Ernst von Wolzogen
Das dritte Geschlecht
Ernst von Wolzogen

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In der sonst so stillen Adelgundenstrasse zu München gab es am ersten November dieses Jahres einen kleinen Auflauf. Um zehn Uhr vormittags erst war von dem niedrigen Fenster eines Erdgeschosses der Rollladen in die Höhe gezogen worden und hatte den erstaunten Blicken der Vorübergehenden ein ganz eigenartiges Bild enthüllt. Vermittelst einer grossen Spiegelscheibe und einer dahinter angebrachten kastenartigen Holzverschalung war das einfache Fenster in eine Auslage verwandelt worden, und diese Auslage war so neu und seltsam, dass, wie gesagt, alsbald ein förmlicher Auflauf davor entstand und im weiteren Verlauf des Tages sich Herren und namentlich Damen der besten Gesellschaft wie auf Verabredung in der Adelgundenstrasse einstellten und lange unter lebhaftem Meinungsaustausch vor dem Fenster stehen blieben.

Sämtliche Wände der Holzverschalung waren mit schönen Stoffen in geschicktem Faltenwurf verkleidet. Dem Boden war durch darüber gestreute künstliche Blumen und Federn das Aussehen eines seltsamen Teppichs gegeben, und in der Mitte des Teppichs stand die etwa einen halben Meter hohe, leichtgetönte Statuette der Venus von Milo. Auf kleinen Staffeleien hinter der Venus stehend, sowie an goldenen Schnüren an den Wänden hängend, bot sich den Beschauern eine kleine Sammlung ausserordentlich fein ausgeführter Aquarell- und Pastellgemälde in höchst geschmackvollen, zum Teil echten alten Rahmen. Und diese Gemälde stellten alle dieselbe wunderschöne junge Dame dar, zum Teil als Kopfstück mit phantastischen und dennoch ausserordentlich kleidsamen Hutgebilden auf dem reichen aschblonden Haar, meist jedoch in ganzer Figur, in höchst eleganter und doch von der herrschenden Mode eigenartig abweichender Gewandung. Hoch oben hinter der Spiegelscheibe waren Goldbuchstaben befestigt, welche die neue Firma lesen liessen:

Lilly v. Robiceck,
Modes et Robes.

Die zu dieser Auslage gehörige Wohnung bestand aus vier Zimmern. Von dem engen Vorflur aus, in dem in einer alten silbernen Kirchenampel ein ewiges Licht brannte, roten Dämmerschein in dem einfach mit schabloniertem Rupfen ausgeschlagenen Raum verbreitend, gelangte man zunächst in das grosse Vorderzimmer nach der Strasse zu, welches auch die Auslage enthielt. Bunte Stores dämpften hier angenehm das Tageslicht, die Wände waren, einschliesslich des Plafonds, mit grossblumigem englischen Baumwollstoffe verkleidet. Das Möblement bestand aus einem grossen festen Pfeilerspiegel, einem zweiten in einem Gestell drehbaren und mit Rollfüssen versehenen Spiegel, einer grossen Etagère mit teils offenen, teils verschliessbaren Fächern und Kästen für die Stoffproben und dergleichen, einem grossen und mehreren kleinen Tischen, einem Sofa und einigen Polsterstühlen. Alle diese Möbel zeigten ganz eigenartige Formen, im Geschmack der neuesten Münchener Reformatoren des Kunstgewerbes. Es waren keine durch aufdringliche Kostbarkeit prunkenden Stücke darunter, aber jedes von derselben vornehmen Einfachheit und durch Material, Form und Farbe von dem Gewöhnlichen abweichend. In den Stoffbezügen der Möbel sowie in den farbigen Verzierungen des Holzwerkes herrschten helle grüne und rötliche Töne vor. An der Wand, rechts und links vom Pfeilerspiegel, hingen in weisslackierten Holzrahmen Zusammenstellungen interessanter Modekupfer aus den letzten drei Jahrhunderten, eine Lithographie der Kaiserin Eugenie in der Krinoline, sowie eine Photographie der bayerischen Prinzessin Sophie im Hochzeitskleide. Auch die gewönlichsten Gebrauchsgegenstände, wie z. B. die Schalen für Stecknadeln, die Toilettegeräte u. s. w., zeigten gefällige künstlerische Formen und selbst das Massbuch und die Kontokladde zeichneten sich durch originelle Einbände aus. Von diesem grossen Empfangszimmer aus führte eine Glasthür in Lilly von Robicecks Boudoir. Hier hatte sie ihren Schreibtisch stehen, ihre kleine Bibliothek, ihr Pianino und alle die Bilder, Gebrauchs- und Ziergegenstände, an die sich für sie wertvolle Erinnerungen knüpften, kindischer Tand aus ihrer Mädchenzeit, Hochzeitsgeschenke und viele sinnige Gaben ihrer zahlreichen Verehrer. Die Photographien von Franz Xaver Pirngruber, Werner Rudolfi, Joachim von Lossow, des Prinzen Cloppenburg-Usingen und sogar des fast schon sagenhaften Herrn von Robiceck fehlten nicht. In einer dunklen Ecke leuchtete auf Goldgrund ihr eigenes Meisterwerk, die Kopie jener altdeutschen Madonna mit der unüberwindlichen Nase. Die Möbel in diesem kleinen Raume rührten noch von ihrer Ausstattung her und zeigten daher keine moderne Eigenart. Hinter dem Wohnzimmer befand sich ein kleines Schlafzimmer und auf der andern Seite des Korridors, nach dem Hofe hinaus, die grosse, helle Schneiderstube sowie die Küche und sonstigen Nebenräume.

Am Morgen des ersten November hatte sich bereits vor zehn Uhr eine erlesene kleine Gesellschaft bei Lilli von Robiceck eingefunden, nämlich der Prinz Cloppenburg-Usingen, von welchem das Geld zur Einrichtung der neuen Firma stammte, und die vier jungen Künstler, welche sich um die reizende Ausstattung verdient gemacht hatten. Die Idee, die Inhaberin selbst als wirksamste Reklame für ihr Geschäft zu benutzen, sowie die Ausführung der meisten ihrer Kostüm-Porträts hatte Werner Rudolfi beigesteuert, der treue Freund, in dessen Obhut Lilli körperliche Frische und neuen Lebensmut wiedergefunden hatte. Die übrigen Porträts hatte Joachim von Lossow ausgeführt und die beiden andern jungen Herren, Freunde dieser Beiden, hatten die Möbel entworfen und die Arbeit des Tapeziers geleitet. Pünktlich um zehn Uhr zog der jüngste der Herren den Rollladen in die Höhe, während Joachim von Lossow einen eigens zu dieser Gelegenheit komponierten Festmarsch auf dem leider etwas verstimmten Pianino spielte. Durch ein Guckloch, das in der Hinterwand der Auslage angebracht war, spähten abwechselnd Lilli selbst und ihre Gäste hinaus, um den ersten Eindruck zu beobachten, und als die Ansammlung auf der Strasse immer grösser wurde, klatschte Lilli entzückt in die Hände, kriegte den würdigen Prinzen zu packen und tanzte ein paarmal mit ihm herum. Sie trug heute zum erstenmal die Empfangstoilette, die sie sich für ihre neue Würde ersonnen hatte, einen langen, losen Rock aus mausgrauem, feinem Tuch und aus demselben Stoff ein vorn offenes Jäckchen mit engen Aermeln und Schnurbesatz, welches eine in lose Falten gelegte Bluse aus grossblumig gemustertem Surha sehen liess, die um die Taille durch ein dunkelrotes Sammtband gegürtet war. Die übrigen Kleider und Hüte Lillis, welche Rudolfi auf seinen Bildern verewigt hatte, waren auf Rohrgestellen oder nachlässig über die Möbel hingebreitet, zur Schau gestellt. In der ersten Stunde nach der Eröffnung kam noch niemand und die beiden Nähmädchen, welche mit getollten Häubchen und ganz grossen, weissen Babyschürzen, die ihre ganze Gestalt einhüllten, mit gespannter Erwartung auf das Anschlagen der Entreeglocke harrten, um die erste Kundin einzulassen, fanden nichts zu thun. Um elf Uhr klingelte es zum erstenmal, aber es war keine Dame, sondern ein Bote aus dem Delikatessengeschäft von Dallmayer, welcher einige kalte Platten, die der Prinz bestellt hatte, abzugeben hatte. Ihm folgten fast auf dem Fusse Abgesandte eines Wein- und eines Blumengeschäfts. Es dauerte nicht lange, so war in Lillis Boudoir eine kleine Tafel reizend gedeckt und mit den verlockendsten kalten Speisen und Getränken besetzt. Die Herren langten zu und entwickelten einen Appetit und Durst, wie sie der festlichen Gelegenheit würdig waren; die Gläser klangen aneinander auf das Wohl der reizenden Geschäftsinhaberin und auf das Blühen und Gedeihen ihres Unternehmens.

Die kleine Frau v. Robiceck selbst war natürlich sehr aufgeregt. Sie hörte nur mit einem Ohr auf all die Liebenswürdigkeiten, die ihr von den guten Freunden gesagt wurden und lauschte mit dem andern, ob die Entreeglocke nicht endlich erklingen wollte, um die erste Kundin anzumelden. Aber es wurde ¾12, bevor endlich das ersehnte Signal sich hören liess. Eines der Mädchen steckte den Kopf zur Thür herein und meldete flüsternd, dass sie einen Herrn in das Empfangszimmer geführt habe, der die gnädige Frau zu sprechen wünschte.

Die fröhliche Gesellschaft verstummte sofort und Lilli huschte durch die Glasthür in das Empfangszimmer. Vor ihr stand – Franz Xaver Pirngruber. Er wartete, bis das Mädchen die Thür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte, und dann trat er mit ausgebreiteten Armen auf Lilli zu. Sie wandte sich erschrocken nach der Glasthüre um, in der Gewissheit, dass durch die durchsichtigen Stellen der gemusterten Mattglasscheibe ihre Gäste neugierig die Abfertigung des ersten fremden Besuches beobachten würden, und wies ihren alten Anbeter mit einer energischen Handbewegung in die Schranken kühler Höflichkeit zurück.

»Lilli, süsse, böse Lilli!« flüsterte Franz Xaver aufgeregt und kaum fähig, seiner heftigen Sehnsucht, die Geliebte in die Arme zu schliessen, Zügel anzulegen. »Warum hast Du mich denn so ewig lang gar nichts von Dir hören lassen? Ich habe erst gestern durch die Geschäftsanzeige, die meiner Frau zuging, erfahren, dass Du wieder hier bist und meinen Rat von damals befolgt hast. Ach Lilli, ich lieb' Dich noch gerade so närrisch wie eh' – bist Du mir denn wirklich gar nimmer gut?«

»Mein Herr,« versetzte Frau von Robiceck mit drolliger Würde, »ich habe dieses Atelier nicht eröffnet, um darin Liebeserklärungen entgegenzunehmen, sondern nur um Damen zu bekleiden; ich bitte das freundlichst im Auge zu behalten. Im übrigen freue ich mich sehr, Sie wiederzusehen – unter der Bedingung, dass von alten Geschichten zwischen uns nicht mehr die Rede ist. Das hat alles aufgehört: ich bin nicht nur von meinem Manne, sondern auch von meiner ganzen Vergangenheit glücklich geschieden.«

Franz Xaver Pirngruber zog ein sehr langes Gesicht und stotterte mit gemischten Gefühlen: »So – is wahr? No – da gratuliere ich auch recht schön und . . . . . ich hab' Ihnen auch eine kleine Freude machen wollen zur Eröffnung Ihres Geschäftes: ich hab' nämlich meine Frau veranlasst, heute gleich zu Ihnen zu kommen; es würde mir eine ganz besondere Genugthuung bereiten, wenn sie die erste wäre, die aus Ihrem Atelier ein Kostüm kriegte.«

Lilli klatschte, vor Freude lieblich errötend, in die Hände und rief aufgeregt: »Ist's wahr? Schau, Xaver!, des is g'scheidt! Du bist doch immer ein rechter, lieber Kerl g'wesen. Wann kommt denn Deine Frau Gemahlin?«

»Gleich muss's da sein; ich bin nur voraus g'rannt, um Dich vorzubereiten. Ja, das hab' ich bloss sag'n wollen und jetzt muss ich g'schwind fort, sonst lauf ich am Ende gar der Frau Pirngruberin in die Hände, was doch immerhin etwas peinlich wäre.«

»Nein, nein, das darf nicht sein!« rief Lilly rasch. »Geh her, bleib doch ein bissl bei mir – ich versteck Dich bei den andern – Pardon, ich wollte sagen Sie – bitte, jetzt heisst's immer Sie!« Damit nahm sie ihn bei der Hand und geleitete ihn ins Nebenzimmer.

Der Meister des humoristischen Pinsels war nicht wenig erstaunt, hier eine ganze Gesellschaft zu heimlichen Tafelfreuden vereinigt zu finden. Lilli stellte ihn den Herren vor als ihren verehrten alten Freund und Gönner, und dann versah sie ihn hausfraulich mit Hummersalat und Sekt und erklärte ihm mit freudiger Begeisterung, welche Verdienste die anwesenden Herren sich um sie erworben hätten.

»Nein, nein, nein, dass Sie mir aber garnichts davon gesagt haben!« beklagte sich Franz Xaver. »Ich war doch eigentlich als Vater des Gedankens der Nächste dazu.«

»Ja, aber als Ehemann der Fernste,« lächelte Lilli. »Ich werde niemals einen von meinen Getreuen kompromittieren.«

In diesem Augenblick klingelte es wieder. Gleich darauf erschien das Nähmädchen und meldete mit strahlendem Gesicht eine feine Dame. Lilli erhob sich vom Tische, atmete tief auf und betrat alsdann in würdiger Haltung ihr Empfangszimmer, während die Herren muckmäuserlstad verharrten und sich alle sechs um die Glasthür scharten, wo jeder eine Lücke zum Hindurchschauen zu ergattern trachtete.

Die erste Kundin war wirklich die schöne Frau Pirngruber. Sie zeigte sich ehrlich entzückt von den Proben eigenartigen Geschmacks und vollendeter Kunstfertigkeit, die Lilli ihr in Gestalt ihrer eigenen Gewänder vorwies, und dann folgte eine lange, ernsthafte Beratung, während welcher Frau Pirngruber am Sofa und Frau v. Robiceck auf einem Stuhle vor ihr sass. Den Beobachtern im Nebenzimmer wurde die Sache bald langweilig und sie verfügten sich wieder zur Tafel zurück, wo sie flüsternd weiter schmausten, nur Herr Pirngruber blieb auf seinem Posten und wurde nicht müde, die beiden Damen, die stattliche und die zierliche, wie sie so in lebhafter Unterhaltung einander gegenüber sassen, zu beobachten. Es war merkwürdig: eine setzte die andere erst in die rechte Beleuchtung, gab ihr das rechte Relief – und Franz Xaver liebte sie alle beide, eine immer mehr als die andere und sah gar keine Grenzen ab für seine unendliche Liebesfülle. Und er fühlte, dass er ein glücklicher, ein wahrhaft beneidenswerter Mann sei. Dann erst kehrte er zu seinem Hummersalat zurück.

Die Beratung der beiden Damen da drin währte über eine halbe Stunde, und als endlich Lilli wieder zu ihren Freunden zurückkehrte, da strahlte sie vor Glückseligkeit. Sie legte ihre Arme auf Franz Xavers Schultern und rief wie mit verhaltenem Jauchzen: »Ach, Sie lieber, lieber Freund, was haben Sie für eine scharmante Frau. Denken Sie bloss, sie hat mir gesagt, dass sie entzückt von mir wäre! Die reine Liebeserklärung hat sie mir gemacht – und ein Kostüm haben wir uns ausgedacht, ah, – der reine Zucker! Dreihundert Mark darf es kosten.«

»Herrgottsaxendi, da legst Dich nieder!« entfuhr es dem glücklichen Gatten und er brach unter Lillis zärtlichen Armen auf seinem Stuhl zusammen. »Mir hat's g'sagt, sie wollt' nur hundertfünfzig anlegen.«

Prinz Cloppenburg reckte dem Geknickten sein Sektglas entgegen und sagte lustig: »Kommen Sie, verehrter Meister, stossen Sie mit uns an auf das Wohl unserer teueren Freundin!«

Und wie die Gläser zusammenklangen, richtete sich Lilli v. Robiceck plötzlich empor, wie wenn eine Eingebung über sie käme und rief laut in den heiteren Lärm hinein: »Kinder, seid's stad, jetzt halt' ich eine Red'.«

»Ich erkläre hiermit feierlich, dass Ihr Mannsbilder eine reizende Gesellschaft seid – ausser in der Liebe. Mit Weibern kann ein vernünftiger und anständiger Mensch auf die Dauer nicht verkehren, denn sie bringen die Vernunft und den Anstand um. Alles Böse im Leben habe ich durch Weiber erfahren und zwar aus dem einzigen Grunde, weil mir mehr von Eurer Sorte nachzulaufen pflegten, als ihnen. Noch in jüngster Zeit haben mich die hervorragendsten Vertreterinnen der fortgeschrittensten Münchener Weiblichkeit, nämlich der Vorstand des berühmten Frauenvereins, dessen Namen ich nie behalten kann, für unwürdig erklärt, zu ihren guten Zwecken mitzuwirken. Trotzdem ich die glänzendsten Empfehlungen durch den einflussreichen Herrn Arnulf Rau für mich hatte, sollen mich diese Damen für so eine Art Auswurf der Menschheit erklärt haben – und warum? Wiederum aus demselben Grunde: weil mir mehr von Euresgleichen nachzulaufen belieben als irgend einer Dame dieses unaussprechlichen Vereins! Meine Herren! Ich habe mein Geschlecht und meine hübsche Larve verflucht, so lange ich die Wege der Weiblichkeit gewandelt bin, hilflos allen den wilden Tieren preisgegeben, die den sogenannten Rosengarten der Liebe unsicher machen. Aber jetzt habe ich den Weg da heraus gefunden und eine neutrale Zone entdeckt, wo ich nicht mehr Weib zu sein brauche und doch meine besonderen weiblichen Talente am besten ausnutzen kann. Ich werde mich an der Weiblichkeit rächen, indem ich mit ihrer Eitelkeit möglichst gute Geschäfte zu machen versuchen werde. In dieser glücklichen Zone, meine Herren, kennt man die Liebe nicht – merken Sie sich das! Ich fasse die Summe meiner bisherigen Erfahrungen in die Behauptung zusammen: Ihr Männer seid Teufel in der Liebe, aber Engel in der Freundschaft zu einem Weibe. Als Freunde habt Ihr mir den rechten Weg zur Selbstbefreiung durch die Arbeit gewiesen, Sie teurer Franz Xaver durch den Rat, Sie bester Prinz und Sie, allerliebster Werner und guter Joachim durch die That – ich danke Euch von ganzem Herzen. Ihr lieben Engerln sollt's leben hoch, hoch, hoch!«

Die lieben Engerln waren sehr erbaut von dem Lobe, das ihnen aus so reizendem Munde gespendet wurde. Dann kriegten sie unerbeten von diesem reizenden Munde jeder einen Kuss als vorläufige Anzahlung für die geleistete Hilfe in Rat und That. Und damit endete dieses denkwürdige Einweihungsfrühstück. –

Fünfhundert Geschäftsempfehlungen hatte Lilly v. Robiceck an die vornehmste Damenwelt der Haupt- und Residenzstadt versendet, aber nur drei davon hatten sich dadurch in ihr Atelier locken lassen. Ganz anders wirkte das Aufsehen, welches Frau Pirngruber in ihrem neuen Kostüm bei einer Gesellschaft im Hause Hanfstängel gemacht hatte. Gleich am nächsten Morgen trafen mehrere Damen, die in derselben Gesellschaft gewesen waren, in dem Atelier der Adelgundenstrasse zusammen und als gar die immer noch schöne und hochelegante Gattin eines Grossbrauers eine Robe von Lilli v. Robiceck bezogen hatte, da war ihr Glück gemacht. Im Fasching hatte sie so viel zu thun, dass sie zehn Nähmädchen und zwei Directricen in drei grossen Nähstuben beschäftigte und zu Ausgang des Karnevals bekam sie sogar einen Auftrag von einer königlichen Prinzessin. Schon Ende Januar war sie imstande gewesen, dem Prinzen Cloppenburg einen grossen Teil des vorgestreckten Kapitals zurückzuzahlen – es war das erste geliehene Geld, welches er jemals wiedergesehen hatte!

Ihre alten treuen Freunde gönnten ihr zwar ihren grossen Erfolg von Herzen, aber besonders glücklich waren sie nicht darüber, denn die süsse Lilli hatte jetzt einfach keine Zeit mehr für sie. Es kam wohl noch der eine oder der andere über Tags zu ihr, um in dem traulichen Hinterstübchen fünf Minuten gemütlichen Geplauders zwischen den Sessionen mit der vornehmen Kundschaft zu erhaschen, aber es war kein besonderes Vergnügen manchmal zwei Stunden über illustrierten Journalen, wie im Vorzimmer eines berühmten Zahnarztes, hinbringen zu müssen, um dann endlich mit einem Händedruck und ein paar freundlichen Worten abgefunden zu werden. So kamen sie denn immer seltener und schliesslich nur noch des Abends, wenn sie ausdrücklich eingeladen waren.

Besonders schmerzlich berührte es ihre jüngeren Freunde, dass die liebe Lilli durchaus nicht zu bewegen war an den Vergnügungen des Faschings teilzunehmen. Noch im vergangenen Winter hatte sie auf den Redouten des Deutschen Theaters als erster Stern geglänzt und durch ihre Kostüme sowohl als durch ihre sprudelnde Laune den Rahm der vornehmen Herrenwelt und der Künstlerschaft besonders hingerissen. Heuer war sie zu keiner einzigen Redoute zu bewegen gewesen; es war ja richtig, dass gerade in dieser Zeit sich die Arbeit für sie ins Riesenhafte gesteigert hatte, aber schliesslich folgte doch auf jeden Samstag ein Sonntag, an welchem auch sie ein wenig ausruhen durfte. Es verfing alles nicht. Hätten die guten Herren, die eben naiv und harmlos waren wie alle besseren Männer, mit etwas Aufmerksamkeit dem Getuschel der Damenwelt in dieser Zeit gelauscht, so würden sie bald eine andere Erklärung dafür erfahren haben, warum die schöne Gewanddichterin durchaus keinen Ball mehr besuchen wollte und warum sie neuerdings eine solch auffallende Vorliebe für lockere überfallende Blusen und weitfaltige Kleiderröcke in ihrem eigenen Anzuge zur Schau trug. Das weibliche München wusste es ganz genau: die reizende Frau v. Robiceck war weit vorgeschritten auf dem Familienwege – wie die Engländer so hübsch sagen.

Franz Xaver Pirngruber erfuhr es durch seine Gattin – und er war blass geworden bei der Nachricht – so sehr litt er im voraus mit der unglücklichen Freundin. Eines Abends fasste er sich ein Herz und sprach nach Geschäftsschluss bei Frau Lilli vor. Sie hatte gerade ihre Directricen entlassen und sich zu ihrem einfachen Abendbrot hingesetzt, als er kam. Sie empfing ihn sehr freundlich und plauderte heiter und unbefangen wie in der schönen Maienzeit ihrer Liebe, da sie noch wie Brüderchen und Schwesterchen miteinander geradelt waren. So lieb sie war, gelang es dem guten Franz Xaver doch nicht, so recht in Stimmung zu kommen; er hatte eine inhaltschwere Frage auf der Zunge und brachte sie doch nicht heraus. Gegen zehn Uhr bat sie ihn heimzugehen, denn es sei jetzt ihre Schlafenszeit und zur Bekräftigung dessen gähnte sie ihn herzhaft an.

»Bist Du nicht wohl, liebe Lilli?« fragte er: »dass Du so früh zu Bett gehst.«

»O nein, ich fühle mich, Gott sei Dank, recht wohl,« erwiderte sie. »Aber ich bin heute abend recht sehr abgespannt. Dafür stehe ich morgens früh auf, um doch wenigstens eine Stunde für mich zu haben. Es ist die einzige, in der ich einmal ein Buch lesen kann.«

»Hm. Also – na also dann gute Nacht, liebe Lilli!« Er reichte ihr die Hand und hielt die ihre fest, indem er sie aufmerksam betrachtete.

»Was schaust mich denn so an, Xaverl?«

»Mir scheint, die angestrengte Arbeit schlägt Dir recht gut an. Ich mein', Du wärst stärker geworden in der letzten Zeit,« sagte er und errötete dabei wie ein junges Mädchen. »Oder kommt das nur daher, dass D' jetzt immer so weite, lose Gewänder trägst?«

Sie blickte ihm lächelnd in die Augen und drohte ihm mit dem Finger.

»Gestehen Sie's nur, mein Herr – Sie trauen sich's blos nicht gerade heraus zu sagen: die Damen haben ein bissl geklatscht über mich.«

»Ist's wahr, Lilly? flüsterte er zaghaft.

Sie nickte mit dem Kopfe und sagte, flüchtig errötend: »Hm, ja – Ende Mai erwarte ich es.«

Unaufgefordert nahm er noch einmal Platz und strich sich verlegen die Hosen über den Knieen glatt. »Also wahr ist's! – So – so – Ende Mai?« Er zählte an den Fingern ab: »Mai, April, März, Februar, Januar, Dezember, November, September – Jegerl mei – Anfangs September?« Er seufzte tief und drollig auf und dann schaute er hilflos zu ihr empor und richtete mit einer deutlichen Frage im Blick den Zeigefinger auf seine Brust.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein?!« rief er und that einen tiefen tiefen Seufzer.

Da setzte sie sich auf seinen Schoss, was sie seit dem Abschied im Sommer nie mehr gethan hatte, betrachtete eine ganze Weile lang sinnend ihre Fingerspitzen und sagte endlich, tief errötend: »Danach musst Du mich wirklich nicht fragen Xaverl. Ich hab das Kindl ganz allein für mich gekriegt. Es kommt gar kein Herr dabei in Betracht.«

»Aber Lilly!« rief er ganz laut und liess sie vor Schreck beinah von seinen Knieen fallen. Sie stand auf, zuckte die Achseln, kehrte sich von ihm ab und warf einen Blick voll süsser Unschuld zu der Madonna mit der unüberwindlichen Nase hinauf.

Sie schwiegen alle beide eine ganze Weile. Der Meister des humoristischen Pinsels bearbeitete nachdenklich seine Stirn mit den Knöcheln seines Daumens und sie erwartete bescheiden seinen Richterspruch. Endlich fand Franz Xaver Worte.

»Weisst, Weiberl, ich mach' Dir ja keine Vorwürfe, das wär' schon zu dumm – aber die Geschicht' schaut doch sakrisch . . . . . O je, o je! Das Hascherl muss doch ein' Vatern hab'n.«

»Wozu?« versetzte Lilli einfach. »Ich kann es ja jetzt sehr gut allein ernähren.«

»Ja. Aber wo willst denn hin damit? Du kannst es doch unmöglich hier haben?«

»Ich gedenke es aber ganz gewiss hier zu haben.«

»Aber Lilli – Dein Renommee, Dein Geschäft!«

»Ist mir ganz gleich. Wenn die Damen aus dem Atelier mit Kind keine Kleider beziehen wollen, gut, denn schnür' ich mein Bündel und ziehe nach Berlin oder nach Wien. Da können sie mich auch brauchen. Ich werde doch das arme Geschöpf nicht irgend einer gleichgiltigen Person anvertrauen. Oh nein, da kennt ihr mich alle schlecht; das Kind bleibt bei mir und ich will ihm eine gute Mutter sein, und wenn ich drüber zu Grunde gehen müsste!«

Er erhob sich und ergriff ihre beiden Hände. »Liebe Lilli,« sagte er bewegt, »Du bist ein tapferes Weiberl, Respekt vor Dir! Wennst einen Beistand brauchst für den Fall, dass Dir der Kampf zu hart wird, dann zähl' auf mich. Ob's Kindl mein is oder net – ich steh' zu Dir. B'hüt Dich Gott, Herzl!«

Er küsste ihr die beiden Hände und dann lief er rasch davon, denn sie sollte nicht sehen, dass ihm die Augen nass geworden waren. – – – – – – – – – – – – – –


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