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Delten kam nun wieder nach wie vor jeden Morgen zu Iduna hinüber. Sie selbst wagte es nicht mehr, ihn aufzusuchen. Mit abergläubischer Scheu schweiften ihre Blicke hinüber zur Villa mit der geschwärzten Mauer. Manchmal sah sie kleine Gestalten am Gartenzaun entlang huschen, den Bildhauer selbst konnte sie nie erspähen. Und Delten wagte sie nicht mehr nach ihm zu fragen; sie fürchtete sich vor seiner kalten abweisenden Art, und sie wollte auch nicht in Konflikt geraten mit sich selbst. Jeder Zwiespalt regte sie maßlos auf.
Sie fing an, sich zu kontrollieren, bewußter zu leben. Wenn sie sich auf phantastischen Träumereien ertappte, sagte sie sich:
»Bald bin ich verheiratet, und dann ist alles anders.«
Aber auch ihre Ehe stellte sie sich so seltsam vor, wie ein mystisches Aufgehen ineinander, etwas ganz Unirdisches. Manchmal träumte sie, sie wäre schon verheiratet und lustwandle in einem großen Garten; rechts von ihr ging ihr Mann in dem langen Überzieher, wie sie ihn damals bei ihm zu Hause gesehen, links ein Jüngling in weißer Toga, wie ein Römer, und das war ihr Sohn. Aber Delten nannte ihn: unser Gedanke. Und dann beugten sie sich beide vor dem Jüngling. Der aber breitete die Arme aus und rief:
»Ich habe mich so nach dir gesehnt, Dudi ...«
Und wie sie näher hinsah, war es Georgy! Und sie warf sich an seine Brust und rief:
»Nimm mich fort, nimm mich fort von hier, ich erfriere.«
Der Traum wiederholte sich öfters, und dann mußte sie tagsüber viel an Georgy denken: wie weich er zu ihr gewesen, wie still sie beide stundenlang vor dem Kaminfeuer gesessen mit verschlungenen Händen. Sie stellte sich die reine weiche Linie seines Profils vor, die tiefblauen Augen unter den schmalen, feinen Brauen, und wenn dann die Tür aufging und Delten eintrat – so bleich und herb und dunkel, dann starrte sie ihn an wie eine fremde Erscheinung, und es regte sich etwas Feindseliges in ihr gegen ihn. Ging er dann fort nach einer Stunde oder zwei, dann ward ihr die Trennung wieder schwer.
»Gegen Abend kommst du wieder, nicht wahr?« fragte sie.
»Jawohl ...«
»Noch früher, bitte, ja? Oder nein, geh lieber gar nicht fort, wir wollen zusammenbleiben, heute, ja?«
Sie bat so inständig, daß er meist einwilligte. Dann war sie ganz glücklich, zutunlich wie ein Kind. Sie küßte ihm die Hand, legte den Kopf an seine Wange und fragte:
»Hast du mich lieb?«
Aber wenn er am nächsten Morgen wiederkam, da hatte sie wieder etwas in sich zu besiegen – war es Furcht oder Mißfallen – sie wußte es nicht recht. Auch kam es ihr überhaupt nicht klar zum Bewußtsein, nur daß sie litt, wußte sie. Bei jeder Trennung, die ihr so schwer ward, fürchtete sie sich vor dem Wiedersehen.
»Wir wollen nun endlich ganz zusammenbleiben, nicht das ewige Auseinandergehen«, sagte sie einmal.
»Es hängt von dir ab, Iduna.«
»In vierzehn Tagen, willst du?«
»Gut, in vierzehn Tagen.«
Nun kam gesündere Natürlichkeit in ihre Beziehungen. Schon des Morgens zogen sie aus, Wohnung suchen.
»Die möblierten Zimmer schlag dir nur aus dem Sinn«, sagte sie lachend. »Ich will mein Nest haben, ein richtiges, schönes Zimmer für mich, und ein Dienstmädchen, das lauter gute Dinge kochen soll. Und wir werden ganz allein bei Tisch sitzen, und niemand wird herumlungern und uns die greuliche Speisekarte zuschieben. Und du brauchst dir deine Hände nicht zu verderben mit dem Heizen. Aber eines sage ich dir gleich: Schlafrock und Pantoffeln darfst du nicht tragen, und mich wirst du auch nie in Papillotten zu sehen bekommen, die brauche ich nicht, alles Natur bei mir. Wirst sehen – die schönen langen Haare, die ich habe!«
Eva regte sich in ihr. Und das gab ihr einen besonderen Liebreiz.
Lange konnte sie sich für keine Wohnung entschließen. Sie verlangte immer etwas Apartes. Das banale Berliner Zimmer mit dem begrenzten Ausblick in den Hof, die gegenüberliegenden Fenster, an denen die Mägde schnatternd und geschirrklappernd standen, waren ihr ein Greuel.
Endlich fand sie in einem Eckhause, was sie suchte: helle, ineinandergehende Zimmer, mit lichten, einfarbigen Tapeten und schmalen Goldleisten an den hellgestrichenen Türen.
»Das größte Zimmer bekommst du, Julius, da haben doch deine vielen Bücher Platz, nicht wahr?«
»Es ist lieb von dir, Kind, daß du vor allem an mich denkst, ich danke dir. Aber die Bücher bleiben fürs erste da, wo sie sind.«
Sie sah ihn an mit großen erstaunten Augen.
»Du behältst die Wohnung dort?«
»Ja, Kind. Dringe nicht weiter in mich. Was ich tue, tue ich nicht ohne reifliche Überlegung. Verlange keine Erklärung, aber meinen Entschluß ändere ich fürs erste nicht. Später, viel später wirst du mich auch darin verstehen.«
Sie schmiegte sich an ihn, schüchtern und zaghaft.
»Hast du nicht soviel Geld, wie ich, Julius?«
»Vorläufig wohl eben soviel, Kind, da mein Vater sein Vermögen mir und deiner Mutter zu gleichen Teilen vermacht hat, und du die Erbschaft deiner Mutter angetreten hast. Einen Zuschuß von seiten deines Vaters müßtest du freilich, so lange du mit mir lebst, zurückweisen. Suche also nicht in materiellen Gründen die Lösung dessen, was dir nicht immer ein Rätsel bleiben wird.«
Da war es wieder, jenes Fremde, Geheimnisvolle, was sie sich nicht erklären konnte. Wie ein leises Zurückziehen von seiner Seite, da sie ihn gerade festzuhalten glaubte. Ein schweres, drückendes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Er aber suchte sie durch ungewohnte Heiterkeit aufzuhellen, bestimmte sie, die Wohnung zu nehmen, und da es mittlerweile Abend geworden war, führte er sie in eine feine Weinstube, bestellte eine Flasche Sekt zum Abendbrot und stieß mit ihr an.
Nun wurde sie wieder vergnügt und gesprächig. Der Champagner stieg ihr leicht zu Kopf, und sie lachte und scherzte, ohne zu merken, daß er kaum von seinem Glase nippte.
»Du hast mir noch nie gesagt, daß du mich hübsch findest«, flüsterte sie und sah ihn mit blitzenden Augen an.
»Du wirst hübsch werden«, erwiderte er lächelnd.
»Als Frau, nicht wahr? Warum wird man oft hübscher als Frau, sag'? Ist's die Liebe, sag'?«
Sie drang in ihn wie ein neugieriges Kind.
»Warum machst du mir nicht den Hof, Julius? Nie hast du mir eine Blume gebracht oder feine Bonbons ... Ich nasche so gerne, und liebe den Duft der Blumen, besonders wenn sie zu welken anfangen. So was Süßes, Schmerzliches ist in diesem Duft ...«
»Wenn du sonst keine Wünsche hast! Heute noch sollst du eine welke Rose von mir bekommen.«
»Nein, nicht so ... frisch will ich sie bekommen, aber in meiner Hand soll sie welken, an meiner Brust, in meinem Haar ... so meine ich's. Zu Hause schmückte ich mich oft mit Blumen, aber zu Tisch durfte ich nicht so kommen, denn Papa nannte es Firlefanz und die Mutter ... sie sagte so wie Papa.«
Delten fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Ähnle ich Mama, Julius, sag'?«
»Nein, Kind, gar nicht ...« »Ich glaube auch nicht. Mama war sehr still und ganz blond. Ich bin gar nicht still ... O, du kennst mich noch nicht, Julius ... jetzt bin ich so, wie ich wirklich bin: weinen möchte ich und lachen und jemand lieb haben, so schrecklich lieb haben, und dieser Jemand dürfte mir nicht immer ›Kind‹ sagen.«
Sie lachte ihn schalkhaft an, und er drohte ihr leise lächelnd mit dem Finger:
»Dudi, ich glaube, du hast einen Schwips ...«
»Habe ich auch, Herr Doktor, aber das geht Sie gar nichts an. Wenn ich einen Schwips habe, bin ich viel netter. Schade, daß ich mich nicht hübscher angezogen habe. Du hast mich nie schön gesehen, Julius, weiß ist meine Lieblingsfarbe, weiß und schwarz. Aber zu Hause hatten wir keine geschickte Schneiderin, und unsere wollte mich immer nach der Mode kleiden, weißt du, Julius, die Mode, wie wir sie in die Provinz bekommen, mit einem Stich ins Übertriebene, Lächerliche. Eines Abends habe ich mir einen Spaß gemacht; die Tanten und Cousinen waren gerade zu Besuch, da ging ich herunter zu ihnen – weißt du, wie – in meinem langen mit Stickerei besetzten Nachthemd, bloß eine Schärpe um den Gürtel ... das Haar ganz aufgelöst ... du, Julius ... hübsch sah ich dir da aus ... Die Cousinen fragten, wer mir das Kleid gemacht hätte ... aber dann, als sie näher zusahen, lachten sie mich aus.«
»Wollen wir nicht gehen, Kind, es wird spät ...«
»Noch nicht, bitte, bitte ... So wundervoll frei fühle ich mich, so froh mit dir zu sein ... Und daß ich dir so nah sitze und dir doch nicht um den Hals fallen darf, das ist das Schönste ... Aber wenn wir erst draußen sind, dann gibst du mir einen Kuß, ja?«
»Zahlen.«
»Jetzt bin ich dir böse, Julius, schrecklich böse ... bis morgen früh wäre ich gerne hier geblieben.«
Nochmals, diesmal bestimmter, rief Delten:
»Zahlen.«
In demselben Augenblicke gingen zwei Herren an dem Tisch vorüber, der eine griff an seinen Hut und verneigte sich mit erstauntem Aufblick.
»'n Abend«, klang es kurz und abweisend von Deltens Lippen.
Überrascht sah Iduna auf die Herren, der eine kam ihr bekannt vor, wer war es nur? ... Und doch hatte sie hier keinen Bekannten... Aber die Züge, sie waren ihr nicht fremd.
Es war ein noch junger Mann mit klugen Augen, einer hohen, freien Stirn und sinnlichem Mund, wie magnetisch angezogen von Idunas ihm folgendem Blick, wendete er sich um ... verwirrt senkte sie die Augen.
Delten hatte mittlerweile die Rechnung beglichen, nun half er Iduna den Mantel umlegen. Auf der Straße zog er ihren Arm durch den seinen. Es war das erstemal, daß sie Arm in Arm gingen. Sie schwankte ein wenig während der ersten Schritte.
»Stütze dich auf mich«, sagte er.
»Ich bin so müde, Julius ...«
»Wir wollen eine Droschke nehmen.«
Er winkte einen vorbeifahrenden Taxameter herbei und half ihr einsteigen.
»Wer war der Herr, der dich grüßte?« fragte Iduna.
»Einer von jenen vielen Überflüssigen, die zum Verkehrsballast gehören. Du wirst ihn später kennen lernen.«
»Und der Herr mit ihm?«
»So, war noch einer mit? ... Weiß ich nicht ...«
Nach einer kleinen Weile fragte sie:
»Wir werden doch Leute bei uns sehen?«
»Ja, Kind, ich werde eine Auswahl treffen.«
Iduna kamen die rotangestrichenen Stellen in den Sinn, in den Büchern, die er ihr zu lesen gab. So würde es wohl auch mit den Menschen sein – –
Frau Busse, Idunas brave Wirtin, erwartete ihren Schützling ganz besorgt auf dem Flur.
»Ich hörte den Wagen vorfahren, Fräuleinchen, da dachte ich mir's, daß Sie kommen. Schon zehn Uhr durch ... waren wohl im Theater, heute?«
»Nein, Wohnung gesucht, gefunden, gemietet, dann Abendbrot gegessen, Champagner getrunken ... denken Sie ... Im Wagen habe ich geschlafen, und jetzt ...«
Frau Busse war Iduna ins Zimmer vorangetreten mit der brennenden Lampe, die sie auf den Tisch stellte. Der helle Schein fiel auf die Wand und beleuchtete das gezeichnete Porträt des früheren Mieters.
»Aber das ...«
Die folgenden Worte blieben Iduna in der Kehle stecken. Sie hatte in dem Bild den jungen Mann erkannt, dessen Züge sie so vertraut angemutet und dessen Blick so dreist auf ihr geruht hatte.
»Wie hieß Ihr Mieter?« fragte sie nun, mit erheuchelter Gleichmütigkeit auf das Bild zeigend.
»Herr Stahl hieß er, Hermann mit Vornamen.«
»Hermann Stahl«, wiederholte Iduna leise.
Sie fing an, sich auszukleiden. Nie hatte sie das Bild dabei gestört, jetzt war es ihr plötzlich peinlich. Sie schickte ihre Wirtin mit freundlichem Gute Nacht hinaus, dann löschte sie eilig die Lampe und schlüpfte im Dunklen ins Bett. – –
Mit schwerem Kopf erwachte sie am anderen Morgen, unzufrieden mit sich. Sie dachte an den gestrigen Abend zurück, an das tolle Zeug, das sie gesprochen ... Leises Schamgefühl stieg in ihr auf. Auch der Satz: »So, wie ich jetzt bin – bin ich in Wirklichkeit«, kam ihr in Erinnerung, vielleicht hatte sie damit eine Wahrheit gesagt, aber es war sicher nicht das Beste ihrer Natur, das da zum Durchbruch kam ... Jetzt entsann sie sich auch, daß Delten gar nichts getrunken hatte. Nüchtern, kalten Blutes, hatte er sie ausgehorcht, beobachtet, lebendig seziert mit seinem kühlen Verstand; im Gegensatz zu sonst – gar nicht gesprochen. Und sie hatte sich gehen lassen in all ihrem kindischen Frohsinn, der phantastischen Ungereimtheit ihres Wesens. So wild und aufgeregt war sie gewesen, daß der flüchtige Blick eines fremden Mannes ihr Blut in Wallung gebracht, daß unkeusche Gedanken in ihr erwacht waren beim Anblick seines Bildes – das Tageslicht tat ihr weh, sie Kopf nochmals die Bettdecke über den Kopf.
Nur niemanden sehen, nicht aufstehen, sich krank stellen ... wie konnte sie Delten heute gegenübertreten! Was sollte sie ihm sagen nach all dem Gestrigen! Und wie ein kleines Kind dachte sie: wenn doch heute nur etwas passierte, damit er nicht käme ...
Nun klopfte Frau Busse an die Tür, brachte das Frühstück und scherzte gutmütig über die Langschläferin.
»Jetzt aber heraus aus den Federn, Fräuleinchen, damit das Zimmer fertig ist, bis der Herr Doktor kommt.«
Iduna fügte sich ... Sie hatte ein Grauen vor der Unästhetik eines unaufgeräumten Zimmers. Auch sie selbst würde sich wieder wohler fühlen nach der kalten Abreibung, an die ihre englische Gouvernante sie gewöhnt hatte, und im knappen Gewande, mit ordentlich frisiertem Haar. So war es auch. Sie schalt sich aus wegen ihrer Angst, ihrer übertriebenen Sensibilität. Wenn Delten kam, wollte sie doppelt herzlich gegen ihn sein, er sollte nicht den Eindruck behalten, als habe nur Weinlaune aus ihr gesprochen.
Und wie sie vor einer Viertelstunde gewünscht, er möchte gar nicht kommen, so sehnte sie ihn jetzt herbei. Ihr Verhältnis zu ihm war ihr in seiner Abwesenheit immer etwas wechselndes, Beunruhigendes, wie ein stets nachträgliches Auflehnen gegen die Macht, deren unmittelbaren Wirkung sie sich nicht entziehen konnte.
Als sie eine Stunde später erwartend am Fenster stand, mit gemischtem Gefühl von Unbehagen und Ungeduld, sah sie drüben vor der Villa einen Leichenwagen stehen. Zwei schwarzgekleidete Männer gingen auf und ab vor dem Hause. Die Ahnung eines tragischen Ereignisses überkam Iduna, sie preßte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe, um nichts von dem zu verlieren, was sich dort zutrug. Bald sah sie Männer heraustreten aus dem Garten, mit einem langen, schwarzen Sarge. Unter den Männern erkannte sie Delten. Er war barhäuptig; sein schwarzes Haar, sein langer, schwarzer Rock flatterten im Winde. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie aus der Entfernung nicht erkennen, aber es lag etwas so ruhig Selbstverständliches in der Art wie er den Sarg von den Schultern auf den Wagen gleiten ließ, daß Iduna sich voll Grauen abwendete und in die Tiefe des Zimmers zurücktrat.
Jetzt wußte sie, was sie von ihm immer wieder abstieß – der Mangel an Menschlichkeit, wie ein Rechenproblem erschien er ihr, so ausgeklügelt und unerbittlich in der Konsequenz. Sie schlug die Hände vors Gesicht und verharrte so, lange ... ohne sich zu rühren, mit wilder, tiefer Empörung im Herzen, bereit als Anklägerin aufzutreten gegen den Mann, den sie zu ihrem Leiter und Richter gewählt hatte.
Und so leidenschaftlich war innerlich ihre Aussprache mit ihm, daß sie sein Eintreten überhörte.
Sie blickte erst auf, als sie eine leise kalte Berührung ihrer Hand fühlte. Beinahe so bleich wie er, war sie nun, als ihre Augen sich trafen.
Doch vermochte sie kein Wort zu sagen, sie starrte ihn nur immer an, voll Entsetzen, als wenn sie einen Mörder vor sich sähe ...
»Was ist dir, Iduna?« fragte er.
Aber er brauchte nicht zu fragen. So weit kannte er sie schon, um zu wissen, was in ihr vorgegangen war.
»Ein Überflüssiger hat sich weggeräumt ... geht dir das so nahe, Kind?«
»Daß du's gelitten ... das geht mir nahe. Daß du's geschehen ließest ... gestern ... du wußtest es ...«
»Nein, Kind ... es geschah während meiner Abwesenheit, um die Zeit, als wir vom Restaurant aufbrachen. Ich hatte wie eine Ahnung davon und drängte mit dem Aufbruch ...«
»Und du hast ihn allein gelassen den ganzen Tag? hast es gefühlt, wie er dem Tode entgegenging und ließest ihn gehen?«
»Er ist klüger gestorben, als er gelebt hat, Iduna. Was sollte er im Leben? Immer nur empfinden, niemals denken? Einen einzigen Gedanken hat er gehabt vor seinem Tode: ich bin überflüssig! – und zum erstenmal logisch – hat er danach gehandelt.«
»Aber er hatte Kinder«, warf Iduna leidenschaftlich ein.
»Der Aufgabe fühlte er sich eben nicht gewachsen. Ein schwankender Mensch war er, mit zertrümmerten Idealen, zerstörten Hoffnungen, ein Ichmensch, der nicht hinwegkam über die engen Grenzen seiner schwachen kleinen Seele, ein Mensch mit uferloser Sehnsucht und schwachem Denkvermögen. Nur das Nächstliegende hat er zuletzt erfaßt: ein Schuß, ein Knall ... dann kommt die Ruhe. Diese Ruhe ersehnte er. Nun hat er sie. Wer konnte ihm Besseres dafür geben? Bedeutet sein Tod einen Verlust für die Menschheit? Nein. Für seine Kinder – nein. Die sind jetzt besser aufgehoben, als sie es bei ihren Eitern waren, von denen ein Teil nur dem materiellen Genusse, der andere nur der Sehnsucht nach Unerreichbarem lebte. Und sollte ich dir auch unerklärlich scheinen – mit einem Gefühl der Befriedigung half ich heute bei grauendem Morgen ihn in den Sarg legen.
Besser ist's, in Erkenntnis leben, als in Erkenntnis sterben, aber noch besser in Erkenntnis sterben, als dahindämmern in Unklarheit und Schmerz.«
Er wartete eine Weile, dann fragte er:
»Hab ich recht, Iduna?«
Sie antwortete nicht, aber doch zog sie ihre Hand nicht zurück, als er die ihre erfaßte, wieder war etwas in ihm, was sie zwang, gegen ihr innerstes Gefühl zwang ...
Drei Tage später fand die Beerdigung statt. Iduna hatte es durchgesetzt, daß Delten sie mitnahm. Er tat es mit großem Widerstreben.
Von der kirchlichen Einsegnung der Leiche hatte man Abstand genommen. Die Trauergäste hatten sich alle gleich nach dem Kirchhof verfügt. Es war ein heller, kalter Novembertag. Die schwarz gekleideten Menschen schienen alle höchst vergnügt; es waren ihrer so viele, daß man die nächsten und wirklichen Leidtragenden kaum herausfand.
Iduna wunderte, sich, wie viele Menschen Delten kannte. Nie hatte er ihr von seinen Beziehungen zu anderen Menschen erzählt. Sie wunderte sich auch über seine kurzen, abweisenden Grüße, auch über das Aufsehen, das ihr Erscheinen an seiner Seite machte. Delten war die Aufmerksamkeit, die sie offenbar erregte, unangenehm.
»Der Kirchhof scheint mir denn doch gerade nicht der geeignete Platz, unsere Verlobung zu proklamieren«, murmelte er.
Es war eine seltsame Reizbarkeit in ihm, wie eine persönliche Feindlichkeit gegen jeden einzelnen. Ein paar Reden wurden am offenen Grabe gehalten – die großen Eigenschaften, das Talent des Dahingeschiedenen wurden gepriesen, die tragischen Familienereignisse erwähnt, die seinen Geist gestört hatten, so daß er Hand anlegte an seine Werke und dann an sich.
Delten wurde unruhig.
»So ein Blödsinn«, murmelte er.
Iduna wußte, was er damit meinte, aber einverstanden war sie nicht mit ihm. Auch sie hielt die Tat für die Handlungsweise eines Wahnsinnigen. Noch begriff sie nicht die Macht des abstrakten Gedankens. Nur, daß all das vor den zwei Kindern gesagt wurde, die in ihren schwarzen Trauerkitteln in erster Reihe standen, dünkte sie eine Brutalität. Sie mußte daran denken, welches grausige Spiel die Kleinen im Atelier getrieben, wie ihr Vater hilfesuchend bei Delten war ...
Nur Delten konnte ihm diese letzte Erkenntnis gegeben haben ... und das war ihr furchtbar. Sie fühlte sich schuldbewußt vor den Kindern da drüben, jenseits des offenen Grabes. Es war das erste Bekenntnis ihrer Solidarität mit Delten.
Nach der Beerdigung drängten sich viele Menschen an sie beide heran. Delten mußte sie vorstellen, es schien ihm wirklich peinlich zu sein. Die Leute verzogen ihre noch eben betrübt in die Länge gezogenen Gesichter zu freundlichem Grinsen.
»Also auch Sie, Doktor?« »Wer das je geglaubt hätte«, – »Sie, der geborene Junggeselle!« »Und wie kam denn das?« ...
Es sprach viel indiskrete Neugier aus allen Worten, Unglauben, maßloses Staunen, leichtes Mitleid mit Iduna.
Sie hatte gedacht, sehr stolz dazustehen als Braut und Frau eines Mannes wie Delten und dabei fühlte sie sich in Wirklichkeit nur peinlich berührt. Ihr war es, als erwarteten die Leute eine Erklärung von ihr, wieso es kam, daß sie, ein so junges Geschöpf, diesem finsteren, älteren Mann die Hand reichte ... Man dachte wahrscheinlich, sie sei ein armes Mädel, froh, eine Versorgung zu finden ... Sie sahen ja nur das Äußerliche einer Beziehung, die Menschen – wo die Liebe nicht wahrscheinlich schien, mußten Gründe materieller Art vorherrschen.
»Komm, Iduna«, sagte Delten und zog sie mit sich fort.
Einige hatten den Namen gehört: Iduna! So was verschrobenes, das paßte ihm gerade.
Instinktiv fühlte Iduna, daß die Leute ihn nicht für voll ansahen, für etwas, wie einen Narren, trotz des scheinbaren Respektes, den sie ihm zeigten. Doch kam ihr diese Empfindung nicht zum klaren Bewußtsein, aber schon wankte ihr bis dahin unerschütterlicher Glaube an seine Größe.
An der Kirchhofstür wurden sie abermals aufgehalten – Iduna erkannte in den zwei Gestalten, die auf sie zu warten schienen, die Herren vom Restaurant. Ein Ausweichen war unmöglich. Delten mußte vorstellen:
»Tonkünstler Reitz – meine Braut, Fräulein Flößner.«
Reitz verneigte sich und stellte nun auch seinen Begleiter vor: »Dr. Hermann Stahl ...«
Ich habe schon einmal das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen ... vor ein paar Tagen in der Weinstube von Knoop ...« sagte Dr. Stahl mit feinem Lächeln.
»Und ich habe dieses Vergnügen jeden Tag ... allerdings sehe ich Sie nur in Effigie«, erwiderte Iduna.
»So ...« »Ich wohne jetzt bei Frau Busse, und in dem Zimmer hängt Ihr Bild...«
Er lachte laut auf.
»Ach so, die scheußliche Zeichnung! Die gute Frau wird's mir wohl nicht verziehen haben, daß ich das greuliche Ding nicht mitgenommen habe. Ich bin jetzt doppelt glücklich darüber, weil es mir den Vorzug gibt, mich zu Ihren Bekannten zu rechnen.«
»Jedenfalls sind Sie mein erster und bis heute mein einziger Bekannter in Berlin gewesen.«
Iduna erkannte ihre eigene Stimme nicht – so hell und voll klang sie. Delten streifte sie mit einem Blick, in dem etwas Mißbilligung lag.
Sie duckte sich innerlich zusammen unter diesem Blick.
»Wollen wir nicht gehen, Julius?«
Man verabschiedete sich voneinander, und Iduna hängte sich ostentativ in Deltens Arm ein. Eine Weile gingen sie schweigend.
»Du bist unzufrieden mit mir, Julius?« fragte sie endlich mit furchtsamem Aufblick.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, nur bang ist mir vor deiner Zukunft. Und ich weiß nicht, wie ich dich besser schütze – indem ich dich gegen meine bessere Überzeugung zu meiner Frau mache oder aber dich freigebe.«
»Wie kommst du nur darauf«, rief sie ganz bestürzt.
Er fuhr fort, ohne sie anzusehen:
»Wäre es nicht besser, Iduna, du kehrtest in dein Vaterhaus zurück?«
Angstvoll umklammerte sie seinen Arm.
»Du hättest das Herz dazu, mich fortzuschicken, jetzt, wo du den Hang zum Leben und Denken in mir erweckt? Jetzt, wo ich eine Ahnung habe von der Welt, soll ich wieder zurück in die engen Grenzen eines toten Hauses ... und ich selbst, bin ich dir denn gar nichts?« ...
»Eben weil du mir so viel bist und ... weil ich dich nicht verlieren möchte«, rang es sich von seinen Lippen.
Sie aber lachte nun wieder auf, beruhigt und beglückt wie ein Kind:
»Jetzt weiß ich's! Eifersüchtig bist du, jawohl, eifersüchtig...«
Er faßte sie am Gelenk mit beinahe brutaler Gewalt:
»Wiederhole das nicht, hörst du, niemals ... Schmutzige, gemeine Empfindungen sind es, die Eifersucht nach sich ziehen. So niedrig darfst du von mir nicht denken ... ich verbiete es dir.«
So erregt hatte sie ihn noch nie gesehen.
Aber gerade darum glaubte sie seinen Worten nicht.
Heute sah sie es zum erstenmal: er war ja doch ein Mensch wie andere auch.
Es war der erste Schritt zum Vergleich mit anderen.
Ihr erstes selbständiges Urteilen, seitdem sie sich seiner Führung anvertraut hatte.
Sie wollte ihn künftig bitten, ihr nichts mehr rot anzustreichen in den Büchern, die er ihr brachte.
Mit dem Entschlusse, zwischen den roten Strichen zu lesen im Leben wie in den Büchern, ward sie zwei Wochen später seine Frau. – –