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Es sind Wochen vergangen, ohne daß ich zu diesen Blättern zurückgefunden hätte. Nachrichten aus der Heimat, die einem beinahe das Herz zerbrechen mögen, die unser armes Vaterland im Innern zerrissen, nach außen hin in einem Verzweiflungskampf mit einer Meute mitleidslos gieriger »Sieger« zeigen! Da ist es mir gewesen, als ob der einzelne angesichts der ungeheuerlichen Vorgänge und Probleme dieser Zeit garnicht ein Recht auf solches Suchen, Erinnern und Festlegen der kleinen Begebenheiten aus seinem Leben und Schicksal hätte.
Und es hat wirklich Frühling draußen werden müssen, bis ich zu meinem Vorsatz wieder zurückgefunden habe. Frühling mit leuchtend grünen Weidekoppeln, auf denen neben den schmutzigen, in ihrem Winterpelz beinahe erstickenden Mutterschafen kleine ulkige Lämmer springen und über denen die Seeluft klar und durchsichtig ist, trotz des Wehens, das nie recht zur Ruhe kommen will.
Alles sieht sich in diesem Lichte und in den überall erwachten Farben besser an, und auch die Menschen haben freundlichere, aufgeschlossene Gesichter.
Wenn ich an die ersten Monate hier auf der Insel denke – nein, da war auch mit allem Willen »to make the best of it« nicht viel zu wollen. Mißtrauen und Zurückhaltung bei allen – den Fischern, Bauern und Geschäftsleuten in Oosterland, in Hippolytushoef und in Den Oever. Ein scheues Sichbeiseitedrücken, wenn man vorüberkam: »De Kronprins –«, und das war so viel wie: dieser Boche – der Mörder von Verdun – der Frauenjäger –! Was die Entente mit Hilfe ihrer Lügenpresse und durch ihre Agenten den guten Leuten durch über vier Jahre eingehämmert hatte, saß. Dazu auch keine Möglichkeit, sich mit ihnen über all diesen Unsinn auszusprechen. Und ein Quartier, das kaum zu heizen und kaum zu beleuchten ist, denn diese Eisenöfchen wollen nicht, und unsere berühmte eine Lampe rußt und kann auch nur brennen – wenn Petroleum vorhanden ist. So kriecht man denn, kaum daß es dunkel ist, ins Bett und liegt da schlaflos, quält sich immer wieder mit dem Gleichen – wird halb verrückt im Grübeln, über diesem Suchen: wie es nur kam? – und wo die Schuld liegt? – und wie man es vielleicht hätte besser machen können?!
Nein, alles das ist minder hart und ist erträglicher geworden.
Die Menschen auf der Insel wissen heute, daß ich mit all diesen Verleumdungen, die man über mich ausgebreitet hat, nichts zu tun habe, und ihr Mißtrauen ist gewichen, ihre schlichte, natürliche Wesensart tritt mir jetzt frei entgegen. Alles grüßt freundlich, und die meisten strecken mir die Hand entgegen. Auch eingeladen werde ich hier und dort und sitze dann in den sauberen kleinen Stuben beim Täßchen Kakao und versuche meine holländischen Sprachkünste.
Einer besonders hat viel getan, um aufzuklären und mir den Weg zu ebnen: Der Bürgermeister Peereboom. Anfangs ist er der einzige gewesen, der über alle Vorurteile weg den Menschen sah – und ihm beisprang. Er und seine Familie. Und ihm und der warmherzigen, tatkräftigen Frau verdanke ich manche kleine Verbesserung meines bescheidenen Haushaltes in der Pastorie und manchen guten, aufklärenden Wink, der mich die neue Umwelt und ihre Menschen verstehen lehrte. Auch ein paar deutsche Menschen sind mir gleich helfend beigesprungen: der famose, weltgewandte Graf Bassenheim aus Amsterdam, der Holland ebenso gut kannte wie sein schönes Bayernland, der allzeit getreue, kluge, in seiner Fürsorge rührende Baron Hünefeld, ehemals Vizekonsul in Maastricht. Ferner mehrere deutsche Kaufleute aus Amsterdam, treue, opferwillige Männer, denen mein aufrichtiger Dank fürs Leben gebührt.
So bleibt unverändert nur die Sorge um die Heimat und die Sehnsucht nach ihr und den Menschen, zu denen ich gehöre.
Aber nicht davon – von dem anderen Leben, das mir in dieser Abgeschiedenheit der Insel manchmal so fern erscheint, als trennten mich von ihm schon lange Jahre, will ich sagen, was mir zutreibt.
Als dereinstiger Thronfolger geboren, bin ich in den besonderen Anschauungen erzogen worden, die nach dem Herkommen für einen preußischen Prinzen gelten sollen. Zweifel an der Eignung und Vortrefflichkeit dieser Grundsätze hat niemand in der Familie jemals gehegt, denn alle ihre männlichen Mitglieder waren in ihrer Jugend etwa den gleichen Weg gegangen.
So wenig ich nun den Wert gerade der altpreußischen Tradition verkenne, so glaube ich doch, daß die übliche, in enge, scharf gezogene Grenzen eingefriedete Prinzenerziehung, bei der sich die starre Etikette des Hofes mit der ängstlichen Fürsorge des Elternhauses zu bindenden Instruktionen für Erzieher, Lehrer und Berater vereinigte, eher geeignet erscheint, ein bestimmtes, nicht sehr neuartiges, aber für repräsentative Aufgaben immer noch recht wirkungsvolles Produkt zu erzielen, als einen modernen, unbeirrt im Leben seiner Tage stehenden Menschen. Sie hätte auch mich, wenn ich mich ihr gefügt hätte, mit der Zeit in eine weltfremde, abgeschlossene und einsame Position geführt. In eine Position, an der mir als das Schlimmste nicht jene chinesische Mauer erscheint, die um sie errichtet ist, sondern die durch diese Methode anerzogene Unfähigkeit, die Mauer zu sehen. So hält er sich für frei und ist in seiner Gedankenwelt beschränkt.
Früh schon – und anfangs sicher allein im Triebe meiner Anlagen, später dann mit erwachendem Bewußtsein und mit reifer Erkenntnis – habe ich mich den Bestrebungen widersetzt, das, was an selbständigem Wesen in mir ist, im Sinne einer Erziehung zu einem preußischen »Normalprinzen« zu nivellieren. Zwei grundverschiedene Auffassungen traten hier gegeneinander an. Die hergebrachte und während der Regierung Seiner Majestät besonders stark betonte Idee von der »Erhabenheit« der Herrscherstellung, die in dem Worte schon bildhaft ausgedrückte Auffassung, daß der Fürst, König, Kaiser hoch über der Schicht der Regierten stehen müsse – und die mir vorschwebende, daß er das Leben, wie es läuft und wie das Volk in allen seinen Schichten es zu tragen hat, aus eigener Anschauung kennen solle. – Es bleibt zu sagen, daß der Versuch, meinen Gedanken auch in der Tat getreu zu sein, mir manche Kämpfe und Unannehmlichkeiten eingetragen hat. –
Die Erziehung und der tägliche Lebenszuschnitt von uns Kindern im kaiserlichen Elternhause war einfach. Verwöhnt wurden wir nicht, am allerwenigsten durch unsere Militärgouverneure.
Mein erster Militärgouverneur – ich war damals ein Junge von sieben Jahren – war der spätere General von Falkenhayn. Seiner gedenke ich in besonderer Verehrung und Dankbarkeit. Er hat mich nicht verzärtelt, mir nichts geschenkt, und er hat mir schon in diesen Kinderjahren den Gedanken eingeprägt, daß es für den Mann die Worte Gefahr und Furcht nicht geben dürfe. Im besten Sinne hat er die unverzagte Frische seines gläubigen Soldatentumes dem Knaben weitergegeben. Von klein an war die Leidenschaft für Pferde und für das Reiten in mir. General von Falkenhayn wußte es bei den Ritten in die herrliche Umgebung Potsdams stets so einzurichten, daß wir Hindernisse im Gelände zu überwinden hatten. Hecken, Zäune, Mauern, Gräben und steile Kiesgruben mußten frisch genommen werden. Er pflegte bei solchen Gelegenheiten zu sagen: »Schmeißen Sie Ihr Herz erst 'rüber – dann kommt das Andere auch hinterher!« Das Wort habe ich dann durchs Leben mitgenommen, und immer wieder, wenn mir Schweres widerfährt, und auch jetzt oft, wenn mich die grauen Stunden meines Schicksals und meiner Einsamkeit hier auf der Insel würgen wollen, steht es vor mir und ruft mir seine tapfere Soldatenweisheit zu, hilft mir darüber weg. Auch als Patrouillen- und Meldereiter mußte ich mich als Junge schon erproben, und ebenso wurde ich damals auch im Kartenlesen unterwiesen. Unsere körperliche Ausbildung wurde durch Turnen, Exerzieren und Schwimmen eifrig gepflegt.
In diese Zeit meiner Knabenjahre fällt ein Erlebnis von tiefer Eindringlichkeit für mein junges Gemüt: ich durfte mich nun richtig und offiziell – nicht nur so wenig formvoll wie damals, da ich ihm als kleiner Junge in die Bude platzte – dem Fürsten Bismarck präsentieren.
Von meinem Vater hatte ich Befehl, Uniform anzuziehen und ihn in Friedrichsruh zu treffen – es gehe zum achtzigsten Geburtstage des Altreichskanzlers. Die Uniform anziehen dürfen, das war für mein Knabenherz schon damals ein Hochpunkt von Glück, und nun noch dazu ein Besuch bei dem Manne, den ich aus einem gesunden Instinkte heraus nach wie vor wie einen Helden aus der alten Göttersage verehrte. Ich habe in der Nacht vor dieser Fahrt kein Auge zugetan!
Bismarck litt damals schwer unter Gicht und begrüßte uns auf den Stock gestützt im Schloß.
Bei der Frühstückstafel war er von einer erstaunlichen Frische und Lebhaftigkeit, doch habe ich bei der Erregung, die mich bei diesem ersten »offiziellen« Auftreten naturgemäß erfüllte, nur diesen allgemeinen Eindruck aus jener Stunde in mein Erinnern gerettet. Überdies machte mir während der Tafel (es muß gestanden werden!) die große Dogge des Fürsten, die mir plötzlich unter dem Tisch ihre kalte, nasse Nase auf die Knie legte und die, wenn ich mich unbemerkt von ihr befreien wollte, immer ganz unmißverständlich knurrte, einigermaßen Sorgen.
Nach Tisch setzte sich Seine Majestät zu Pferde und erwartete den alten Fürsten an der Spitze des unweit vom Hause auf einem Ackergelände aufgestellten Halberstädter Kürassierregiments, zu dessen Chef er ernannt worden war.
Mir wurde die Ehre zuteil, mit dem alten Herrn im Wagen fahren zu dürfen. Er machte mich dabei in wahrhaft väterlich gütiger Weise auf alle Schönheiten des Parkes von Friedrichsruh aufmerksam.
Mein Vater hielt eine sehr schöne Ansprache und überreichte dem Fürsten einen reich gearbeiteten Ehrenpallasch. Der Fürst erwiderte mit einigen kurzen markigen Worten.
Dann fuhren wir nach Hause. – Ich bemerkte, daß der alte Herr sehr müde und abgespannt war, das lange Stehen hatte ihn wohl über seine Kräfte angestrengt. Er atmete schwer und eilig und versuchte endlich, sich den viel zu engen Uniformkragen zu öffnen. Das gelang nicht gleich. Und ich, selbst beinahe erschrocken über meinen Mut, beugte mich rasch zu ihm und half. Da drückte er mir, als das Werk gelungen war, freundlich und dankbar nickend die Hand.
Wir fuhren an demselben Nachmittage wieder fort.
An diesem schönen Tage, den ich in den Erinnerungen aus meiner Jugend um alles nicht missen möchte, habe ich den größten Deutschen seines Jahrhunderts zum letzten Male gesehen.
Den wissenschaftlichen Unterricht erhielten wir zunächst durch Hauslehrer. Ich halte das für grundsätzlich nicht gut, denn es bleibt dadurch der aneifernde Mitbewerb von Kameraden ausgeschlossen. Als ich nachher vierzehnjährig im April 1896 auf das Kadettenkorps in Plön in die Untersekunda kam, stellte es sich denn auch heraus, daß meine Kenntnisse große Lücken hatten, und so mußte das Fehlende durch Überstunden nachgeholt werden.
In dieser Plöner Zeit ist der spätere General von Lyncker mein und meines Bruders Eitel Friedrich Gouverneur gewesen. Er war der Typ des vornehmen preußischen Offiziers der alten Schule. Seiner unbeirrbar ernsten Natur wurde es nicht immer leicht, sich in die Ideenwelt von uns unfertigen Menschlein hinein zu versetzen und damit die natürliche Handhabe zu unserer Leitung zu finden. Und richtige Kinder sind wir damals doch noch gewesen! Für ihn gab es nur Dienst und Pflicht, Schule und Arbeit – und wieder Dienst und Arbeit. Als ich erst etwas reifer war, gerieten wir öfter aneinander. Ich war als junger Mensch sicher kein Musterjüngling für das Schaufenster eines Knabenpensionates – aber daß so viel an mir auszusetzen gewesen wäre, wie General von Lyncker täglich festzustellen wußte, kann ich wirklich nicht glauben. Dazu kam, daß seine etwas spröde und harte Art, ohne daß er das wollte, auf mich oft verletzend wirkte.
Gerade des Generals von Lyncker aber bediente sich der Kaiser später noch durch viele Jahre vorzugsweise, wenn es Verstimmungen oder Konflikte mit mir gab, als Vermittler. Obwohl ich gerne und mit Dank hierfür anerkenne, daß General von Lyncker in dieser ihm befohlenen Rolle niemals zum dienstfertigen Zwischenträger oder zum bewußten Verschärfer der Reibungen geworden ist – was auch ganz unvereinbar mit seiner geraden, vornehmen Gesinnung gewesen wäre – so mag ich doch auch nicht verschweigen, daß die Einschiebung seiner manchmal ohne Grund schroffen Art in einzelnen Fällen die Unstimmigkeit eher vertiefte als milderte.
Frau von Lyncker haben wir als Plöner Kadetten sehr lieb gehabt.
Damals in Plön wurde für meinen Bruder Fritz und mich eine besondere Prinzenschule eingerichtet. Jeder von uns erhielt drei Mitschüler. Es wurde – auch aus dem schon gekennzeichneten Erziehungsprinzip heraus – nicht gerne gesehen, daß wir uns unter die anderen Kadetten mischten: über diese Absperrung haben wir uns allerdings immer wieder hinweggesetzt und vom ersten Tage an jede Gelegenheit benutzt, um in engste kameradschaftliche und freundschaftliche Beziehung auch zu allen anderen Jungen vom Korps zu treten. Die Fußballkämpfe, Ruderwettstreite und Kompanie-Schneeballschlachten sind mir noch jetzt liebe Kindheitserinnerungen. Viele meiner damaligen Korpskameraden, die aus den verschiedensten Kreisen stammten, sind mir gute Freunde geworden, mit denen mich treue Beziehungen auch durch das weitere Leben verknüpften und verknüpfen. Und im Kriege traf ich häufig ganz überraschend irgendwo im weiten Frankreich einen meiner alten Kadettenkameraden wieder, und dann stand für uns beide zwischen all dem harten Ernst der Zeit für kurze Augenblicke wie ein Lächeln die Erinnerung auf an jene fernen, sorgenfreien Jugendjahre.
Aus meinen besonderen Wunsch durfte ich in Plön bei einem Drechslermeister in die Lehre gehen. Im allgemeinen muß eine solche Prinzenlehrzeit – und bei den Hohenzollern ist es Brauch, daß jeder Prinz ein Handwerk kennen lerne – nicht allzu tragisch beurteilt werden, sie ist nach ihrem Herkommen vor allem eine schöne Geste und ein Symbol. Wenn ich nun auch niemals behaupten möchte, daß ich mich etwa mit meinen Plöner Drechslerkünsten, die ich auch später immer wieder gern geübt habe, durchs Leben bringen könnte, so darf ich doch sagen, daß Meister wie Lehrjunge ihre Sache damals ganz redlich ernst genommen haben. Mein braver Lehrherr ließ mich feste arbeiten und holte mich tüchtig heran, ich aber war mit richtiger Freude dabei und habe mich in dem schlichten, sauberen Haushalte und in der Umwelt des kleinen Handwerksbetriebes überaus wohl gefühlt.
Gerade hier auf meiner Insel und in diesen letzten Frühlingswochen, in denen mich der Drang nach körperlicher Arbeit in die Hufschmiede des Jan Luijt geführt hat, habe ich, wenn das Eisen unter meinen Hammerschlägen sprühte und während sein kleiner Bengel den Blasbalg zog und Vater Luijt mich unterwies, oft an die Plöner Lehrzeit an der Drechselbank gedacht.
Unser Verkehr in Plön führte uns in die Lehrerfamilien, und auch zu Schülern des Plöner Gymnasiums hatten wir freundschaftliche Beziehungen. Überdies hatte ich auch unter den Bauern der Umgebung ein paar »Freunde«, und manches Stückchen Ackerland habe ich damals selbst umgepflügt; ich weiß noch, wie stolz ich war, wenn mir die Pflugspur ordentlich und liniengerade gelang!
In das Jahr 1887, weit vor der Plöner Zeit, fällt auch ein Erlebnis, das ich hier nachholen muß, weil es meine jugendliche Phantasie damals besonders lebhaft beschäftigt hat: meine erste Seereise.
Die Königin Viktoria feierte ihr Regierungsjubiläum, meine Eltern fuhren zu den Festlichkeiten nach England, und ich wurde mitgenommen.
Die alte Königin sah ich hierbei zum ersten Male bei einem großen Gartenfeste im St. James-Park, wo sie vor einem schönen, reich geschmückten Zelte im Rollstuhl saß.
Sie war sehr freundlich zu mir, streichelte mich immer wieder mit ihren schönen, leise zitternden Altfrauenhänden und küßte mich. Leider kann ich mich ganz und gar nicht mehr auf die Worte besinnen, die sie dabei zu mir gesprochen hat; ich weiß nur, daß meine Knabenphantasie viel mehr von den beiden riesigen Indern in Anspruch genommen war, die vor dem Zelte Wache hielten, als von der kleinen, müden alten Frau.
Das ungeheure Menschengewoge im St. James- Park, das Ineinanderfluten von Vertretern beinahe aller Volksstämme der Welt, hat damals tiefen Eindruck auf mich gemacht. Und wenn meine Jugend auch noch nicht fähig war, die große Symbolik der englischen Weltmacht in diesem Bilde zu erkennen, so hat sie doch die überwältigende Fülle des Geschauten ehrfürchtig aufgenommen, und ich wurde dadurch für alle Zeiten vor einer Unterschätzung gerade Englands behütet.
Wenn ich die Zeit bis zur Jahrhundertwende als meine Kindheit und frühe Jugend sehe, so möchte ich die Jahre, die dann kamen, meine Lehrzeit nennen.
Nachdem ich das Abiturientenexamen abgelegt hatte und nachdem darauf meine Großjährigkeitserklärung am 6. Mai 1900 ausgesprochen worden war, stellte mein Vater mich in die Leibkompanie des 1. Garde-Regiments zu Fuß ein, in dem jeder preußische Prinz traditionsgemäß zunächst Dienst tun mußte. Dieser Brauch war auch gut, denn das Regiment war dienstlich stets hervorragend, und die jungen Prinzen wurden tüchtig hergenommen. Ich wurde später als Leutnant und Zugführer der zweiten Kompanie zugeteilt, die mein Vater als junger Prinz befehligt hatte, und fühlte so: Du tust hier deine ersten Schritte auf einem Wege, der dich durch Lehrjahre hindurch zu großen Aufgaben des Lebens führen soll.
Voll jungen, stärksten Glaubens an mein Leben und an meine Zukunft war ich, voll heiligen Willens, ehrlich und pflichtgetreu zu bestehen. Der Augenblick, da ich auf die Fahne der Leibkompanie in der ehrwürdigen alten Schloßkapelle in Berlin meinem Kaiserlichen Vater und Obersten Kriegsherrn den Fahneneid schwur, steht in weihevoller Erinnerung und unvergeßlich noch vor mir.
Die Kaserne des 1. Garde-Regiments zu Fuß und das Regimentshaus, das Kasino des Offizierkorps, waren jetzt meine neue Heimat, der streng geübte, ausgiebige Dienst meine neue Schule. Mein damaliger Kompaniechef, Graf Rantzau, war der Typ eines alten, erfahrenen, pflichttreuen preußischen Frontoffiziers. Er war selbst jederzeit auf die Sekunde pünktlich, schonte sich nicht und gab sich ganz dem Dienste – aber er stellte dabei auch jede höchste Anforderung an Offiziere und Mannschaften. Genauigkeit bis in die kleinsten Einzelheiten und Strenge gegen jede Lässigkeit verband er mit unbeirrbarem Gerechtigkeitssinn und einem warmen Herzen, das die Entwicklung jedes seiner Untergebenen mit menschlichem Anteil verfolgte. Seine Kompanie verehrte ihn. Jetzt ruht der treffliche Mann vor Reims in französischer Erde. Unnachsichtig, aber gerecht und ein Mann und Vorgesetzter, wie er sein soll, verehrt und geachtet von mir wie von jedermann, war auch mein erster Kommandeur Oberst von Plettenberg. Wie seiner so gedenke ich auch gern meines alten Bataillonskommandeurs, Major von Plüskow. Er war der Riese unter den durchweg großen Offizieren des Regiments, war berühmt als Exerziermeister und trotz seiner Strenge beliebt als ein allzeit gütiger Vorgesetzter.
Was ich damals beim 1. Garde-Regiment zu Fuß lernte, bildet die Grundlage meines ganzen militärischen Lebens. Der Werk der Treue im kleinen, des viel verschrieenen Kommisses, der eisernen Disziplin, des verlästerten, weil mißverstandenen preußischen Drills ist mir damals in seiner ganzen Bedeutung als Mittel, die Vielheit der Köpfe und Kräfte zu einer einzigen Einheit von höchster Kraft zu verbinden, verständlich geworden. Die nach diesen Grundsätzen ausgebildete Armee hat die großen unvergänglichen Siege des Jahres 14 erstritten. Leider mußte im langen Verlaufe des Krieges diese gute altpreußische Ausbildungsmethode immer mehr in den Hintergrund treten, sehr zum Schaden der Armee und ihres Werkes.
Im ganzen war jene Leutnantszeit unvergleichlich schön. Ich war jung und gesund, tat meinen Dienst mit Passion und hatte das Leben im Sonnenschein vor mir liegen. Dazu ließ mich ein Freundeskreis lieber Altersgenossen die Segnungen der Kameradschaft, dieser wichtigsten Kraftwurzel des preußischen Offizierkorps, froh genießen. Heute freilich deckt der grüne Rasen in Frankreich oder Rußland die meisten von den tapferen, treuen Männern zu, die damals jung und froh und gläubig wie ich gewesen sind; es ist einsam um mich geworden.
Drei liebe Freunde haben mir in jener fernen Leutnantszeit und später dann durch lange Jahre besonders nah gestanden: es sind dies die damaligen Leutnants Graf Finckenstein, von Wedel und von Mitzlaff. Freud und Leid haben die drei Getreuen mit mir getragen, bis das Schicksal uns nun für immer schied. Finckenstein und Wedel fielen in den Reihen unseres alten schönen Regiments, mein lieber Wedel bei Colonfey, der brave Finckenstein an der Spitze seiner Kompanie bei Bapaume. Mitzlaff war im Kriege eine Zeitlang Ordonnanzoffizier in meinem Stabe, übernahm dann eine Schwadron im Osten und kam als Bataillonsführer nach dem Westen zurück. Ein trüber Schleier liegt auf der Erinnerung an mein letztes Zusammensein mit diesem treuen Kameraden. Im Sommer 18 war es, vor der letzten großen Reimser Offensive. Beim Besuche des Stabes meiner tapferen siebenten Reserve- Division erfuhr ich zufällig, daß Freund Mitzlaff mit seinem Bataillon in der Nähe lag. Ich fuhr sogleich zu ihm und fand ihn in einem kleinen, halb zerschossenen Bauernhause. Auf einem zerbrochenen Feldbett sitzend, bei einer Flasche schlechten Rotweins, den er mir zu Ehren irgendwo auftrieb, und einer Zigarette plauderten wir lange über unsere Jugendzeit und mit manchem ernst sorgenden Wort auch über die Zukunft. Wir wußten beide, wie die Dinge lagen und wie überanstrengt die Truppen waren. Mitzlaff selbst war aber guten Mutes. Dann noch ein langer Händedruck, und ich fuhr in mein Stabsquartier zurück, während er mit seinen Leuten in die vorderste Stellung abrückte. – Drei Wochen später stand ich vor seinem schlichten Soldatengrabe. Wenige Tage nach unserem Zusammensein war der Tapfere beim Sturm auf die feindliche Stellung vor seinen Leuten gefallen. Er war der letzte meiner drei Getreuen. –
Ein Jahr blieb ich beim 1. Garde-Regiment zu Fuß, und der Dienstzettel, der abends neben meinem Bette lag, regelte den nächsten Tag. Viel Schlaf gab es in jenem Winter nicht für mich, denn die Hoffestlichkeiten und eine Menge von Privatgesellschaften mußte ich meiner Stellung wegen mitmachen. Um zwei Uhr nachts kam ich oft erst zu Bett, und um sieben Uhr morgens stand ich wieder in der Kaserne, wo mich der Dienst bis zwölf Uhr mittags und dann wieder nachmittags von zwei bis fünf festhielt. Manchmal mußte ich außerdem auch noch abends nach Tisch beim Gewehr- und Lederzeugputzen oder beim Sacheninstandsetzen zugegen sein. Gerade diesen Dienst hatte ich ganz besonders gern. Dann saßen meine Grenadiere beim Schein der Lampe und reinigten und putzten ihren Kram, und dabei bot sich wie von selber die Gelegenheit, ihnen rein menschlich nah zu sein, mit ihnen über ihre kleinen persönlichen Freuden, Sorgen und Wünsche zu sprechen. Dann erzählten sie von zu Hause oder von ihrem Zivilberufe, dann glänzten ihre Augen, und zwischendurch erklangen die schönen deutschen Volks- und Soldatenlieder. – Das Miterleben solcher Abende hätte vielleicht den klugen Herren, die jetzt immer so viel von der Tyrannei und Menschenschinderei des alten Militarismus zu erzählen wissen – ein wenig Sachkenntnis verliehen.
So oft ich konnte, habe ich während meiner Leutnantszeit und auch später meine freien Stunden dem Sport gewidmet. Nicht nur, weil ich die innere Neigung zu ihm in mir trage, sondern auch, weil ich seine Pflege für ein künftiges Staatsoberhaupt – und das war ich doch – für besonders bedeutungsvoll halte.
Die sportliche Gemeinschaft ist wie kaum eine andere Grundlage geeignet, innere und äußere Schranken zwischen den gleichstrebenden Menschen aufzuheben, denn gerade beim Sport entscheidet ja nur die tatsächliche und jederzeit offenkundige Höchstleistung. Wer sie vollbringt – ob Junker, Kaufmann oder Fabrikarbeiter, ob Christ, ob Jude oder Muselmann – das ist gleichgültig. Ich habe daher häufig Radrennen, Fußballwettkämpfe, Gepäckmarschveranstaltungen und andere Sportfeste besucht und sie, wenn die Gelegenheit sich bot, durch Preise gefördert. Auch das ist mir übrigens gelegentlich verübelt worden – ein vorgeprägter Typ von Kronprinz sollte sich solch geräuschvollen Veranstaltungen in überlegener Stellung fernhalten. Nun gut: ich bin das Idealbild dieses vorgeprägten Typus mit Willen nicht gewesen und habe dafür bei solchen sportlichen Gelegenheiten Einblicke in das Leben und Treiben, in die Bedürfnisse und Wünsche mancher Volksschichten bekommen, mit denen ich sonst nach Erziehung und Umgang kaum je in die gewünschte Fühlung gekommen wäre. Aber in erster Linie bin ich in jener Zeit doch mit Leib und Seele Soldat gewesen, und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß ich mich am Abend schon auf den Dienst des nächsten Tages freute. Die Ausbildung und der Umgang mit den Mannschaften, der stramme altpreußische Zug, die gesunde körperliche Bewegung in Wind und Wetter, der Stolz auf die alte Regimentsuniform, das alles hat mir den Dienst lieb gemacht.
Wie alle Dinge im Leben, in denen man es zu etwas bringen will, muß auch das Soldatenhandwerk mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit, mit wirklicher Liebe und Hingabe betrieben werden. Führer wie Truppe müssen von diesem Geist erfüllt sein.
Kurzer energischer Dienst unter äußerster Anspannung aller Kräfte, Strammheit und Manneszucht, Sauberkeit und Pünktlichkeit, Bestrafung jeglicher Nachlässigkeit oder passiven Widerstandes. Dazu aber ein warmes Herz auch für den geringsten und wenigstbegabten Rekruten, Fröhlichkeit in der Kaserne, soviel Urlaub wie möglich, außerordentliche Auszeichnungen für außerordentliche Leistungen, mit einem Satz: den Leuten Sonnenschein in ihre militärische Dienstzeit bringen! Das sind die Grundsätze, die für mich leitend gewesen sind.