Ernst Zahn
Der Schatten
Ernst Zahn

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9.

Ein Schatten ist im Leben der Violanta, bald so groß, daß keine Sonne daneben mehr Raum hat. Die blitzt nur manchmal darein, wenn sie die Kinder anschaut, wenn sie in die Gesichter der Rennerin und des Adelrich blickt, aus denen ihr die Liebe entgegenleuchtet, oder wenn sie das Wesen der Knechte und Mägde beachtet, die vor ihr wie vor etwas Höherem sich ducken. Vielleicht ist es der gewaltige Aufwand an Kraft, dessen sie bedarf, um äußerlich ruhig zu scheinen, der sie noch über das hinaushebt, was sie früher war; eine stille Größe ist an ihr. Aber die Rennerin stößt den Adelrich an: »Was ist mit deiner Frau? Die überschafft sich, die übersorgt sich für uns alle. Siehst, wie sie hohle Augen hat, und weiß ist sie wie die frischgeweißte Wand im Hausgang!«

»Ja, ja,« nickt der Adelrich und geht zu Violanta: »Langsam, langsam, Frau, du mußt nicht zuviel wollen, jetzt hast wieder eine Magd weniger und alles nimmst auf dich!«

»Laß mich, laß mich,« antwortet sie mit sonderbar gepreßter Stimme, reckt die Arme und richtet sich selber auf: »Schaffen muß ich, sonst kann ich nicht leben!«

Damit läßt sie ihn stehen. Er aber sieht ihr nach; sein Blick ist heiß. »Wenn ich dich nicht hätte,« fährt es ihm durch den Sinn, »was du für eine bist, du!« So demütig und fest hängt er an ihr.

Heute ist ein Brief gekommen vom Marianus. Er sei das Herumstreichen satt! Geld will er haben, oder heim will er kommen! Den Winter über läuft er nicht auf den Straßen herum!

Der Brief macht nach dem Mittagbrot die Runde vom Adelrich zur Rennerin, von der zur Violanta. Die Rennerin stöhnt. »Laß ihn kommen,« sagt sie zum Sohne, der den Kopf auf der Brust hat und auf den Boden starrt, wie einer, der keinen Rat mehr weiß. Violanta steht auf, rasch, der Boden ächzt, so fest geht sie über die Dielen. Aus einem Wandschrank nimmt sie eine Schachtel, in der Geld klingelt. »Da,« sagt sie, »das ist erspart vom Haushalt, schick ihm das.«

»Für wie lange wird's gehen,« sagt der Adelrich und wiegt den Kopf hin und her, wie das seine Art ist, wenn er Bedenken hat.

»Wenn es nur ein paar Wochen sind!« tönt die Stimme der Violanta wieder, diesmal laut und hart, so daß die Rennerin fast vorwurfsvoll aufblickt. Adelrich aber nimmt das Geld, zählt es, bedenkt sich nicht mehr, steht auf und trägt es zur Post. So ist wieder eine Frist erkauft. Violanta weiß wie alle, daß es nur eine Frist ist.

Ihre Unruhe will sie krank machen. Wenn eine Tür geht, fährt sie zusammen: er könnte kommen! Wenn ein Brief kommt, steht ihr das Herz still: von ihm kann er sein! Die Qual würgt sie. Einmal, ein einziges Mal kommt sie eine Schwachheit an, eine grenzenlose Sehnsucht, einem zu beichten. Die Nagerin fällt ihr ein, die fromme, die wackere. An demselben Abend läuft sie zu ihr hinüber. Aber schon die Luft in der Gasse bläst ihr die Müdigkeit aus den Gliedern. Auf der Treppe besinnt sie sich, ob sie nicht lieber umkehre; fast mechanisch steigt sie bis zur Tür, hinter der sie die Nagerin sitzen weiß, ist dabei so tief in zwiespältige Gedanken versunken, daß sie die Klinke ohne anzuklopfen aufdrückt und plötzlich vor dem schmächtigen, in seinen Lehnstuhl am Fenster geduckten Weibe steht. Sie erschrickt. »Jesus, jetzt bin ich Euch da so hereingelaufen,« stammelt sie.

»Sag doch nichts,« beschwichtigt die andre eifrig, »es ist ja so recht, daß du wieder einmal kommst. Setz dich doch!« Ihr kleines Gesicht ist von einer stillen Freude durchleuchtet. »Auch sie mag dich leiden,« muß sich die Violanta unwillkürlich sagen. Der Einladung, zu sitzen, gibt sie nicht Folge. Unruhig, als suche sie schon wieder nach einer Gelegenheit, fortzukommen, blickt sie nach der Tür zurück. »Ich – ich muß gleich wieder gehen,« sagt sie. »Ich habe Euch nur grüßen wollen.«

»Wie geht's?« plaudert die Nagerin, »aber nicht fragen muß man dich! Wer so mitten im Glück sitzt wie du! Zwei Staatskinder hast.«

»Ja,« sagt die Violanta; in ihrem Blick leuchtet es auf wie ein aufflackerndes und zusammensinkendes Licht.

»Und der Adelrich geht herum, als hätte er die Welt geerbt, seit er dich hat,« scherzt die Nagerin weiter. Violanta lächelt mühsam. »Wie geht es Euch, Frau, und was machen sie zu Anderhalden?« fragt sie dann, damit sie etwas sagt. Sie hört nur halb hin, was die Alte antwortet; ohne recht zu wissen, was sie tut, spielt sie am Tisch, an dem sie steht, mit allerlei Blumen und Kräuterwerk, von dem die ganze Platte bedeckt ist.

»Gelt, da sieht's schön aus,« sagt da die Nagerin, auf die Pflanzen deutend, »die hat mir der Lori-Sepp gebracht, der Bergführer; er bringt mir noch immer, wenn ich so brauche.« Sie steht auf, humpelt an den Tisch dabei und fängt an, in den Kräutern zu stöbern. Die Violanta weiß von früher, daß es der Nagerin Steckenpferd ist, allerlei heilsame Pflanzen zu trocknen, zu Tee, zu Salben, zu Pflastern, die sie selber bereitet und mit denen sie das ganze Dorf doktert.

»Schöne Sachen hat er mir gebracht diesmal,« spricht die Alte eifrig weiter, »keiner weiß so gut Bescheid wie der Lori-Sepp. Kennst das noch?« unterbricht sie sich selber und zieht unter dem Grünzeug einen weißen Wurzelknollen hervor. Aus dem Knollen sind grüne Blätter gewachsen und eine einzige tiefblaue, fleischige Blume.

Die Violanta betrachtet sie; ihr Blick wird plötzlich scharf; eine seltsame Spannung tritt in ihr Gesicht, als sei ihr ein Gedanke gekommen. »Ja, ja,« sagt sie, »giftig.«

»Wer sollte das glauben,« plaudert die Alte, in den Anblick der Pflanze versunken. »Oben so schönen Blust und unten den Tod.«

»Wieviel Tropfen sagt Ihr, daß es braucht?« fragt die Violanta plötzlich, sie stemmt zwei Finger der starken Hand auf den Tisch und neigt sich ein wenig vor, ist ganz ruhig dabei und ganz weiß; in den Augen ist etwas, als müßte sie mit dem Blick der Nagerin die Antwort von den Lippen saugen.

»Ein Tropfen,« erklärt die Alte in schulmeisterlichem Ton, »ein Tropfen heilt Magenschmerzen; es dürfen schon schlimme sein, bis das nicht mehr hilft. Wer sechs Tropfen nimmt statt einem, hat die letzten Schmerzen gehabt.«

»Ja, ja,« fährt Violanta scheinbar ganz gleichgültig weiter, »und am Gurschen oben wachsen sie.«

Das letzte ist keine Frage mehr; die Nagerin nickt dazu; da nimmt die andre die Hand vom Tisch und streicht langsam damit über Stirn und Haar; es ist wie ein ungesagtes »So« der Zufriedenheit. Ein paar gleichgültige Worte gehen darauf zwischen ihnen hin und her; dann blickt die Violanta aus dem Fenster, und als erinnere sie etwas daran, daß sie heim müsse, sagt sie ein jähes und hastiges: »Jesus, jetzt ist es aber hoch Zeit, daß ich gehe,« reicht der Nagerin die Hand und schreitet der Türe zu. Die Alte humpelt ihr nach. Ihre Hand tätschelt den Arm der andern; es liegt eine seltsame Zärtlichkeit in der Bewegung; wiederum muß die Violanta fühlen, wie auch diese Frau sonderbar an ihr hängt. Als sie über die Schwelle tritt, zieht etwas ihr wie mit Gewalt den Blick zurück in die Stube. »Ade,« sagt sie zur Nagerin und wehrt ab: »Bleibt doch,« als diese ihr noch immer folgt; ihre Blicke gehen indessen über die Alte hinweg und streifen noch einmal den weißen Wurzelknollen, aus dem die blaue Blume wächst.

Als sie nachher allein über die Treppe hinabsteigt, wird ihr Schritt langsam; sie selber ist ganz ruhig. Warum sie zur Nagerin gekommen ist, hat sie vergessen. Sechs Tropfen, sinnt sie, das muß man wissen, sechs Tropfen! Die Entdeckung beschäftigt sie so völlig, daß selbst das, was sie beim Nachhausekommen erwartet, sie nicht aus ihrer Ruhe bringt.

Der Adelrich tritt aus der Haustür, als sie eben in diese einbiegen will. Er geht vornübergebeugt; es ist ihm anzusehen, daß er eine Last trägt. Mit den braunen Augen blickt er sein Weib unsicher an; es wird ihm alleweil schwer, wenn er ihr etwas in den Weg wälzen muß, was nicht glatt ist. »Er ist oben,« sagt er.

»Der Marianus?«

»Jetzt will er dableiben!«

»So soll er,« sagt sie in verbissenem Ton. Dann gehen sie aneinander vorüber.

Als Violanta die Treppe hinaufsteigt, tritt der Marianus just aus der Wohnstube. Er tut völlig daheim, wie das letztemal, hat sich auch nicht verändert seitdem, wenn er nicht noch verkommener aussieht; etwas wie Hunger scheint ihm aus den frechen Augen.

»Da bin ich wieder,« sagt er zur Violanta, streckt ihr die Hand hin, vertraulich, aber ohne jenes hämische und höhnische Wesen, das er ihr das erstemal gezeigt hat. Fast scheint es, als liege ihm daran, Freundschaft im Haus zu machen. Violanta nimmt seine Hand, fest, wie sie jede zum Gruß drückt! Der soll nicht glauben, daß sie ihn fürchtet! Als sie nachher allein ist, kommt doch wie eine heiße Welle das Angstgefühl über sie, das ihr das Leben vergällt: du bist wie an seine Kette gehängt, tanzen kann er dich machen, wenn er will!

Der Marianus bezieht eine Kammer auf dem Boden der Knechte und Mägde. Damit beginnt das Zusammenhausen. Keines fängt es mit Freuden an, so kann keine Freude daraus kommen. Der Adelrich macht einen Versuch, einen Frieden zustande zu bringen. »Jeden Abend wollen wir uns besprechen, welche Arbeit jedem am folgenden Tag zufallen soll,« sagt er zum Bruder, der halb verdrossen, halb gleichgültig beistimmt. Aber als es an ein Arbeitseinteilen geht, paßt dem Marianus das nicht und jenes nicht; dem Adelrich geht die Geduld aus; er beginnt, die Arbeit wieder allein zu tun, so bleibt der andre überzählig beiseite stehen, kann zugreifen, wo er will. Aber es liegt ihm nicht viel am Zugreifen. Er schlendert herum, spät steht er auf; beim Essen ist er meist, bei der Arbeit selten; manchmal weiß den ganzen Tag keins im Haus, wo er sich herumtreibt.

Es ist schwül im Rennerhaus. Die Rennerin geht mit verbissenen Lippen herum; ihr weicht der Marianus aus; es ist, als ob er die Qual nicht sehen könnte, die in ihren Zügen offen liegt. Der Violanta steht er dafür alle Augenblicke im Wege. Er hat ein neues Wesen ihr gegenüber. Sie fühlt, daß seine Augen ihr nachgehen; sie haken sich an ihrem Leibe fest, heimlich, mit einem wüsten Hunger; wo er sie allein trifft, stößt er sie im Vorübergehen an, vertraulich und frech. Die Violanta weiß, daß sie mit ihm ins klare kommen muß; sie wartet nur eine Gelegenheit ab.

Als er acht Tage im Hause ist, hängt sie auf dem großen Estrich des Hauses Wäsche auf; der Adelrich ist nicht daheim, die Rennerin sitzt in der Wohnstube und spinnt. Der Marianus muß sie, die Violanta, haben hinaufsteigen sehen. Kaum daß sie die ersten Wäschestücke über das Seil schlägt, kommt er mit schleichenden Schritten über die Treppe heraufgestiegen. Sie hat ihn kommen hören; einen Augenblick lang schlägt ihr das Herz wild, dann nimmt sie sich zusammen. »Jetzt,« fährt es ihr durch den Kopf. Sie wühlt mit den nackten starken Armen in den nassen Wäschestücken, wartend, daß er hereinkomme. Der Estrich ist lang, vom Balkengefüge des Daches überragt, durch schmale Fenster im Ziegeldach fällt das trübe Licht des Herbstnebeltages herein; eines ist offen, dort weht eine eiskalte Luft hernieder, und wie Rauch schlagen ganze Nebelfetzen herein, losgerissen aus den Schwaden, die über das Dach hinstreichen.

»Schaffst?« sagt der Marianus mit halblauter Stimme, als er, die Hände in den Hosentaschen, herantritt. Er trägt nur Hemd und Hose und ist barfuß, Stallduft bringt er mit; er mag in den Ställen gearbeitet haben. Am Halse steht ihm das Hemd offen, seine Hemdärmel sind zurückgekrempelt, am Arm spielen die harten Muskeln; die Augen in den tiefen, schwarzüberbrauten Höhlen glänzen seltsam.

Die Violanta hat ein Wäschestück in der Hand; sie steht aufrecht da und ist größer als er. »Was willst?« fragt sie. »Mach's kurz,« sagt ihr Blick.

Er tritt ganz nahe an sie heran und will ihr die Hand auf den Arm legen. Da wirft sie das Wäschestück in den Korb zurück, ihre Fäuste ballen sich, und sie tut einen Schritt rückwärts. Ihre Augen flackern und die Nüstern blähen sich. »Du,« sagt sie drohend und doch leise, »sagen will ich dir es jetzt einmal, rühr mich nicht immer an, nicht herumzerren lass' ich mich von dir, verstanden!«

»Hoho,« sagt der Marianus laut und höhnisch. Violanta ist plötzlich unheimlich ruhig. »Es muß jetzt einmal ausgemacht werden zwischen uns beiden,« sagt sie.

»Was?« fragt er. »Da ist nicht viel auszumachen.«

»Es ist jetzt einmal so, daß ich deines Bruders Frau bin! Wir haben zwei Kinder! Was einmal gewesen ist – zwischen dir und mir – das – du wirst an die Kinder denken und an – an den Adelrich – sie dürfen nichts wissen!« Als sie das sagt, ist ihr Gesicht so blutleer, daß einer glauben könnte, sie müßte im gleichen Augenblick ohnmächtig auf die Dielen schlagen; aber sie hält sich. Jedes Wort würgt sie hervor, reißt es sich gleichsam selbst heraus, und Fetzen ihres Lebens gehen mit.

Marianus zieht den einen Mundwinkel nach unten und zuckt die Schultern. »Das kann ich jetzt halten, wie ich will,« sagt er.

Die Violanta überläuft es kalt; einen Augenblick schweigt sie, dann hebt sie wieder an, ruhig, verbissen: »Das kannst, ja, das ist schon wahr; aber in dem Augenblick, wo du redest, Bub, gibt's ein Unglück!«

Ihr Ton ist furchtbar in seinem verhaltenen Grimm. Marianus blickt unwillkürlich auf und in ihr totenhaftes Gesicht. Er versucht auch jetzt zu lachen, aber es gelingt ihm nicht ganz. Da tritt er dichter an sie. »Du,« sagt er und stößt sie an, »wir können es ja wieder halten wie früher.«

Sie reißt die Augen weit auf; sie glaubt nicht recht an seine ganze Erbärmlichkeit.

»Sei doch zahm, Schatz, wie früher,« flüstert er zutraulich.

Sie schüttelt sich vor Ekel. »Laß mich,« sagt sie mit heiserer Stimme. »Wach bin ich geworden von damals, hörst, ganz wach! Ich weiß, was ich gewesen bin, aber wach bin ich geworden davon, und – und – aus meinem Leben will ich den Fleck hinaustun, und – und« – allmählich ist ihre Stimme lauter, ihre Art heißer, stürmischer geworden. »Du,« stößt sie noch heraus, »du, das sag' ich dir noch einmal, wenn du redest, gibt's ein Unglück!« Dann läßt sie ihre Wäsche stehen und geht von ihm, einen Bogen macht sie um ihn herum, als fürchte sie, sich in seiner Nähe zu beschmutzen, und verschwindet auf der Treppe.

»Potz Donner,« murmelt er hinter ihr her, halb erstaunt, halb zornig, aber in seinen Augen glüht die heimliche Gier, während er ihre hohe Gestalt in der Estrichtür verschwinden sieht.

Nach diesem Zusammentreffen ist es wie vorher, gewonnen hat die Violanta nicht viel. Der Marianus redet nicht, aber die Furcht, daß er rede, sitzt ihr nach wie vor wie ein Schwert im Herzen.

Der Herbst will sich in den Winter verlieren. Noch in den letzten Tagen, ehe die Schneehüllen den kahlen Bergen über die schweren Glieder fallen, weiß Violanta eine Ausrede zu finden, um allein am Gurschen oben zu tun zu haben. Sie kommt bald zurück; keines weiß, daß sie im Kleid verborgen weiße Wurzelknollen trägt. Einige Tage später steht in einem Schaft ihrer Schlafkammer, an verborgener Stelle, wo niemand sucht, ein Fläschchen mit farblosen Tropfen. Seit es dort steht, hat die Violanta manchmal ein sonderbares Ruhegefühl. Es ist ihr zumute wie einem, der, von Feinden ringsum belagert, eine geheime Tür in die Falle lehnt: so, hier ist ein Ausweg, wenn alles fehlt! Und doch hat sie keine Pläne. Vor allem liegt ihr der Gedanke unendlich fern, sich selber zur Flucht aus dem Leben zu helfen. Sie ist viel zu stark dazu! Irgendwie nur hat sie das seltsame Gefühl, daß von jenem Fläschchen ihr ein Schicksal kommen soll.

Der Winter naht indessen; die Bergbrust trägt den Eispanzer; auf den Wegen knirscht der Schnee; aus dem Hochtal geht die letzte Wärme, nur die Schwüle im Rennerhaus weicht nicht. Zwei Mägde haben nacheinander das Haus verlassen: kein ehrbares Mädchen will mit dem Marianus unter einem Dache bleiben. Adelrich, der um des lieben Friedens willen sonst, wenn's not tut, sich selber kasteit, fährt auf, schlägt auf den Tisch und schreit den Bruder an: »Geh, geh, so weit die Welt ist, dich kannst zugrund richten, aber uns sollst nicht auch noch mitziehen! Geh, oder bei Gott, ich – ich schlag dich hinaus!«

»Versuch's,« murrt der andre, an ihm hinauflauernd; er fürchtet sich nicht. »Gib mir mein Geld,« sagt er dann, »so geh' ich schon!«

»Gib mir mein Geld.« An den Worten zersplittert dem Adelrich seine Macht, zerschellt alles, was die im Rennerhaus über den Marianus vermögen. Der treibt indessen sein Wesen weiter. Wie soll er die Wintertage totschlagen, wenn er schon im Sommer zuviel Muße gefunden hat! Jetzt hockt er in den Schenken. Wenn er heimkommt, schwanken ihm Füße und Verstand. Schulden macht er, die der Adelrich bezahlt, weil – weil der andre Recht auf Geld hat. Die Rennerin nimmt sich zusammen, schafft sich eine Gelegenheit, mit dem Marianus allein zu sein, bettelt, daß er sich bessere, bettelt, beschwört, zürnt; nur flennen kann sie nicht; ihre Augen sind ausgeweint. Marianus duckt sich wieder in ihrer Nähe wie ein zähnefletschender Köter. Er läßt den Regen ihrer Worte über sich hingehen und schüttelt sich nachher; zu Herzen ist ihm keines groß gegangen. Er vermag sich selber nicht mehr aus dem Sumpf zu reißen, in den er geraten ist. Nach dem Gespräch mit der Mutter ist er ein noch schlimmerer Wirtshaushocker. Und wenn er betrunken ist, läuft er hinter der Violanta her wie der Jäger hinter dem Wild; sie hat Mühe, ihn sich vom Leibe zu halten, hat noch größere Mühe, zu verhüten, daß der Adelrich und seine Mutter ahnen, wie weit jener sich vergißt. Eines Sonntagabends, als die Kinder schon schlafen, auch die Rennerin eben mit müden Schritten nach ihrer Kammer gestiegen ist, kommt der Marianus aus dem Wirtshaus heim und in die Stube gegangen, wo Adelrich und Violanta, die gemeinsame Sorge besprechend, beieinandersitzen. Er ist seiner Füße und seiner Stimme nicht mehr ganz mächtig; aber er kann aus ihren Gesichtern lesen, daß sie gerade über ihn gesprochen. Ein tückisches Licht springt in seine Augen. Violanta steht auf. »Ja,« sagt sie, als wäre sie längst im Begriffe gewesen zu gehen, »es ist Zeit, sich zu legen. Komm, Adel.«

»Hm,« hustet der Marianus mit offenem Hohn.

Der Adelrich reckt sich zu seiner hageren Höhe; er sieht den Bruder nicht an. Als läge ihm daran, aus seiner Nähe fortzukommen, damit er den in ihm kochenden Grimm beschwichtige, nähert er sich der Tür.

»Hm,« hustet Marianus. Er zwinkert mit den Augen, als die Violanta ihn fest ansieht. »Soll ich es ihm erzählen?« lallt er dann plötzlich und schlägt ein Lachen auf. Violanta ist starr wie ein Block und ihre Augen glimmen. Eine mächtige Kraft schwellt ihr die Glieder, ein unbändiger Zorn stürmt in ihr auf. Sie umkrampft die Lehne eines Stuhls und weiß, wenn der Marianus noch ein Wort sagt, wird sie den schweren Sessel zum Schlag erheben. Sie dürstet danach, den Erbärmlichen zu erschlagen. Der Adelrich hat sich nicht umgewendet; er achtet der Worte des andern nicht. Zur Tür geht er. »Komm,« sagt er zur Violanta und geht ihr voran, hinaus. Da wendet sich auch die Frau und folgt ihm, zögernd, noch immer gewärtig, daß das Unheil komme, das seit Wochen und Wochen droht.

»Hm,« hustet der Marianus hinter ihr her.


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