Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 2
Ernst von Wolzogen

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Zwölftes Kapitel

In welchem Lizzi die Gunst der bethränten Königin erwirbt und dankenswerte Aufklärungen über das Wesen der wahren Tugend, wie der wahren Schauspielkunst empfängt.

Lizzi erschien an jenem Tage, nachdem ihre Thränen versiegt waren, von einer ganz ungewöhnlichen Weichheit und Zärtlichkeit, nicht nur gegen ihre mütterliche Beschützerin, sondern auch gegen den traurigen Bubi. Sie bat ihn in so herzlicher Weise um Verzeihung für ihr schroffes Anfahren, daß er nicht mehr den Gekränkten spielen konnte. Ihre geschwisterliche Aussprache endete vielmehr damit, daß er ihr aufs neue ewige Treue schwur als Freund und Bruder und ihr das Versprechen abnahm, ihre Freuden und Leiden künftig mit ihm zu teilen und ihm nichts zu verschweigen, was irgendwie ihr Wohl und Wehe berührte.

Trotz dieses unbedenklich gegebenen Versprechens fiel es Lizzi gar nicht ein, ihren schlimmen Argwohn gegen die Ehrlichkeit ihres Liebhabers Rudi oder seiner Mutter zu verraten. Es war ja immerhin möglich, daß die Ueberraschung angesichts des unvermuteten energischen Eingreifens der Majorin ihn verstimmt und dadurch auch die Wärme seines Gefühls für Lizzi etwas herabgedrückt hatte. Sie wollte deshalb noch nicht gleich an der Solidität seiner Absichten verzweifeln. Sie war auch viel zu stolz, um etwa voreilig das Mitleid ihrer Freunde anzurufen. War sie doch jetzt eine junge Dame, die das Leben kannte, da mußte sie sich vor schwachherzigen Kindereien doch ängstlich hüten. Sie ließ also der guten Majorin das Vergnügen, sie als glückliche Braut zu behandeln, und bat sie nur, um möglichem Unheil vorzubeugen, in ihrem Bekanntenkreis nicht von der Sache zu sprechen, ehe nicht Gregor selbst es für an der Zeit hielt, die Verlobung öffentlich bekannt zu machen, das heißt also, bis er die Staatsprüfung bestanden und sein Doktordiplom in der Tasche hätte.

Unter diesen Umständen war Frau von Goldacker doch einigermaßen erstaunt darüber, daß Lizzi am selben Tage noch sie lebhaft an ihr Versprechen erinnerte, ihre Freundin vom Hoftheater ersuchen zu wollen, ihr dramatischen Unterricht zu erteilen.

»Ja, aber Kind,« rief die Majorin verwundert, »was soll dir denn jetzt noch der dramatische Unterricht helfen? Ich denke, du solltest froh sein, daß du deine Bühnenlaufbahn aufgeben darfst, haha! Und wer weiß, ob es deinem Bräutigam angenehm ist?«

»Ah was, 's is doch immer gut, wenn m'r was g'lernt hat!« sagte Lizzi fest. »Wenn's auch nur wär, um mir mein' Dialekt abz'gwöhnen.«

»Aber nein, das wäre ja ewig schade drum, der steht dir so gut. Pastor Werkmeister hat es auch gesagt.«

Doch Lizzi wollte keinen Einwand gelten lassen. Sie beharrte so fest auf ihrer Bitte, daß die Majorin endlich versprach, sie morgen gleich ihrer Freundin vorzustellen. – –

Fräulein Amanda Orjes war eine Dame von etlichen vierzig Jahren, einst eine gefeierte Schönheit und besonders von der weiblichen Jugend angeschwärmte Darstellerin sentimentaler Heldinnen. In den letzten Jahren aber war sie etwas stark geworden. Ihr Organ war zwar immer noch klangvoll und weich, jedoch ihre Art zu deklamieren, mehr Gesang als menschliche Sprache, sagte dem veränderten Geschmack des Publikums nicht mehr zu. So war denn ihr Rollengebiet während der letzten zehn Jahre immer kleiner und kleiner geworden, und jetzt spielte sie nur noch die bethränten Königinnen. Sie war längst pensionsberechtigt, aber da sie immer noch stattlich genug aussah, Kronen mit Würde trug und mit ihrem fünffüßigen Jamben-Singsang sogar Schlachtenlärm und Glockengeläute hinter der Scene siegreich übertönte, so behielt man sie trotz ihrer seltenen Verwendbarkeit wie ein teures Erbstück pietätvoll bei.

Sie bewohnte eine halbe dritte Etage von drei Zimmern in einem älteren Hause der Mohrenstraße. Ein altes kleines verschrumpfeltes Mütterchen in den Siebzigern öffnete die Thür, als am andern Morgen Frau von Goldacker mit Lizzi ihren Besuch machte, und gab auf deren Frage nach Fräulein Orjes den Bescheid, daß Amanda jeden Augenblick heimkommen müsse. Sie sei nur auf ein Stündchen in die Hedwigskirche gegangen – den katholischen Dom Berlins. Das alte Weiblein, das ganz wie eine Magd aussah, war wirklich die Mutter der bethränten Königin, und sie hatte sich, trotzdem sie bereits ein Vierteljahrhundert lang bei ihrer Tochter in Berlin lebte, ihren heimatlichen Wiener Dialekt treu bewahrt.

»Ah, die gnädige Frau von Goldacker und das liebe gnädige Fräulein Tochter! Je, da wird die Amanda ihr Freud hab'n. Aber bitt recht schön, spazier'n S' nur eini. Kann ich Ihnen denn net a bisserl was vorsetzen? Einen Wein vielleicht? Ich hätt einen recht einen schönen süßen Tokayer. Oder vielleicht einen Kaffee, weil's heut gar so viel kalt is – er wär gleich firtig – oder am End einen Punsch – mir hab'n auch einen ungemein feinen französischen Likör.«

Das gute Frauchen gebärdete sich so untröstlich, als die Damen durchaus nichts annehmen wollten, daß diese schließlich, um sie nur still zu kriegen, um einen Schnaps baten. Sobald die Alte zum Zimmer hinaus war, holten Frau von Goldacker und Lizzi mit größter Hast ihre Taschentücher hervor und führten sie mit einem gleichzeitig ausgestoßenen entsetzten »O – püh!« an die Nasen.

»A Pelutza! was stinkt denn da nur a so?« konnte sich Lizzi nicht enthalten, ziemlich laut auszurufen. »Das is ja g'rad, wie wenn . . .«

»Ja ja, das sind die Katzen!« ergänzte die Majorin, heftig mit ihrem Taschentuch den penetranten Geruch abwehrend. »Denke dir nur, sie hält sieben Katzen, die gute Orjes! Sieben Katzen und keinen Kater! Und trotzdem, trotz strengster Aufsicht kommen sie alle sieben mindestens zweimal im Jahre in die Wochen. Aber mehr wie sieben dürfens doch nie werden, und da muß denn jedesmal die junge Generation, soweit sie sie nicht verschenken kann, ersäuft werden. Sie soll hierfür ein eigenes Blechgefäß mit einem Deckel haben. Die böse Welt sagt ihr nach, daß sie den Massenmord immer nachts vornehme unter heißen Reuethränen und Bußgebeten. Sie soll immer tags darauf zur Beichte gehen. Und der Arzt muß ihr dann ein Zeugnis ausstellen, daß sie wegen hochgradiger seelischer Erregung mindestens eine Woche lang nicht auftreten dürfe. Das wird aber wohl Verleumdung sein. Daß sie eine richtige alte Jungfer ist, das ist freilich wahr, und eine fromme Schauspielerin mag wohl auch etwas sehr Seltenes sein, da lassen natürlich die bösen Zungen ihren Mutwillen dran aus. Ein bißchen komisch ist sie ja freilich, die gute Orjes; aber du mußt nicht denken, daß sie jetzt in ihren alten Tagen etwa die Sünden einer leichtfertigen Jugend abbüßte. Sie soll wirklich immer so brav und fromm gewesen sein, obwohl sie ihre Carriere in Wien beim Ballett angefangen hat. Ach Gott, du hättest sie nur sehen sollen als junges Mädchen! Ich kann mich noch gut drauf besinnen. So schön war sie! Ach, und in ihren großen Rollen als Gretchen, als Klärchen, als Julia, als Luise – zu nett, sage ich dir! So mädchenhaft – und dann mit solchem Schwung – so was gibt es heute gar nicht mehr! Heute sind die jungen Schauspielerinnen alle so – ich weiß nicht, wie ich sagen soll – so unfein. Das soll immer alles gerade so sein, wie im gewöhnlichen Leben – von der höheren Poesie haben sie gar keinen Begriff mehr. Besonders in den neuen Theatern. Dieser Kainz – hu! Ein anständiger Mensch kann überhaupt nur noch ins königliche Schauspielhaus gehen.«

Lizzi hatte inzwischen Zeit gehabt, sich in dem kleinen Salon der keuschen Künstlerin umzusehen. Wenn nicht in einer Ecke des Zimmers auf einer schwarzen Holzsäule die Büste der jugendlichen Amanda gestanden wäre und an der Wand drum herum die zahlreichen verblaßten Atlasschleifen mit Widmungen in Golddruck und Stickerei, so hätte man allerdings nicht geglaubt, sich im Heim einer Bühnenkünstlerin zu befinden. Die Bilder an den Wänden waren meist religiösen Inhalts, geringwertige Stahlstiche und Oeldrucke. Nur die äußere Schmalseite des Zimmers zeigte einen ausgeprägt weltlichen Charakter, indem die Mitte der Wand von der lebensgroßen Photographie eines hohen Militärs, die Brust mit Ordenssternen bedeckt, eingenommen wurde. Mehrere kleinere Bilder zeigten denselben hohen Herrn in Civil und in Uniform in verschiedenen Stellungen, in ganzer Figur, als Kniestück und als Brustbild. Dazwischen, teils gerahmt, teils auf kleinen Staffeleien, verschiedene Kostümbilder von Fräulein Orjes selbst. In einem kleinen Glasschrank waren neben allerlei überflüssigem bric-à-brac eine Anzahl von Kostbarkeiten zur Schau gestellt, prunkend und unbenutzbar, wie es Jubiläumsgeschenke oder die Gaben fürstlicher Huld zu sein pflegen: ein Album und eine Schreibmappe aus Juchtenleder mit vergoldeten Metallbeschlägen und großen bunten Steinen verziert, ein Schreibgerät von Malachit in Bronze montiert, ein reich emailliertes Flacon, ein Rosenkranz, aus Türkisen und kostbarem Holz zusammengesetzt, einige etwas altmodisch gewordene Schmuckgegenstände und dergleichen mehr.

Auf einer hübschen eingelegten Kommode in Zopfstil stand unter einem Glassturz eine bunt bemalte Marienstatuette und drum herum eine Menge meist nicht eben geschmackvollen Kleinkrams, wie ihn alte Damen allmählich um sich zu versammeln pflegen. Auf dem runden Sofatisch mit der verschossenen Plüschdecke lagen verschiedene Prachtwerke und Goldschnittbändchen herum, meist Anthologieen für die deutsche Jungfrau, zuckersüße Lyrik, breiweiche Epik: Schulzes »Bezauberte Rose«, Redwitz' »Amaranth«, Putlitz' »Was sich der Wald erzählt«, Jensens »Die braune Erika«, Storms »Immensee«, Bodenstedts »Shakespeares Frauengestalten« und Oesers »Aesthetische Briefe an eine Jungfrau«.

Lizzi hatte all die Büchertitel gelesen und war dann von ihrem Sofaplatz aufgesprungen, um neugierig unter all den Nippes umher zu stöbern und besonders den Inhalt des Glasschranks in Augenschein zu nehmen. Auf der Kommode hatte sie auch eine Parfümflasche entdeckt und sich trotz dem Warnungsruf der Majorin rasch eine tüchtige Portion ihres Inhalts auf ihr Taschentuch gegossen, als Gegengift wider das schreckliche Katzenodeur.

Jetzt arbeitete sich auch die Majorin hinter dem Sofatisch hervor und trat zu Lizzi an den Glasschrank.

»Weißt du, Kind,« flüsterte sie ihr wichtig zu, »das ist ihr Reliquienschrein. Die Sachen da hat sie alle von Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzen Georg Viktor bekommen. Das ist der Herr, von dem die vielen Bilder da hängen. Schon ein älterer Mann, wie du siehst. Der soll die Orjes sehr gerne gemocht und ihr nach jeder neuen Rolle was Hübsches geschenkt haben. Was sonst die Leute redeten, das ist alles nicht wahr gewesen. Aber wie der Prinz vor fünf Jahren zu seinen Ahnen versammelt wurde, da bildete sich die arme Amanda ein, er wäre aus unglücklicher Liebe zu ihr gestorben. Seitdem trägt sie nur Schwarz und geht noch einmal so viel wie früher in die Messe. Ja, liebes Kind, du mußt darüber nicht lachen: alte Jungfern haben eben meistens irgend solche komische Ideen; aber sie ist sonst eine so gute, brave Person – da drückt man halt ein Auge zu.«

Lizzi kicherte in ihr Taschentuch. Sie hatte sich das Heim einer berühmten Bühnenkünstlerin ganz anders gedacht. Mit argem Herzklopfen war sie hergekommen. Noch bis spät in die Nacht hatte sie die Bruchstücke aus klassischen Rollen, die sie während der letzten vierzehn Tage eifrig memoriert hatte, sich wiederholt vorgesprochen, um doch einigermaßen für die Prüfung gerüstet zu sein. Nun aber, da der Schalk in ihr die Oberhand gewonnen, war ihre ganze kindische Angst verschwunden.

Jetzt endlich kam Mütterchen Orjes wieder herein, vorsichtig ein chinesisches Theebrett in den zitterigen Händen balancierend, auf dem eine Likörflasche mit französischem ›Crême de Cacao‹, zwei grüne Gläschen mit aufgemalten Blümchen und zwei kleine Teller mit Biskuits und Bonbons sich befanden. Sie entschuldigte sich weitläufig, daß sie so lange habe warten lassen, aber die Gläser seien so verstaubt gewesen und die Bonbons habe sie nicht finden können. Die Damen nippten ihr Schnäpschen und ließen sich auch überreden, je eins von den uralten, verhärteten Pralinés zu genießen.

Glücklicherweise kehrte bald darauf Fräulein Amanda aus der Kirche zurück und betrat, sobald sie abgelegt hatte, in einem schwarzen Seidenkleide von etwas veralteter Machart das Empfangszimmer, um mit großer Herzlichkeit ihre Gäste zu begrüßen. Drei von ihren Lieblingen, eine Zebra-, eine Angora- und eine Kartäuserkatze, wirkliche Prachttiere, hatten es sich nicht nehmen lassen, sie hineinzubegleiten und rieben sich, sobald sie sich gesetzt hatte, schnurrend und mit steif aufgerichteten Schwänzen an den Beinen der Herrin. Das Mütterchen zog sich wieder in die Küche zurück.

Das Gespräch drehte sich natürlich zunächst um die Katzen. Lizzi gewann sich durch aufrichtige Bewunderung ihrer Schönheit sofort das Herz der Künstlerin, die denn auch mit großer Teilnahme einen kurz gefaßten Bericht über die bisherigen Schicksale des hübschen Kindes entgegennahm. Die Majorin erklärte nun den Zweck ihres Besuches und bat Fräulein Amanda, sich aus Freundschaft für sie ihres Schützlings anzunehmen.

»Sie wollen wirklich zur Bühne gehen, mein liebes Kind?« rief die bethränte Königin mit leise bebenden dunklen Tönen, indem sie Lizzis Hand ergriff. »Wissen Sie denn auch, welche Gefahren in diesem Beruf der unbehüteten Jugend drohen? Und besonders einer Schönheit, wie die Ihrige? O, mein liebes Kind, wenn nicht die Not oder ein unbezwinglicher innerer Drang Sie treibt, so lassen Sie sich warnen, den dornenvollen Weg der Künstlerin zu betreten. Geben Sie die Illusion auf, als winkte Ihnen nur die herrliche Aufgabe, die keuschen, edlen Frauengestalten der klassischen Dichter zu verkörpern. Es würde Ihnen nicht erspart bleiben, Ihr reines Gemüt zu besudeln durch die Darstellung vieler dieser abscheulichen modernen Rollen von häßlichen Leidenschaften erfüllter, durchaus unsittlicher Charaktere. Wenn auch Ihr Vater der Bühne angehört hat, so kennen Sie doch, soviel ich weiß, das Theater nur vor den Coulissen; aber hinter den Coulissen sieht es ganz anders aus – und nun gar auf den kleinen Bühnen, wo Sie doch wahrscheinlich anfangen müßten! Da kann man wirklich sagen: Begehre nie und nimmer zu schauen . . .«

Frau von Goldacker unterbrach ihre elegische Predigt, indem sie ihr mit schlauem Lächeln bedeutete, es sei mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß aus dem Plan, zur Bühne zu gehen, doch nichts werden würde, indem das gute Kind begründete Aussicht habe, durch einen gewissen Jemand seinem natürlichen weiblichen Beruf zurückgewonnen zu werden. Es wolle eigentlich nur zu seinem Vergnügen die Kunst der edlen Rede üben.

Lizzi verzog den Mund und machte ein ziemlich böses Gesicht zu solcher Indiskretion; desto freundlicher lächelte aber die trauernde Amanda und forderte Lizzi, indem sie ihr die Wangen streichelte, auf, etwas zu deklamieren.

Sie gehorchte, ohne sich lange zu zieren, stellte sich in die Mitte des Zimmers, gerade unter den kleinen Kronleuchter und faltete kindlich die Hände über dem Schoß. Selbstverständlich wählte sie »Johannas Abschied« aus dem ersten Akte der Jungfrau von Orleans. Jetzt war die dumme Angst doch wieder da! Sie fühlte, wie sie dunkelrot wurde und die Blutwellen ihr, atembeklemmend, bis in den Hals hinauf schlugen. Ja, im ersten Augenblick hatte sie sogar die Anfangsworte vergessen. Sie kniff die Augen zu, holte tief Atem – und da fielen sie ihr wieder ein. Leise und zaghaft begann sie:

»Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften,
Ihr traulich stillen Thäler, lebet wohl!
Zerstreuet euch, ihr Lämmer auf der Heiden,
Denn eine andre Herde muß ich weiden,
Euch lass' ich hinter mir auf immerdar!«

»Aber Sie bringen ja alles durcheinander, mein Herzl!« unterbrach sie hier die stattliche Künstlerin, indem sie beschwörend den Arm erhob.

Lizzi schämte sich furchtbar und sagte kläglich, ganz wie ein kleines Schulmädel: »I weiß net, heut in der Früh hab' i's doch noch so gut kennt,«

Und die bethränte Königin lehnte sich milde lächelnd in ihrem Sessel zurück und sprach ihr mit wohltönender Stimme den Anfang vor:

»Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften,
Ihr traulich stillen Thäler lebet wohl!
Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln,
Johanna . . .«

»Johanna sagt euch ewig lebewohl!« fiel Lizzi rasch und laut ein. Jetzt war sie im Zuge und brachte ohne weiteren Anstoß den ganzen langen Monolog zu Ende. Zuletzt, von der Stelle an: »Und wenn im Kampf die Mutigsten verzagen,« wurde sie sogar ganz wild, begann heftig zu gestikulieren und schrie, daß die Krystallprismen am Kronleuchter aneinander klirrten.

»Das Schlachtroß steigt und die Trompeten – klingen!« schmetterte sie mit voller Kraftentfaltung ihrer gesunden Lungen heraus. Und dann blieb sie rasch und tief atmend stehen und ihre, durch die Erregung weit und glänzend gewordenen Augen funkelten erwartungsvoll die Tragödin an.

Die gute Majorin war ganz begeistert. Es war ihr unmöglich zu warten, bis Fräulein Orjes ihr Urteil abgegeben, sondern sie klatschte, sobald Lizzi geendet hatte, in die Hände und rief: »Bravo, bravo! Nein, aber Lizzi – das hätte ich dir ja gar nicht zugetraut. Ganz ohne Souffleur – ohne stecken zu bleiben! Und dann diese Keckheit! Und das Organ! Herrgott nein, angst und bange kann einem dabei werden, wenn du so loslegst. Nun, was sagen Sie, liebes Fräulein? Hat sie nicht Talent? Was hab' ich Ihnen gesagt? Mit achtzehn Jahren! Ist Ihnen so was schon vorgekommen? Ach und jodeln kann sie, das müßten Sie erst einmal hören! Geh Lizzi, trag doch einmal das Schnaderhüpfl vor. Du weißt schon, das mit dem komischen Text, den ich immer nicht verstehe.«

Hier machte die begeisterte kleine Dame eine Atempause, so daß Fräulein Amanda endlich zu Worte kommen konnte. Mit einem milden Lächeln bedeutete sie der Majorin, daß die Fähigkeit zu jodeln nicht unbedingt ein Kennzeichen sei für das Vorhandensein eines Talentes zur dramatischen Darstellung. Material besitze das junge Mädchen ja freilich in hervorragendem Maße, nämlich die stattliche Erscheinung, das bewegliche Gesicht mit den sprechenden Augen und das gesunde kräftige Organ. Damit würde sich wohl etwas machen lassen, wenn sie auch über das eigentliche Talent nach dieser bloßen Stimmprobe noch nicht urteilen könne. Vorläufig handle es sich hauptsächlich darum, ihr den Dialekt abzugewöhnen, was wohl allein mindestens ein halbes Jahr erfordern würde. Hier bemerkte Fräulein Amanda, daß Lizzi ein langes Gesicht machte und betrübt die Mundwinkel herabzog. Da erhob sie sich, legte ihr mit einer großen, königlichen Geste die Hände auf die Schultern, sah sie mit zur Seite geneigtem Haupte liebreich an und sagte: »Erschrecken Sie darüber, mein liebes Kind? Sie haben sich das Zur-Bühne-gehen doch wohl ein wenig zu leicht vorgestellt. Heutzutage gibt es ja freilich viele junge Mädchen, die sich zur Künstlerin berufen glauben, bloß weil ihnen ihr unbändiger Sinn das stille häusliche Leben eines deutschen Mädchens langweilig erscheinen läßt und weil sie einen zügellosen, frivolen Lebensgenuß davon erhoffen. Diese Mädchen studieren freilich nichts andres als die Kunst, ihre körperlichen Vorzüge in das rechte Licht zu setzen und glauben den größten Erfolg errungen zu haben, wenn sie einen reichen Liebhaber finden. Diese Art läuft ihren Eltern davon und bittet bei irgend einem Possen- oder Operetten-Theater um Aufnahme. Gage bekommen sie meistens gar nicht, sie sind schon froh, wenn sie nur in möglichst indecenten Kostümen herausgestellt werden. Und wenn sie dann jemand gefunden haben, der ihre Garderobe bezahlt, so vertraut ihnen der Direktor auch Rollen an. Wenn sie dann im Laufe der Zeit überhaupt etwas lernen, so lernen sie es nur durch Nachahmung, durch Routine – also wie Affen, nicht wie denkende Menschen. Wer aber eine wahre Priesterin des Schönen werden will, der muß jahrelang studieren, ehe er nur den ersten Schritt in die Oeffentlichkeit wagt und auch dann das ganze Leben hindurch rastlos an sich arbeiten. Es ist meine Pflicht, Ihnen das zu sagen, mein liebes Fräulein, damit sie nicht etwa in die Versuchung geraten, einem schönen Phantom zuliebe, das in der Wirklichkeit sehr häßliche Züge zeigt, das echte und natürliche Glück der Frau von sich zu weisen.«

Hiermit drückte die bethränte Königin einen weihevollen Kuß auf Lizzis Stirn und dann fügte sie in leichterem Tone hinzu: »So mein liebes Kind, jetzt machen Sie mir aber wieder ein fröhliches Gesicht. Und wenn Sie zunächst einmal die Kunst der Rede erlernen wollen, so stehe ich Ihnen gerne zu Diensten.«

Die Majorin hatte mit gefalteten Händen und andächtiger Miene, wie in der Kirche, den goldenen Worten der edlen Priesterin des Schönen gelauscht. Sie war so gerührt davon, wie es weichherzige Frauen immer werden, wenn sie eine Trau- oder Grabrede hören und sie dankte der Künstlerin für die genossene Erbauung durch einen stummen Händedruck. Dann fragte sie sie etwas zaghaft, wie viel sie denn wohl für die Stunde nehmen würde?

Fräulein Orjes lehnte jede Bezahlung vornehm ab. Es wurde vereinbart, daß Lizzi zweimal in der Woche zu ihr kommen sollte. Und dann brachen die beiden Damen auf und verabschiedeten sich unter lebhaften Beteuerungen ihrer Dankbarkeit.

Recht kleinlaut und gedrückt stieg Lizzi die Treppen hinunter. Sie hatte sich eine Bühnenkünstlerin ganz anders vorgestellt und hätte statt der langen, erbaulichen Predigt weit lieber eine eingehende Kritik ihres Vortrages gehabt. Warum hatte sie ihr nicht wenigstens den Monolog selbst vorgesprochen, damit sie gewußt hätte, wie sie es meinte? Wenn das so weiter ging, wenn sie immer nur Katzen riechen und Predigten hören sollte, so konnte sie sich von dem Unterricht nicht viel versprechen. Und nun war es vollends noch ein geschenkter Gaul – da hieß es gar, fein stille sein und ungemessene Dankbarkeit an den Tag legen. Die Majorin hielt ihr das auch den ganzen Weg über vor, erschöpfte sich in Lobsprüchen über die edle keusche Sinnesart der schnöde verkannten Künstlerin und pries das Glück, das ihr gerade eine solche Lehrerin zugeführt habe. Lizzi stimmte recht einsilbig bei. Das einzige Gute, was ihr bis jetzt bei der Sache herausgekommen zu sein schien, war, daß Fräulein Amanda ihr ihren Freiplatz im Schauspielhause zur Verfügung gestellt hatte und daß auch die Majorin die Notwendigkeit öfteren Theaterbesuches trotz der Trauer einsah. – –

Schon am nächsten Abend hatte sie übrigens Gelegenheit, ihre Lehrerin in einem Wildenbruchschen Stücke auftreten zu sehen. So naiv sie sich auch noch dem ungewohnten Genusse überließ, so wenig sie sich kritisch Rechenschaft zu geben wußte, so fühlte sie doch mit ihrem angeborenen Kunstinstinkt sofort den großen Unterschied zwischen dem Stil der Darstellung hier im Königlichen Hause und dort im Deutschen Theater. Dort war ihr alles neu, eine berückende Offenbarung einer fremden Wunderwelt gewesen, hier spielte man Komödie wie in München auch, das war halt Theater schlechthin. Nicht etwa, daß ihr das Stück mißfallen hätte, nein, im Gegenteil! das leidenschaftliche Pathos, die bilderreiche Sprache, die starken, theatralischen Effekte, besonders der bewegten Massenscenen imponierten ihr ganz gewaltig. Aber es ging ihr doch nicht so ans Herz, wie dort in Grillparzers grotesk-heiterem Märchenspiel. Sie konnte sich ganz gut vorstellen, daß auch sie im prächtigen Kostüm da oben herumagierte und mit klangvollem Organ die Luft erschütterte. Sie hatte ebenso kräftige Lungen, wie alle diese Herren und Damen. Aber sie sah nirgends den Schauspieler hinter der vom Dichter geschaffenen Gestalt verschwinden, sie konnte sich nicht so klein, so elend in ihrem Nichts empfinden, wie jenen andern Leistungen gegenüber. Und sie ahnte ganz richtig, daß dies wohl der wahre Prüfstein sei, mit dem der geborene Künstler die Gestaltungskraft eines andern zu ermessen vermöge. Auch wenn ihr nicht ihr eigenes Gefühl gesagt hätte, daß Fräulein Amanda Orjes von all den unnatürlichen Mimen da oben die unnatürlichste sei, so würden die höhnischen Bemerkungen ihrer Nachbarschaft, die sie in den Zwischenakten erlauschte, sie darauf gestoßen haben.

»Die Orjes singt heute wieder die schönsten Opernarien!« sagte eine junge Dame vor ihr, wahrscheinlich eine jüngere Kollegin, zu ihrem Nachbarn, einem schwarzlockigen jungen Herrn mit sehr hoher Stirn und rassig gebogener Nase.

Und der erwiderte noch schärfer: »Sagen Sie lieber, sie jault wie ein Hofhund bei Vollmond.«

»Ja, ja, die Tugend allein thut es freilich nicht,« pflichtete ein älterer Herr bei, der sich in selbstbewußter Pose an die Brüstung der Parkettloge lehnte. »Es wäre wirklich höchste Zeit, daß sie sich in ein Kloster zurückzöge oder ein Mädchenpensionat eröffnete. Es ist nur schade um ihre schönen Arme und ihre pompösen Schultern. Hat sie denn noch kein Bildhauer ausgehauen, diese – monumentale Geistlosigkeit?!«

Die ganze Parkettloge kicherte und der boshafte Ausspruch des hervorragenden Kritikers wurde sofort eifrig weitergetragen. –

Friedrich, der Diener der Majorin, erwartete nach Schluß der Vorstellung Lizzi am Ausgang des Theaters, schritt, in seinem langen, erbsengelben Ueberzieher sehr bedeutend und vertrauenerweckend ausschauend, in angemessener Entfernung hinter ihr drein, begleitete sie in der Pferdebahn bis zum Potsdamerplatz und von dort zu Fuß nach Hause. Sie hütete sich natürlich, ihrer mütterlichen Freundin von den Bosheiten zu berichten, die sie über ihre bewunderte Amanda vernommen hatte und die Majorin schob ihre Einsilbigkeit, ohne sich weiter Gedanken zu machen, auf ihre große Ergriffenheit und kindliche Zurückhaltung.

Lizzi schlief schlecht in dieser Nacht und beschloß, trotz der geheimen Angst, die sie im Grunde vor Fräulein Grönroos hatte, doch diese Bekanntschaft weiter zu pflegen und mit ihr, so oft es irgend anging, das Deutsche Theater zu besuchen, sei es auch nur auf einem Stehplatz der Galerie.

Am andern Tage hatte sie die erste Unterrichtsstunde bei Fräulein Orjes. Sie blieben bei der Jungfrau von Orleans. Lizzi mußte ein Stück lesen, dann wies ihr die Lehrerin alle ihre Fehler in der Aussprache nach, las ihr dasselbe Stück richtig vor und ließ sie es so lange wiederholen, bis sie zufrieden war. Die Sache war ungefähr so interessant, wie die ersten Klavierübungen und eine starke Probe für Lizzis Geduld. Ihr musikalisches Ohr und ihre angeborene Nachahmungsgabe machten es ihr aber leicht, die Lehrerin zufrieden zu stellen und sie nahm sich vor, durch Aufmerksamkeit und guten Willen die langweilige Sprachreinigungskur nach Möglichkeit abzukürzen.

Zwar hatte sie diese erste Stunde hindurch mit heiligem Ernste den Offenbarungen der berufenen Priesterin gelauscht, jenes Herzklopfen, jene leichten Schwindelanfälle zu erdulden gehabt, welche empfindliche Naturen unter dem Eindruck einer neuen und bedeutungsvollen Situation stets zu befallen pflegen, aber es lag durchaus nicht in ihrem Wesen, sich durch die Scheu vor irgend welcher Autorität einen Sack über den Kopf ziehen zu lassen, wie es der Herdenmensch ohne Widerstreben duldet. Ein junger Mann, der sich zum erstenmal hat rasieren lassen, mag ungefähr mit denselben Gefühlen den Barbierladen verlassen, wie Lizzi, als sie, von ihrem erbsengelben Sicherheitswächter gefolgt, aus ihrer ersten dramatischen Unterrichtsstunde heimging. Die Empfindung des Stolzes über den Eintritt in einen neuen, wichtigen Lebensabschnitt vermischte sich unbehaglich mit dem Bewußtsein, eine etwas komische Rolle gespielt zu haben.

Um sich von dieser Verstimmung zu befreien, verfiel Lizzi auf ein drastisches Mittel. Die Majorin war ausgegangen und da benutzte sie die gute Gelegenheit, ihrem brüderlichen Anbeter Rudi einen Bären aufzubinden. Sie erzählte dem guten Jungen Wunderdinge von ihrer ersten Lektion. Fräulein Amanda habe ihr eine kupferne Blumenvase als Helm auf den Kopf gestülpt und einen eisernen Ofenschirm als Schild in die Hand gegeben, um sie in die rechte Begeisterung zu versetzen. Die sieben Katzen hätten alle in einer Reihe auf dem Sofa gesessen und zugehört – damit sie sich an das Publikum gewöhnen sollte. Und als Rudi, der all den Unsinn glaubte, sie bat, ihm doch einmal vorzumachen, was sie gelernt habe, da deklamierte sie ihm Johannas Abschied vor, getreulich im Stile ihrer Lehrerin, dessen komische Eigenheiten sie schon nach der einen Probe von gestern abend ganz richtig erfaßt hatte – nur ins Groteske übertrieben, selbstverständlich.

Der Spaß gelang um so besser, als der unschuldige Rudi ihn gar nicht merkte, sondern alles für blutigen Ernst nahm. Er war so erschüttert durch Lizzis Kraftentfaltung, daß er am Schluß ganz überwältigt vor ihr niederkniete und um die Erlaubnis bat, der erste sein zu dürfen, welcher der großen Künstlerin durch Handkuß seine Huldigung erwies.

In der lateinischen Stunde des nächsten Vormittags erlebte aber der junge Kunstkenner infolge mangelhafter Cicero-Präparation einen bösartigen Hineinfall.


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