Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Ja, mein lieber Meinhardis, das ist nun eine scheußliche Sache.« Der alte Oberst streicht mit seinem kleinen Finger die Asche von seiner dicken Zigarre. Er lehnt sich zurück und betrachtet sein Gegenüber. Meinhardis pafft auch dicke Rauchwolken und zwinkert zum Fenster hinaus. Er mag seinem Vorgesetzten nicht ins Gesicht sehen. Der soll nicht merken, wie ihm zumute ist. Es war schon recht freundlich an sich, daß ihn der Oberst hatte zu sich rufen lassen, um ihm seine Versetzung persönlich mitzuteilen.
»Dieses Mühlberg ist ja eine üble Garnison«, fährt der Oberst fort. »Der Papierkorb der ganzen deutschen Armee sozusagen. Lauter Verbrecher, die Kerls dort – na und nun wollen se eben mal einen Anständigen haben, der bei dem Gesindel aufräumt. Da sind se nu da oben am grünen Tisch ausgerechnet auf Sie verfallen. Große Ehre natürlich und Avancement und mehr Gehalt. – Aber schön? Schön ist anders.«
Meinhardis macht eine Bewegung, die soviel heißt wie: Befehl ist Befehl. – Und Oberst von Merkel spricht weiter:
»Die sollen da gejeut haben, die Kerls. Machen lauter Dummheiten. Immer, wenn einer was ausgefressen hat, schicken sie ihn an die Grenze – alte Geschichte. Da hamse nun mal Pech, alter Exote – mein herzliches Beileid. Aber Sie werden der Bande schon zeigen, was 'ne Harke ist.«
Meinhardis fühlt sich verabschiedet, er erhebt sich:
»Ich danke vielmals, Herr Oberst – es war sehr freundlich, daß Herr Oberst ... Solche Sachen kommen vor – es hätte ja auch noch schlimmer werden können. Ich werde mal nach Hause gehen und das meiner Frau ... Frauen, für die ist das eben ... Na, wollen nicht weich werden! Ich empfehle mich, Herr Oberst!«
Seine Sporen klirren ruckartig zusammen. In der Linken hält er die Mütze, die Rechte ergreift der ältere und schüttelt sie kräftig.
»Na, Kopf hoch, Meinhardis! Es wird schon gehen!«
Draußen schnallt Meinhardis seinen Säbel um, und wie er sich zufällig im Spiegel sieht, rückt er mit der Hand seinen Kragen zurecht. Nun wird er bald keinen roten Kragen mehr tragen. Die Uniform kommt nun weg. Jetzt kommt eine andere. Hellblau und weiß. Lächerlich. Weiße Kragen werden immer dreckig, und so hellblau 'rumzulaufen ist ja scheußlich, wenn man gewohnt war, in Dunkelgrün seinen Dienst zu tun und zu reiten. Reiten in Hellblau – grotesk, denkt er schlecht gelaunt. Die Uniform ist viel teurer als die alte. Sicher. Na und der Umzug. Arme Käte! Der Blumenfrau kauft er einen Busch Margeriten und Kornblumen ab, die hat Mutter gern – sehen so nach Pöchlin aus.
Frau Käte nahm wie alles Unabänderliche auch diese ja immerhin erwartete Versetzung ruhig hin. Sie wußte gut, was es bedeutete, in diese Stadt zu ziehen, die noch vor wenigen Jahren in Feindesland gewesen war. Unbestimmt hatte auch sie das Gefühl, keiner glücklichen Zeit entgegenzugehen. Aber sie wollte ihrem Mann das Herz nicht schwerer machen als nötig. Noch hatte sie Zeit. Er würde vorausfahren und Wohnung suchen. Und dann war jetzt eine so sonderbare Ruhe über sie gekommen. Sie war nicht mehr ganz da. Sie ging noch häufiger zur Kirche, als sie es von jeher getan hatte, sie ging allein und kehrte jedesmal zurück mit einem tief gestillten Ausdruck. Ihre Augen waren nach innen gerichtet, auf ein allen unsichtbares Ziel. Es machte sie gütig, geduldig und fast heiter. Mit Selbstverständlichkeit ging sie daran, das Haus aufzulösen. Die kleine Lela ging schweigsam und wie ein Schatten hinter ihr her.
Dann kam der letzte Tag. Nachdenklich wanderte Frau Käte von Zimmer zu Zimmer. Vor dem Fenster, an dem Alis Arbeitstisch gestanden hatte, blieb sie lange stehen. Dann sah Lela, wie sie ihren Hut und ihre Handschuhe nahm, auch ein paar Blumen, die sie morgens gekauft hatte. »Mutti, soll ich mit zu Ali?« fragte Lela, die diese Stunde kannte, aber Frau Käte beugte sich nieder und sah dem Kind in die Augen. Zum ersten Mal behielt sie den tieftraurigen Mund, den erstaunt leidenden Blick, ohne den Versuch, dem Kind ein zärtliches Lächeln zu schenken. Ernst sagte sie:
»Nein, Lela. Heute muß ich ganz allein gehen, ich muß Ali adieu sagen – jetzt bleibt Ali allein, ganz allein hier. Ohne mich.«
Lela ging ihr bis zur Gartentür nach und sah, wie Mutter rasch und entschlossen die Straße hinaufschritt, wie jemand, der weiß, daß man ihn erwartet.
Für heute konnte Lela nicht mehr spielen. Sie nahm Flink am Halsband und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Ein merkwürdig trauriges Glück stieg in ihr auf. Heute hatte Mutter zu ihr gesprochen, als wäre Lela ein erwachsener Mensch – es war ein Geheimnis, und Lela würde es niemand auf der Welt sagen.
Lela stand vor dem Bahnhof in Mühlberg. Ihre rechte Hand hielt Mutti fest. Aber Mutti sprach mit Papa, und man kümmerte sich nicht um sie. Sie sah sich um. Wie unordentlich es hier war. Und wie viele Soldaten. Papa konnte keine zwei Worte sprechen, ohne zu grüßen. Soldaten kamen und gingen. Waren sie gewöhnliche Soldaten, blieben sie mit einem Ruck vor Papa stehen und hielten die Hände links und rechts fest an die Seite gepreßt. Erst wenn Papa mit der Hand abwinkte, konnten sie weitergehen. Waren es Offiziere, die vorübergingen, so hoben sie die Hand zur Mütze. Auch Mutter schien das nervös zu machen. Sie war blaß und abgespannt.
»Was ist denn heute hier los?« fragte sie.
»Nichts«, sagte Meinhardis. »Es stehen doch hier vierundzwanzig Kavallerieregimenter, nicht gezählt die Bayern, Infanterie, Artillerie und Pioniertruppen.«
Papa war eigentlich nicht richtig Papa wegen der anderen Uniform. Lela versuchte zwar, darüber wegzusehen, und fühlte, daß sie darüber nicht reden sollte – aber immer wieder flog ihr Blick hinüber zu seinem weißen Kragen.
Jetzt fuhr ein Landauer vor, auf dessen Bock ein Soldat saß und die Zügel hielt. Er war auch hellblau und weiß. Die Koffer wurden aufgeladen, die Pferde zogen an – geradeswegs auf eine Mauer zu. Eine hohe Mauer, auf der oben Gras wuchs. Der Eingang der Mauer sah aus wie ein Tunnel. Lela hatte Angst. »Was ist das, Papa?«
»Das ist der Festungswall! Mühlberg ist doch eine Festung.«
»Und warum ist denn der Tunnel so gebogen – warum geht es nicht geradeaus – und warum ist es so dunkel, daß am Tag Licht brennt?«
»Damit nichts passiert, wenn die Franzosen kommen und mit Kanonen da hineinschießen.«
Lela riß die Augen auf. Im Tunnel war so viel Lärm, daß sie nicht mehr sprechen konnte. Mutti legte die Hand auf ihren Schoß:
»Laß nur, Herzchen – die Franzosen kommen nicht.«
Hatte Mutti das gesagt, um sie zu trösten? Meinte sie es ernsthaft? Wenn die Erwachsenen in diesem Kinderton mit einem sprachen, wurde man so unsicher. Doch nicht zu glauben, was einem gesagt wurde, wäre wiederum »ungezogen« gewesen. – Aber schließlich, beruhigte das Kind sich selbst, am Ende ist ja Papa dafür da, daß die Franzosen nicht kommen.
Die große Mauer, die Lela so erschreckt hatte, umschloß die ganze Stadt. Unterhalb dieser Mauer waren Wassergräben, und dann kamen wieder dicke Mauern und wieder Gräben. Ein breiter Fluß wurde zum natürlichen Schutz dieser Riesenburg. In den Mauern waren Kasematten, Räume mit Munition und Kanonen und Räume, um viele Soldaten darin unterzubringen. Es war ganz dunkel darin. Nur schmale Schießscharten gaben winzige Lichtstreifchen. Es roch muffig und feucht. Die Stadt, die so fest zusammengeschlossen war, konnte sich nicht ausdehnen. Platz war teuer. Die Straßen schmal und die Häuser hoch und eng. Von vielen Kaminen stiegen massenhafte, röhrenförmige Schornsteine auf. Krumme, gerade und gewundene. Der Qualm, der aus ihnen kam, war gelblich und warf eine rußige Decke auf Dächer, Fensterbretter und Straßen. Wie von den engen Häusern bedrängt und in die Höhe getrieben, ragte ein gotischer Dom mitten aus dem Steinmeer. Spitz stach der Kirchturm hinaus und hinauf ins Blaue.
Meinhardis hatte eine Wohnung gesucht. Alle waren finster, alle eng, alle Fenster blickten auf Mauern. Und Käte hatte doch gesagt: »Ich muß ein Stück Himmel sehen.« Gärten gab es in Mühlberg überhaupt keine. Aber eines Tages entdeckte er doch ein paar hohe Bäume direkt an der Hauptstraße, dem Dom gegenüber. Ein großes geschlossenes Einfahrtstor unterbrach eine feindlich starrende Mauer. Daneben ein kleineres Tor mit einem Glockengriff zum Ziehen. »Concierge« stand daran.
Es stellte sich heraus, daß dies ein vor dem Krieg 1870/71 erbautes Privatpalais war, dessen Bau durch den Krieg unterbrochen wurde. Aber ein langer Flügel und ein Teil des Mittelhauses waren vorhanden. In der Mitte lag ein weiter Hof, und an der unbebauten Mauerseite war Raum geblieben für einige hohe Bäume. Eine sagenhafte alte Dame wohnte im Oberstock des langen Flügels und wollte den Offizier des Feindesheeres nicht sehen, nicht empfangen, geschweige denn je das untere Stockwerk ihm vermieten.
Meinhardis gebrauchte eine List. Er zog die Uniform aus und machte der alten Französin einen Besuch in Zivil. Lustig griff seine Hand nach dem Schnurrbart, der ein wenig gezwirbelt wurde. Seine Augen lachten über diesen Feldzug gegen den Feind, den er mit seinem ausgezeichneten Französisch, seinem Charme und seinem ziemlich hohen Mietangebot zu erobern gedachte. Die steife alte Dame wurde auch richtig überrumpelt. Nie hatte sie gedacht, daß ein »Prussien« so höflich sein, so liebenswürdige Dinge sagen, so feine Manieren haben könnte. Aber dann war es doch, als verwinde sie ihre Niederlage nicht. Sie zog weg nach Frankreich, überließ der Familie Meinhardis das untere Stockwerk, und das ihre, das obere, blieb leer.
Sie hinterließ nur »le concierge«: Monsieur Girod. Er bewohnte einen fünfeckigen kleinen Pavillon im Hof, der an der Mauer lehnte, zwischen der großen Einfahrt und dem kleinen Eingang. Monsieur Girod war kein schöner Mann. Er hatte einen Spitzbart und ein Käppi mit Schirm. Buschige Augenbrauen und einen stechenden Blick. Er hatte fast immer einen alten Besen in der Hand, und Lela fand, er sah aus wie der Gemahl der Hexe in Hänsel und Gretel. Wenn er überhaupt sprach, so schimpfte er. Seine französischen Flüche waren Lela unverständlich. Aber deswegen fürchtete sie ihn nicht weniger. Und es gab sofort Anlaß zu fluchen. Monsieur Girod, so wünschte Meinhardis, sollte das Einfahrtstor nur über Nacht schließen und es am Tage offenhalten. Er hatte in den rückwärtigen Gebäuden einen Stall gefunden, und die Pferde mußten dort hinein. Aber Monsieur Girod war sechzig Jahre alt. Das Tor war seit der Einnahme von Mühlberg durch die Preußen nicht mehr geöffnet worden. Die Schlösser rostig. Sie wollten sich nicht ölen lassen. Der preußische Offizier und sein Soldat auf den hohen Pferden sollten ruhig auf der Straße stehen und vor dem geschlossenen Tor warten, wenn es Monsieur Girod so paßte.
Monsieur Girod führte Krieg. Mit seinem Besenstiel in der Hand, ganz alleine in dem kleinen Pavillon vor dem leeren Haus, führte er seinen Krieg weiter gegen die Invasion der preußischen Reiterei.
Lela hatte ein Zimmer ganz allein für sich. Zwei hohe Fenster gingen zur Straße. Die Fensterbretter waren aus weißem, mit grauen Adern durchwachsenem Marmor. Ihr Bett stand in einem Alkoven. Auf der einen Seite dieser Nische führte eine Tür durch einen kurzen Gang zu einer zweiten Tür im Korridor. Auf der anderen Seite ging man in einen Wandschrank hinein. Eine Tür genau wie jene zum Flur – und man stand in einem engen Korridor, an dessen Wänden Haken befestigt waren. Der enge Korridor führte sogar rechter Hand um die Ecke, wo nun absolute Dunkelheit herrschte. Von dort war kein Ausgang.
Die ganze Wohnung war voll solcher heimlichen Schränke und Winkel. Man glaubte, durch eine Tür zu gehen und stand vor einer Reihe Brettern, bereit, Geschirr oder Wäsche aufzunehmen. Man öffnete eine Tapetentür und vermutete einen Schrank, da führte ein Durchgang mit Biegungen weit hinüber in einen glasgedeckten Hof. Die Wohnräume waren in einer Flucht angeordnet. Wenn man in die erste Tür eintrat, sah man wie in alten Schlössern gleich durch sieben Räume hindurch. Das erste Zimmer ist reich mit Stuck verziert. Goldene Engel mit hohen Flügeln in den abgerundeten Ecken. Manuela steht auf den Zehenspitzen und sieht über den Marmorsims des hohen Kamins in den Spiegel. Über ihr brennt der bronzene Lüster mit Kerzen, und Manuela sieht hundert Lüster und hundert Manuelas und zwanzigmal hundert brennende Kerzen, weil auf der anderen Seite wieder ein Kamin ist und wieder ein hoher Spiegel mit goldenem Rahmen. Manuela kann es nicht glauben, daß man hier »zu Hause« sein soll. Seufzend nimmt sie ihre französische Grammatik unter dem Arm hervor, legt sich vor das Holzfeuer nieder, öffnet das Buch und starrt in die glimmende Hitze.
Von Berti sah Lela in dieser Zeit wenig. Sie war auch mit sich selbst und ihren eigenen Erlebnissen vollauf beschäftigt. Nachdem sie in Dünheim bisher nur privaten Unterricht bekommen hatte, ging sie nun zur Schule mit allen anderen Kindern. Es war eine städtische Schule, und viele der kleinen Mädchen hier im Grenzland waren Französinnen. Sie sahen anders aus als die Kinder, die sie bisher gekannt hatte. Aber gerade das fand Manuela eigentümlich und interessant, und auch ihre Namen klangen so eigentümlich und so schön. Schräg vor ihr saß Jeanne Arnos. Sie hatte lockere brandrote Haare und trug immer eine große weiße glänzende Atlasschleife im Haar. Neben ihr saß Andrea mit kurzen Haaren, die sich widerspenstig sträubten. Sie hatte einen ganz dünnen Hals und sehr schmale Hände, an denen sie Armbänder und Ringe trug. Amelie hingegen sah aus wie ein unordentlicher, schmutziger Junge. Ihre schwarzen Haare hingen strähnig über ihr Gesicht und verdeckten ihre riesigen, grauen Augen. Aber Lela hatte sie fast am liebsten. Lela wollte sie etwas fragen, aber sie wagte es nicht. Lela fühlte sich den kleinen Französinnen gegenüber verpflichtet, sehr lieb mit ihnen zu sein. Waren doch die Franzosen von den Deutschen besiegt worden. Es mußte ein schreckliches Gefühl sein, besiegt worden zu sein. Ob sie wohl alle sehr traurig waren? Berti, den sie nach seiner Ansicht fragte, meinte zwar: »Nein, die sind viel zu frech dazu. Und außerdem ist es doch schon so lange her ...«
Aber natürlich, so belehrte er sie weiter, konnte es jeden Tag wieder Krieg geben, so wie damals im Jahre 70. Dann müßten alle Frauen und Mädchen in vierundzwanzig Stunden 'raus aus der Stadt. Nur die Männer dürften bleiben.
Lela, mit aufgerissenen Augen, fragt:
»Wohin denn?«
»Ach, das ist egal! Nur hier dürft ihr nicht bleiben. Weil hier geschossen wird. Jeder von euch kriegt eine Kiste, so wie sie die Soldaten haben, und da kannst du alles 'reinpacken, was du brauchst.«
Ängstlich Lela:
»Das glaube ich nicht«, antwortet Berti energisch. »Nützliches nur, selbstverständlich.«
Am nächsten Tag in der Schule wurde wirklich »Mobilmachung« geprobt. Auf ein Glockenzeichen im Hof mußte man aufstehen. Die Lehrerin zählte: Eins – dann packte man seine Bücher. Zwei – dann trat man aus der Bank. Drei – man zog den Mantel an. Vier – man stand zwei und zwei vor der Klassentür. Man hatte nicht nach Hause zu rennen, sondern gemessen im Sturmschritt zu gehen. Dort hatte man dann seine Kiste zu packen.
Der Gedanke an die Kiste, und ob alles hineingehen würde, was sie lieb hatte, ging Lela nicht aus dem Kopf. Alles, was nicht mitkonnte, würde ja wahrscheinlich von den Franzosen genommen werden. Und so eine Soldatenkiste war doch so klein. Und Mutti wollte lauter Wäsche und Strümpfe darin haben, und Schulbücher und Kleider und Schuhe. Bei Tisch fragte Lela, nur um zu hören, ob sie noch Zeit habe für eine letzte Entscheidung:
»Papa, kommen die Franzosen bald?«
Papa lachte aus voller Kehle. Mutti sagte, sie solle doch nicht so dumm fragen, es sei gar kein Gedanke daran. Aber Papa nahm sie in Schutz:
»Sie hat doch ganz recht, es kann ja passieren – aber Krieg«, sagte er, »das ist nicht so schlimm, wie du denkst. Ich hab' doch das schon mal mitgemacht. Das war ganz hübsch.«
»Papa, hast du richtig mal einen Franzosen umgebracht, so hineingestochen in ihn?«
»Ja, das habe ich – aber das muß man doch, wenn Krieg ist. Die haben ja Onkel Helmuth auch umgebracht, die ›Roten Hosen‹.«
Ja, das hatten sie. Über dem Sofa in Papas Zimmer hing seine Schärpe. Ein silberner Gurt mit einer Quaste, und daran klebte braunes, trockenes Blut. Und sein Helm hing auch da und sein Degen. Lela wagte kaum mehr, noch weiter »dumm« zu fragen. Aber sie konnte sich eines nicht vorstellen: was würde aus Amélie, aus Andréa und Jeanne, wenn die Franzosen schössen? Müßten sie auch weg – und wohin? Oder würden sie gleich auf der Stelle von den Deutschen mit totgemacht? »Unsinn«, sagte Berti. »Kein Deutscher kämpft gegen Frauen und Kinder.«
Aber Manuela wollte doch immerhin auf jeden Fall jetzt doppelt lieb zu Amélie, Andréa und Jeanne sein. Sie lud sie alle zu sich ein – was Meinhardis nicht ganz recht war. Aber diesmal nahm Mutti Lela in Schutz. Ihre Tochter durfte einladen, wen sie wollte. Im Gegenteil, Mutti war nett zu all ihren Freundinnen, die zuerst etwas ängstlich zu den Mützen, Säbeln, Reitpeitschen und Offiziersmänteln schielten, die in der Garderobe hingen.
Amélie vor allem mußte sehr oft kommen. Sie war es auch, die Lela half, ihr Märchen aufzubauen. Denn Lela wollte ein Märchen haben, ein richtiges. Keins aus Büchern und kein Bild zum Ansehen – sie wollte sich ein eigenes Märchen schaffen. In Lelas Spielzeugschachtel fand sich eine Menge kleiner Püppchen, und Amelie verstand es, allerhand wunderbare Stoffreste zu ihrer Kostümierung zu beschaffen. Stoffe, wie Lela sie nie vorher gesehen hatte: Brokate, weiß und silbern, Chinebänder mit Rosen und Girlanden, Schleier und Spitzen, Gaze, hellgrün, für Nixen, dicker roter Samt für eine Königsschleppe, für eine Fee weiße Seide, für Elfen Tüll, winzige Restchen von Pelz, Federchen, grüne und türkisblaue, ja Sternscheinchen für Diademe.
Alles war von Kleidern, die Amélies Mama trug. Lela wollte nur ein einziges Mal Amélies Mama sehen, aber Amélie sprach nie von ihr, und Lela wagte kein Wort. Mit heißem Gesicht saß sie da und verkleidete ihre Puppen. Tischchen und Sessel, die zum Teil noch des armen Ali Werk gewesen waren, wurden herbeigeholt und im völlig finstern Teil des Kleiderschrankes, damit ja alles recht geheimnisvoll blieb, ein Märchenpalast aufgebaut. Eine Tischrunde, ein Königsmahl sollte das Ganze darstellen. Die Tischordnung war nicht leicht. Man hatte zu wenig Prinzen und zu viele Elfen, und dann – war es eben doch sehr dunkel.
Amélie wußte Hilfe. Am nächsten Schultag brachte sie Lela eine kleine runde Rolle mit, aus einem nudeldicken Wachsfaden, rosenrot und herrlich duftend. – Es riecht katholisch, dachte Lela. Daraus schnitten die beiden Kinder kleine Kerzen und reihten sie auf dem Tisch des Märchenkönigs. Die Kerzen brannten und knisterten leise, es war feierlich und schön. Viel, viel schöner gewiß als in der katholischen Kirche, und in ihrem flackernden Licht glänzten Brokat und Seide, und der rote Sammet des Königsmantels leuchtete tief.
Andächtig saß Lela, noch nachdem Amelie nach Hause gegangen war, im geschlossenen Schrank und betrachtete all den Glanz, als Sofie, das pralle Dienstmädel mit den roten Armen und der Stupsnase, durch den Kerzengeruch aufmerksam gemacht, die Schranktüre aufriß.
Großer Gott, wie sie schrie. Und dann stürzte sie, indem sie die zitternde und schreiende Lela gegen die Wand drückte, auf die Tafelrunde zu, pustete die Kerzen aus und kreischte: »Du steckst uns ja das Haus an, du ungezogenes Kind! Gleich sage ich es der gnädigen Frau, dann wirst du schon sehen, was es gibt!«
Eine nach der anderen riß sie die Puppen heraus.
»Und in lauter Lumpen sind sie – soll ein ordentlicher Christenmensch so was für möglich halten! Halb nackt sitzen sie da – schämst du dich denn gar nicht, du? Aber ein schlechtes Gewissen, das hast du gehabt, bist in die sündige Dunkelheit gekrochen, damit keiner dich sieht – und da treibst du es ...«
Lela sah ihr starr nach. Keine Träne brachte sie auf. Ach, Mutter hätte verstanden – aber Mutter war nicht zu Hause. Mutter war eingeladen.
Stumm ließ sich Lela zu Bett bringen. Sie konnte keinen Bissen essen, sonst merkte man ihr nichts an. Erst als es dunkel war im Zimmer und sie an die Leere und wüste Unordnung hinter der Schranktür dachte, löste sich langsam der Krampf, und sie fing an zu weinen. Ganz leise, ohne Schlucken, ohne einen Laut, rollte Träne auf Träne auf das Kopfkissen. Aber da war auf einmal Mutters süß duftende Hand auf ihrem Haar, da nahmen sie Arme auf, und sie durfte ihren Kopf an Mutters Brust drücken und mit ihrem verzerrten Mäulchen Mutters weiches Gesicht küssen. Es war ja so gut, so zu weinen, und sie mußte immer mehr weinen, weil das so wohl tat, und eigentlich war dies Weinenkönnen schöner als alle Märchenpuppen im Schrank.
Das Märchen versank, und die Wirklichkeit war wieder da. Da war die Schule, und da war noch etwas anderes, was Lela nachzudenken gab. Es war nur wenige Tage später, als Berti in ganz ungewohnter Ritterlichkeit Lela eine große Tafel Schokolade mitbrachte und sie in eine Ecke des dunklen Korridors zog.
»Du, Lel, du mußt mir einen Gefallen tun!« – Und rasch weiter: »Kennst du in deiner Schule die Eva von Mahlsdorf?«
Lela dachte nach. Ja, die kannte sie. Ein großes, aschblondes Mädchen mit langen Haaren und einer roten Tellermütze auf.
»Ja, was ist mit der?«
»Also, wenn du sie siehst, dann sag ihr einen schönen Gruß von mir. Willst du?«
Lela war bereit. Das war doch ganz einfach! Eva ging zwar in eine viel höhere Klasse als sie, sie gehörte zu den »Großen«, aber in der Pause spielten sie alle im Schulhof, da sah sie Eva jeden Tag.
»Danke, Lel. Du bist lieb. Und dann, weißt du, mußt du gut aufpassen, was sie für ein Gesicht macht, wenn du sagst, mein Bruder Bert ...«
Lela versprach es. Das war doch nicht schwer, und es freute sie, Bert einen Gefallen tun zu können. Sie hatte, besonders seit Ali tot und Berti kein solcher Quälgeist mehr war, immer eine Art von Bewunderung für ihren älteren Bruder. Er war lichtblond und hatte helle Augen. Er verfügte über ein gewinnendes Lächeln, und die Menschen waren ihm rasch zugetan. Die Dienstboten und Stallburschen liebten ihn, die Kameraden, die Verwandten. Oft hatte Lela hören müssen, daß man sagte: »Ach, der Berti ist doch ein liebes Kind!« Und erst nach längerer Pause: »Lela auch.« – Lela empfand ihre dunklen Haare, ihre dunklen Augen als minderwertig dem blonden Bruder gegenüber. Um so glücklicher war sie, ihm jetzt einen offenbar so wichtigen Dienst erweisen zu können.
Am nächsten Tag lief sie vor lauter Eifer, ihre Mission auszuführen, viel zu früh in die Schule. In der ersten Stunde war sie unaufmerksam, in der zweiten verpaßte sie alle Fragen. Dann läutete endlich – endlich die Pausenglocke. Ihr Zehnuhrbrot vergessend, stürzte sie hinaus und postierte sich gegenüber dem Eingang, aus dem die Kinder der anderen Klassen herauskamen.
Der Strom ergoß sich an ihr vorbei. Ihr wurde ganz schwindelig vom Aufpassen. Da, endlich kam Eva, ihre blonden Haare schüttelnd und lachend – ach, wie lachend! – heraus. Rechts und links hielt sie zwei andere Mädel am Arm. Sie schien ihnen etwas sehr Drolliges zu erzählen, denn sie schüttelten sich fast aus vor Lachen und steckten dann die Köpfe zusammen, um zu flüstern. Lela hatte auf einmal das Gefühl, furchtbar häßlich zu sein. Ihr Gesicht schien ihr gelb, ihre Beine zu dünn, ihr Hängerkleid so arm, die Hände so knochig und die schwarze Schürze entsetzlich. Sie stand und stand, bis die Pause zu Ende war und der Hof leer.
Zu Hause erwartete sie Berti schon an der Tür:
»Hast du's ihr gesagt?«
»Nein, morgen!« Und schnell schob sie Berti beiseite. Den ganzen Tag ging sie unruhig umher, sah in den Spiegel und studierte ihr Gesicht. Nein, sie war sicher nicht hübsch. Sie war blaß von Hautfarbe, ihr Hals mager. Das Hängerkleid war abscheulich. Wenn sie nur Hosen tragen könnte wie Berti, dann würde sie sich wohler fühlen. Manchmal erlaubte Mutti, daß sie in dunkelblauen Knickerbockers turnte. Dann fühlte sie sich frei und lustig. Ja, wenn sie so zur Schule gehen könnte! Dann würde sie einfach hingehen zu Eva und einen Diener machen und »gnädiges Fräulein« sagen und ihre Schulmappe tragen und vor ihr über einen Zaun springen oder auf einen Baum klettern und von oben heruntergrüßen, dann würde sie sie zum Tanz engagieren und ihr Blumen schenken. – Da fiel ihr ein, das wenigstens könnte sie doch! Aber kaum dachte sie an die Ausführung, so waren da Berge von Hindernissen. Woher nehmen? Geld hatte sie – aber weglaufen, Blumen kaufen und sie dann verstecken? Und würde sie dann den Mut haben ...? Man würde sie auslachen! Ach, wenn die wüßten sie würden nicht lachen.
In einem der langen dunklen Korridore war für beide Kinder ein Turngerät angebracht worden. Es war eine runde Stange, frei hängend an zwei Stricken. Die Stange konnte Manuela gut mit ihren Händen umfassen. Dann brachte sie mit ein paar Schritten das Gerät in Bewegung und schwang sich hinauf. Am fliegenden Trapez machte sie Kniewellen, ließ sich mit dem Kopf nach unten hängen und auf und ab pendeln. Dann war da unten ein riesiges Publikum, und sie schwebte in der Zirkuskuppel, und alle Scheinwerfer beleuchteten sie, und die Musik hielt an, wenn sie die »Große Welle« machte, und wirbelte einen Tusch, wenn sie im hohen Bogen durch die Luft absprang, in die Kniebeuge versank und mit einem weiteren Sprung stand. Dann raste Applaus, und Manuela, die natürlich ein Mann war, in engem, weißem Seidentrikot, verneigte sich lächelnd, als wollte sie sagen: O bitte sehr, das ist noch gar nichts! –
Der nächste Morgen kam. Lela hatte sich in der großen Pause zurückgehalten. Arm in Arm mit Jeanne Amos war sie um den Hof herumgewandelt, friedlich ihr Brot kauend, als sei nichts geschehen und als sollte auch nichts geschehen. Heimlich beobachtete sie Eva. Eva war mit einem Apfel in der einen, mit einem Buch in der anderen Hand langsam, lesend, aus der Tür getreten. Jetzt lehnte sie mit dem Rücken an der Mauer, stand auf einem Fuß, ein Knie gebogen, stützte sie sich an der Wand. Eva sah und hörte nichts und las. Ab und zu biß sie in den Apfel. Jedesmal, wenn Lela vorüberkam, hatte sie Herzklopfen. Wenn Kinder im Vorüberrennen ihr die Aussicht auf Eva nahmen, wurde sie unwillig. Eva hatte ein rotes Kleid an mit einem kurzen Faltenrock und einem weißen Jungenkragen. Beim Lesen fielen ihre mattblonden Haare über ihr Gesicht. Die Haare waren locker und wellig, ohne lockig zu sein. Ihre Hände waren weiß, und ihre Finger liefen spitz zu. Lela kannte Evas Nachhauseweg. Als es zwölf Uhr läutete, rannte sie, nachdem sie alles gut vorbereitet hatte, als allererste aus der Schule. Nicht nach Hause – denn sie bog rechts um die Ecke und lief noch ein paar Häuser weiter, wo sie einen breiten Hauseingang wußte. Dort riß sie sich die Haarschleife vom Zopf und löste ihre Haare, als seien sie beim Laufen aufgegangen. Sie haßte ihre Frisur. Ihre Schultasche warf sie zu Boden und griff sich mit beiden Händen ins Haar. Dann schüttelte sie sich wie ein Hund, der nach einer Liebkosung sein Fell in Ordnung bringt, und stülpte ihre Matrosenmütze wieder auf.
Jetzt spähte sie nach Eva aus, die wirklich alleine, die Mappe schlenkernd, daherkam. Lela schlug das Herz in der Kehle. Aber mutig trat sie auf Eva zu und fragte bescheiden: »Darf ich dir die Mappe tragen?« Dabei wurde sie rot, und ihr war heiß. Sie griff, ohne Eva anzusehen, nach ihrer Mappe und ging neben ihr her.
Eva lachte.
»Wo kommst du denn her? Hast du etwa auf mich gewartet?« sagte sie, sichtlich geschmeichelt.
Lela konnte nur nicken. Die Mappe war schwer.
»Siehst du«, sagte Eva, »das hast du davon! Warum schwärmst du auch für mich? Da hat man gleich Unannehmlichkeiten.«
»Ich schwärme gar nicht für dich«, sagte Lela trotzig.
»So, na, laß mal sehen!« Eva machte eine Bewegung, so daß Lela zwischen sie und die Hauswand geriet, sie drängte sie bis zur Wand, daß Lela nicht ausweichen konnte. Evas Hände lagen auf ihrer Schulter, und sie steuerte sie nach rückwärts, bis sie die Hauswand berührte.
Lela hatte in jeder Hand eine Schulmappe und war so ganz hilflos. Langsam ließ Eva ihre Hände an ihrem Hals hinaufgleiten und spielte mit ihren Ohren. Lela war noch nie ohnmächtig geworden. Angsttränen standen in ihren Augen.
»Sieh mich mal an! Ganz richtig in die Augen!«
Lela tat es nicht, in wahnsinnigster Scham warf sie die Bücher zu Boden und packte die Arme Evas.
»Soso, du willst dich wehren?« lachte Eva. »Das wäre ja das Allerneueste!« – und sie gab ihr eine leichte Ohrfeige. »Du Indianermädchen, du!«
Lela fühlte ihre Knie wanken. Da ließ Eva sie los.
»Na, gut, wenn du nicht willst, dann nicht! Ich kann auch ohne dich leben, mein Kind.« Sie nahm ihre Mappe vom Boden auf und schickte sich an zu gehen. »Adieu«, sagte sie noch, aber Lela konnte den gar nicht freundlichen Gruß nicht erwidern, weil irgend etwas ihre Kehle zuschnürte.
So, jetzt war alles verdorben! Jetzt würde Eva nie, nie mehr mit ihr sprechen! Warum war sie so dumm gewesen? Grübelnd, mit hängendem Kopf, die Augen am Boden, trottete sie langsam heimwärts.
Natürlich wartete Berti schon auf sie. Berti war hochaufgeschossen für seine vierzehn Jahre. Obwohl Lela auch in der Klasse die größte war, kam sie sich Bert gegenüber immer klein vor.
»Nun, hast du mit ihr gesprochen? Was war?« fragte er rasch und leise und ging ihr in ihr Zimmer nach.
Manuela entledigte sich ruhig ihrer Sachen. »Schwärmst du eigentlich für sie?«
Bert war empört.
»Schwärmen – das tun Mädel –, ich verehre sie.«
Lela sagte gelassen: »So?« Und schwieg. Er bekam auch für heute nicht mehr aus ihr heraus und beendete die Diskussion damit, daß sie eben eine ungefällige und dumme Person sei, die von nichts etwas verstehe, und das sei das letzte Mal, daß er ihr etwas anvertraut habe.
Krachend flog die Tür zu. Lela blieb sonderbar ungerührt. Wenn Berti sonst mit ihr zankte, hatte sie regelmäßig herzbrechend geweint. Aber heute war irgend etwas anders geworden. Beinahe heiter ging sie hinein zu Tisch.
»Das wird 'n schwere Sache werden«, sagte Karl, der Pferdebursche, der mit einer Kiste voll Handwerkszeug in Lelas Zimmer getreten war, und blickte auf die Straße.
»Was denn, Karl?«
Obwohl Lela am liebsten jetzt allein geblieben wäre, am besten in dem dunklen Schrank, wo einmal ihr Märchen gelebt hatte, und dort, mit beiden Händen ihre Ohren zuhaltend, an Eva und ihre Hände gedacht hätte, war ihr die Störung ganz recht. »Ach, hier soll die Fahne 'rausgehängt werden. Und die ist ziemlich lang. Und das Fenster ist gar nicht hoch.« Nachdenklich untersuchte er die Mauer unter dem Fenster. Manuela freute sich auf die Fahne. Fahne bedeutete immer ein Fest in irgendeiner Form. Diesmal bedeutete es: Der Kaiser kommt. Dann war schulfrei und alles beflaggt und immerzu Militärmusik und Parade, und Papa setzte den Helm auf mit dem Helmbusch, den sie kämmen durfte, und dann läuteten die Glocken, die wundervollen Glocken vom Dom. Es läutete sogar die »Mutte«. Das war eine uralte, große, dicke Glocke, sie hatte einen Sprung und durfte deshalb nur ganz selten bei furchtbar feierlichen Gelegenheiten geläutet werden. Und dann immer nur ganz allein, und die Töne waren weit auseinander, weil so ein Ton so lange brauchte, bis er fertig war. Man mußte reichlich warten, bis der nächste kam. Karl hämmerte Eisenkrampen in die Mauer unterhalb des Fensters. Er hämmerte und lachte.
»Warum lachen Sie, Karl?«
»Na, weil ich mir denke, den Franzmännern wird die preußische Fahne, die schwarz-weiße da, kein großes Vergnügen machen. Wenn's noch 'ne deutsche wäre – aber so ...«
Frau Käte hatte wohl auch dieses Bedenken gehabt und in aller Eile ein breites Band aus schwarz-weiß-roten Streifen zusammengenäht, so daß die Fahne noch eine Schleife erhielt. Die Fahnenstange war auch schwarz-weiß bemalt und hatte oben eine goldene Spitze.
»Das Fenster können Fräulein Manuela heute nacht nicht ganz zumachen, weil die Stange dazwischen ist.«
»Ach, das macht nichts, Karl.« Manuela war stolz, daß die Fahne bei ihr hing, aus ihrem Fenster und nicht aus einem anderen. Sie hatte darum gebeten und schließlich ihren Wunsch durchgesetzt.
»Karl, wird illuminiert?«
»Freilich, die gnädige Frau hat schon Kerzen gekauft. Und Zapfenstreich ist auch.«
Am Nachmittag begannen die Vorbereitungen in allen Häusern. Tannengirlanden wanden sich von Fenster zu Fenster. Teppiche hingen von Balkons. Leitern wurden angestellt und Dekorationen von schwarz-weiß-rotem Tuch über den Türen befestigt. In den Schaufenstern stand das Bild des Kaisers, von einem Kranz papierener Eichenblätter verziert. Fähnchen wurden verkauft. Alle Fenster wurden voll Kerzen gestellt.
Manuela hatte eine brennende Kerze in der Hand und hielt das untere Ende einer anderen zum Wärmen daran. Wenn es weich war, preßte sie die Kerze auf das Fensterbrett und hielt sie fest, bis sie kalt war. In jedem Fenster standen zwölf Kerzen. Kaum konnte sie die Dunkelheit erwarten. Der Fackelzug sollte durch die Hauptstraße ziehen, an der Meinhardisschen Wohnung vorüber.
Während Manuela und ihre Mutter die Kerzen an der ganzen Fensterfront entzündeten, hörten sie von weitem die Kommandorufe des Zapfenstreichs herüberklingen. Dann setzte die Musik ein.
»Mutti«, sagte Lela, indem sie ängstlich auf die unsicher beleuchtete Straße hinabsah, »da ist ein Mann, der immer 'raufguckt – der steht schon den ganzen Nachmittag da.« »Ach, das wird ein Detektiv sein, Kind, der paßt auf.« »Mutti, auf uns?«
»Nein, Dummchen. Auf den Kaiser, damit man ihm nichts tut und kein Attentat auf ihn verübt. Überall, wo er hingeht, wird er bewacht. Deshalb ist Papa auch hier – der muß auch aufpassen.«
Lela hatte Mitleid mit dem Kaiser. Wie schrecklich mußte das sein, wenn man ihm ein Vergnügen machen wollte, und er hatte eigentlich die ganze Zeit Angst.
»Mutti, hat der Kaiser Angst?«
»Nein, Liebling. Der Kaiser hat nie Angst. Nur wir haben Angst, daß die bösen Franzosen ihm was tun.«
In der Ferne ertönte Trommelwirbel. Dann war einen Moment Totenstille, und dann erscholl ein dreifaches, rauhes unheimlich tönendes »Hurra! Hurra! Hurra!«, und die Musik setzte ein zu einem Marsch.
Auf der Straße unten drängten sich die Menschen. Die Soldaten, die zur Absperrung längst dort gestanden hatten, hielten nun ihre Gewehre quer vor sich hin und drängten so die Menge auf den Bürgersteig zurück. Unsicher flackerten die Kerzen in den Fenstern. Ein feuchter Abendwind bewegte die bunten Fahnen. Es roch nach Tannengrün. Die Leute auf der Straße wurden still. Die Musik kam näher. Musik zu Pferde. Die Blasinstrumente warfen gelbe Lichter. Die Pferde trugen rote Büschel an den Ohren und goldgestickte Schabracken. Die Straße war so eng, daß die Pferde die Soldaten streiften.
Jetzt kam ein unheimlicher, gelbroter Schein über alle her. Lela griff nach der Hand ihrer Mutter: Fackeln. Ein Meer von Feuer. Hoch in erhobener Hand trugen viele Hunderte von Studenten die brennenden Kolben. Die Flamme lag über ihren Köpfen rot züngelnd und schwarz ausqualmend. In Schritt und Tritt gingen sie eng gedrängt in Reih und Glied. Die Musik entfernte sich, und nun siegten die Glocken über alles. Langsam beginnend, setzten sie von allen Seiten ein.
Lela blickte auf in das Gesicht ihrer Mutter, das vom Feuerschein eine unwirkliche Farbe trug. Mutter sprach. Sie bewegte den Mund. Aber Manuela konnte nicht hören, was sie sagte. Nur ihre flackernden Augen konnte sie sehen. So fest sie konnte, preßte sie Mutters Hand, als müsse sie sie festhalten, als sei Gefahr, daß sie wegschwebe. Drüben die Häuserwand lag im Licht, wie die Nachbarhäuser bei großen Bränden aussehen. Man starrt sie an und denkt: Ihr könntet auch noch abbrennen. Warum nicht? Es kann jeden erreichen. Diesmal rettet man euch, aber das nächste Mal ... Die Gesichter der Menschen in den Straßen im Feuerschein waren stumm. Man hatte das Gefühl, als sei ein Fest bereitet worden und aus irgendeinem Grunde sei es nicht ganz gelungen. Die Glocken schwiegen jetzt, und vom benachbarten Dom, hoch vom Turme, kamen erst leise, dann lautere Töne, getragen vom Wind, über eine stille Stadt in Feuerschein und Kerzenlicht, über Tausende und aber Tausende einer lauschenden Menge riefen Blasinstrumente und Posaunen mit Kraft und Sicherheit die Menschen an:
»Ich bete an die Macht der Liebe,
Die sich in Jesu offenbart ...«
Lela faltet die Hände. Ihr Choral, ihr Lieblingschoral, der in ihrer evangelischen Kirche gespielt wird, der tönt vom hohen katholischen Dom. Wie die letzten Töne verklingen, hebt grausig und schwer die alte »Mutte« mit dem Sprung ihr schaurig-ernstes Lied an.
Die Kerzen in den Fenstern verlöschen, die Straße wird dunkler. »Jetzt werfen sie die Fackeln zusammen«, sagt jemand, und die »Mutte« tönt und tönt, und ihre Rufe zittern dröhnend, daß die Fensterscheiben klirren und man etwas wie physischen Schmerz im Ohr fühlt. Einzelne auf der Straße, die teilnahmslos waren, heben nun den Kopf und blicken zum Turm empor, als hätte man sie gerufen. – Die »Mutte« ist eine Französin, denkt Lela, und wahrscheinlich freut sich jetzt Amélie, daß sie läutet. Lela ist froh, daß Amélie und die anderen auch eine Freude haben, aber sie sagt das nicht. Schnell fielen ihr im Bett die Augen zu. Die Straße wurde leer. Schräg gegenüber war noch ein Fenster hell. Eine Tür von der Straße führte zu einer Schenke. Dort war Lärm und Rauch. Gewirr und Diskussion. Hier und da mahnte eine Stimme zur Ruhe. Hier und da patrouillierten Schutzleute vorüber. Sie hatten ein Auge auf das Lokal, sie blieben stehen und berieten untereinander. Aber dann gingen sie langsam weiter. Frau Käte trat noch einmal in Lelas Zimmer und spähte hinaus auf die Straße. Im Augenblick war alles still. Dann trat sie an Lelas Bett. Das Kind schlief ruhig. Das war nicht immer der Fall. Frau Käte hatte es längst bemerkt, daß Lela sich im Schlaf herumwarf und träumte. Als hätte sie Angst vor etwas. Als hätte sie Verfolgungen zu leiden im Traum. Ja, sie schrie manchmal. Kindisches Zeug, wie: »Die Franzosen kommen!« oder: »Sie schießen, sie schießen!« Dann weckte sie ihr Kind und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Berührte sanft seine Stirn, und Lela schlief ruhig wieder ein, ohne sich am nächsten Tag zu beklagen, ja sie wußte nicht einmal davon. Leise schlug Frau Käte ein Kreuz über Lelas Stirn. Lautlos schloß sie die Tür, und Lela blieb allein, in tiefem Kinderschlaf jetzt, und noch immer, wie in alten Zeiten, ihre beiden geliebten Schnuckis im Arm.
Laute, heitere Stimmen auf der Straße weckten sie nicht. Ein paar angetrunkene Gestalten torkelten aus der Schenke. Ihr betrunkenes Französisch war unverständlich. Es war windstill, und die Fahne hing bewegungslos herab. Tief herab auf die Straße, Wer faßte sie? Wer zog? Wer half? Das schwere Ende der riesigen Fahnenstange in Lelas Zimmer hob sich plötzlich empor. Mit einem hellen Krach rissen die Eisenpflöcke aus der Wand und schlugen an die Scheiben. Etwas fiel, und unten schrie jemand. Aus Weh oder aus Freude?
Noch hegt das eine Ende der Fahnenstange auf dem Fensterbrett. Wirres Durcheinander. Stoff reißt, Holz kracht, Lela steht leichenblaß mitten im Zimmer. »Mutter, Mutti, Mutti!« – Aber ihre Stimme steckt im Hals, es kommt kein Ton. Die Tür der Schenke springt auf. Mensch über Mensch speit sie aus. Dunkle Gestalten. Die Arme in der Luft. Sie machen Sprünge. Sie reißen einen Fetzen weg. Sie stampfen ihn in die nasse, schmutzige Straße. Nur eines hört Lela: »A bas les Prussiens! A bas les Prussiens!«
Diese Parole kannte sie. Das waren die ersten französischen Worte, die sich ihr ins Ohr gedrängt hatten: »Prussiens« und »à bas«. – Die Fahnenstange ist weg. Vor Lelas nackten Füßen liegen Scherben. Das Fenster ist riesenweit aufgesprungen. Langsam, furchtlos geht Lela auf das Fenster zu. Es ist niemand mehr da – auch die Fahne nicht. Weit entfernt johlt und grölt es: die Marseillaise.
Als Lela erwachte, war sie in Muttis Bett. Ihre Hand lag fest in Mutters Hand. Ihr Kopf auf Mutters Schulter. Es war warm und gut. Nur die Augen öffneten sich so schwer. Sie waren geschwollen wie von langem Weinen. Hat sie geweint, heute nacht? Wie kam sie nur in Muttis Bett? Irgend etwas war geschehen, die Fahne ... Ach ja! Enger drängt sich das Kind an die Mutter. Hier kann ihr nichts widerfahren. Papa sagt immer, sie sei nun zu groß, um in Muttis Bett zu kriechen, das sei nur etwas für kleine Kinder, aber nun war sie doch da, und das war gut. Wenn man doch nie mehr von da weg müßte. Hier gehörte sie doch her und nirgendwo anders. Allein im Bett war es so kalt. Allerdings die Schnuckis – aber die Schnuckis wollte man ihr auch wegnehmen. Sie sei zu groß. Was war mit der Fahne? Franzosen hatten sie heruntergerissen. Warum nur hatten sie das getan? Lela seufzte.
Daran erwachte Frau Käte.
»Was ist, Liebling?«
»Mutti, wenn wir nun alle sehr gut zu den Franzosen sind, glaubst du nicht, sie werden sich trösten, daß sie den Krieg verloren haben?«
Heute ließ man Lela nicht in die Schule gehen. Lela war glücklich. »Kleines Faultier«, sagte Mutti. – Aber das war es ja nicht allein, Mutti wußte nicht, daß das gut war – Evas wegen. Eva würde sich ärgern, Eva würde sehen, daß Manuela sich gar nichts aus ihr machte. Nur – man konnte das Mutti nicht erklären. Warum eigentlich konnte man es nicht? –
Sie bekam ein Körbchen in die Hand und durfte Mutti in die Markthalle begleiten. Wie konnte nur ein Markt aussehen, der in einer Halle war? Lela war als ganz kleines Kerlchen schon immer leidenschaftlich gern mit der Köchin zum Markt gegangen. Aber der Markt in Dünheim war eben etwas ganz Gewöhnliches gewesen. Dicke Bauernweiber saßen da, die eine schreckliche Mundart sprachen und für Obst, Kartoffeln und Blumen Bezeichnungen hatten, die man erst lernen mußte. Manche hatten weiter nichts als einen auf dem Pflaster ausgebreiteten Sack und darauf ein paar Rüben, Meerrettich und Salat. Um den alten Brunnen, in der Mitte, saßen die Blumenweiber. Zu denen war man ganz zuletzt gegangen, wenn man noch zwanzig Pfennig übrig hatte, und hatte für Mutti ein paar Vergißmeinnicht eingekauft. Aber hier, hier war alles ganz anders – auch der Markt.
Die Markthalle war zwar nicht eine Halle, wie Manuela sie sich vorgestellt hatte. Sie empfand eine kleine Enttäuschung, als sie vor dem großen Gebäude stand. Es sah mehr aus wie eine riesengroße Scheune. Darin ging's lebhaft zu. Schreien, Rufen, Gestikulieren. Lela betrat, ängstlich Muttis Hand fassend, den Raum. Sie konnte, da sie aus der Sonne kamen, erst nicht recht sehen. Erst allmählich gewöhnte sich ihr Auge an das Halbdunkel.
»Eh bien, Madame désire? Madame est déjà servie?« klang es von allen Seiten.
Lela blieb angewurzelt stehen. Sie hielt ihre Mutter fest bei der Hand. Als erlebe sie ein Wunder, das gegen alle Naturbegriffe trotzdem wahr schien, kam es von ihren Lippen: »Mutti, die Marktfrauen sprechen französisch!«
Frau von Meinhardis war schon an einen Stand getreten und betrachtete einen Riesenstapel Spargel.
»Mutti, woher können denn die Bauernfrauen Französisch?«
»Weil sie Französinnen sind, Dummchen.«
Jetzt war für Lela nichts mehr zu sagen. »Französinnen« waren doch anders. Und dann waren die hier so fein, so höflich – gar nicht wie Marktfrauen.
Sie hörte, wie ihre Mutter französisch handelte. Es ging um den Spargel. Da waren ganz große, ganz dicke, runde Pakete mit vielen, vielen Bunden Spargel. Sie hatten blau-lila-rosa Köpfchen. Andere, kleine Pakete, ganz dünne, wie für Puppen, waren grün, grasgrün und nicht sehr lang und hatten ausgewachsene Köpfchen. Dann war da normaler Spargel, wie sie ihn immer gesehen hatte, in Pfundpaketen mit rosa Maschen, und dann eine Reihe ganz blasser, ganz fetter, dicker mit schneeweißen, dicken Köpfen – das war der teuerste. Neben Lela erhob sich am Boden eine Pyramide aus Radieschen. Ein richtiger, kleiner Turm. Unten breit und oben spitz zulaufend, so hoch wie Lela selbst. Das Grüne war unsichtbar nach innen gekehrt, von außen sah man nur massenhaft zarte Schwänzchen an roten, kugelroten Köpfchen. Sie mußte lachen – es war zu hübsch. Fast tat es ihr leid um das Gebilde, als man ein paar nasse Büschel in ihren Korb legte.
Da sah sie etwas Neues: »Mutti, Gurken, jetzt schon Gurken.« »Ja, mein Kind. Aber die sind zu teuer für uns.«
Mutti hatte den billigsten Spargel gekauft. Den fetten weißen Champignons, die in einem sauberen Spankorb zu einem Berg aufgeschichtet lagen, gab Lela nur einen sehnsüchtigen Blick. Mutti mußte sie auch gesehen haben, aber wenn schon die Gurken zu teuer waren ... Langsam gingen die zwei weiter. Es gab da eine Menge Früchte und Gemüse, die Lela nie gesehen hatte. Dicke, lilablaue Auberginen, sonderbare Salate, die sie Chicoree nannten. All diese Sachen kaufte Mutti nicht, obwohl es doch sehr interessant gewesen wäre. Aber Lela sagte lieber nichts. Man mußte nicht unbescheiden sein und durfte nicht immer das Beste haben wollen. All das war für irgendwelche unbekannten anderen da. Denn jemand würde ja »das Beste« kaufen. Zum Beispiel die jungen Gänse, die da hingen, die Hähnchen zum Braten, die Tauben und Küken. Obwohl Lela ganz froh war, daß sie nichts Blutendes in ihren Korb tun mußte, konnte sie nicht umhin, ihnen einen Blick zu schenken.
Die großen Lachse und silbrigen Fische, die da zerschnitten glitschig und kalt auf nassen Tischen lagen, waren ihr zuwider. Aber gerade hier blieb Mutter stehen und kaufte einen Schellfisch. Lela versuchte wegzusehen, denn auch der kam aus einer Tonne, die übervoll an der Seite stand und den niedrigsten Preis trug. Glücklicherweise nahm Mutter das fleckige braune Papier selbst in Empfang.
Der Fischverkäufer war lange nicht so höflich wie die Gemüsefrauen. Rasch packte er das Gewünschte zusammen und warf es Mutti beinahe ins Gesicht. Er sagte auch nicht »Danke«, nicht einmal »Adieu«, als sie gingen. Lela wußte nicht, hatte es daran gelegen, daß Mutti nicht wußte, was Schellfisch auf französisch hieß, oder daran, daß sie eben nur Schellfisch gekauft hatte.
Auf dem Nachhauseweg, neben Mutti herschreitend, warf sie heimliche Blicke in die Schaufenster, um ihr Spiegelbild zusammen mit Muttis zu erhaschen. Sie war ja schon ein großes Mädel und ging Mutti schon fast bis zur Schulter. Aber sie wuchs ihre Kleider furchtbar schnell aus. Immerfort mußte Mutti den Kleidersaum auslassen und die Ärmel verlängern, weil ihr dünnes Handgelenk zum Vorschein kam. Und wieder fühlte sie den heißen kleinen Schmerz in der Brust. Eva. Heute hat sie sie nicht gesehen. Aber morgen. Morgen wird sie bestimmt Bertis Gruß ausrichten. Sie wird mit ihr sprechen. Warum auch nicht? Auch wenn andere dabei sind. Sie sieht Mutti von der Seite an. Was Mutti wohl sagen würde, wenn Lela sie jetzt fragte, ob sie morgen in die Schule ein anderes Kleid ... Aber Mutti hat andere Sorgen.
Sie ist vor einer Konditorei stehengeblieben, sich eines Besuches erinnernd, der morgen eintreffen soll. Ihre Schwester und ihr Schwager aus Berlin wollen sich Mühlberg ansehen. So war es wohl angebracht, hier noch etwas Teegebäck zu bestellen.
Monsieur Calignan war kein Preußenhasser. Als er Lelas Blick und offenes Mäulchen sehnsüchtig auf die hohen Gläser mit den vielfarbigen Bonbons gerichtet sah, stand er nicht an, ihr ein paar davon einzuwickeln und sie zu Salatkopf und Radieschen in ihren Korb zu legen. Lela sagte ihm ein scheues: »Merci bien.« Aber innerlich war sie erregt und neugierig, was nur in diesen komischen Eierchen sein könnte, die sie schon hundertmal im Schaufenster bewundert hatte. Kaum daheim, brachte sie ein weißes zwischen die Zähne. Es war furchtbar hart. Dann krachte es, und eine Mandel kam zum Vorschein. Ein wenig enttäuscht betrachtete sie die übrigen: mattlila, blaurosa, bräunlich. Komische Farben. Von außen ganz hübsch, aber recht hart, und innen nichts als eine ganz gewöhnliche Mandel. Langsam ließ sie eins nach dem anderen in eine offene Schublade fallen, es klang, als wären es Steine. Und wieder hatte sie versäumt, Mutti ein Wort wegen des Hängerkleides zu sagen.
»Also, kämm dir die Haare glatt – wie siehst du denn aus! Und zieh die neuen Schuhe an und eine frische Schürze um. Tante Luise sieht es sofort, wenn du nicht sauber bist. Mach schnell, sie können gleich dasein!«
Manuela lief in ihr Zimmer. Sie tauchte die Haarbürste leicht ins Wasser und fing an, ihren Kopf damit zu bearbeiten. Tante Luise Ehrenhardt war bei den Kindern nicht beliebt. »Sie meint es gut«, sagte Mutti zwar, aber wenn sie einen küßte, fand Berti, machte sie es so, daß man die Zähne spürte und Angst hatte, daß sie einen biß. »Sie hat selbst nie Kinder gehabt und versteht es deshalb nicht so gut«, meinte Mutti entschuldigend. – Aber der Onkel, das war etwas anderes. Onkel Ehrenhardt war lieb und lustig. Ein eisgrauer kleiner Herr mit einer etwas hellen Stimme, die er oft dämpfen mußte, um beruhigend auf Tante Luise zu wirken, die sich immer gleich über alles so aufregte. Dann nannte sie den Onkel beim Nachnamen: »Ehrenhardt, glaube mir, es war so.« Und General Ehrenhardt, der den Titel Exzellenz trug und viele Orden, sogar einen zum Halskragen heraus hatte, sagte immer ja. Es kostete ihn gar nichts – es war eine lebenslange Gewohnheit. Dabei lächelte er zwar ein wenig. Nur manchmal lächelte er nicht, und er sagte dann ganz heiter und endgültig, in der Hoffnung, es nun nie mehr sagen zu müssen: »Du hast eben immer recht.« Dabei haute er dann seine Zeitung auf den Tisch, und seine knochigen, kleinen Hände mit dem Siegelring und dem Wappen zitterten ein wenig. Aber Tante Luise war ganz ruhig. Sie hatte eine hohe Frisur, aus der sich nie ein Härchen löste. Wie aus Lack festgemauert zwei Rollen und angenagelt mit eisernen Haarnadeln. Ihr Gesicht war rosig, etwas rundlich, und eine obstinate kleine Nase machte es ihr sehr schwer, so würdig auszusehen, wie sie gern wollte. Der vom Korsett hochgeschnürte Busen und das Doppelkinn über dem hochgeschlossenen Kleiderkragen halfen allerdings, diesen Defekt wiedergutzumachen. Sie war eigentlich nicht groß, aber sie schien groß zu sein. Es lag an ihrer Haltung. Und an der Haltung des alten Generals, klein zu scheinen, obwohl er gar nicht so klein war.
Und nun waren sie also wieder einmal da, Onkel Ehrenhardt und Tante Luise, und hatten natürlich versäumt, den Kindern etwas mitzubringen.
»Herrje, jetzt haben wir aber was vergessen!« sagte der Onkel beim Mittagessen. »Aber Luise, eigentlich ist das doch immer deine Sache!«
Berti und Lela wagten sich nicht anzusehen, sondern starrten mit leise zuckenden Mundwinkeln auf ihre Teller nieder, wie es sich für ordentliche Kinder gebührt. Natürlich war das Geschenkekaufen Tante Luises Sache. Aber was dabei herauskam, das kannte man zur Genüge. Meist waren Onkel und Tante sonst zum Weihnachtsabend erschienen, wo gleichzeitig Lelas Geburtstag gefeiert wurde. Tante Irene, Mutters andere Schwester, die selber viele Kinder und wenig Zeit hatte, sandte jedes Jahr zwei Päckchen in buntem Papier mit goldenen Bändchen und einem Tannenzweig darauf und zwei Kärtchen, auf denen zu lesen stand: »Für Manuela zum Geburtstag« und »Für Manuela zu Weihnachten«. Tante Luise indessen brachte stets nur ein einziges kleines Geschenk mit und sagte dazu: »Das ist nun für beides, mein Kind, für Geburtstag und Weihnachten ...«
Diesmal nun waren sie im heißen Sommer gekommen, und es wurde beschlossen, daß Papa einen Wagen vom Regiment bestellen sollte, um alle zusammen, die Kinder mit, auf die Schlachtfelder zu fahren. Lela und Berti warfen sich verzweifelte Blicke zu. Die Schlachtfelder kannten sie schon in- und auswendig, aber was half es, wenn Besuch da war, ging es unweigerlich dort hinaus. Geduldig saßen sie bald darauf auf dem schmalen Rücksitz, Onkel und Tante Ehrenhardt vor sich, Papa vorne neben dem Soldaten, der die Zügel hielt. Es war ein leichter Jagdwagen, und er ratterte furchtbar durch die Straßen. Mutti war zu Hause geblieben; Kopfschmerzen vorschützend, entzog sie sich dieser Landpartie. Tante Ehrenhardt blickte um sich, wie ein Fremder, der eine Stadt besichtigt, sich umsieht.
»Ich finde, es sieht hier doch noch recht französisch aus, gar nicht wie in einer deutschen Stadt.«
»Na ja, Kindchen, es ist doch auch noch nicht so lange her, fünfundzwanzig Jahre – was ist das schon! Da kannst du nicht mehr verlangen. Das kommt schon mit der Zeit«, meinte Onkel Ehrenhardt.
»Man sollte aber doch so etwas nicht dulden, all die französischen Aufschriften, zu scheußlich! So was heißt Metzger und nicht Charcutier. Wenn ich hier was zu sagen hätte, dann müßten diese Schilder alle weg und lauter deutsche hin!«
Die Tante wurde ganz aufgeregt, als sie daran dachte, was sie alles täte, wenn sie etwas zu sagen hätte.
Jetzt fuhr man durch eine Vorstadt, die schon etwas Dorfmäßiges hatte. In blauen Jacken und Holzpantinen standen, Pfeife rauchend, die Männer vor den niedrigen Häusern. Scheu rannten die Pferde in raschem Tempo an ihnen vorüber.
Meinhardis trug zwar Zivil, aber der Soldat auf dem Bock schien sich nicht ganz wohl zu fühlen. Er saß kerzengerade und sah nicht links und nicht rechts.
Wenn man Pfeife raucht, muß man wohl sehr viel spucken, dachte Lela, bis sie plötzlich bemerkte, daß das Spucken all dieser Männer Absicht war. Ein alter Mann erhob hinter dem vorbeirasenden Wagen die Faust, spie aus und rief wütend, fanatisch, alles übertönend: »A bas les Prussiens.« Berti hatte nach vorn gesehen, und die anderen kehrten alle dem Alten den Rücken. Nur in Lelas erschrockene Augen hatte er blicken können, und da hatte er sich verankert, wild, eindringlich und drohend. Lela erschrak zum Übelwerden. Sie hielt sich fest an der kleinen Eisenstange bei ihrem Sitz. Nur nicht herausfallen, dachte sie. Die zerreißen mich. Nur schnell weiter, weiter und weg!
»Ich finde, Manuela sieht recht blaß aus«, äußerte Tante Luise. »Fehlt dir was, mein Kind?«
»Ach wo!« Meinhardis hatte vom Bock her die Frage gehört. »Sie steht immer so aus. Das hat sie von mir. Ein blasser Teint für solch kleines Mädchen, das ist sehr interessant.«
»Mir sind rote Backen bei Kindern lieber«, meinte Tante Ehrenhardt diktatorisch.
Manuela fühlte sich gedrückt. Ja, sie hätte auch lieber rote Backen gehabt und blonde Haare, wie Eva. Es war gar kein Wunder, daß Eva sie nicht leiden mochte. Heute war nun Sonntag, und gestern hatte sie Eva überhaupt nicht gesehen. Aber morgen – morgen würde sie es ihr endlich zeigen, daß sie sie auch nicht mochte. Sie war nun endgültig entschlossen, sich überhaupt nicht mehr um sie zu kümmern. Sie würde einfach vergessen, ihr guten Tag zu sagen, und Berti konnte sehen, wer ihr seine Grüße bestellte.
Da hielt der Wagen. »Le cheval blanc« – ein dickes, galoppierendes weißes Pferd auf schwarzem Schild hing über der Türe. Man kletterte vom Wagen. Die Pferde sollten hier rasten, und zum Mittagessen würde man zurückkehren. Mutig machte sich die kleine Gesellschaft auf den staubigen, sonnenbeschienenen Weg. Tante Luise spannte ihren Sonnenschirm auf. Die beiden Herren blieben stehen, um sich zu orientieren. Mit weit ausgestrecktem Arm wies Meinhardis auf die Hügellandschaft gegenüber. Dort hatte damals die Armee des Kronprinzen gestanden. Ehrenhardt wußte Bescheid. Er hatte auch »alles mitgemacht«. Den Sturm und den Abend nach dem Sieg.
»Tja, da ist mir doch was Dolles passiert, damals, den Abend, weißt du ...«
Als Papa anfing, diese Sache zu erzählen, gingen Berti und Lela leise davon. Papas Kriegsgeschichten hörten sie nur an, wenn Mutters strenger Blick sie dazu zwang. Sie wußten ja, was nun kam. Aber Tante Luise war ganz Ohr.
»Ach, erzähl! Das ist doch so interessant, hier, an geweihter Stätte.«
»Na, so was Besonderes ist es ja eigentlich wieder nicht. Wir lagen den ganzen Tag da in Reserve und waren schon ganz wütend, wir Husaren, daß wir gar nicht drankamen. Das Gefecht ging schon seit frühmorgens. Und wir saßen da in einer Scheune und hatten nichts zu tun, als unsere Pfeife zu rauchen. Es war schon beinahe dunkel, da kam auf einmal das Signal und ›Aufsitzen!‹. In einer Sekunde waren wir oben auf den Gäulen, na, und ich steckte bald meine Pfeife in die Brusttasche. Jedenfalls ging's los, und wir in ›pleine carrière‹ drauf auf den Feind. Na, das war dann ein schönes Handgemenge. Die verfluchten Turkos, weißt du«, er blickte zu Ehrenhardt, der mit Verständnis nickte, »die hieben immer mit ihren krummen Säbeln nach den Handgelenken. Aber ich hatte um beide seidene Taschentücher gewickelt, die hatte mir zu dem Zweck meine Mutter geschickt. Na, was soll ich euch sagen, es ging doll zu. Ein scheußliches Gemetzel, aber meine Kerls waren großartig, brüllten wie die Löwen, und wir hauten uns durch.
Auf einmal war kein Feind mehr da. Wie weggeblasen die Kerls! – Na, wir hatten auch genug. Wir machten uns ein Lager in einem Hof in der Nähe, und wie ich mich hinsetzte, fühle ich einen furchtbaren Schmerz in der Brust. Ich kriege einen dollen Schreck und sage zu den anderen: Meine Herren, ich bin verwundet. Sie reißen mir die Attila auf, und da kommt eine Riesenwolke heraus, und mein Hemd und ich sind einfach gebraten. Na, was war passiert: Die Pfeife hatt' ich brennend eingesteckt, und beim Reiten war der glimmende Tabak 'rausgefallen und hatte mich geröstet. Wie ein Beefsteak sah meine Brust aus. Na, die haben alle gelacht!«
Tante Luise quietschte vor Vergnügen, und Onkel Ehrenhardt klopfte Meinhardis auf die Schulter. »Bist ein ganz doller Kerl, mein lieber Schwager.«
»Und nun will ich euch mal zeigen, wo das war, und wie die Schlacht verlief. Also hier, auf der Seite stand die Artillerie ...«, und Meinhardis zeigte nach Osten.
Lela und Berti waren zusammen weitergeschlendert. Sie standen vor einem umgitterten Grab. Mitten auf kahlem, unbebautem Feld. Das Grab hatte ein Eisengitter ringsherum und ein Kreuz und zwei Lebensbäume rechts und links. Das Kreuz und das ganze Grab waren bedeckt mit Kränzen aus Perlen. Perlen in allen Farben, und ein Kranz trug in der Mitte auf einem Emailleschild eine Fotografie. Ein Mann mit Knebelbart und schwarzem Gehrock.
»Ach, komm, Lela, das ist ein französisches Grab«, sagte Berti und zog sie weg. Man rief auch schon nach ihnen: »Berti, Lela, kommt!«
Eine weite Ebene tat sich vor ihnen auf. Hier und da stand mitten auf einem Feld oder einer dürren Wiese ein Denkmal. Ihr nächstes Ziel war ein soeben eingeweihtes Jägerdenkmal. – Ganz von weitem sah es so aus wie ein Tintenfaß, dachte Lela. Ein riesiger Steinsockel auf Stufen. Schneeweiß schien er in der Sonne. Breit, behäbig. Nach oben verjüngt, trug er die mächtige, überlebensgroße Figur eines Soldaten in der Uniform der Jäger. Die Gestalt schien vorwärts zu schreiten und hielt den Arm weit hinausdeutend auf einen Hügel. Die ganze Figur schien aus purem Gold zu sein. Die Sonnenstrahlen zerbrachen daran in tausend Splitter. Es blendete so sehr, daß man die Augen schließen mußte, so daß man nur noch durch die Wimpern sah, nur so war es ertragbar.
Als Lela und Berti ankamen, waren die Erwachsenen damit beschäftigt, die Namen der Gefallenen und die Daten zu lesen. Sie hatten die meisten gekannt. »Ach, der Lassow, ein netter Kerl – schade um ihn! Er konnte so schön Ulk machen. Und Grüne – der, weißt du noch, das war der mit dem Mädel, die ihm nachreiste, der Hübsche, Blonde – jaja.«
Dann gingen sie weiter. Das Land war kaum bebaut. Es war voll Unkraut: Disteln und Nesseln, Hirtentäschchen und Löwenzahn, blasser, kleiner Mohn wucherten in Fülle. Viel Steine und Staub. Kein Baum, kein Strauch, Öde. Als könne sich das Land, von Erinnerung und Denkmälern beschwert, auf seine eigentliche Bestimmung nicht besinnen – so lag es da in Bruthitze und Trockenheit. Weiter drüben breitete ein wütend heroisch blickender Adler seine Riesenflügel aus Bronze über das tote Land. Dort wies ein Engel einem sterbenden Soldaten den Weg zum Himmel, fallend noch klammerte er sich an eine Kanone, die auch zerbrechend wankte. Einzelne Gräber machten dunkle Punkte in dem sonstigen Einerlei. Staubig, die Füße schleppend, stumm und müde zog der kleine Trupp dem Gasthaus »Le cheval blanc« wieder zu.
»Le vin gris« ist eine besondere Sache. Das ist ein ganz hellroter Wein. Er sieht aus wie Rotwein und Wasser. Viel Wasser und wenig Rotwein. Aber wer ihn leichtsinnig trinkt, merkt bald, daß der Wassergehalt nur gering sein kann. Unter Umständen kommt man erst zu dieser Überzeugung, wenn man aufstehen will. Da macht man die sonderbare Entdeckung, daß irgend etwas mit den Beinen nicht in Ordnung ist. Man hat schwere Gummistiefel an bis zum Knie, oder man watet überhaupt im Wasser oder hat Blei unter den Füßen, oder die Knie sind aus Watte. Aber das ist alles »le petit vin gris«. Er nennt sich ein kleiner Wein. Aber Onkel Ehrenhardt merkte es sofort: »Er hat es in sich.« Auch Tante Luise hatte rote Bäckchen und lachte über alles, was Papa sagte, wie eine Turteltaube. Nein, es war aber auch zu köstlich, diese Sache mit den Franzosen, die im Graben lagen, und Meinhardis ritt einfach über sie weg und brüllte sie auf französisch an, sie sollten sich wegscheren, und sie fielen drauf 'rein und dachten, er wäre ein »Guide de Napoléon«, weil die Husarenuniform so ähnlich war. Zu dumme Kerle.
»Na ja, sie haben dann noch so 'n bißchen hinter uns hergeschossen, meinen paar Leuten und mir. Aber getroffen haben sie nichts – wir ritten ja wie die Teufel«, endete Meinhardis die Geschichte.
Es war ein Grund, sich daraufhin zuzuprosten. Die kleinen Wassergläser mit dem hell schillernden Wein wurden erhoben, die Gläser klirrten, ohne viel Ton zu geben, aneinander und wurden wieder zum Munde gehoben. Onkel Ehrenhardt wischte sich umständlich seinen weißen Seehundsschnurrbart, legte dann wieder seine Arme bequem auf den Tisch. Seine Stirn war fast weiß, während die untere Hälfte seines Gesichts wetterbraun war, ganz fein durchwachsen von winzigen blauen Äderchen. Jetzt war seine wohlgeformte Nase etwas rötlich und seine Augen feucht.
»Erzähl uns noch was, lieber Schwager. Ich hab' ja auch so allerhand erlebt, aber ich krieg' das nicht so 'raus. Nee, reden, das ist nie meine Sache gewesen, das hab' ich mein Lebtag anderen überlassen. Hauptsächlich meiner lieben Luise.« – Mit einem koketten Blick hinüber zur Tante, die ein wenig verlegen war, ihm aber heute nichts übelnehmen konnte. Denn heute war nun mal ein Tag zum Vergnügen. Man reiste, man war bei Verwandten, man hatte einen Ausflug gemacht und Sehenswürdigkeiten gesehen, das alles zählte bei Tante Luise unter Vergnügen. Ja, man haute über die Schnur und trank am hellichten Tage Rotwein.
»Also, schieß los!« meinte sie gut gelaunt.
Meinhardis brauchte man gar nicht allzusehr zu bitten. »Na, wenn ihr durchaus wollt, dann erzähl' ich euch was von nach dem Krieg. Ich war damals bei der Okkupationsarmee in Frankreich geblieben.« Zu den Kindern: »Die Franzosen mußten noch was blechen nach dem Friedensschluß, und bis das erledigt war, blieben eben ein paar Truppen drüben im Land. Na, das war auch ganz schön.«
In der Erinnerung paffte er dicke Rauchwolken vor sich hin, daß man ihn einen Moment gar nicht sehen konnte, dann strich er vorsichtig die Asche in eine Schale und fuhr fort: »Wir kriegten nämlich doppelte Bezahlung damals, und wir veranstalteten so allerhand Vergnügungen, Pferderennen, Jagden und so was. Zu tun hatten wir ja nichts. Eines Tages also kommt da ein Mädchen zu mir, Laurence hieß sie. – Laurence!« wiederholte er träumerisch und lächelte vor sich hin. »Also: Laurence. Blonde Haare hatte sie und hellgraue Augen. Sie weinte furchtbar, ach, schrecklich! Zuerst konnte ich kein Wort aus ihr herauskriegen, aber dann kam's, was los war. Ihr Bräutigam war gefangengenommen und war in Berlin. Rührend war sie in ihrem schwarzen Kleid mit einer goldenen Kette und einem Medaillon dran, darin war seine Fotografie. Gräßlich sah der Kerl aus, sage ich euch. Na, ich tröstete sie so gut ich konnte, das arme Mädchen. Ich setzte mich auch gleich hin und schrieb an den Oberstkommandierenden, dessen Bruder den Oberbefehl über das Gefangenenwesen hatte. Ich kannte ihn von der Reitschule her, da hatten wir tolle Streiche zusammen gemacht. Na, im Grunde glaubte ich ja gar nicht, daß die Sache gelingen würde. Laurence aber mußte doch nun jeden Tag fragen kommen, ob ich etwas Neues wüßte und so. Na, geweint hat sie dann nicht mehr. Aber eines Tages kam der Bräutigam tatsächlich angereist. Ja, und ihr könnt es mir glauben oder nicht, sie wollte ihn gar nicht mehr haben.«
Vergebens suchte Meinhardis, sein befriedigtes Schmunzeln zu verbergen. Berti und Lela hatten gespannt zugehört. Diese Geschichte hatten sie noch gar nicht gekannt. Tante Luise warf auch schuldbewußt einen Blick nach den Kindern hin, die mit erhitzten Wangen und glänzenden Augen dasaßen. Berti tat, als hätte er nichts verstanden, und Lela sprang auf, seltsam erregt, umarmte ihren Vater und küßte ihn freiwillig, ganz gegen ihre Gewohnheit, mitten auf seinen Schnurrbartmund.
Erfreut griff der Vater nach ihren Händen. »Na, hat dir das so gefallen? Die Geschichte von der schönen Laurence?« fragte er stolz.
Lela nickte nur und strahlte ihn an.
»Eigentlich ist das keine Geschichte für kleine Mädchen«, sagte Tante Luise halb strafend.
Aber der Onkel meinte: »Ach was – das ist doch schon eine kleine Frau, unsere Manuela, was?«
Auch er hatte sie zu sich gezogen und drückte sie einen Augenblick an sich.
Lela hatte Wort gehalten. Sie hatte wirklich Eva in der großen Pause einfach »nicht gesehen«. Amélie hatte ihr dabei geholfen. Beide hatten sie sich in eine entfernte Ecke zurückgezogen, und Lela hatte den vorüberspazierenden Mädchen ostentativ den Rücken zugewendet. Aber plötzlich fühlte sie sich am Zopf gezogen, so sehr, daß sie den Kopf ganz nach hinten beugen mußte. Selig fühlte sie eine bekannte Hand ihre Schulter halten, und irgendein Duft der Haare ließ sie fühlen, wer es war. Nichtsdestoweniger schrie sie und wehrte sich, was durch ein lustiges Lachen hoch über ihr beantwortet wurde. Loslassend sagte Eva: »So geht es Leuten, die nicht guten Tag sagen können, Kröte.« Aber sie blieb stehen und weidete sich an der lächerlichen Verlegenheit Lelas.
»So, also du schwärmst nicht für mich, nicht wahr?«
»Nein«, antwortete Lela standhaft.
»Und warum wartest du dann auf mich? Und trägst meine Bücher, wenn ich fragen darf?«
»Ach, das – ich sollte dir doch bloß was von meinem Bruder ausrichten.«
Nun war Eva doch verdutzt »Wie heißt denn dein Bruder?« fragte sie rasch.
Manuela senkte den Kopf.
»Berti«, sagte sie leise.
Eva schob ihre Kameradinnen und Amélie zur Seite und nahm Lela am Arm, ein Ende weit weg, um mit ihr allein zu sein.
»So, nun wirst du mir Rede stehen«, sagte sie geradezu streng.
»Nein«, erklärte Lela, seltsam ergrimmt über das neu erwachte Interesse, das nicht mehr ihr galt.
Der Griff, mit dem Eva sie gepackt hielt, wurde fester: »Du wirst, verstehst du? Also los, was hat er gesagt?«
Lela log: »Gar nichts.«
»Das ist nicht wahr. Raus mit der Sprache. Es war wohl was ganz Schlimmes?«
Lela erschrak: »Nein, ach wo ...«
»Na also, wird's bald?«
Lela schmerzte der Arm nun ernsthaft.
»Laß los!« preßte sie hervor.
»Nur, wenn du mir versprichst, daß du es mir genau sagst ...« Lela versprach unter Evas Blick. Ihr frisch gewaschenes Kleid war ganz zerdrückt an der Stelle, wo Eva sie gepackt hatte. Im Grunde war sie froh, dieses Andenken mit nach Hause nehmen zu dürfen. Sie wollte die Unterhaltung möglichst hinziehen. So in dieser Ecke eng und alleine mit Eva zu stehen, das war Seligkeit und sollte nie aufhören.
Aber da läutete die Glocke, und die Pause war zu Ende.
Schnell sprach Eva auf sie ein:
»Hör mal, kommt ihr denn niemals in den Pulvergarten? Ich bin heute nachmittag da. Am Rundlauf könnt ihr mich treffen. Dann kann mir ja dein Bruder selber sagen, was er will, und ich werde ihm nicht erst den Arm abdrücken müssen wie dir.«
Es war höchste Zeit, der Hof schon fast leer. Eva war fort. Der Pulvergarten war eine Anlage jenseits des Flusses, die auf seiner Seite die Stadt begrenzte. Irgendwo waren dort Pulvermagazine, und da man deshalb in der Gegend nicht bauen konnte, hatte es sich von selbst ergeben, daß Anlagen entstanden waren. Lela liebte diesen Garten nicht sehr. In jedem kleinen Gebäude vermutete sie Explosionsstoff. Überall standen Tafeln mit roter Schrift auf weißem Blech mit der Warnung: Nicht rauchen! Eine Militärkapelle spielte. Es war ein Restaurant da, wo man Kaffee trinken konnte, und viele Spielplätze für Kinder und Erwachsene. Lela war mit ihrer Mutter schon öfters dort gewesen, aber daß Berti, ihr großer Bruder, sich herabließ, mit seiner Schwester zusammen in den Pulvergarten zu gehen, setzte alle in Staunen. Eigentlich wäre er ja lieber allein gegangen, aber anstandshalber war das nun dies eine Mal doch nicht gegangen, und Lela würde dort schon Freundinnen finden, so hoffte er.
Sie saßen beide auf einer schmalen Holzbank, ohne ein Wort zu reden. Vor ihnen war der Rundlauf. Eine Art Baum, von dessen oberem Ende an einer leicht drehbaren Scheibe vier Strickleitern herabhingen. Man konnte sich mit den Händen an den Leitern halten und auf ein gegebenes Zeichen gradaus laufen, und schon flog man in die Luft. Es war ein angenehmes Gefühl, so zu fliegen und die Beine hoch über die Köpfe der Zuschauer zu schwingen.
Lela und Berti verfolgten mit den Blicken ein rotes Kleid, fliegende Haare und ein freches Lachen, das ihnen ins Gesicht sprang, sooft das rote Bündel an ihnen vorüberflog. Lela hielt die rote Mütze auf ihrem Schoß. Der Rundlauf hatte noch drei solcher Strickleitern, aber die waren von anderen Kindern besetzt. Lela hatte große Lust mitzutun, und als jetzt Eva innehielt und ihr zurief: »Willst du jetzt mal«, legte sie blitzschnell Evas Mütze auf die Bank und lief hin.
Eva reichte ihr das Gerät: »Aber gib's nicht weiter, sonst kommen wir überhaupt nicht mehr dran.«
Lela war voller Eifer. Sie war geehrt, daß Eva so nett war – Eva hätte ja die Leiter auch fahrenlassen können, ohne sich darum zu kümmern, ob Lela auch einmal rundlaufen wollte. Mit einem dankbaren Aufleuchten in den Augen übernahm sie das Seil. Schon lief sie los und schon flog sie hoch, viel höher als die anderen Kinder. Kühn werdend, steckte sie das linke Bein durch die unterste Sprosse der Strickleiter und hielt sich nur mit der Linken, während die Rechte frei in der Luft Berti und Eva zuwinkte – aber die waren nicht mehr da.
Enttäuscht hielt Lela an. Die Bank war leer. Natürlich konnte sie jetzt nicht gehen und die beiden suchen, denn sie hatte ja Eva versprochen, den Rundlauf für sie besetzt zu halten. So blieb Lela beim Turnen. Aber die Freude war ihr völlig vergangen. Sie lief, nur um den anderen Kindern nicht im Wege zu sein, ließ sich fliegen und war wieder auf dem Boden. Die Innenflächen ihrer Hände fingen an, sie zu schmerzen. Man bekam leicht Schwielen an der Hand. Die Seile waren hart, und beim festen Zupacken schob sich die Haut zusammen und wurde gequetscht. Der Platz begann sich zu leeren. Es war kühl geworden. Die anderen Kinder gingen eins nach dem anderen nach Hause.
Lela ließ den Rundlauf fahren und setzte sich auf die Bank, wo Eva und Berti gesessen hatten. Sie mußten ja zurückkommen. Berti konnte ja nicht ohne sie nach Hause gehen. So wartete sie. Die Musik hatte aufgehört. Jetzt konnte man das Plätschern vom Fluß her hören. Eine Fledermaus schwirrte an Lela vorbei. Sie hatte keine Angst davor. Sie hatte Fledermäuse gern. Aber sie stand nun doch auf, denn es fröstelte sie. Aufs Geratewohl ging sie einen Weg entlang und rief zaghaft: »Berti! Eva!« Aber es kam keine Antwort.
Der Weg, den sie eingeschlagen hatte, lief eng zwischen hohen Gebüschen hin. Jetzt trat sie hinaus auf eine Böschung. Unten lief schnell und lautlos in kleinen Stromschnellen der Fluß vorüber. Im Röhricht quakte eine schläfrige Ente. Fern am Horizont ging die Sonne unter. Der Himmel war gelb und die Wiese am anderen Ufer unnatürlich grün wie das künstliche Gras, auf dem die Holzschäfchen bei den Weihnachtskrippen stehen.
Lela war noch nie so spät so allein gewesen. Es schauerte sie, und plötzlich, von unheimlicher Angst getrieben, rannte sie davon. Sie rannte mit offenem Mund, als wollte sie schreien, aber es kam kein Ton. Ihr Mund wurde trocken. Die Tränen trockneten auf ihren Wangen. Erst im Laufen packte sie die wahre Angst. Alles schien gespenstisch. Die Häuser mit Pulver, die Bäume, das Gitter, das alles umschloß. Die hohe Brücke über dem Fluß und die Festungsmauern. In der Stadt zündete man die Laternen an. Sie gaben gelbes Licht vor grünlichem Himmel. Viele Menschen hinderten sie am Laufen. Ihre Knie schmerzten, sie taumelte schon.
Frau Käte hatte noch kein Licht angezündet. Sie liebte diese Dämmerstunde. Ihre rastlose Tätigkeit des Tages machte bei Einbruch der Dämmerung halt. Da sank sie in einen tiefen, bequemen Stuhl und ruhte aus. Das Haus war leer. Meinhardis und Ehrenhardt waren zu einem Abendschoppen gegangen, und Luise machte Einkäufe. Die Kinder müßten ja bald da sein. Da hörte sie Lelas Schritt. Zwei Stufen auf einmal. Sie riß an der Klingel, die laut gellte, sie stürmte herein und warf sich der Mutter an den Hals. Zu sehr außer Atem, um zu sprechen, konnte sie auf Fragen nur mit dem Kopf nicken.
»Hast du Berti verlassen?«
Manuela nickte.
»Bist du allein nach Hause gelaufen?«
Dann fragte Frau Käte nichts mehr. Unbestimmt mußte sie fühlen, daß es nicht allein die Angst vor der Dunkelheit war, die ihr das Kind so erregt in die Arme warf. Beruhigend fuhr die Hand über Lelas Kopf, die das Gesicht an ihrer Brust vergrub, als müßte sie sich schämen. Noch immer flog Lelas Atem.
»Ruhig, Kindchen, ruhig!«
Die geliebte Stimme war so sanft und tat Lela wohl. Fester drängte sie sich an die Mutter. Schutz suchend vor ihrem eigenen Schmerz. Sie durfte nicht daran denken, was sie doch denken mußte: Eva und Berti – Berti und Eva. Irgendwo im Dunkeln im Garten beide und sie, sie – allein. »Ach Mutti, Mutti!« Endlich löste es sich, und Lela schluchzte auf wie ein ganz kleines Kind. Und die Mutter – als wisse sie alles, und vielleicht wissen Mütter alles – streichelte ihr Kind und sagte ihm leise ein Geheimnis ins Ohr.
»Laß gut sein, mein Geliebtes, ich bin da, und ich bin immer bei dir, und ich bleibe bei dir!«
Dann wurde es still im dunklen Zimmer. Der Straßenlärm drang nur undeutlich dort hinüber.
Die Schultasche ist schwer. Die Straße ist so lang. Manuela wäre so gerne nicht in die Schule gegangen. Aber vielleicht war das alles gestern ein Zufall. Vielleicht hatten die beiden sich wirklich verirrt, wie Berti dann abends gesagt hatte. Vielleicht hatten sie Lela wirklich gesucht. Sie hätte doch noch warten sollen. Aber wenn sie ehrlich war, fühlte sie doch, daß man sie ganz mit Absicht versetzt hatte, vielleicht heimlich darüber gelacht, daß sie dort immerfort turnte, damit Eva der Rundlauf zur Verfügung stand, von dem sie ja gar nichts wissen wollte. Vielleicht erzählte Eva die Geschichte den anderen Mädels auch. Das war leicht möglich. Und alle würden sie auslachen. Lela wünschte nur eines: Hier versinken, mitten im Straßenpflaster und nicht, nur nicht zur Schule müssen. Vor allem fürchtete sie sich vor dem frechen Aufleuchten in Evas Augen. Vor dem Spottlachen, das ihr so natürlich war. Aber Eva hielt sich versteckt. Nur beim Nachhausegehen sah Lela von weitem einen Augenblick ihr rotes Kleid um die Ecke verschwinden und fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust. –
Tante Luise und Onkel Ehrenhardt reisten ab und nahmen die aufgeregte Feststimmung, die Besuche stets mit sich bringen, wieder mit sich fort. Papa kam immer finster nach Hause. Die meisten Mahlzeiten verliefen stumm. Manchmal sprachen die Eltern englisch zusammen, damit die Kinder es nicht verstehen sollten. Papa hatte sehr viel Dienst. Auch abends war er selten zu Hause, und selbst dann hatte er an seinem Schreibtisch zu tun, und alles mußte sich ruhig verhalten. Mutter ging viel in die Kirche.
Eines Tages kam Berti von der Schule nicht nach Hause. Man wartete mit dem Mittagessen, er kam nicht. Als man in der Schule Nachfrage hielt, hieß es, er sei wegen Kopfschmerzen um zehn Uhr morgens nach Hause geschickt worden. Die Unruhe im Hause stieg. Lela rannte zu allen möglichen Leuten, wo Bert Freunde hatte. Nirgends war er gesehen worden.
Als sie wieder heimkam, lag Berti im Bett, im dunklen Zimmer. Mutter war bei ihm. Lela solle leise gehen, sagte man ihr. Berti war im Schulhof gefallen und hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Man hatte ihn nach Hause geschickt, aber Berti hatte den Weg nicht gefunden. Er war zur Kirche gegangen, wo sonst Konfirmandenunterricht war – und der Küster hatte ihn nach Hause begleitet.
Berti soll eine Gehirnerschütterung haben. Er phantasiert, sagt Sofie. Berti liegt in Mutters Bett. Mutter ist bei ihm. Lela darf nicht hinein. Papa kommt einen Augenblick nach Hause und geht wieder. Mutter bleibt bei Berti. Ein Sofa wird hineingetragen, da wird sie schlafen. Mutter kommt auch nicht zum Abendessen heraus. Lela sitzt ganz allein an dem großen Eßtisch. Die weichen Eier im Becher werden kalt. Mechanisch kaut sie ein Schinkenbrot.
Das Zimmer ist groß und hoch. Die Lampe auf dem Tisch gibt wenig Licht. Gedankenlos rutscht sie von ihrem Stuhl herunter und tritt vor die Tür. Sechs Stufen führen in den Hof. An der Treppe rankt Weinlaub. Lela setzt sich nieder auf die Stufen. Sie hat das Gefühl, als sei alles gar nicht ganz wirklich. Die trockenen Wipfel der Akazien im Hof schütteln sich und werfen kleine winzige Blättchen herab.
Monsieur Girod fegt den Hof. Mit seinen braunen, von Knoten bedeckten Greisenhänden legt er das Weinlaub auseinander, das Lela von ihm trennt. Heiser flüstert er ihr zu: »Est-ce qu'il a mal, le petit?«
Lela erschrickt. Aber doch froh, daß jemand zu ihr spricht, antwortet sie ihm freundlich auf französisch: »Ja, ich glaube, er ist sehr krank.«
Und Monsieur Girod entfernt sich langsam, vor sich hin murmelnd:
»Ah, quelle misère, pauvre Madame, quelle misère!« –
Die Tage schlichen grau und zäh dahin. Eva hatte keinen Blick für Lela. Es kam nicht einmal zu einem Gruß zwischen ihnen beiden. Keine Nachfrage nach Berti erfolgte, kein Gruß war an ihn auszurichten. Lela lungerte im Haus herum. In der Küche, im Stall, im Hof. Papa war immer schlechter Laune. Manchmal schrie er laut mit dem Stallburschen. Ja, einmal sogar mit Mutter. Berti ging es nur langsam besser. Hie und da durfte Lela zu ihm hineingehen. Aber Berti war so empfindlich. Licht tat ihm weh, und Lärm konnte er nicht leiden. Mutti wich nicht von seinem Bett. Sie hatte eine weiße Schürze an. Über dem Bett hing ein schwarzes Kruzifix mit einem weißen Heiland darauf.
Mutti wird mit Berti verreisen. Großmama wird kommen. Frau Käte bespricht die Sache mit Lela, als wäre sie eine Erwachsene.
»Berti muß aufs Land. Er muß sich erholen.«
»Weit weg?«
»Nein, gar nicht. Du kannst uns mal besuchen kommen mit Papa oder Großmama. Es ist sehr lieb von Großmama, daß sie herkommt. Die weite Reise ...«
Manuela nickt zu allem ein stummes »Ja«
Eine furchtbare, schwere Angst legt sich ihr auf die Brust. Mutter will wegreisen, und sie soll zurückbleiben. Man läßt sie allein.
Großmama stand in dem Ruf, sehr, sehr gut zu sein. Lela würde ihr das auch nicht abstreiten. Sie war gut. Großmama schenkte jedem ihrer Enkelkinder zum Geburtstag und zu Weihnachten ein richtiges Goldstück. Zehn Mark. Sie pflegte diese Goldstücke mit einer alten Zahnbürste, warmem Wasser und Seife erst zu putzen und dann in ein weißes Seidenpapier zu wickeln. Es sollte glänzen. Und so glänzte es auch auf jedem weißgedeckten Geburtstagstisch im Schein der Lichter.
Großmama trug eine weiße Tüllhaube, die ihr Gesicht mit einer dicht plissierten Rüsche umgab. Unter dem Kinn fügten sich zwei schneeweiße, wohl gestärkte, breite Batistbänder zu einer großen Schleife. Großmama sah immer jung aus. Sie hatte eine lichte Haut, einen kleinen Mund, ein rundliches Gesicht und helle graublaue Augen. Großmutter hatte Muttis Bett und Zimmer bezogen. Es roch dort nun nicht mehr nach Lavendel und Creme Simon. Mutters Kleider waren aus dem Schrank genommen, und der Schritt, den Lela nebenan auf dem alten Parkett hörte, war nicht klappernd wie das Geräusch, das Mutti mit ihren Hausschuhen hervorbrachte, sondern ein reibendes Schlurfen. Langsam ging das von Tür zu Fenster, von Fenster zu Bett. Ununterbrochen mit Seufzen.
Großmutti hatte immer Geld und war immer bereit, Lela in die Confiserie laufen zu lassen, um die wundervollsten Törtchen zu kaufen. Großmutti bestellte einen großen Kalbsbraten, weil Papa ihn gerne aß. Großmutti war lustig. Papa war auch etwas besserer Stimmung, weil er Großmutti aufziehen konnte. Sie war eigentlich immer über ihn entsetzt. Über die schmutzigen Stiefel, mit denen er in den Salon kam, über die angerauchten Zigarren, die überall umherlagen, über die Tatsache, daß er Salz in die Suppe tat, ehe er sie gekostet hatte.
In Pöchlin war Großmutter an eine große Wirtschaft gewöhnt gewesen, mit Riesenvorräten. So kam ihr diese kleine, sparsame Stadtwirtschaft recht engherzig vor. Sie tat, was sie konnte, Papa und Lela zufriedenzustellen. Aber Lela freute sich nicht so, wie das von ihr erwartet wurde. Lela war still. Vergebens schenkte Großmutter Lela eine große Tafel Schokolade, sie blieb unberührt liegen. Auf Befragen erfuhr Großmutter, daß Mutti diese Lindt-Schokolade so gern möge und daß Lela sie aufheben wollte, bis Mutti wiederkam.
Lela kam zu spät von der Schule nach Hause. Sonst war sie immer zehn Minuten nach zwölf wieder da. Warf mit Riesenkrach, das war so Überlieferung von den Brüdern her, die Schultasche in eine Ecke, rief dem Mädchen, das die Tür geöffnet hatte, entgegen: »Ist Mutter da?« und stürzte ins Zimmer zum Guten-Tag-Kuß. War Mutter einmal nicht da, so war das die schlimmste Enttäuschung, die den Kindern geschehen konnte. Nicht wissend, was sie mit sich anfangen sollten, schlichen sie von Zimmer zu Zimmer, immerfort Ausschau haltend nach der Pflichtvergessenen. Jetzt eilte Lela nicht nach Hause. Langsam schlenderte sie durch die Straßen und besah sich die Auslagen. Sie begleitete Amélie nach Hause, die es nun doch erlaubte, daß Lela ihre Mutter besuchte.
Als Lela diese Frau das erste Mal sah, wollte sie es einfach nicht glauben, daß dies eine Mutter sein sollte. Sie umarmte Amélie nicht, als sie hereinkam, sie beachtete sie überhaupt nicht warf nur einen interessierten Blick auf Lela und fragte, ob sie französisch spreche. Sie rauchte Zigaretten und war sehr einfach, aber sehr elegant angezogen. Viele Fotografien von ihr selber standen in den Zimmern umher. Es war dunkel in der Wohnung, eine Menge Möbel war da, und trotzdem war es ungemütlich. Sie schenkte beiden Kindern Geld und sagte, sie sollten weggehen und draußen spielen. Dabei war Lela doch gekommen, um mit Amélie zusammen die Schulaufgaben zu machen. Das ging dann immer leichter und schneller. Was Amélie besser konnte, nämlich Rechnen und Geschichte, waren Lelas schwache Seiten – umgekehrt half Lela Amélie in der Naturkunde und bei allen deutschen Aufgaben. Amélies Mama sagte auch nicht wie Mutti: Nun wasch dir die Hände, kämm dir die Haare glatt und komm zum Essen, sondern nur: »Viens manger.« Amélies Mama hatte viele Zeitungen mit Bildern. Das war der Grund, der Lela immer wieder verführte, die unfreundliche dunkle Treppe dort hinaufzugehen. Madame Bernin gab ihnen einen ganzen Haufen in den Arm und schob sie ins Kinderzimmer. Da saßen dann die zwei Neunjährigen über »La vie Parisienne«, »Le Rire«, über Modezeitschriften und Kunstblättern. Amélie übersetzte Lela die französischen Witze, die sie allerdings auch auf deutsch nicht verstand. Sie freute sich an den eleganten Kleidern und nahm sich fest vor, wenn sie einmal erwachsen sei, sich so zu kleiden wie Madame Bernin.
Von diesen Besuchen sprach Lela zu Hause nicht. Nur einmal wunderte sie sich über eine Menge Bilder, die Papa mit der Schere aus einem Katalog ausgeschnitten hatte und in den Papierkorb warf. »Nichts für die Kinder«, sagte er dazu. Soviel Lela hatte sehen können, waren es Bilder, wie sie sie bei Madame Bernin zu Hunderten gesehen hatte, Statuen ohne Kleider und Bilder, auf denen lebendige Frauen waren mit nichts an. Die anderen Bilder durfte sie ansehen. Lela bedauerte den Verlust nicht, konnte aber das Verbot nicht verstehen. Allein, man verstand ja so vieles nicht, was die Erwachsenen taten. Großmama zum Beispiel verbot ihr sofort, in ihren Turnhosen in den Stall zu gehen. Warum gerade nicht in den Stall? Karl amüsierte sich immer über sie, nahm sie hoch und setzte sie auf die Pferde. Dazu sei sie nun zu groß, sagte Großmama. Immer war man für etwas noch zu klein oder schon zu groß. Lela sehnte sich danach, endlich erwachsen zu sein.
Lela konnte es nicht leiden, daß Großmama auf Muttis Platz bei Tisch saß. Konnte der Platz nicht leer bleiben? Lela aß nicht. Lela lernte schlecht. Lela sah unordentlich aus. Lela warf in einem Wutanfall Sofie hinaus, weil sie ihr, wie allabendlich, die Füße waschen wollte. Sie brauchte Sofie nicht mehr, sie wollte allein sein. Lela warf ein Wasserglas mit aller Absicht an den Marmorkamin. Lela wollte Lärm, Zank, Streit. So war's recht. Jetzt kamen sie hereingelaufen. Großmama: »Aber Kind, aber Kind!« – Papa: »Ungezogen?« Und eine Ohrfeige flog durch die Luft. Dann warf er die Tür zu und lief aus dem Haus.
»Was würde deine Mutter sagen, Kind, wenn sie wüßte, wie unartig du bist?«
Lela blieb stumm und rührte sich nicht, bis die Großmama murmelnd hinausgegangen war. So! So, da hatten sie's. Warum ließ man sie auch allein. Warum nahm man ihr ihre Mutti weg. Immer hatte Berti sie, Berti ganz allein für sich. Das war ungerecht. Sie, sie brauchte, daß Mutti nebenan schlief. Sie konnte nicht allein ins Bett gehen. Ja, sie stand zu spät auf. Aber warum soll man aufstehen, wenn man Mutti nicht guten Morgen sagen kann? Wozu? Wozu? Ach, ins dunkle Zimmer treten, wenn Mutti noch schläft – leise ans Bett schleichen. Wo sie warm liegt und, ohne die Augen zu öffnen, den Arm um einen legt, einen Kuß auf die Stirn drückt und sagt: »Guten Morgen, mein Häschen – komm bald wieder!« Dann konnte man eben in die Schule gehen und auch wiederkommen. Ach, wie sie sich nach Muttis Kuß sehnte! Nur einen, einen einzigen Augenblick bei ihr sein! Nein, das wußte ja keiner so wie Lela, wie Mutti war. Großmama wußte das nicht und Papa auch nicht, der machte Mutti ja weinen. Nur sie, Lela, wußte es. Und sie konnte jetzt nicht mehr weiterleben, wenn Mutti nicht nach Hause kam. Gleich kam. Sie mußte einfach kommen. Mit allen Kleidern warf sie sich aufs Bett. Nein, sie würde sich nicht ausziehen. Auch nicht waschen und nicht mehr essen, bis man ihr ihre Mutter wiedergab.
Vielleicht hatte der Vater doch eine Ahnung, was in dem trotzigen Kind vorging. Jedenfalls forderte er Lela auf, sich fertigzumachen, sie würden Mutti und Berti besuchen, Lela zeigte äußerlich keine Veränderung. Erst als sie in das niedrige Zimmer mit den zwei hohen Betten trat und Mutti sich von einem niedrigen Rohrstuhl vor dem Kamin erhob, löste sich etwas in ihr, das fast wie ein Stein in ihrer Brust gesteckt hatte. Seit Tagen – seit zwei Wochen, seit Mutter weg war.
Frau Käte beruhigte das schluchzende Kind. Papa sagte nicht, daß sie ungezogen gewesen war, und im Brief, den Großmama mitgeschickt hatte, stand auch nichts davon. Nachdem sich diese beiden Befürchtungen als überflüssig erwiesen hatten, überkam es Lela wie eine große, große Seligkeit. Papa blieb bei Berti, und Lela durfte, eingehakt mit Mutti, hinausgehen, spazieren.
Die Bäume waren gelb und rot. Fasanen liefen über den Weg. Beeren, rote und schwarze, gab es eine Menge. Durch einen Schleier schien die Sonne auf die nassen Blätter. Lela lief und kam, wie ein kleiner Hund um seinen Herrn springt. Sie pflückte einen herrlichen Strauß und legte ihn Mutter in den Arm. Durch dämmerndes Dunkel kehrten sie heim, ohne zu sprechen – in das kleine Dorf mit den geduckten Häusern und winzigen, hellen Fenstern, die aussahen wie der Friede selber.
Es gibt Menschen, die aus Angst vor dem Tode immer davon sprechen. »Wenn ich mal sterbe ...«, sagen sie und wollen damit beweisen, daß sie sich mit dem Gedanken abgefunden haben. Es gab Offiziere, die immerfort davon redeten: »Wenn ich mal den Abschied nehme ...« Waren sie arm, so zitterte ihre Stimme dabei, denn sie sahen nichts vor sich als eine kleine Pension und eine große Familie. Waren sie vermögend, so sahen sie sich endlich reisen, endlich auf Jagd gehen, endlich – endlich Zeit haben für viele schöne Dinge, für die ihnen bisher keine Stunde blieb. Wenn das Schicksal einen anderen traf, so hieß es oft: Er hat den Abschied bekommen. Das hatte einen unangenehmen Beigeschmack. Ja, es gab einen »schlichten Abschied«, der entehrend war. Ihm ging voraus ein Gerichtsurteil, ein »Kriegsgerichtsurteil«. Dieses Kriegsgericht tagte häufig. Es war zusammengesetzt aus einigen höheren Offizieren, die einfach als Offiziere und anständige Menschen urteilten, verurteilten. Meinhardis haßte die Tage, wo er diesem Gericht beizuwohnen hatte. Es waren immer »dumme Geschichten«, wie er sich ausdrückte, die da zur Sprache kamen. Alles waren nur »Dummheiten« für ihn. Und es fiel ihm schwer, dabeizusein und einem jungen Offizier die Karriere zu verderben wegen einer Dummheit. Ob jemand den Abschied bekam oder ihn genommen hatte, war oft nicht klar. Gelegentlich wurde einer gebeten, darum einzukommen. Dann hatte er ihn genommen, obwohl er ihn bekommen hatte.
Wie die Sache mit Lelas Vater war, wußte sie nicht. Die Tatsache, daß er den Abschied hatte, war einfach eines Tages klar. Mutter und Vater hatten zu beraten, wo sie hinziehen wollten. Sie waren ihr Lebtag von Stadt zu Stadt geworfen worden und hatten nun plötzlich die freie Wahl. Mutter zog es wieder nach Dünheim, der alten Heimat, wo Alis Grab war. Meinhardis wäre ganz gerne nach Berlin gezogen, aber der Einwand, daß Berlin zu teuer für die kleine Pension war, erstickte diesen Wunsch im Aufkeimen. »Willst du nicht irgendwas tun?« sagte Frau Käte.
Ja. Tun. Geld verdienen. Aber was? Was konnte ein Offizier außer Dienst denn eigentlich tun? Standesgemäß mußte es sein. Ein Mann, der dreißig Jahre anderen befohlen hatte, konnte sich schwer eine Stellung nehmen, in der er gehorchen mußte, und dann noch dazu – wem? Einem Zivilisten! Einem Kaufmann. Einem Koofmich – wie man die Kerle nannte. Nee – lieber Steine klopfen.
Aber man war doch kaum fünfzig Jahre, sehr gesund, sehr munter – was sollte man mit sich anfangen? Schon so ein Vormittag. Was taten Menschen am Vormittag, die keinen Dienst hatten? Schliefen. Gut. Reiten war ausgeschlossen, die Pferde mußten schleunigst verkauft werden. Alle vier. Dazu langte es nicht, daß man ritt. Wie lebte man ohne Pferde? Na ja, es mußte nun mal sein. Aber es hätte später kommen können. Wenn dieser Krach mit dem Regimentskommandeur nicht gewesen wäre ... Aber darüber brauchte er nun nicht mehr nachzudenken. Was man jetzt mit sich anfängt, das war dem Generalkommando ganz gleichgültig. Das Generalkommando kümmerte sich um Leute in Uniformen. Zivilisten gingen sie nichts an. Und Meinhardis war nur Zivilist. Obwohl sein ganzer Schrank voll Uniformen hing. Obwohl er eine Sattelkammer voll Riemenzeug hatte. Obwohl neben seinem Schrank eine Batterie hoher Reitstiefel mit Hölzern darin stand. Obwohl er einen hellen Tuchmantel hatte, pelzgefüttert, mit Biberkragen, obwohl sein Waffenrock eben neu war, würde er doch bald nur noch seinen graugrünen alten Anzug tragen und Schlipse. Wie er Krawatten haßte! Einen weichen Hut statt Mütze und Helm. Graue Handschuhe anstatt weißer. Er würde auf der Straße nicht mehr damit belästigt werden, daß ihn alle Soldaten mit »Stillgestanden« grüßten. Die Offiziere, die er nicht kannte, würden an ihm vorübergehen, ohne ihn zu beachten, und vor denen, die er kannte, mußte er den Hut abnehmen.
Tun. Was sollte er tun? Er konnte nur eines: Befehlen. Was noch? Kriegswissenschaft – Taktik – Schießen – Pferde reiten. Er kannte auch ein paar Sprachen, aber nur soviel, als man zu einer Unterhaltung im Salon braucht. Einer Frau konnte er jegliches Schöne in allen Sprachen sagen, ob sie nun eine Prinzessin, eine Kellnerin oder ein Ladenmädchen war. Tun ... Frau Kätes Augen ruhten auf ihrem Mann in seiner kindlichen Trauer. Sie streckte ihre Hand über den Tisch hinüber und streichelte die seine, wie einem Kind.
»Manche werden Kurdirektor in einem Badeort, würde dir das nicht Spaß machen?«
Nein, Vergnügungsprofessor wollte er nicht sein. Womöglich verlangten die Leute da, daß man in einem Büro saß und rechnete.
Er konnte seine Gedanken noch nicht auf Zukünftiges einstellen. Er war über die Tatsache, daß er früher, als seine Kräfte nachgaben, aus seinem Beruf geschleudert wurde, noch nicht weg. Andere hatten Landgüter, wo sie ihren Kohl pflanzten. Aber er? Nichts hatte er. Nichts, als einen militärischen Grad und eine winzige Pension.
Frau Käte seufzte. Sie sah wohl, daß sie die Zügel in die Hand nehmen mußte. Sie mußte entscheiden. Und so beschloß man, nach Dünheim zurückzukehren. Da hatte er noch Freunde, und Frau Käte hatte Alis Grab.
Der Entschluß war gefaßt, aber ihn auszuführen war noch Zeit. Noch hatte Meinhardis für kurze Wochen seinen Dienst zu versehen, bis der Nachfolger seinen Platz besetzen konnte. Unterdessen bereitete man den Aufbruch vor. Es kamen Offiziere, es kamen Pferdehändler und Gutsbesitzer aus der Umgebung und ließen sich den Stall zeigen. Im Hof wurden ihnen die Pferde vorgeführt. Im Schritt, im Trab, im Galopp. Aus einem Reitpferd sollte ein Wagenpferd gemacht werden. Ein anderes trainiert werden für Rennen. Wortlos klopfte Meinhardis ihnen auf den Hals. »Alterchen«, sagte er bloß leise und zog ein letztes Stück Zucker aus der Tasche. Monsieur Girod öffnete ohne Widerstand das große Tor, wenn sie einzeln abgeführt wurden. Den Spatzen im Hof wurde der letzte Hafer hingestreut. Nur das Pferd, welches dem Regiment gehörte, stand noch einsam im leeren Stall. Sein ängstliches Wiehern hallte von den hohen Wänden.
Die Ordonnanz, der Soldat, der jeden Tag mit dem Regimentsbefehl kam, brachte Meinhardis ein großes, gelbes Kuvert, auf dem mit feiner Amtsschrift in deutschen Lettern »Nachtritt« zu lesen war. Darunter die Bemerkung: »Zu öffnen acht Uhr 15 abends.« Und weiter: »Sämtliche Herren des Regiments haben sich ab acht Uhr abends feldmarschmäßig ausgerüstet zu Pferde vor der Wohnung des Oberstleutnants von Meinhardis aufzuhalten.«
Es war sein letzter Dienst. Nachdenklich betrachtete er das dicke Kuvert. Er unterschrieb den Befehl, wie er es dreißig Jahre lang getan hatte – zum letzten Male. Die Ordonnanz nahm den Bogen strammstehend entgegen, wie jeden Tag, machte kehrt und »trat ab« auf seinen Wink. Monsieur Girod öffnete ihm die kleine Tür fast mit einem Diener.
Abends war der große Hof voll von Pferden. Die Offiziere standen, Zügel haltend, daneben. Man unterhielt sich gedämpft. Eine leise Erregung lag über allem. Den Pferden war es ebenso ungewohnt, um diese Zeit in die Dunkelheit hinauszutreten, anstatt im warmen Stall zu stehen oder sich im Stroh zur Ruhe zu legen, wie es den Herren ungewohnt war, jetzt nicht zu Hause oder im Kasino bei einem Glas Wein den Abend zu verbringen.
Meinhardis trat ans Fenster und rief mit sicherer Stimme: »Rittmeister von Allersleben.«
Ein »Zu Befehl« kam aus der Dunkelheit. Ein Geräusch von trappelnden Hufen, Aufsitzen und ein kurzes Schnalzen waren zu hören. Dann nahm der Rittmeister seinen Marschbefehl entgegen:
»Landstraße über Montjury. Dann Südost abbiegen, Wald links liegen lassen, an Bauernhof vorüber. Vier Meilensteine nach Osten steht Wachtmeister Reichelt und nimmt Rapport auf. Weiteres dort.«
Noch ein »Zu Befehl«, und der Rittmeister von Allersleben reitet gelassen davon. Noch ist er im Besitz seiner elektrischen Taschenlampe, seiner Landkarte, seines Kompasses. Aber dies alles wird der Wachtmeister Reichelt, wenn er ihn findet, ihm abnehmen – ihm eine weitere Marschroute geben und ihn ohne alles weiterschicken. Da wird er unter Umständen die ganze Nacht umherirren können und froh sein, wenn er beim dämmernden Tag nach Hause in die Kaserne zurückfindet.
Nach zwanzig Minuten entließ Meinhardis den nächsten. Etappenweise, einzeln zogen sie ab. Manuela hörte die Hufe der einzelnen Pferde an ihrem Fenster vorbei auf den nassen Steinen ausgleiten. Sie wußte, wie viele es waren, und zählte. Dann verfolgte sie sie in Gedanken. Da war Moor, wo sie steckenbleiben konnten. Da waren Wassergräben. Wurzeln, über die die Pferde stolperten, Zweige, die den Reitern die Mützen vom Kopf rissen. Im Dunkeln reiten im Wald. Da konnte einer stürzen, und keiner konnte ihn finden. Ob sich die Pferde fürchteten? Sicher. Hie und da wieherten sie im Hof. Lela konnte das hören. Sie konnte auch hören, wenn Papa mit seiner festen schönen Stimme die Namen aufrief und den Befehl ausgab. Jetzt war der letzte an der Reihe, dann konnte Papa schlafen gehen. Denn Papa ritt nicht mit, wenn er den Start machte. Sie hörte auch, wie Papa in sein Zimmer trat, mit den schweren Stiefeln – es war dem ihren benachbart. Sie hörte ihn still stehen, hantieren und dann wieder hinausgehen. Sie hörte seine Tritte auf der Treppe und dann auf dem Hof. Kurz darauf knarrte das Tor noch einmal.
Diesmal grüßte Monsieur Girod wirklich, indem er die Hand an die Mütze legte. Meinhardis ritt mit gesenktem Kopf hinaus. Müde klang der Schritt des Pferdes durch die nächtliche Straße. Es hatte keine Führung, es ging geradeaus – irgendwohin. Zuerst flatterten Laternen neben ihm, dann war die Bahn weich. Hohe Schornsteine von Fabriken rauchten in der Nacht, ein Hochofen glühte. Dann nichts mehr. Kühl riß der Wind an Weiden am Weg. Da machte das Pferd einen Satz und weckte den Reiter auf. Ruhig, ruhig! Oha! Nur nicht nervös sein, Alterchen, morgen kommst du in die Kaserne, und dann kannst du immer nachts schlafen – immer! –