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Ende April verschwand Lilli von Robiceck aus München. Alle Welt wusste warum. Und anfangs Juli kehrte sie wieder heim und präsentierte ihrer Directrice und ihren fünf Näherinnen – die Hälfte des Personals hatte sie vor ihrer Abreise entlassen – ein niedliches Mädelchen als ihr Kind. Die Directrice kündigte sofort, denn sie war eine moralische Person, und die fünf Nähmädchen teilten sich in zwei Lager für und wider die Herrin. Für sie waren die vier, die auch schon ein Kind hatten, gegen sie die fünfte, die noch keines hatte. Aber auch diese liess sich bereden zu bleiben, denn es schmeichelte ihrem Stolze, als einzige Lilie in diesem Sumpfe zu blühen.
Da Lilli, um ihre Scheidung durchzusetzen, ihren Austritt aus der Kirche hatte erklären müssen, liess sie auch das Kind nicht taufen; aber sie vereinigte bald nach ihrer Heimkehr ihre lieben Freunde zu einer kleinen intimen Feier bei sich, bei welcher Lilli II – denn um niemand zu kompromittieren, hatte sie ihr Töchterchen einfach nach sich genannt – mit angemessener Rührung willkommen geheissen wurde in der kleinen freien Gemeinde der neuen Menschen, die sich zwar nicht einbildeten, jenseits von Gut und Böse, wohl aber jenseits aller lieblosen Vorurteile zu stehen. – – – – – – – –
Die Damen, die jetzt kamen, um ihre Sommerkleider zu bestellen, konnten oft von dem Nebenzimmer her das kräftige Stimmlein der neuen Lilli vernehmen und manch eine wurde auf ihre erstaunte Frage durch die Antwort verblüfft: »Ja, gnäd'ge Frau, das ist mein Kind. Sie entschuldigen mich einen Moment – ich nähre es selbst.«
Und wenn die Damen dann ganz verwirrt ausriefen: »Aber ich denke, Sie sind schon so lange geschieden!« Dann konnte Lilli wohl lächelnd erwidern. »Ja, es ist auch, Gott sei Dank, nicht von Herrn von Robiceck. Ich sehe nicht ein, gnädige Frau, warum eine Dame wie ich, die ganz auf eigenen Füssen steht, nicht auch ein Kind ganz allein für sich haben soll, über das niemand mitzureden hat.«
Es gab Damen, welche nach solch einer aufregenden Erklärung es vorzogen, ihre Kleider anderswo machen zu lassen. Es gab aber auch andere Damen, welche jetzt erst recht das berühmte Atelier Lilli von Robicecks aufsuchten. Der ganze Vorstand des Vereins zur Evolution der femininen Psyche fand sich ein und nahm die Erfindungsgabe der genialen Gewanddichterin in Anspruch, um neue Hüllen für neue Weiber zu ersinnen. Ja, seit Lilli v. Robiceck ein Kind hatte, war sie in den Augen derselben Damen, die ihr früher die Aufnahme in den Verein verweigert hatten, zu einer Heldin geworden und ihr Kind zu einem Symbol: es war das neue Kind. Lilli von Robiceck bekam schwärmerische Briefe von aufgeregten jungen Damen, welche im Begriffe waren, alle Fesseln von sich abzustreifen, und selbst ergraute Priesterinnen der neuen Religion der Befreiung des Weibes, wie z. B. die Baronin Grötzinger, trugen ihr ihre Freundschaft an. Die Kostüme, die diese neuen Freundinnen bestellten, waren zwar weniger kostbar, aber sie durften dafür um so origineller sein, und das war auch eine gute Reklame. Die stille Jahreszeit brachte nur magere Einkünfte, aber schon im Herbste hatten die meisten abgesprungenen Kunden es aufgegeben, ängstlich auf ihrem moralischen Standpunkt zu balancieren. Sie stellten sich lieber auf den Boden der Thatsache, dass man nirgends so gut angezogen wurde, als in der Kinderstube in der Adelgundenstrasse und darum kamen sie fast alle wieder – auch die beiden Directricen.
Das Geschäft blühte und das Kind blühte und die Freundschaft blühte. Ja, bei der Freundschaft sollte es bleiben für alle Zeiten. Werner Rudolfi hatte einen Versuch gemacht, Lilli dazu zu bringen, ihn zu heiraten, denn es lag im Interesse der verehrten Freundin ihm viel daran, dass ihr Töchterchen Lilli Rudolfi heissen sollte, doch sie hatte freundlich, aber entschieden abgelehnt. Darauf hatte der treffliche Künstler eine Zahnbürste und etwas Nachtzeug in seinen Korb gepackt und mit Franz Xaver Pirngruber eine kleine Trostreise unternommen. Die beiden hatten sich in letzter Zeit merkwürdig zu einander hingezogen gefühlt.
Auch Hildegard Haider hatte sich an die Mutter des »neuen Kindes« freundschaftlich angeschlossen und die beiden fanden immer mehr Gefallen aneinander, je besser sie sich kennen lernten. In dem kleinen Boudoir hinter dem Empfangszimmer wurde oft lebhaft debattiert zwischen den beiden neuen Freundinnen über all die Fragen, welche die Gemüter der freigewordenen Frauen unserer Zeit bewegen.
»Wissen Sie«, sagte Box eines Abends, »diese schrecklichen Mannweiber, die in allen Wissenschaften und Künsten herumdilettieren und sich mit ihrer Ebenbürtigkeit breit machen, die verderben eigentlich dem wahren Fortschritt das Geschäft. Das sind gar nicht neue Weiber, sondern blos Abnormitäten wie es zu allen Zeiten welche gegeben hat. Aber es giebt Weiber in Mengen, die in der That den Mann nicht brauchen und dabei doch vom stärksten weiblichen Instinkt beherrscht werden. Ich meine natürlich die Mutterliebe. Der Fortschritt scheint mir darin zu liegen, dass diese Art Frauen nicht mehr zum völligen Verzicht auf alle Selbständigkeit und Lebensfreude gezwungen werden. Früher mussten sie irgendwo in der Familie unterkriechen und mehr oder minder Gnadenbrot als Tanten essen. Sie durften sich nützlich machen, man verbrauchte sie für alle die schrecklichen Opferdienste, die unserer Geduld von jeher als selbstverständlich zugemutet wurden: sie durften von Natur boshafte und durch dumme Eltern in Grund und Boden verdorbene Kinder erziehen, unausstehliche Greise und Greisinnen zu Tode pflegen und den Kettenhund in allen verwandten Hauswesen spielen, wenn die Herrschaften auf Reisen gingen. Unser Arnulf Rau hat auch hier wieder einmal das schlagende Wort gefunden –: auf die Revolution der Tanten kommt es an! Wenn sich die riesige Armee der Tanten zur Selbständigkeit durchränge, welche ungeheure Macht könnte sie entwickeln! Nicht nur die Missachtung des unverheirateten älteren Frauenzimmers, sondern auch die sittliche Entrüstung gegen das Fräulein Mutter muss aus der Welt geschafft werden. Es ist möglich, dass dann am Ende unserer gegenwärtigen Dinge mit diesen Vorurteilen auch der heilige Ehestand als Unkraut mit ausgerauft und ins Feuer geworfen wird; aber ich weiss nicht, ob das ein so grosses Unglück sein würde – denn für die Männer ist er nun einmal eine unnatürliche Einrichtung und für die Frauen auch nur in ganz seltenen Fällen ein Glück. Die Heuchelei, Verlogenheit, die kleinliche Hinterlist, der Neid und die boshafte Freude am Zerstören seelischer Wertobjekte, die einem den Geschmack an der heutigen Weiblichkeit wahrhaftig verderben können – ja, wo anders schreibt sich denn das alles her, als von der Notwendigkeit, in die sich die unselbständigen Weiber versetzt sehen, einen modus vivendi zu finden mit den Männern, von denen sie abhängen! Ich bin überzeugt, es giebt ebensowenig Frauen, die ihren Männern während der ganzen Dauer des Ehestandes volle Achtung und Vertrauen zu bewahren imstande sind, als es Männer giebt, die für ihre Frauen ewige Liebe empfinden. Der Mann wird dann brutal, die Frau gemein. Die Ehe verdirbt den Charakter – denn sie braucht zu viel Politik! Wo zwei freie Menschen wirklich zu einander passen, da werden sie auch mit Wonne dauernd bei einander bleiben; es könnte also in einer Zeit, wo die Ehe keine gesetzlich geschützte Knechtschaft mehr bedeutet, nur glückliche Ehen geben. Natürlich müssten die Mütter nicht nur alle Rechte über ihre Kinder besitzen, sondern auch imstande sein, sie mit ihrer eigenen Arbeit zu ernähren, und die Männer müssten gesetzlich gezwungen werden können, für diejenigen ihrer Frauen samt Kindern zu sorgen, die freiwillig auf ihre Selbständigkeit verzichtet haben.«
»Aber die Familie?« wandte Lilli bedenklich ein.
»Könnte meiner Meinung nach auch nur an innerem Wert gewinnen«, versetzte Fräulein Haider zuversichtlich. »Es würde Familien geben, die nur aus Mutter und Kindern, und solche, die nur aus Vater und Kindern beständen, und in diesen wäre den Kindern der demoralisierende Eindruck des ewigen Kriegszustandes durch Eltern, die einander nicht mehr lieben und achten können, erspart, wogegen in den Familien mit Vater und Mutter ja eo ipso eitel Friede und Freude herrschen müsste. Uebrigens könnte ich es nur als ein Glück ansehen, wenn der heutige Einfluss des grösseren Familienverbandes einigermassen beschnitten würde, denn er führt ja meist doch nur zu verderblicher Tyrannei gegen seine feiner veranlagten Mitglieder und zur Ausnutzung gegen das Wohl der Gesamtheit. Ich verspreche mir ausserdem von der Auflösung der alten Ehe und Familie eine sehr wohlthätige Blutauffrischung, eine körperliche und geistige Verbesserung der Menschheit, weil einfach mehr Kinder in Liebe gezeugt werden und weil sie alle intelligentere Mütter haben werden.«
»Ich weiss noch einen Vorteil«, rief Lilli verschmitzt lächelnd, »die garstigen Weiber könnten nicht mehr gar so hochfahrend und zuwider sein – weil die Tugend an sich dann keinen Wert mehr hätte.«
»Sehr richtig!« stimmte Box bei, »das hat auch schon Arnulf Rau gesagt: die Ueberschätzung der Jungfernschaft ist das Mittel, mit dem die Männer die Weiber am sichersten in der Gewalt behalten. Eine brutale Vergewaltigung aus reiner dummer Eitelkeit! Das wollen wir uns aber nicht länger gefallen lassen. Ich bin auch der Ansicht, dass heutzutage ein Weib, die als Fräulein mit ihrem Kinde unerschrocken in unsere stumpfsinnige Gesellschaft hineintritt und sich durch ihre Persönlichkeit und ihre Arbeit die allgemeine Achtung erzwingt, eine wichtigere Kulturaufgabe erfüllt, als die Frau, die etwa gar Professor der Astronomie wird.«
»Danke!« sagte Lilli, geschmeichelt errötend.
»Oh bitte«, lachte Box. »Ich finde es sehr sinnig von Ihnen, dass Sie sich die jungfräuliche Mutter mit dem Kinde auf Goldgrund über Ihrem Schreibtisch aufgehängt haben. Möge uns allen die Madonna im Kampfe gegen die Pharisäer beistehen! Ich glaube, wir Frauen sind alle im Herzen gut katholisch.«
»Gewiss«, sagte Lilli. »Ich spüre es erst recht, seit ich aus der Kirche ausgetreten bin. Jetzt empfinde ich eine tiefe Ehrfurcht für die Jungfrau Maria und für den Heiland, der nie ein Weib anschaute, ihrer zu begehren, aber der getreuer Freund der Martha und Maria und der unerschrockene Beschützer der Magdalena war.«
Beide Damen schwiegen eine längere Weile und dann sagte Hildegard Haider wieder: »Es ist doch merkwürdig, was für interessante Frauentypen gerade unser eigener engster Kreis darbietet. Da ist Frau Katja Rau, das ewig zitternde Eheweib, das es in der geistvollen Heuchelei zur Meisterschaft gebracht hat; da ist Frau Claire Reithmeyer, das Weib mit der grossen wissenschaftlichen Begabung, aber doch von starker Sinnlichkeit, das die Liebe für ihr seelisches Gleichgewicht braucht; da sind die starken Intelligenzen ohne Sinnlichkeit, für die der Mann gar keine Rolle mehr spielt, Babette Gierl, die ein richtiger Mann, Meta Echdeler, die eine vollkommene Dame ist; da ist meine liebe arme Schwester, die süsse Pflanz', noch ganz Weibchen alten Stils, die lockende Augen macht und ihre Angeln auswirft und doch nichts fängt, weil die Männer, die sie gern haben möchte, das neue Weib begehren und ihr eigener Geschmack die Männer nicht mag, die mit dem alten zufrieden wären. Ja, ja, das ist ein moderner Konflikt! Und da sind Sie und da bin ich – und mich rechnen sie alle zum dritten Geschlecht, weil ich so fest auf meinen zwei Beinen stehe wie nur irgend ein Mannsbild und mir von keinem ein X für ein U machen lasse. Ich glaube, die Herren haben Angst vor mir. Das thut mir, offen gestanden, leid, denn – ich würde auch für mein Leben gern ein Kind haben. Ihnen will ich's gestehen: ich habe einmal einen schüchternen Versuch dazu gemacht, aber das betreffende Objekt war unwürdig – es ging mir mit dreihundert Mark durch! Sagen Sie, liebe Freundin, wie sind Sie eigentlich zu Ihrem süssen Mädelchen gekommen?«
Die kleine reizende Frau von Robiceck lächelte fein: »Das ist Geschäftsgeheimnis!«
Die Gedanken, denen Hildegard Haider in dem traulichen Hinterzimmer in der Adelgundenstrasse Ausdruck gegeben hatte, waren zum grösseren Teil geistiges Eigentum des grossen Arnulf Rau und er hatte beschlossen, den interessanten Stoff zu einem Roman zu verarbeiten, der den Titel führen sollte: Das dritte Geschlecht. Da man aber bei Arnulf Rau doch niemals sicher ist, ob er seine welterschütternden Pläne auch zur Ausführung bringen wird und da man ferner, meiner Ansicht nach, der Welt heilsame Erschütterungen niemals ersparen soll, so war ich so frei, ihm vorzugreifen. Bitte um Entschuldigung.
Ende.