Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII.

Hier standen die Häuser einzeln, nur wenige waren dem gefräßigen Elemente zum Opfer gefallen, nur hie und da lagen Trümmer oder Leichen und endlich hörte beides auf. Herrliche grüne Wiesen führten zum Walde, guterhaltene Straßen zogen sich hindurch, Gärten und Anlagen umgaben die einzelnen Villen.

Auf einem Rasenfleck weideten zwei Pferde, schöne Tiere von edler Rasse, die gewiß niemals etwas anderes, als eine Equipage gezogen hatten. Jack Peppers öffnete die Pforte, welche zu diesem Besitz führte und er und Lionel traten ein. Welch einen Gegensatz bildete hier die vornehme Ruhe der Umgebung zu dem, was unsere Freunde in den Straßen der eigentlichen Stadt gesehen! Dort alles menschliche Elend, Tod und Verwüstung, hier Stille und wunderbare Pracht der Einrichtung. Weite Rasenplätze umgaben das Herrenhaus, Aloe und Palmen standen in großen Kübeln vor dem Eingange; auf jeder der weißen, marmornen Stufen blühten die erlesensten einheimischen und fremden Gewächse, während eine Kletterrose die ganze Hauswand überrankte und Hunderte von purpurnen Blüten in den Sonnenschein hinaussandte.

Alle Fenster waren verhüllt, die Thüren geschlossen, das zierliche Haus des Kettenhundes auf dem Hofe leer, – nur eine Anzahl weißer Tauben umkreiste flügelschlagend das Dach und badete die schimmernde Brust im Glanze des jungen Tages, sonst war außer den beiden Pferden auf der ganzen Besitzung kein lebendes Geschöpf zu entdecken.

Die Stallthüren standen weit offen, auch die des Schuppens waren unverschlossen. Jack Peppers nickte sehr zufrieden. »Ich wußte es wohl,« sagte er. »Fassen Sie an, Master Lionel!«

Unser Freund zauderte. »Sie wollen die Kutsche einfach wegnehmen, Jack?«

»Ja. In zwei Stunden steht alles wieder an seinem Orte. Lassen Sie sich übrigens sagen, daß ich die Familie, der diese Villa gehört, ganz genau kenne und daß ich die Erlaubnis bekommen habe, hier zu leben, bis sich die Zeiten ändern. Mrs. Hastings ist die Gemahlin eines höheren Offiziers der Konföderiertenarmee, – sie folgte lieber ihrem Gatten ins Elend, als daß sie hier blieb und vielleicht genötigt war, die verhaßten Sieger täglich über ihre Schwelle schreiten zu sehen.«

Lionel hatte während dieser Worte des Trappers mit demselben Hand angelegt und die Equipage auf den Hof hinausgeschoben. »Sollen denn die Neuberts – und ich selbst – hier wohnen?« fragte er. »Das ist doch unmöglich.«

Jack Peppers lächelte. »Ich habe die Gastfreundschaft von Seven-Oaks so oft genossen, ich bin dem Andenken des verstorbenen Mr. Charles Trevor so vielen Dank schuldig, daß es meine Pflicht war, für seinen Pflegesohn und dessen Freunde so weit als möglich zu sorgen,« versetzte er. »Mrs. Hastings gab mir selbst den Schlüssel zu ihrem Hause, sie weiß, daß ich ehrenhafte Leute hineinbringe.«

Lionel schüttelte voll Erstaunen den Kopf. »Dann war Ihnen die Dame ohne Zweifel sehr großen Dank schuldig, Jack!«

»Sie glaubt es, Sir! – Ich habe einmal einen Trupp Konföderierter aus einem Hinterhalt gerettet, – ihr Gatte, Oberst Hastings war dabei. Das ist alles.«

Lionels Blicke streiften mit wahrem Behagen das vornehme, saubere Haus. Nach so vielen Aufregungen und Gefahren, nach so vielen bitteren Entbehrungen mußte die Ruhepause köstlich werden.

Zunächst fingen jetzt beide junge Leute die scheuen Pferde ein und spannten sie vor den Wagen, dann ging es hinaus zum Waldrande, wo die kleine Familie in Unruhe der Abgesandten harrte. Noch immer stieg der Rauch der brennenden Gebäude zum Himmel empor, noch erklangen Hörner und Kommandorufe, – ängstlich seufzend hielt Frau Neubert die Kinder dicht neben sich, während die drei Männer nach allen Seiten ausspähten, um Lionel und den Trapper zu entdecken.

Jetzt kamen sie in der stolzen Equipage dahergebraust und wurden mit Jubel empfangen. Nicht mehr zu Fuß weitergehen zu müssen, – schon das war ein Glück!

Mr. Forster stand zögernd von fern, in seinem verzerrten Gesicht spiegelte sich wahre Todesangst. Ob sie ihn mitnehmen würden?

Jetzt, nun er unschädlich geworden war, hatte Herr Neubert allen Groll vergessen. »Steigen Sie ein, Sir!« sagte er. »So lange ich selbst an diesem Orte bleibe, sind Sie mein Gast.«

Der Kentuckier murmelte einige unverständliche Worte, dann ließ er sich schwer in die Wagenecke fallen. Ohne einen Cent im feindlichen Lande, – was sollte er beginnen?

Lionel und der Trapper verschlossen zunächst die Vorhänge an beiden Fenstern. Es war nicht nötig, daß Frau Neubert und die Kinder alle diese Greuel mit ansahen.

So schnell es die vielfachen Hindernisse des Weges gestatteten, flog der Wagen dahin und hielt in verhältnismäßig kurzer Zeit vor dem stattlichen Hause, das unsere Flüchtlinge jetzt beziehen sollten. Der Trapper hatte alle nötigen Erklärungen schon gegeben, jetzt schloß er die Thür auf und führte seine Schutzbefohlenen hinein.

»Ich wollte mich nur erst überzeugen, ob Mrs. Hastings wirklich fortgegangen sei,« sagte er, »sonst hätte ich Ihnen schon längst mitgeteilt, daß mir für Sie ein Haus und eine Equipage zu Gebote standen. Jetzt lassen Sie sich's wohl sein, Küche und Keller sind gefüllt, alle Zimmer auf das beste eingerichtet, – was vorhanden ist, gehört Ihnen.«

Frau Neubert antwortete keine Silbe, ihr war das Herz so voll, daß sie nicht sprechen konnte. Allen Gefahren entrückt, in vollster Sicherheit, umgeben von den Soldaten der Regierung, – welch' ein unermeßliches Glück!

Jetzt dämpften weiche Teppiche jeden Schritt, bequeme Sessel und Sofas standen in allen Zimmern, es gab Betten, um die schmerzenden Glieder auszuruhen.

Jack Peppers fand in der Nähe eine alte Frau, die er zur Bedienung herbeischaffte und die zunächst den Kindern ihre Sorgfalt angedeihen ließ. Es gab ja im Hause auch ein Badezimmer; die arg verwahrlosten kleinen Geschöpfe wurden gesäubert und in die weichen Betten gelegt, auch ihre Mutter suchte vor allem die langentbehrte Ruhe, – jetzt, nachdem die Aufregung vorüber war, so todesmatt, daß sie kaum zu sprechen vermochte.

Zum erstenmale nach dem Verlust der Argo sah Herr Neubert wieder in einen Spiegel. Wie weiß sein Haar doch geworden war, wie tief die Runzeln und Falten des Gesichts! – Fürwahr, man lebte in einer schrecklichen, mörderischen Zeit.

Da hörte er aus dem anstoßenden Zimmer leise musikalische Klänge. Hermann hatte Umschau gehalten und ein Piano entdeckt, – ehe er an Speise und Trank, an das Ausruhen dachte, vor allem anderen flog er zu den geliebten, langentbehrten Tasten. Unter seinen Fingern entstand das Lied, welches die Mutter am meisten liebte, höher und höher schwollen die herrlichen Klänge: ›Gib dich zufrieden und sei stille in dem Gotte deines Lebens.‹

Herr Neubert umfaßte mit einem Blick das ganze Zimmer. In rosiger Gesundheit schlummerten seine Kinder, blaß, aber doch nicht ernstlich gefährdet sah seine Frau zu ihm empor, er hatte alles behalten, was so vielen Tausenden von Menschen in dieser Unglückszeit für immer geraubt war. Gewiß, er wollte nicht murren, sondern nur danken, innig danken.

Auch die alte Dienerin lauschte dem Spiel, ebenso der Trapper. Die Frau mit dem stillen Dulderantlitz hatte ihre Schürze über den Kopf gezogen, Jack Peppers stand und hielt den Blick gesenkt. Große Thränen rollten über sein Gesicht herab, er war blaß wie ein Toter.

Alles, alles zerstört, was er gehofft, alles vernichtet, was er geliebt hatte.

Die Alte berührte seinen Arm. »Was ist Euch geraubt worden, junger Herr, daß Ihr so traurig seid? – Seht mich an – ich habe nichts behalten, nichts, – das mag Euch trösten.«

Der Trapper schüttelte die Thränen aus den Augen. »Dem Manne ist das Vaterland teurer als alles,« versetzte er mit unsicherer Stimme. »Und das meinige ist verloren.«

Die Frau wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Vaterland?« wiederholte sie zögernd. »Vaterland? – Ach, haltet erst einmal ein Kind auf Euren Armen, laßt's Euch entgegenlächeln und hört seine süße Stimme, – – großer Gott, und dann gebt es hin, daß sein Körper von den Hufen der Pferde zermalmt werde, daß Wagenräder über ihn dahingehen, – so ist es dem meinigen geschehen! – ach Herr! das erlebt erst, ehe Ihr von Unglück sprecht.«

Sie weinte still vor sich hin, während der Trapper hinausging, um womöglich seiner Erregung Herr zu werden. Es war jetzt neun Uhr morgens und immer noch schmachtete Martin im Gefängnis, das durfte nicht länger so bleiben. Jack wußte ja, wenn er es auch vielleicht gegen keinen Menschen zugestanden hätte, doch sehr wohl, wie dieser entsetzliche Ort beschaffen war.

Aus den Ställen kam ihm Bill entgegen, wie er selbst mit dem Gedanken an Martins Schicksal beschäftigt. »Ich möchte meinem Kameraden helfen,« sagte er. »Weshalb wohl noch immer die Freilassung der Gefangenen nicht erfolgt ist?«

Jack Peppers zuckte die Achseln. »Man liest erst Tote und Verwundete vom Straßenpflaster auf, man sammelt Lebensmittel für die Truppen. Überdies liegt der Ort eine Viertelstunde von hier.«

»So daß er vielleicht noch von den Konföderierten besetzt ist?«

Ein trübes Lächeln trennte die Lippen des Trappers. »Das habt Ihr nicht zu fürchten, guter Freund. Kommt nur mit mir, auch Master Lionel begleitet uns.«

Dieser letztere näherte sich bereits den beiden anderen, während Hermann bei seinem Vater zu bleiben wünschte. Er hatte zu lange das Piano entbehrt, um sich von demselben so schnell wieder trennen zu können, überdies war es für Martin von keinem Belang, ob er jetzt mitging oder nicht, daher zog er es vor, zurückzubleiben und die wunden Füße in weiche Pantoffeln zu stecken.

Die Hausthür war von innen verschlossen, die Pferde in den Stall gebracht und die Equipage wieder an ihren Platz geschoben, Jack Peppers konnte daher ruhig die seiner Ehre auvertraute Villa verlassen und ging jetzt mit den beiden anderen quer durch den hinter der Stadt liegenden Wald.

»Ist das Gefängnis wirklich ein offener Raum?« fragte Bill. »Hat man die armen Leute ohne Dach und Fach gelassen? – Das sagtet Ihr im Scherz, nicht wahr, Mr. Peppers?«

Der Trapper schüttelte leicht den Kopf. »Im Scherz?« wiederholte er. »Habt Ihr Menschen angetroffen, die unter Umständen wie die, in denen wir leben, zu scherzen vermochten?«

Bill entschuldigte sich. »Es war nicht bös gemeint,« sagte er seufzend. »Hat denn mein Kamerad wenigstens sein gehöriges Essen bekommen?«

»Ach, fragt nicht, fragt nicht, – Ihr werdet das alles noch erfahren.«

Sie waren jetzt etwa zehn Minuten gegangen und hatten die letzten Hauser der Stadt schon weit hinter sich gelassen, da blieb Lionel plötzlich stehen. »Ein schrecklicher Geruch!« sagte er. »Jeder Windstoß bringt ihn mit, – was mag das sein?«

»Wie von Leichen,« setzte Bill hinzu.

Der Trapper blieb ganz stumm, er hatte auch seinen Weg mit gleichen Schritten fortgesetzt, so daß Bill und Lionel die Absichtlichkeit dieser Handlungsweise klar erkennen mußten. Sie sahen einander verstohlen an. Jack wollte nicht sprechen.

Je weiter sie vordrangen, desto entsetzlicher wurde die Luft. Ein Pesthauch drang durch den Wald, ein unentwirrbares Schreien und Toben klang lauter und immer lauter. Dazwischen tönte das Kreischen einer großen Geierart, die an Flüssen und Sümpfen in dieser Gegend hauste. Es mußten Tausende der widerwärtigen Vögel vorhanden sein.

»Herr,« flüsterte Bill, »ich denke, keiner meiner Bekannten hält mich für eine Memme, aber hier fehlt mir doch beinahe der Mut, noch weiter zu gehen.«

Lionel war blaß geworden. »Martins wegen!« gab er zurück.

Der Trapper eilte unaufhaltsam vorwärts. Er kannte das ungeheure Verbrechen seiner politischen Partei, er wußte, daß es durch nichts in der Welt entschuldigt werden konnte, aber eingestehen wollte er die Sache nicht. Lieber mochten ihn die anderen für unartig halten.

Bill zupfte Lionels Ärmel. »Junger Herr,« sagte er, »mein Wort darauf, – die da drüben so kreischen, sind Wahnsinnige!«

Lionel schauderte. »Martin kann noch nicht so arg gelitten haben, daß ihm derartiges geschehen sein sollte,« gab er zurück.

»Nein, er nicht, aber Gott mag wissen, wie viele andere Unglückliche!«

»Jack!« fragte Lionel, »sind in dieser Einzäunung auch Kriegsgefangene?«

»Fast nur solche, junger Herr!«

Und nun sahen die beiden auch schon das Äußere des entsetzlichen Gefängnisses. Es war ganz einfach aus dem lebenden Walde herausgehauen, indem man die starken Bäume ihrer Kronen beraubte und sie als Palissaden brauchte. Zwischen diesen vierundzwanzig Fuß hohen Baumstümpfen hatte man dichte Pfähle in den Boden getrieben und das ganze mit Metalldraht umflochten. An allen vier Ecken standen Kanonen, deren Mündungen nach innen gekehrt waren.

Der Trapper drehte sich um. »Nicht einmal ihre Geschütze haben die Konföderierten mitnehmen können!« rief er voll Zorn.

»Ich kann wahrhaftig kaum noch atmen,« seufzte Lionel. »Das ist gräßlich!«

Immer ärger und ärger wurde das Schreien, das Toben und Kreischen, aus dem kein verständlicher Laut hervorklang. Wie Wut und Verzweiflung gellte es aus der Unglücksstätte in den Wald hinein, wie Drohen und wilde Rachbegier, dann wieder wie ein herzerschütterndes Flehen, in dessen Ausdruck sich der Schrei des beginnenden Wahnsinnes schon hineinmischte.

Rings auf den Bäumen saßen zu Tausenden die großen, häßlichen Geier mit dem nackten Halse und dem schmutzigen Gefieder, zum Teil kreischend, zum Teil in träger Verdauung begriffen. Blutende Knochen und Fleischstücke lagen überall am Boden, – Teile menschlicher Körper, die von den Raubvögeln zerrissen waren.

»Jack!« rief Lionel, »Jack! wollen wir nicht dazwischen schießen?«

Der Trapper schüttelte den Kopf. »Auf die vernunftlose Kreatur, junger Herr? Das wäre doch wohl sehr thöricht!«

»Wenn die Bestien Menschenfleisch gefressen haben?«

Der Trapper zuckte die Achseln. »Ist das so schlimm?« murmelte er. »Die Würmer fressen uns alle, aber freilich ohne Geschrei und ganz versteckt.«

Er hatte einen umfangreichen Baumstamm, an dem eine Leiter stand, erklettert und forderte jetzt seine beiden Begleiter auf, ihm zu folgen. Da oben in der Höhe von vierundzwanzig Fuß erhob sich auf der Schnittfläche des Stammes ein Schilderhaus, das den Rundblick über den inneren Raum des Gefängnisses vollständig freigab. Wenn Bill und Lionel eine kleine Unbequemlichkeit nicht scheuten, so konnten sie, eng aneinander gedrängt, hineinsehen in den Ort einer tausendfältigen Todesqual.

Sie folgten dem Rufe des Trappers, aber schon jetzt erfüllt von einem Grauen, das sich in den bleichen Gesichtern deutlich aussprach, schon jetzt fast übermannt von der Ahnung eines Bildes, entsetzlich genug, um selbst den Stärksten darniederzustrecken und ihn für den Augenblick seiner Kräfte zu berauben. Lionel war der Letzte, ihn schwindelte fast.

Wie sie schrieen, die Gefangenen, wie eine wahnwitzige Furcht vor den Gegnern ohne Herz und Gewissen ihre Seele erfüllte.

»Zurück! Zurück! Habt ihr die Todeslinie vergessen?«

»Wehe! Wehe! Siebenfach und siebentausendfach soll die Hölle euch eure Unthaten heimzahlen! In den brennenden Pfuhl sollt ihr geworfen werden und Feuer verschlingen, Feuer auf den Köpfen und am Körper tragen, ihr Unmenschen!«

»Ladet die Geschütze!« riefen andere Stimmen. »Schießt! Schießt! Hier zu leben ist schlimmer, als der qualvollste Tod!«

»Nein! O um Gotteswillen, nein! Ich fürchte mich vor den großen Kanonenkugeln! Sie springen immer wieder vom Boden auf, sie reißen die Köpfe ab!«

Jetzt hatte Lionel die letzte Stufe erklommen, er übersah nun das Ganze und ein Grauen, wie er es nie zuvor empfunden, durchflutete seine Seele. Waren das wirklich Menschen, die Schreckensgestalten, welche in dem entsetzlichen Gehege flehend ihre Hände erhoben?

Es scheint unmöglich, die gehäuften Greuel dieses Ortes nur annähernd wiederzugeben, das Gefühl sträubt sich, bei ihnen zu verweilen.

Etwa anderthalbtausend Fuß war die Waldlichtung ohne alle Gebäude oder Schutzvorrichtungen lang und siebenhundert Fuß breit, ihr Boden bestand aus zähem, halbflüssigem Schlamm, während mitten hindurch jener kleine Gebirgsbach floß, der bei dem früheren Lager der Flüchtlinge in den See mündete. Das sonst so helle, klare Wasser hatte hier eine gelbe, schmutzige Farbe, es war zum Morast geworden wie der Erdboden selbst.

Etwa vier Fuß hinter der äußeren Umzäunung erhob sich eine andere, die nur aus dünnen Latten bestand. Das war die Todeslinie; wer sie überschritt, oder auch nur die Hand hinüberstreckte, der wurde auf dem Fleck erschossen. All der glühende Haß des Südens gegen den Norden, der Haß des Sklavenhalters gegen die Verteidiger der Menschenrechte spiegelte sich in dieser Willkür, die eine, vielleicht sogar unbeabsichtigte Bewegung mit Todesstrafe belegte.

Jetzt war diese Linie, hinter der das Verderben wohnte, vielfach überschritten. Skelette in Menschengestalt erhoben ihre mit Lumpen bedeckten Arme zu flehentlicher Bitte, Gesichter, aus denen die Verzweiflung sprach, sahen zu unseren Freunden empor.

»Brot! Brot!« riefen die Unglücklichen. »Wir haben gestern und heute keine Rationen mehr erhalten!«

»Aber nicht schießen! Nicht schießen!«

Einige rüttelten in ohnmächtiger Wut an den Baumstämmen. »Macht auf! Macht auf! – Die Konföderierten müssen geschlagen sein, sonst ständen ihre Wachtposten ja hier. – O Gott im hohen Himmel, schicke uns den Retter, daß wir fliehen können, ehe die Unmenschen wiederkehren!«

Andere Stimmen lachten laut und gellend. »Was betet ihr noch, ihr Thoren! Gott hat sein Herz gegen uns verschlossen, – wären wir sonst hier?«

»Lästert nicht, laßt uns lieber ein frommes Lied singen! Vielleicht hört es trotz alledem der gütige Gott und schickt einen Engel, um uns die Pforten zu öffnen.«

Mehrere Stimmen erhoben sich zum schwachen, von Schluchzen unterbrochenen Gesange. Wer es hörte, dem mußte es das Herz zerreißen.

Zwischen denen, die, ihrer Sinne mächtig, im Zusammenhang sprachen, standen, liefen, sprangen und lagen Tausende von anderen. Kranke oder Verwundete bedeckten in langen Reihen den Boden; ihre todesblassen Gesichter waren unverhüllt, unbeschützt gegen die sengenden Sonnenstrahlen ihre Augen. Wie sie hingefallen sein mochten in den schwarzen, schrecklichen Schlamm, so lagen sie noch, und Maden und Ameisen krochen zu Tausenden auf ihren Körpern, Moskitos und große Schmeißfliegen zerrissen ihre Haut. Bei vielen dieser Unglücklichen zeigte kaum ein Zucken, daß sie überhaupt noch lebten.

Andere, Rasende liefen mit erhobenen Armen hin und her, gestikulierten, schnitten Grimassen und tobten so lange, bis sie wie vom Tode ergriffen liegen blieben.

Nicht wenige dieser Bedauernswerten glaubten sich mitten im Kampfe, sie fochten, legten ein eingebildetes Gewehr an und drückten ab, sie fielen mit Nägeln und Zähnen über einen nur im Wahne gesehenen Feind her; ihre Augen glühten, ihre Brust arbeitete heftig, sie waren der Wirklichkeit vollständig entrückt, vielleicht glücklicher als alle übrigen.

Von Martin Davis sah man keine Spur.

Bill schloß die Augen. »Lassen Sie uns hinabsteigen,« murmelte er. »Mir wird ganz schlimm, ich kann diesen Anblick nicht ertragen.«

Lionel war blaß wie ein Schatten. »Jack!« sagte er, »da liegen mehrere Leichen. O mein Gott, mein Gott, die Geier haben sich an Menschenfleisch gesättigt.«

Der Trapper hob die Hand. »Wo mag sich Martin befinden?« fragte er ablenkend.

»Ob man ihn einmal recht laut anruft?«

»Lieber wollen wir von einem anderen Punkte in den Raum hineinsehen. Es sind noch mehr Schilderhäuser vorhanden.«

Bill sprang schwer zu Boden. »Ja! Ja!« murmelte er. »Ich gehe nicht von der Stelle, bis ich weiß, ob mein armer Kamerad noch lebt.«

Sie wanderten etwa zweihundert Schritte weiter hinauf und erkletterten ein anderes Schilderhaus. Derselbe Anblick bot sich ihnen dar, – auch hier hielten die Geier Siesta und lagen zerrissene Menschenkörper zwischen Kranken und Tobenden im Schlamm.

Da traf ein schwacher Laut das Ohr des Fischers. »Bill! – Hilf mir, Bill!«

Wie elektrisiert fuhr der brave Bursche auf. »Martin!« rief er. »Martin! Wo bist du? Ich kann dich nicht finden!«

»Hier! Hier!«

Und da lag denn der Unglückliche auf dem Schlammboden, offenbar zu krank, um sich zu erheben, er bewegte die Lippen wie jemand, den es dürstet. »Wasser!« murmelte er. »Wasser – Bill, es ist aus mit mir, ich sterbe.«

Auch Lionel rief jetzt den Unglücklichen an. »Behalten Sie Mut, Martin! Die Konföderierten sind geschlagen und verjagt, in ganz kurzer Zeit müssen Regierungstruppen hier sein und die Thüren des Gefängnisses öffnen!«

Hunderte von Unglücklichen schienen diese Worte verstanden zu haben, sie horchten, über ihre bleichen Lippen brachen Jubel und Dankgebete. Ein betäubendes Geschrei verschlang in diesem Augenblick jeden einzelnen Laut. Frei! Die verhaßten Gegner geschlagen! War es nicht, als sei in diesen Worten des Himmels ganze Seligkeit enthalten?

»Martin!« rief der Trapper, »Martin, kannst du nicht aufstehen?«

Ein Kopfschütteln war die Antwort. »Wasser! – Gib mir Wasser!«

»Du solltest es versuchen!« ermahnte Bill. »Vielleicht hilft dir irgend ein Gesunder. Es ist ja nicht möglich, zu dir zu gelangen.«

Aber Martin bewegte nur leise den Kopf. »Ich kann nicht!«

Andere, hohläugige Gestalten schleppten sich mühsam mit nackten Füßen bis zur äußeren Einfriedigung. »Erbarmen, Gentlemen, Erbarmen, helft uns hinüber!«

Sie wurden von Nachsetzenden ergriffen und zurückgerissen. »Ihr kommt nicht hinaus! Alle oder keiner, das ist billig!«

Jack Peppers schüttelte den Kopf. »Keiner!« entschied er. »Ihr seid rechtmäßige Kriegsgefangene, das vergeßt nicht!«

Ein Sturm von Verwünschungen erhob sich. »Die Konföderierten sind Henkersknechte, Bluthunde, aber keine ehrlichen Soldaten! Zur Hölle mit ihnen!«

»Du magst wohl selbst ihr Freund und Anhänger sein!« rief eine Stimme. »Was thust du hier, he? – Willst vielleicht unser Elend noch verspotten?«

Und ein Stein flog dicht an den Köpfen der Dreie vorüber. »Macht sie nieder! zur Hölle mit den Konföderierten!«

Ein Gebrüll, wie von tausend Teufeln erfüllte den Raum, unsere Freunde mußten schleunigst flüchten, um nur ihr Leben zu retten. Ratlos sahen sie einander an. Was konnte zu Martins Rettung geschehen?

»Ich gehe nicht nach Hause,« schwor Bill. »Wenn es Abend ist, klettere ich hinüber und trage ihn an die Umzäunung, – ihr müßt mir dann helfen ihn hinauszuschaffen.«

Der Trapper schüttelte den Kopf. »Das wäre erst nach mindestens zwölf Stunden möglich,« versetzte er, »bis dahin kann Martin sterben. Nein, ich weiß etwas Besseres, – der augenblickliche Kommandeur der Stadt muß Hilfe schaffen, – ich gehe sogleich zu ihm.«

»Um dann für alle diese Unglücklichen zu bitten, Jack?«

»Meinetwegen! – Gefangene der Konföderation waren sie ja nach allen Regeln des Krieges und mit vollstem Rechte. Das genügt.«

»Aber,« unterbrach er seine eigne Rede, »was ist das? Trommelwirbel?«

Die andern hörten nichts. »Verlieren Sie keine Zeit, Sir!« bat Bill.

Der Trapper warf sich auf den Boden und horchte, indem er das Ohr fest auf die Grasnarbe preßte. »Marschierende Infanterie,« sagte er wie zu sich.

»Die hierher kommt?« fragte Lionel.

»Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit, junger Herr!«

Er horchte wieder und das erfahrene Jägerohr deutete den Schall, als zögen die Truppen vor aller Augen des Weges. »Es kommen Soldaten hierher,« sagte er. »Sie haben eine lange Reihe von Wagen bei sich.«

»Gott sei gelobt!« riefen Bill und Lionel wie aus einem Munde.

Eine mürrische Stimme hinter ihnen schreckte sie plötzlich auf. »Wer sind Sie?« fragte ein in grobe Stoffe gekleideter, plump und roh aussehender Mann. »Was wollen Sie hier?«

Bill betrachtete den unangenehmen Gesellen vom Kopf bis zu den Füßen. Ohnehin in der Stimmung, selbst mit seinem besten Freunde einen Streit anzufangen, schob er sich seitwärts gegen den Burschen vor und sah ihn zornig an. »Was kümmern dich unsre Angelegenheiten, langer Schlingel? Mach, daß du fortkommst, oder meine Fäuste schreiben dir den Paß!«

Der Fremde runzelte die Stirn, so daß seine Augen fast ganz verschwanden. »Ich bin der Aufseher dieses Gefängnisses!« rief er.

Und dann pfiff er halblaut. »Komm, Karo! Komm Pluto!«

Zwei ungeheure Bluthunde drängten sich an die Person ihres Gebieters, bösartige Tiere, deren Aussehen auch dem Beherztesten Furcht einflößen konnte. Diese Zähne, – wie oft mochten sie das Fleisch armer, tollkühner Flüchtlinge zerrissen haben!

Der Aufseher heftete seinen düsteren Blick fest auf die Gesichter der drei Männer. »Wenn ich jetzt meinen Tieren einen kurzen Befehl zurufe, so liegen Sie in Ihrem Blute am Boden, um niemals wieder aufzustehen!« knurrte er.

Der Trapper nickte. »Das ist richtig,« sagte er, »aber so viel Zeit bleibt uns, um auf dich das Gewehr anzuschlagen. Die Kugel trifft noch schneller als der Zahn der Bestie.«

Das schien dem rohen Patron einzuleuchten. »Gebt mir ein paar Cents für Branntwein,« bettelte er.

»Du bekommst keinen Pfennig!« versicherte gelassen der Trapper.

In dem Innern des Gefängnisses war bei dieser Unterredung Todesstille eingetreten. Als die unglücklichen Insassen der Pesthöhle den Aufseher erkannten, verstummte sofort jedes Geräusch. Shelby und seine Hunde! Das war genug, um blinde Unterwerfung herbeizuführen.

Jetzt hörte man den Taktschritt der Infanterie schon ganz deutlich, auch der Aufseher spitzte die Ohren. »Soldaten?« sagte er erschreckt. »Regierungstruppen oder Konföderierte?«

Niemand antwortete ihm, wohl aber erschienen in diesem Augenblick berittene Offiziere als die ersten auf dem Platz und augenblicklich veränderte sich die frühere Stille in einen brausenden, donnernden Jubel, in ein Hurra, das die Geier erschreckt auffahren und davonfliegen ließ. »Unsre Befreier! Unsre Kameraden! Hoch die tapfern Sieger.«

Kranke und Schwache wurden zu den Palissaden emporgehoben, Sterbende schlossen mit einem letzten Lächeln die Augen, – alle Gesunden kletterten so hoch sie vermochten, jede Stimme rief den Rettern ein lautes »Willkommen! Willkommen!« entgegen.

Vergessen war alles überstandene Leid, vergessen sogar der Aufseher mit seinen schrecklichen, gefürchteten Hunden. Die Soldaten, welche sich daherbewegten, die Kameraden früherer Tage brachten ja Rettung aus diesem Orte einer hundertfachen Todesqual.

Flehende Hände streckten sich ihnen entgegen, die Herzen stockten vor Erwartung, vor Aufregung. Wenn sich jetzt die Pforten des Gefängnisses öffnen würden, – welche Seligkeit!

Der Aufseher wollte unbemerkt in die Gebüsche schlüpfen, aber der Anführer der Truppe vereitelte rechtzeitig diesen Plan. »Stillgestanden!« rief er.

In den tiefliegenden Augen des Burschen flammte ein Groll, dem er trotz der eignen Gefahr keine Zügel anlegen konnte. »Faß, Karo!« murmelte er leise. »Faß, Pluto!«

Die Bestien stürzten sich den vordersten Reitern entgegen, ihre blutgewohnten Zähne packten die Hälse der Pferde, welche ihrerseits bäumten und wild ausschlugen. Eine Szene der äußersten Verwirrung folgte diesem Angriff, Geschrei und Kommandorufe klangen durcheinander, dann ein Pistolenschuß, mit dem einer der Offiziere sein gefoltertes Pferd von der daranhängenden, schäumenden Bestie befreite. Die Kugel hatte das Gehirn zerschmettert, umsonst versuchten die gewaltigen Zähne, im Todeskampfe das Opfer fester zu packen, sie sanken kraftlos zurück und das edle Tier war von seinem Gegner erlöst. Der Offizier sprang sogleich zu Boden und untersuchte die Wunde, einer seiner Genossen hatte unterdessen den zweiten Hund getötet, während Shelby von einer Abteilung Soldaten gepackt und gefangen genommen war.

Alles dieses vollzog sich binnen wenigen Minuten. Auch die Gefangenen ihrerseits hatten, als sie die Truppen sahen, das anscheinend Unmögliche vollbracht, von vereinten Kräften war die eisenbeschlagene vordere Thür aus den Angeln gehoben und buchstäblich in Splitter geschlagen worden. Wie ein brausender Strom, unaufhaltsam, ergossen sich die Scharen der gequälten Menschen ins Freie, auf trockenen Boden, in die schützende Nähe der Soldaten.

Frei! Frei! – Ein toller Jubel.

Ob sie auch in Lumpen oder ganz nackt dastanden, ob sie seit vorgestern nichts mehr gegessen hatten und auch nicht wußten, woher nur ein Stückchen Brot zu nehmen sei, das alles kümmerte diese Armen nur wenig. Sie hatten die Pforten der Hölle im Rücken, das war es, was sie einzig und allein mit jedem Pulsschlage ihrer Herzen empfanden.

»Da ist Shelby!« rief ein Mann, dem Hunger und bittres Leid aus den Augen sahen. »Da ist Shelby! Und seine Hunde liegen tot am Boden. Sollten wir ihn nicht jetzt, nun die Gelegenheit günstig ist, für alle seine Schandthaten bezahlen?«

Die Worte fielen wie ein Funke ins Pulverfaß. »Auf ihn!« riefen Hunderte von Stimmen zugleich. »Schlagt ihn tot, den Halunken!«

Eine entsetzliche Schar stürmte dem Aufseher entgegen. Vom Kopf bis zu den Füßen mit Schmutz bedeckt, in eine Wolke von Insekten gehüllt, mit verfilztem Haar und Krallen anstatt der Nägel, kreischend, tobend, tanzend in rasender, an Wahnsinn streifender Erregung, so wollten sie sich auf ihn stürzen und würden sicherlich den widerwärtigen Gesellen in Stücke zerrissen haben, wenn nicht die Soldaten vorgetreten wären, um mit gefälltem Bajonett den Elenden zu beschützen.

Shelby schrie laut auf. Jetzt heulte er, der Tyrannenknecht, der herzlose Quäler so vieler Tausende von Unglücklichen, wie eine Memme um Erbarmen.

Die Soldaten wurden umzingelt, man machte Anstalt, den Gefangenen aus ihrer Mitte zu reißen; das Geschrei betäubte fast die Hörer.

»Er hat unsre Rationen gestohlen und zu seinem Vorteil verkauft!«

»Er hat die Hunde auf uns gehetzt und gelacht, wenn die Bestien wehrlose Menschen zerfleischten, der Schuft!«

»Er hat die, welche ihm widersprachen, mit eigner Hand erschossen!«

»Lyncht ihn! Lyncht ihn!«

Ein Befehl, kräftig in das Durcheinander von Stimmen hineingerufen, ließ die Soldaten den Gefangenen in ihre Mitte nehmen, die Meuterer wurden gewaltsam zurückgedrängt und dann hielt der Oberst eine Anrede, durch welche er die Gemüter einigermaßen beruhigte. Shelby wurde geschlossen zur Stadt gebracht und in das Gefängnis geliefert, die Soldaten dagegen besetzten den Ausgang des Geheges, während eine Abteilung, geführt von mehreren Offizieren, die Untersuchung des innern Raumes vornahm.

Ein Sumpf war es, in dem sie gingen, eine Hölle das, was ihre Augen sahen.

Leichen und Sterbende, Irrsinnige und ganz Teilnahmlose lagen überall durcheinander. Menschen, erschaffen zu Ebenbildern Gottes, nagten wie Tiere an halbverwesten Knochen und versteckten dieselben bei der Annäherung der Soldaten in ihre Lumpen, andre stießen Drohungen aus oder zeigten die geballte Faust. Den schrecklichsten Anblick bot ein Hügel in der Mitte des Geheges. Eine Anzahl von Gefangenen hatte mit bloßen Händen Löcher in die Wölbung gegraben und sich darin nach Art der höhlenbewohnenden Tiere zusammengekauert. Diese Unglücklichen wollten ihr Lager nicht verlassen, aus Furcht, andre könnten hineinkriechen und ihnen den einzigen Schutz gegen die Sonnenstrahlen dadurch rauben. Es gab auch solche Verzweifelte, die ihr Gesicht in den Boden drückten und nicht aufsahen, ob ihnen die Soldaten zuredeten oder sie bedrohten, ganz gleichviel.

Hinter den Truppen erschienen Leute in Zivilkleidung, barmherzige Samariter, die als Abgesandte der Hilfsvereine dem Heere auf allen Märschen folgten und in der Weise des deutschen Johanniterordens für die Opfer des Krieges sorgten. Ihre Wagen standen auf allen Geleisen, ihre Gespanne auf allen Straßen, sie waren auch hierher gekommen, um gegen sechstausend Gefangene, so weit dieselben der Hilfe bedurften, zu übernehmen und zu verpflegen.

Aber selbst diese von Schlachtfeld zu Schlachtfeld ziehenden Männer, diese abgehärteten Apostel christlicher Nächstenliebe ließen bei dem Anblick, der sich ihnen hier darbot, die Arme sinken. Etwa fünfzig Transportwagen hatten sie mitgebracht, zwölf oder sechzehn Krankenkörbe, aber was wollte das sagen einer solchen Masse des Elendes gegenüber?

Ein Bote wurde zurückgeschickt, um mehr Soldaten und alles vorhandene Fuhrwerk aus der Stadt herbeizuholen, ein Barackenlager zur vorläufigen Unterbringung der von Ungeziefer bedeckten Kranken sollte an geeigneter Stelle aufgeschlagen werden, – den entsetzlichen Sumpf mußte man zur Verhütung von Epidemien mit ungelöschtem Kalk füllen.

Aber es konnte nicht alles zugleich geschehen. Vorläufig gingen die Agenten der Hilfsvereine tapfer in all den Schmutz und Graus hinein, um zunächst die Toten von den Lebenden zu trennen und dann den einen das christliche Begräbnis, den andern eine möglichst treue Pflege zukommen zu lassen. Was nicht gehen konnte, wurde getragen, was sich sträubte, begütigt, was vor Schmerz und Krankheit wimmerte, mit sanften Worten, mit dem Hinweis auf die erhabenen Verheißungen der Religion getröstet.

Allen voran eilten Bill und Lionel, um den armen Martin aufzufinden. Als sie vor ihm standen, schien er die Freunde kaum noch zu erkennen, seine Augenlider sanken schwer herab, sobald er nur versuchte, sie zu erheben, – die Bitte um Wasser war das einzige, was er sprach.

Bill und der Trapper trugen den Unglücklichen, so schnell es ihre Kräfte erlaubten, hinaus und erhielten dann bereitwilligst von den Samaritern einige Erfrischungen, die sie ihm einflößten. Auch ein Krankenwagen wurde ihnen eingeräumt und der Halbbewußtlose in der Stadt von geübten Händen gebadet und gesäubert. Alle Haare waren ihm abgeschoren worden, er lag wie ein Schwerkranker, obwohl der Arzt versicherte, daß nur die Erschöpfung, vielleicht im Vereine mit dem Entsetzen ihn in diesen Zustand gebracht habe und daß keine Krankheit zu befürchten sei.

Nochmals zog der Trapper die beiden Braunen aus dem Stall, und nochmals hielt die Equipage vor der Villa, um einen ganz Ermatteten zu bringen, damit er in ein weiches Bett gelegt und von treuen Händen behütet werde.

Man flößte ihm Kraftbrühe ein und guten alten Wein, man ließ ihn hinter verhängten Fenstern schlafen und Leib und Seele ausruhen von den Anstrengungen der letzten, entsetzlichen, mörderischen Vergangenheit.

Wagen nach Wagen brachte unterdessen die Gefangenen in das städtische Krankenhaus. Es war ein förmlicher Sanitätsdienst eingerichtet, die Fuhrwerke rollten unablässig hin und zurück, man arbeitete mit aller Macht, um dem Elend der Tausende zu steuern. Die Vereinigte-Staaten-Kommission erhielt mehr Personal und reichlichere Mittel, so daß die verpestete Stätte des ehemaligen Gefängnisses schon nach wenigen Tagen unschädlich gemacht war und die Insassen derselben im reinlichen Barackenlazarett menschenwürdig untergebracht waren.

Erst nach zwei Tagen und Nächten erwachte Martin aus seiner ursprünglichen Betäubung; die Schwäche war aber so groß, daß er noch keine Mitteilung machen konnte, sondern langsam Kräfte sammeln mußte, bevor auch nur ein klares Erinnern des Geschehenen bei ihm zurückkehrte. »Die Todeslinie!« flüsterte er einmal, »ach, es war zu gräßlich! Wie man im Sommer die Mücken totschlägt, so wurden die armen Menschen erschossen!«

Und dann verfiel er wieder in den früheren tiefen Schlaf, bis allmählich die Pausen sich verlängerten und das Fieber ganz aufhörte. »Sir!« sagte er, als Neubert zu seinem Bette trat, »was ich mit angesehen habe, das hält der Zehnte nicht aus. Von zweiunddreißigtausend Gefangenen, die nach einander eingebracht wurden, sind zwölftausend an Ort und Stelle gestorben.«

Der Kaufmann seufzte. »Denken Sie nicht mehr daran, Martin,« sagte er, »das alles ist nun für immer überstanden.«

Aber der Fischer schien sich von diesen schreckensvollen Erinnerungen nicht losreißen zu können. »Ich fiel den Schurken gleich in die Hände,« erzählte er, »und wäre nicht durch Gottes Gnade Jack Peppers im Lager zugegen gewesen, so hätten sie mich als Spion auf der Stelle gehängt. Freilich, als sich die Pforte des Gefängnisses hinter mir schloß, dachte ich gleich, daß es besser sei, zu sterben, als dort zu leben. Shelby, der Aufseher stahl mir sofort meinen Rock und meine Mütze –«

»Martin, der Aufseher hätte gestohlen?«

»Wie ich Ihnen sage. Auch meine erste Ration hat er selbst verzehrt. Dann drangen diese häßlichen, mit Ungeziefer bedeckten Gestalten auf mich ein und nahmen alles, was ich an Kleidungsstücken noch besaß; die Lumpen, in denen Sie mich fanden, wurden mir dafür zugeworfen. Ich habe ein Dutzend in den Sand gestreckt, aber schließlich behielt doch die Überzahl den Sieg; halb wahnsinnige Menschen schlugen mit den Fäusten so lange auf meinen Kopf, bis ich ohnmächtig hinfiel.«

»Und dann?« fragte Lionel.

Der Fischer schauderte. »Man brachte uns gegen Abend halbverdorbenen Speck, zwei Unzen vielleicht, dazu ein Stückchen Brot, aber mir nahmen es andere, Stärkere aus den Händen, ich bekam nichts, – das grauenhafte Wasser konnte ich nicht genießen.«

»So daß Sie also in der ganzen Zeit ohne Nahrung blieben? Armer Martin! das alles haben Sie für uns durchlitten.«

Jetzt lächelte der Fischer. »Dafür danke ich Gott!« sagte er. »Ganz umsonst solche Martern, das wäre zu schrecklich gewesen!«

Sie überhäuften alle den einfachen, guten Menschen mit Dankesbezeugungen und Aufmerksamkeiten jeder Art, er wurde unter sorgsamer Pflege wieder gesund und nun entstand so allmählich für die ganze kleine Schar der Flüchtlinge die Frage, wann das Asyl zu neuer Wanderung durch die Welt verlassen werden müsse.

Neubert hatte eines Tages dem Trapper vorgeschlagen, ihn und die Seinigen nach Pennsylvanien und von dort weiter nach New York zu begleiten, aber Jack Peppers schüttelte den Kopf. »Ich will meine Kräfte der Konföderation widmen, so lange sie existiert, Sir! Ich kann nicht anders, – mein Herz hängt an der Sache des Südens!«

Der Kaufmann nickte. »Ich wäre der Letzte, um Ihnen das zu verübeln, Sir! Aber sagen Sie mir eins, raten Sie mir, wenn es Ihnen möglich ist! Was beginne ich mit Mr. Forster, der inzwischen seine Gesundheit wieder erlangt hat?«

Eine leichte Röte trat in das hübsche Gesicht des Trappers. »Ich bringe den Herrn nach Kentucky!« antwortete er. »Mr. Forster besitzt Hunderte von Sklaven, sein ganzes Vermögen steckt in der schwarzen Ware, er möchte sie also auf den Markt werfen, ehe es vielleicht hierfür zu spät wird.«

Neubert nickte. »Das nimmt mir einen Stein vom Herzen,« versicherte er. »Ist der Tag Ihrer Abreise schon bestimmt, Mr. Peppers?«

»Nein, noch nicht, Sir, ich möchte erst einige Erkundigungen einziehen. Es ist in dieser Gegend ein starker Trupp Sioux-Indianer gesehen worden, – diese Leute führen auf eigene Hand den Krieg gegen die Regierungstruppen mit, wie Sie wissen. Zu ihnen will ich stoßen.«

Neubert nickte. »So scheint denn alles geordnet,« sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Bill und Martin wollen Flottendienste nehmen, ich selbst fange mein Geschäft von vorn wieder an, indem ich als Pedlar (Hausierer) durch das Land ziehe. Wenn wir unsern Bestimmungsort glücklich erreicht haben, gehen Hermann und Lionel zur Armee.«

Der Trapper antwortete nicht. Ihm wurde bei diesem Gespräch das Herz in der Brust so weh, so weh, er konnte kaum atmen. Alle Voraussetzungen, alle Hoffnungen seiner Freunde drehten sich nur um einen Mittelpunkt: der Süden sollte geschlagen, zertreten werden.

Neubert ging an diesem Tage zu den Spitzen der Militärbehörden und erbat sich die Erlaubnis, einen der Bahnzüge nach dem Norden mit den Seinigen benutzen zu dürfen. Es sollte ein Zug abgelassen werden, der die Transportfähigen unter den ehemaligen Gefangenen in ihre Heimat brachte, das hatte er erfahren und nahm die Gelegenheit wahr, um Frau und Kinder vom Kriegsschauplatze zu entfernen.

Die Erlaubnis wurde bereitwillig gegeben und Neubert eilte nach Hause, um den Seinigen die frohe Botschaft zu verkünden. Morgen ging es nordwärts, in zwei Tagen war die Landesgrenze erreicht und damit jede mögliche Gefahr vorüber.

Die Kinder sprangen fröhlich umher, auch Frau Neubert hatte sich vollständig erholt und frischen Mut gefaßt, – so schien denn nun alles gut.

Lionels Gesicht zeigte den Widerschein inneren Glückes. Wenn Virginiens Grenze hinter ihm lag, so war er frei, der entsetzlichen, lebenszerstörenden Sklaverei für immer entronnen. Weshalb ging nicht der Bahnzug schon heute abend? Bis morgen zu warten schien unerträglich.

Neubert lächelte. »Jetzt auf dem Punkte des endlichen Gelingens ergreift dich die Ungeduld?« sagte er lächelnd.

Lionels Gesicht erglühte. »Mir ist bei der Sache nicht so recht wohl,« platzte er heraus. »Es wäre zu viel Glück auf einmal!«

In Frau Neuberts sanften Augen schimmerten Thränen. »Zu viel Glück?« wiederholte sie leise. »Wenn ihr beide in den Krieg zieht, Sie und Hermann!«

»Das müssen wir, Mama. Darfst du wohl von den Söhnen anderer Mütter verlangen, daß sie mit ihrem Leben, ihrem Blute dich beschützen, während dein eigenes Kind zu Hause am wohlgesicherten, friedlichen Herd sitzt?«

Frau Neubert streichelte sein erregtes Gesicht. »Ich kann zu einer Antwort nach Recht und Billigkeit in dieser Beziehung nicht gelangen,« antwortete sie einfach. »Ich fühle nur, daß es mir das Herz zerreißt, mein Kind in die Gefahr hineinzuschicken.«

Eine Pause folgte diesen Worten, bis endlich Herr Neubert leicht den Kopf schüttelte. »Da wären wir ja allesamt in eine ganz thränenvolle Stimmung hineingeraten,« sagte er, wider Willen von dem Ernst des Augenblickes erfaßt. »Laßt uns nicht so weit in die Ferne blicken, Kinder! – Unter Verhältnissen, wie die gegenwärtigen, lebt man vernünftigerweise nur der Stunde. Was die nächste bringt, mag Gott wissen.«

»Gutes nicht!« dachte Lionel. »Ich kann die schlimme Ahnung auf keine Weise abschütteln. Irgend ein böses Ereignis steht bevor.«

Aber er schwieg aus Rücksicht für die übrigen.

Neubert begab sich in das Zimmer des Kentuckiers, um mit diesem vor dem Scheiden eine letzte Rücksprache zu nehmen. Mr. Forster hatte sich während seines Hierseins der Familie völlig fern gehalten, er zeigte, daß ihm ein vertraulicher, herzlicher Verkehr unerwünscht sei, aber dennoch wollte Neubert nicht ohne Abschied den Genossen der beschwerlichen Reise für immer verlassen, er klopfte daher an die Tür desselben und als keine Antwort erfolgte, öffnete er, um hineinzusehen.

Das Zimmer war leer.

Neubert entzündete eine Lampe und hielt Umschau. Auf dem Tische lag der Anzug, den er aus eigenen Mitteln dem unfreiwilligen Gaste gekauft hatte, ebenso die Wäsche und der Hut. Mr. Forster mußte also die arg zerrissenen Gewänder, in denen er aus dem Wasser gezogen worden war, wieder angelegt haben, um sich entfernen zu können, ohne einen Dank schuldig zu bleiben, wenigstens für Dinge, die sich nötigenfalls entbehren ließen. Was er genossen und an Pflege und Aufsicht erhalten hatte, das mochte ihn ohnehin schwer genug drücken.

Neubert sah umher. Nirgends ein Wort, ein Zeichen des Abschieds? Nirgends ein Dank für die, welche ihm unter Aufopferung aller ihrer Kräfte das Leben gerettet hatten?

Nichts! – Gar nichts!

Und nun bemächtigte sich die Verstimmung auch des sonst so ruhigen, wohlwollenden Mannes. Mr. Forster galt seinem Herzen nichts, er fürchtete auch von der heimlichen Entfernung keinen Schaden, aber – die Erfahrung that doch weh. Von der politischen Meinungsverschiedenheit, von dem Gedanken an einen erlittenen Verlust sollte niemals die natürliche Dankbarkeit des Herzens erstickt werden können.

Als später der Trapper kam, fand sich's, daß dieser um Mr. Forsters Entfernung gewußt hatte. »Über derartige Dinge schweigt man am besten ganz, Sir! nicht wahr? – Was ich vielleicht für Sie that, – eine Warnung, mehr nicht! – das geschah mit dem Herzen und um eines längst verstorbenen Wohlthäters willen. Mr. Charles Trevor hat mir viel Gutes erwiesen, ich bin auch vollkommen überzeugt, daß in seinem Testamente Master Lionel den Freibrief erhalten hatte, daher stand ich ihm bei, obwohl er die Sache des Südens glühend haßt. Meine Gefühle sind mit dem Herrn aus Kentucky, das dürfen Sie mir nicht übel nehmen.«

Sein Gesicht war während dieser ungewohnt langen Rede ganz rot geworden; der ehrliche Bursche konnte nicht so ausdrücken, was er empfand und daß er ein schweres Opfer gebracht hatte, nur um des Herzens willen, aber Neubert verstand ihn vollkommen und schätzte nur um so höher, was nicht aus politischer Sympathie hervorgegangen war. Er drückte herzlich die Hand des viel jüngeren Mannes und fragte dann noch, ob Mr. Forster mit den zum Leben nötigen Mitteln versehen sei, sonst – –

Aber Jack Peppers wehrte ihm. »Alles in Ordnung, Sir! Späterhin wird Mr. Forster zurückzahlen, was Sie ihm gütigst vorgestreckt haben.«

Der Kaufmann nickte gelassen. Er fragte sich, ob es noch möglich sein würde, Sklaven zu verkaufen, aber er war viel zu feinfühlend, um diese Zweifel auszusprechen, sondern lud nur den Trapper ein, noch einen letzten, fröhlichen Abend im Kreise der Familie zu verleben.

Es wurde nur ein Trinkspruch ausgebracht, der auf eine glückliche Reise und hier stimmte Jack Peppers von Herzen mit ein, während die Frage des Sieges oder der Niederlage der einen und der anderen Partei gänzlich unberührt blieb. Eine Entscheidung mußte jetzt bald erfolgen und Gott selbst würde sie treffen.

Vierzehn Tage einer ungestörten Ruhe hatte die kleine Familie in der hübschen Villa verbracht, – jetzt kam abermals der Aufbruch. Jack Peppers wußte in der Stadt vertraute Personen, denen er die Schlüssel überliefern wollte, zuvörderst aber brachte er seine Schützlinge an den Bahnhof, wo schon mehrere Hundert von befreiten Kriegsgefangenen versammelt waren.

Wie verändert sahen die Leute aus! Reinliche Kleidungsstücke waren an die Stelle der Lumpen getreten, jeder Mann trug sein Bündel mit Wäsche und Lebensmitteln unter dem Arme, die Gesichter, obwohl noch krank und verfallen, zeigten doch wieder ein menschenähnliches Aussehen, die Augen blickten ruhig, ja sogar voll neuer Hoffnung in die Zukunft. Ging es doch der Heimat entgegen, der langentbehrten, geliebten, dem Ausruhen an der Seite derer, welche den tapferen Helden so manch heißer Schlacht auf Erden die Teuersten waren.

Auch eine Anzahl Geschütze befand sich bei dem Transport, die Zwölfpfünder, welche an allen vier Ecken des Gefängnisses gestanden und so manchen braven Regierungssoldaten weggefegt hatten, ferner die Fahnen der Rebellen, im erbitterten Kampfe ihren Trägern entrissen, und für irgend ein Museum der Nordstaaten mehrere Schilder von amtlichen Gebäuden, alle mit der Inschrift: Konföderierte Staaten von Amerika.

Zwei Stabsoffiziere, begleitet von einer Kompanie Linientruppen, führten außerdem eine sehr wertvolle Kiste mit sich, die genauen Karten von Virginien enthaltend, jede Straße, jeden Feldweg oder Fluß. Der ganze Train wurde von Infanteriesoldaten geleitet.

Ein buntes Gewimmel füllte den Bahnhof, niemand dachte an drohende Wolken oder Gefahren. Zu Hunderten standen solche Gefangene, die fürs erste den weiten Transport noch nicht vertragen konnten, auf dem Bahnhofe und baten ihre glücklicheren Kameraden, in der Heimat dies oder jenes für sie auszurichten. »Grüße mir den! und die! Laß mich wissen, ob die Meinen noch leben, ob es ihnen wohlergeht! – Sieh nach meinen Kleinen, Kamerad, erzähle ihnen vom Vater! willst du das?«

So klang es durcheinander und manche verborgene Thräne quoll heiß aus dem Herzen hervor, manch' verräterisches Zucken lief um bärtige Lippen. Vielleicht wandte sich nochmals das launische Kriegsglück, ehe sie selbst zur weiten Reise genügend gestärkt waren, vielleicht sahen sie nie unter der Sonne die Teuren wieder, nach denen gerade jetzt ihre Herzen so heiß, so innig begehrten.

Der erste Signalpfiff erklang und das Einsteigen begann. Einer der Offiziere sah nach allen Seiten umher. »Dennis!« rief er. »Dennis, wo bist du?«

Bill horchte plötzlich hoch auf. Dennis! war das nicht der Mann, dem treue Freunde in der Heimat damals die Ziehharmonika bestimmt gehabt hatten, das Instrument, welches mit allen anderen Liebesgaben den Konföderierten zur Beute wurde und das er, Bill, jetzt in seinem großen Bündel auf dem Rücken trug?

Ein Diener kam eiligst herbeigelaufen und wollte schon in das ihm von dem Offizier angewiesene Koupee steigen, als Bill plötzlich die aus der Brieftasche hervorgezogene Photographie der beiden Kinder gerade vor seine Augen hielt und ihn ganz ohne Vorbereitung fragte: »Du, Kamerad, sag' mir's schnell, kennst du die Kleinen?«

Der Bursche sah aus, als habe ihn ein Zauber getroffen. »Herr Hauptmann!« rief er, »Herr Hauptmann, da ist ein Bild von Bessy und Charlie! – So wahr ich lebe, sie sind es! Und wie gewachsen! – Kommen Sie doch her, Herr Hauptmann!«

Mit drei Schritten hatte der Offizier den Diener erreicht. Jetzt nahm er aus dessen Händen das Porträt und von seinen Lippen fielen, kaum bewußt, zwei Worte, deren Klang alle Umstehenden aufs tiefste erschütterte. »Meine Kinder!« – –

Bill hatte schon die Ziehharmonika ausgepackt und sie dem Burschen in die Hände gedrückt. »Du,« sagte er, »mußt nichts übel nehmen, Kamerad! Wir fanden auf der Flucht vor den Rebellen im Walde die verlassenen Proviantwagen und aßen uns satt. So kam auch deine Harmonika in unsere Hände. Nun hast du sie wieder!«

Zweiter Pfiff. Kommando: »Einsteigen!«

Der Hauptmann fuhr mit der Rechten über sein Gesicht. »Dennis,« sagte er halblaut, »Dennis, das Bild schenkst du mir!«

Der Bursche sah ihn an, in seinen Augen glänzte ein feuchter Schimmer. »O, Herr Hauptmann,« stammelte er nur, »Herr Hauptmann!« – – –

Während dieses kleinen Zwischenfalles hatte der Trapper unseren Freunden der Reihe nach die Hand gegeben und ihnen Lebewohl gesagt. Herr Neubert dankte nochmals dem gutmütigen jungen Manne für seine bewiesene Treue, die Kinder hängten sich an ihn und wollten wissen, wann er ihnen nachkommen werde, auch Lionel drückte immer wieder seine Hand. »Gott behüte Sie, Jack! Ich hoffe, daß wir uns nicht zum letztenmale gesehen haben!«

Der Trapper nickte. »Wolle Gott, daß ich Sie als Gebieter von Seven-Oaks wieder treffe, junger Herr! Es gehört Ihnen, davon bin ich überzeugt.«

Lionel erstickte einen Seufzer. »In Philipp Trevors Händen weiß ich mein liebes Seven-Oaks gut verwahrt,« antwortete er. »Wenn Sie nach Richmond kommen, Jack, so grüßen Sie ihn tausendmal, – wollen Sie das?«

»Gewiß! Gewiß!«

Das dritte Zeichen wurde gegeben und die Räder begannen sich zu drehen. Aus dem Koupee, in dem Dennis saß, erklang die lustige Melodie eines Marsches, in dessen Laut alle, die auf dem Bahnhof anwesend waren, mit lauter Stimme einfielen. Tücher und Hüte wurden geschwenkt, ein brausendes Hurra erfüllte die Luft, noch einen schrillen Pfiff sandte die Lokomotive als Abschiedsgruß zurück, dann verloren sich die letzten Wagen in der Ferne und pfeilschnell rasselte der Train dahin durch den stillen warmen Sonnenschein.

Hermann und Lionel wären zwar lieber gleich auf dem Kriegsschauplatze geblieben und an Ort und Stelle als Freiwillige in die Armee eingetreten, aber sie hatten den Bitten der Eltern nachgeben müssen und durften sich daher jetzt auf einige Wochen der Erholung im voraus freuen. Wenn erst die Grenze des Landes glücklich erreicht war, dann gab es keine Schwierigkeiten mehr zu überwinden.

Durch den dichten Wald brauste der Bahnzug dahin. Ihm voraus lief eine einzelne Lokomotive, die das Geleise auf seine Sicherheit zu prüfen hatte. Noch befanden sich ja die Truppen der Regierung auf feindlichem, erst zum Teil eroberten Boden, es war daher immer möglich, einem unerwarteten Angriff begegnen zu müssen, man mußte sich ebensowohl gegen die Verzweiflungsthaten der Bewohner, als gegen einen etwaigen militärischen Angriff zu schützen suchen.

In allen Koupees wurde gesungen, hier dieses, dort jenes Lied. Nach Hause! Nach Hause! – durch alle verschiedenen Weisen klang wieder und wieder dieser eine, alles beherrschende, entzückende Jubellaut.

Auch unsere beiden jungen Freunde machten ihre Pläne. In Pennsylvanien hatte Herr Neubert Verwandte, bei denen gab es vielleicht eine kurze Rast und dann wurde die Reise nach New York fortgesetzt. Erst wenn der Friede zurückgekehrt und eine vollständige Ordnung aller Verhältnisse wieder eingetreten war, nach langer, jetzt noch fernliegender Zeit konnte man daran denken, die unter dem Boden des Schuppens in der Heimat verborgenen Schätze zu heben und vielleicht das zerstörte Haus wieder aufzubauen, bis dahin mußte das gerettete, den Ledergürtel füllende Geld ausreichen und durch Mühe und Arbeit auf redlichem Wege neues erworben werden.

»Gott hat uns so weit treulich beigestanden,« meinte Neubert, »er wird uns auch ferner nicht verlassen.«

Die allgemeine Stimmung war jetzt besser, als am vorhergehenden Tage. In der Gesellschaft so vieler fröhlicher, von Mut und Freude erfüllter Menschen sich zu befinden, das reißt auch den Einzelnen unwiderstehlich mit fort. So hell vom Himmel schien die Sonne herab, so lustig klangen Gesang und Spiel! – Sollte es denn wirklich auf Erden nur noch Leid und Thränen geben? Sollten nie Ruhe und Behagen zu den abgehetzten Menschen zurückkehren?

Man mußte nur hoffen und vertrauen, dann war alles gut.

Jetzt hatte der Zug die erste Station erreicht, ein einsames Wärterhaus mit einer Pumpe, um frisches Wasser einzunehmen. Als die Räder langsamer liefen, sah man unter dem dichten Blätterdach des Waldes ein Zeltlager mit brennendem Feuer und fragwürdigen, zerlumpten Gestalten. Männer in den abenteuerlichsten Anzügen aus allen möglichen Uniformstücken der beiderseitigen, kriegführenden Parteien, Kerle mit wahren Schurkengesichtern lagen im Schatten der Eichen umher und rauchten behaglich ihre kurzen Pfeifen, während mehrere Frauen, in der äußeren Erscheinung würdige Seitenstücke ihrer Männer, sich bei dem Feuer zu schaffen machten und allerlei gute Dinge brieten und kochten, – Rindfleisch, Kaffee, Pfannkuchen und Haufen von Eiern. Sogar Kinder befanden sich bei der Truppe, eine ausgelassene Schar, die den Zug mit lautem Hurra begrüßte.

Das waren sogenannte ›Bummers‹, Marodeurs und Spitzbuben, die den kriegführenden Armeen auf dem Fuße folgten und nach Belieben alles stahlen, was irgend in ihre Hände fiel, wahre Hyänen der Schlachtfelder, denen es nicht darauf ankam, Tote und Sterbende mit bewaffneter Hand zu verstümmeln, um sich ihrer Wertsachen zu bemächtigen, Leute, die keiner politischen Partei angehörten, sondern alles und alle brandschatzten, gleichviel, wer immer es sei.

Auch dieses Bild glitt vorüber. Nach einer Rast von wenigen Minuten wurde die Fahrt fortgesetzt und wieder neue Umgebungen mit der Schnelle des Gedankens durchflogen. Vor den Blicken der Reisenden erschienen die wundervollen virginischen Gebirgsformationen, die eigentümlichen Gestalten, welche den Bergen ihre Namen gegeben haben. Klare Seen lagen dazwischen, Felder, die in diesem Jahre nicht bestellt waren, Höhenzüge, weiß vom Schnee der blühenden Tulpenbäume.

Auf steilem Felsvorsprung stand der Hirsch und sah hinab ins Thal, – mit scheuem Sprunge verschwand er, als das Dampfroß herankeuchte. Bunte Vögel flatterten auf, Tauben in Unzahl; Scharen von zierlichen Rehen flüchteten in das Geklüft.

Dann kam wieder der Wald. Schwarztannen hingen über tiefen Abgründen, um ihre Wurzeln flocht sich großblätteriger Epheu, weiße Narzissen mit goldigem Stern blühten am Rande, Orchideen schaukelten ihre Blüten in der Luft.

Stiller, ungestörter Friede überall.

Das lange, schnelle Fahren ermüdet, man schließt die Augen und lehnt den Kopf gegen die Rückwand des Sitzes, man schlummert halb und halb, träumt vielleicht sogar, wenigstens läßt man die Wirklichkeit für den Augenblick außer acht. Eintönig rollen die Räder, blitzschnell entschwindet den Sinnen das eben gesehene Bild, – man gähnt und schläft.

In den anderen Koupees war jetzt, nach fünfstündiger Fahrt, das Singen und Spielen verstummt. Die Sonne stieg höher und höher am Himmel empor, es wurde immer heißer und unbehaglicher, die Luft in den engen Räumen drückender, jegliche Unterhaltung schien zu stocken, selbst die der Eifrigsten, derjenigen, die es nicht müde wurden, immer leise fortzuplaudern von der Heimat, von dem beglückenden Wiedersehen mit denen, welche sie liebten.

Alles schwieg, alles träumte im Wachen oder Schlafen.

Da ertönte plötzlich, schrill und langgedehnt, ein Pfiff von der vorauslaufenden Lokomotive, fast im gleichen Augenblick antwortete die des Zuges, – es war, als würden sämtliche Wagen mit jähem Ruck hintenüber geworfen, sie stießen aneinander und flogen nach rechts und links, dann brauste der Zug mit etwas verminderter Fahrt wieder vorwärts.

Was bedeutete das?

Alle Schlafenden waren erwacht, aller Augen sahen einander an. Schon wieder ein neues Signal! – Es wird doch kein Unglück geschehen sein?

Lionel beugte sich aus dem Fenster, vor ihm und hinter ihm waren alle übrigen Thüren mit Köpfen besetzt, aber es ließ sich nichts Auffälliges entdecken. Die Lokomotivführer gaben beide Gegendampf, sie wechselten immerfort Zeichen, die Fahrt wurde langsamer und langsamer, endlich stand der Zug. Aus welchem Grunde wohl?

Ein Schreckensruf klang vom ersten Wagen herüber. »Die Brücke ist abgebrochen! Wir können nicht weiter!«

Ein ungeheurer Tumult, eine allgemeine Verwirrung folgte diesen Worten. Aus allen Koupees kletterten die Insassen ins Freie hinaus, jeder Einzelne wollte sich vom Stande der Dinge durch eigene Anschauung überzeugen, wollte wissen, ob keine Aussicht sei, die unterbrochene Fahrt wieder aufzunehmen. Offiziere und Soldaten eilten an die Stelle, wo hart vor einer zerstörten Brücke die leere Lokomotive zum Stehen gebracht worden war. Noch zwei Raddrehungen weiter hinaus und sie hätte in den Fluß stürzen müssen, – nach ihr vielleicht der Transportzug mit über tausend lebenden menschlichen Geschöpfen.

Jetzt hatten die Koupees alle ihre Insassen herausgegeben. Einer der Offiziere sammelte seine Leute, er wollte ohne Zeitverlust eine Notbrücke schlagen lassen, um nur erst einmal vom Fleck zu kommen. »Höchst wahrscheinlich wird doch in dieser Gegend ein Angriff geplant,« sagte er.

Noch waren die Worte nicht verklungen, als vom Walde her ein tausendstimmiger, ohrenzerreißender Schrei ertönte. Gestalten in Lederkleidung, behangen mit zahllosen kleinen Glocken und Schmuckgegenständen aller Art tanzten wie die Besessenen unter den Bäumen ihren Kriegstanz und waren dann auf einen Schlag eben so schnell wieder verschwunden. Gleich einem Spuk kam und ging die Erscheinung, dann lag über dem Walde wieder die frühere Stille.

Voll Entsetzen sahen die Weißen einander an, von Lippe zu Lippe ging ein einziges, aber niederschmetterndes Wort: »Indianer!«


 << zurück weiter >>