dienstmannstrick beim Möbelschleppen. Ärgerlich bemerkte er, daß der Kantor den Gottesdienst in die Länge zog. Höchstens zehn Minuten durfte ein Zweikronengottesdienst dauern, das war schon zu viel Zeit nach dem Tarif.
In der zweiten Bank saß Schlojme Berger, ein winziger Vagabund, ausgeworfen von allen Landstraßen, eingekehrt nach langer Irrfahrt in die Heimat der krummen Rücken. 165
In der dritten Bank saß Mendel Friedmann, siebzigfach gekeltert und süß geworden in den Keltern aller Bitternisse. Freundlich und wohlwollend hörte er zu und dachte an den Mittagstisch, der ihm an diesem Tag im Hause des Kultusvorstands bereitet war.
Der Schnorrer der vierten Bank starrte den Schnorrer der dritten Bank an. Der Schnorrer der letzten Bank, besser bezahlt als alle, überwachte die Bänke der Schnorrer, damit keiner vorzeitig den Dienstplatz verlasse.
Zum erstenmal betete der Kantor nicht für sich, zum erstenmal betete er für die andern. Ohne Ende betete er hingegeben für die Schnorrer, für die Unglücklichen, die sich die Heuchelei der Frömmigkeit bezahlen ließen.
Die Bänke der Schnorrer wurden unruhig. Die ausgemessene Zeit war überschritten, der Kantor merkte es nicht. Die Schnorrer standen auf: zu seinem Privatvergnügen dehnt der Kantor die Gebete aus. Der Dienstmann Haschel Baruch, geschult in allen Frechheiten, zog die Uhr: »Schluß! Ach hab' ka Zeit«. 166
»Schluß!« riefen die neun Schnorrer. Haschel Baruch verließ den Tempel, die andern folgten.
Albert betete zu Ende. Dann blickte er auf und sah, daß er allein war.
Er sah um sich. Er sah, daß Gott in diesem Tempel nicht wohnte. Überall wohnte Gott eher als in diesem Tempel.
Gott wohnte im Erwachen der Krankenhäuser und Isolierbaracken, im Erwachen der Gelähmten und Pestbefallenen, im Erwachen der Syphilitiker.
Gott wohnte auf dem Schlachthof der hingeschlachteten Tiere und in den Verstecken der Mörder und im armen Atem der Ehebetten und Bordelle.
In Etelkas Nachtcafé wohnte Gott, überall wohnte er, wo Menschen sündigten und sühnten. Nicht im Tempel der bezahlten Schnorrer wohnte Gott.
Albert verließ den Tempel: dies war kein Ort für Büßende. Zur Frau der Buße kehrte er schuldbeladen zurück. In die Scheußlichkeit ihres Anblicks versenkte er sich, mehr denn je graute ihm vor der Scheußlichkeit dieses Anblicks.
Am Nachmittag vergaß er in den Tempel zu gehen, 167 der Tempeldiener mußte ihn holen. Ungeduldig betete Albert das Minchagebet und das Mairewgebet, es war sinnlos.
Ungeduldig erwartete er die Nacht. Um zehn Uhr legte Malvine sich ins Bett. Früher als sonst ging Albert zu Bett, zu der Frau legte er sich, in die Scheußlichkeit ihres Anblicks versenkte er sich, mehr denn je graute ihm vor der Scheußlichkeit dieses Anblicks.
Und er bat Gott um ein Kind.
Nicht für sich bat er: für die Frau bat er. Gott wolle die Frau mit einem Kinde segnen, bat er.
Er bezwang seinen Ekel und küßte den Mund des Ekels und tastete nach den Brüsten des Ekels und kämpfte mit den Knien des Ekels. Das Weib lachte und freute sich, verändert schien ihr der Mann, nie hatte sie ihn so gesehen. »Was hast du heute?«, lachte sie. Der Mann hörte sie nicht und umarmte sie. »Ein Kind sollst du haben!«, flüsterte er. Gesättigt und zufrieden lag die Frau im Bett, gesättigt und zufrieden lächelte sie. Ein Kind wollte er? Gut, ein Kind, wenn es ihm Freude macht, warum nicht? 168 Vielleicht war es das Kind, das ihm gefehlt hatte, vielleicht würde er jetzt anders werden.
»Ein Kind sollst du haben!«, flüsterte er noch einmal.
Erstaunt blickte die Frau auf: blutunterlaufene Augen hatte der Mann, zentnerschwer lag er auf der Frau, wie ein Wahnsinniger lag er da. Flink entwand sie sich der Umarmung und sprang aus dem Bett, staunend sah sie den Mann, seine Lippen bewegten sich: er betete.
Sie fürchtete sich. Laut rief sie ihn an: »Steh auf und geh in dein Bett, ich will schlafen!« Er aber hörte nichts und sie wagte nicht mehr ihn zu rufen. Sie legte sich in das leere Bett des Mannes und schlief ein.
Am Morgen mußte sie ihn wecken. »Schrecklich ist das mit dir,« zeterte sie, »kaum hast du dich an Ordnung gewöhnt, fangst du wieder an.« Langsam ging er in den Tempel, die neun Schnorrer warteten schon, widerwillig sprach er das sinnlose Gebet.
Den ganzen Tag umkreiste er die Frau, immer sah er sie an, Tag für Tag, Woche für Woche. Nach einem Monat sah er, daß sein Gebet nicht erhört 169 worden war. Drei Tage saß er niedergeschlagen zu Hause.
Wieder bezwang er den Ekel und küßte den Mund des Ekels und kämpfte mit den Knien des Ekels. »Ein Kind sollst du haben!«, flüsterte er. Gesättigt und zufrieden lag die Frau in seinem Bett, sie fürchtete nicht mehr diesen Ausbruch, willkommen war ihr die fixe Idee des Mannes, willkommen der Vorwand »Kind«.
Sie ahnte nicht, daß er ihr ein Kind schenken wollte, damit sie ein Geschenk Gottes besitze: er selbst war ein Geschenk des Dämons, das wußte er, sie aber ahnte es nicht. Nichts ahnte sie von dem Weg der Buße, dessen schwerste Station sie selbst war. Verkniffen – energisch trug sie kleine Sorgen, kleine Sorgen bürdete sie dem Manne auf, von den schweren Gewichten in seiner Brust ahnte sie nichts, nichts von den Gewichten des schlechten Gewissens, Gewichten des Ekels und Abscheus, Gewichten des Dämons und Gewichten Gottes. Mit höhnischen Gesten und Stichelreden trachtete sie ihn zu ärgern, ihn zu quälen. Sie ahnte nicht, daß er nach 170 höhnischen Gesten und Stichelreden sich sehnte, weil er ihr schuldig blieb, was der Mensch dem Menschen und der Mann dem Weibe nicht schuldig bleiben darf: Liebe und Reinheit des Herzens. Wie ein Betrüger ging er neben ihr einher, er betrog sie um Liebe. In seinem Herzen war Ekel und Abscheu, ein unermeßlicher Vorrat. Übermenschlich war es, bei Tag und bei Nacht den Vorrat zu verheimlichen und Betrug auf Betrug zu häufen.
Ein Jahr war seit der Hochzeit vergangen, da fühlte sie sich schwanger und sagte es dem Manne.
Mit bösem Lächeln sah sie ihm ins Gesicht. Er strich ihr mit beiden Händen über die Wangen, als wollte er auslöschen das böse Lächeln. Ein Leuchten war in seinem Gesicht, und sie fühlte, daß ihr Gesicht erleuchtet ward von diesem Leuchten. »Wir werden ein Kind haben«, sagte er; sie lächelte nicht mehr und dachte: Wir werden ein Kind haben. Sie wandte sich von Albert ab, ganz wandte sie sich dem Kinde zu, das ihr bestimmt war.
In strahlender Erwartung lebte er, ein Abglanz war auch in ihr, doch er durfte es nicht wissen, durfte 171 nicht sehen ihr heimliches Strahlen. »Wie kannst du dich freuen auf ein Kind, das dir und mir nachgerät?«, höhnte sie und zerrte ihn vor den Spiegel, »ein Kind, das dir und mir ähnlich ist: stell' dir das vor!« »Laß es nur kommen«, sagte er. Die Monate, die Wochen, die Tage zählte er. Mit jeder Stunde, die verging, ward er glücklicher; sie beneidete ihn um dieses reine Glück. Fremd blieb ihr der Mann auch in dieser Zeit, mühselig hing sie dem Gedanken nach: ein fremdes Kind soll ich gebären, ist das möglich, darf das sein? »Unser Kind«: erschreckend klang das. »Unser Kind«: sie konnte es nicht aussprechen, er konnte es.
Im fünften Monat, als sie es endlich erlernt hatte, als sie endlich mit mütterlichem Entzücken der kommenden Zeit entgegensah, stürzte sie beim Befestigen eines Vorhangs von der Leiter. Im Sturz machte ein Gedanke sie ohnmächtig: das Kind! Sie vermochte noch um Hilfe zu schreien, dann wußte sie nichts mehr; als sie erwachte, saß die alte Frau neben ihr, vor deren Händen sie sich gefürchtet hatte, nach deren Händen sie sich gesehnt hatte seit fünf 172 Monaten. »Das Kind ist hin«, sagte Malvine und verriet nicht, daß sie es noch nicht wußte. »Sie werden ein andres bekommen,« sagte die alte Frau, »jetzt reden Sie nicht viel und regen Sie sich nicht auf, seien Sie froh, daß es so abgegangen ist, es hätte ärger ausfallen können.«
Albert kam erst in der Nacht nach Hause, er war dienstlich in Prerau gewesen. Malvine strich die weiße Decke zurück – da lag sie in ihrem Blut. Sie hatte Schmerzen, mit bösem Lächeln streichelte sie den Schmerz, mit bösem Lächeln lag sie im Bett, angerufen von Dämonen, angerufen von Gott. Das Bett tanzte vor Alberts Augen, seine Hände waren zum Schlag erhoben. »Komm näher,« flüsterte das Weib, »näher zu mir, ganz nahe, hier sieh, kein Kind für mich, kein Kind für dich – ich wollte kein Kind von dir!«
Hassend sah sie ihn an, hassend sah er sie an, die Hände zum Schlag erhoben. Aber die Hände sausten nicht nieder, langsam sanken sie nieder, sanken nieder mit dem Mann auf das Bett, sein Mund sank nieder, den Kopf legte er auf den grauen Leib der 173 Frau und horchte. Gottes Stimme hörte er, demütig küßte er den grauen Leib der Frau.
Staunend sah sie ein gutes Lächeln über ihrem bösen Lächeln, der Mann sprach ein gutes Wort. Zum erstenmal betrachtete er das Weib ohne Abscheu, ohne Ekel, zum erstenmal sah er ohne Ekel den Mund des bösen Lächelns. Zum erstenmal erkannte er die Sünderin Malvine, die unbewußte Sünderin und Büßerin, die Büßerin ohne Bußfertigkeit, fernab vom Weg der Buße, mitten im Labyrinth böser Verstrickung.
Er saß Tage und Nächte an ihrem Bett, er kühlte ihr die Stirn, die Wärme seines Mundes hauchte er ihr ein. Beschämt und bedrückt stand sie auf, eine Ahnung seines Wesens durchschauerte sie.
Sie wollte sein Wesen nicht erkennen. Aus Dummheit ist er so gut zu mir, wollte sie sich einreden; aus Bosheit will er durch seine Güte mich beschämen. Aus Dummheit oder aus Bosheit, bald dies und bald jenes wollte sie sich einreden – es gelang ihr nicht. Aber eine Grenze war gezogen, nur bis zur 174 Ahnung seines Wesens drang sie vor, begreifen konnte sie nichts.
In großer Verwirrung stürzte sie sich in Arbeit. Täglich stand sie um fünf Uhr früh auf, immer war sie beschäftigt, ihr böses Lächeln war verschwunden. Albert sprach nicht mehr als vorher mit ihr, aber sein Schweigen war ein Schweigen des Einverständnisses und der Gemeinschaft. Das kleinste Wort schlug Brücken, aber sie ahnte nur den Sinn, begreifen konnte sie nichts. Als er sie nach drei Monaten fragte, ob sie zufrieden sei, mußte sie verneinen. Eine Grenze war gezogen in der Mitte jeder Brücke, die er baute, diesseits stand sie, er stand jenseits. Er aber war ganz hingegeben dem Wunder der Begnadigung. Nicht sein Verdienst, sondern Gottes Begnadigung war es, daß er ohne Ekel das Weib anblickte; Gott hatte den Ekel von ihm genommen. Schaudernd blickte er auf die Ehezeit des Ekels zurück. Nun wußte er von mancher neuen Sünde, die er hinter seinem eigenen Rücken begangen hatte. Heimlich hatte er Gott um ein anderes Wunder angefleht, heimlich hatte er gehofft, eines 175 Tages werde die Frau weniger häßlich sein, ihre Brust würde sich runden, ihre Haut sich straffen, ihre Lippe und Wange durch Gottes Gnade sich röten. Ein viel größeres Wunder war nun geschehen. Unverändert war die Häßlichkeit der Frau, er sah sie und empfand keinen Ekel mehr. Er berührte oft ihren Hals, ihre Brust, immer bewährte sich das Wunder.
Die Verwirrung der Frau begann sich aufzulösen. Daß sie auf der einen Seite der Brücke stand, er auf der andern, nahm sie hin, es machte sie nicht unglücklich. Langsam begann sie das Verwirrende zu entwirren. Sie war Albert näher gekommen, das genügte ihr – es gab Freiheiten. Es war bequem, einen bequemen Mann zu haben, der keine Ansprüche stellte. Nur die Sehnsucht nach einem Kind ließ sie nicht ruhen. Alle jungen Frauen in der Gemeinde hatten Kinder, stolz gingen die jungen Mütter mit den Kinderwagen spazieren, sie rückten den Säuglingen die Häubchen aus der Stirn, sie schmückten Kinderkleidchen mit rosa und blauen Bändern, sie blieben mit den Kinderwagen auf dem 176 belebtesten Platz der Judengasse stehen und schoben die Vorhänge zurück, damit jeder die Schönheit des Kindes, die Reinheit der Gesichtsfarbe, die dicken Ärmchen und Beinchen bewundere. Selig standen die jungen Frauen in der Judengasse und lächelten stolz, weil jeder zu ihnen sagte: »Unberufen ein schönes Kind, unberufen ein prächtiges Kind.« Kam Malvine ins Haus einer jungen Frau, so entblößte sich eine stolze prangende Mutterbrust. Boshaft sagten die jungen Mütter: »Und was ist mit dir? Wann wirst du dir eins anschaffen?« Alle jungen Mütter sagten boshaft denselben Satz und blickten stolz auf die prangende Brust und das wohlgediehene Kind nieder. »Wir lassen uns noch Zeit«, sagte Malvine, aber niemand glaubte es. Sie sah das ungläubige Lächeln und war tief verletzt und gekränkt.
Nun erst merkte sie, daß es möglich war, vor Albert Scham zu empfinden. Sie konnte nicht mehr unbefangen mit ihm sprechen, eine Grenze war gezogen, manches Wort kam nicht hinüber. »Ich will ein Kind«: das konnte sie nicht aussprechen, das lag wie 177 eine Eisenkette auf der Zunge. Jeden Tag nahm sie den Anlauf, immer vergebens; das Wort blieb ungesprochen. Nicht die kleinste Ermunterung gab er ihr, das Wort auszusprechen. Brüderliche Zärtlichkeit schenkte er ihr, alles andre lag jenseits der Grenze; er merkte es gar nicht, sie aber wußte es nun.
Jede Nacht nahm sie den Anlauf, aber die Eisenkette lag schwer auf ihrer Zunge, ihr ganzer Körper war eine schwere Eisenkette. Ahnungslos schlief Albert im Bett der Brüderlichkeit. Erwachend, nahm er brüderlich die Hand der Frau und küßte brüderlich den Mund der Frau und ging in den Tempel. Immer demütigender ward der Bruderkuß, immer hoffnungsloser erwartete ihn die Frau.
In einer schlaflosen Nacht weckte sie den Mann und saget: »Ich will ein Kind« Großes freudiges Erstaunen rief die Augen des Mannes wach, er blickte die Frau an und rückte näher, aber er blieb noch in seinem Bett und fragte, zum erstenmal fragte er sie: »Warum jetzt, warum nicht damals?« Ein befreiendes Wort wollte sie sagen, ein Wort, das 178 alle Grenzen aufhebt, bebend sagte sie: »Damals warst du mir fremd, jetzt hab' ich mich an dich gewöhnt – und du an mich.«
Mitten ins Gesicht schlug den Mann die Eisenkette. Die Frau hatte die Wahrheit ausgesprochen, die er nicht gewußt und nicht geahnt hatte. Die schwerste Strafe auf dem Weg der Buße war dieses Wort. Er ging nicht ins Bett der Frau, er stieg aus dem Bett der bequemen Gewohnheit und verließ das Haus. Nicht kümmerte ihn das Schluchzen und Keifen der beleidigten Frau. Der Spur bequemer Gewohnheit ging er nach, den Weg durch die Judengasse, den Weg am Tempel vorbei, den Weg ins freie Feld. Auf einem Feldweg setzte er sich und lauschte dem Donner der Erkenntnis.
Ein Wunder war geschehen, er aber hatte es nicht vollendet. Zu bequemer Gewohnheit war das Wunder entheiligt. Gebettet hatte er sich im Bett bequemer Gewohnheit. Die Frau der Buße hatte er geduldet, geliebt hatte er sie nicht. Gott hatte ihn begnadigt, hatte den Ekel und Abscheu von ihm genommen, hatte ihn auf dem Weg der Buße 179 geleitet – auf halbem Weg war der Büßer stehen geblieben. Nun wußte er es, wußte die Grenze. »Ich hab' mich an dich gewöhnt, du an mich«, das war das Wort an der Grenze, das schreckliche Grenzwort, der Grenzpfahl, aufgepflanzt auf dem Weg der Buße. Bis hierher waren sie gegangen, der Mann und das Weib, nun standen sie am Grenzpfahl Hand bei Hand und Atem bei Atem und waren Millionen Meilen und Millionen Jahre voneinander entfernt: kein Mensch überschritt auf dem Weg bequemer Gewohnheit diese Grenze. Der Büßer erkannte: nichts war getan mit dem bloßen Vorsatz: »Ich will lieben.« Nicht erlernen läßt sich Liebe, solange man nicht Liebe ist und nichts als Liebe. Gottlos war es, im Bett bequemer Gewohnheit Liebe zu suchen, dies galt für ihn und für das Weib und für jeden Menschen. Deshalb entschied er für sich und für das Weib, er entschied gegen sich und gegen das Weib und siegelte die Entscheidung mit dem Siegel seiner Sünden und der Sünden des Weibes.
Er ging in den Tempel und sah auf den Gesichtern der neun Schnorrer die Entscheidung besiegelt. Auf 180 jedem Menschenantlitz sah er das Siegel der Sünden, langsam ging er seinem Hause zu, jeder Schritt entfernte ihn vom Weibe bequemer Gewohnheit, endlich stand er vor dem Weib, Millionen Meilen und Millionen Jahre waren zwischen ihnen. Die Frau ahnte nicht, daß er Abschied nahm. Mit beleidigter Miene ging sie umher, böse umtrampelte sie ihn, sie wollte ihn strafen.
Am Nachmittag ging er zum letztenmal in den Tempel. Zum letztenmal sprach er das Gebet der bequemen Gewohnheit; er wußte, daß er fehlgesprochen hatte und fehlgegangen war.
Am Abend betrachtete er zum letztenmal das Weib. Seine Seele war fromm, als er seine Witwe ansah, die ihn nicht liebte und nie geliebt hatte und der er nicht helfen konnte, solange sie selbst sich nicht half. Fromm wandte er sich ab und verließ seine lieblose Witwe.
Auch der Mutter sagte er nichts. Niemand ahnte, daß er Abschied nahm.
Auf schwarzer Landstraße ging er dem Bahnhof zu. Mit dem ersten Zug fuhr er nach Wien. Im 181 Nachtzug – rings geschlossene Augen – schloß er die Augen.
Grell beleuchtet sah er den Weg der Buße.
Grell beleuchtet lag vor ihm der Weg.
Überirdisch und unterirdisch tobte grelle Musik.
Zwischen Himmel und Erde starrten riesengroß starre Frauenbrüste.
Grell beleuchtet drehte sich der Weg.
Straßen, Tore taten sich auf.
*