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Sie hatten ein Kino besucht und saßen nun bei einem Glase Bier in einem Restaurant im Berliner Norden in eifrigem Gespräch. Die Röte der Scham und eines ehrlichen Unwillens stieg ihr in die Wangen.

»Nein, Kurt, das solltest du nicht von mir verlangen!« sagte sie zürnend.

Er sah ihr bittend ins Gesicht und griff beschwichtigend nach ihrer Hand, die sie ihm nach leichtem Widerstreben überließ.

»Sei doch nicht so – so spießbürgerlich, so kleinstädtisch, Lisbeth! Du bist doch schon fünf Jahre in Berlin und solltest etwas modernere, freiere Ansichten haben.«

»Modernere?«

Es zuckte bitter um ihre Mundwinkel.

Modern nennst du das, wenn ein junges Mädchen einen Herrn in seiner Wohnung besucht? Ich nenne das unpassend.«

»Aber du bist doch kein Backfisch mehr!« entgegnete er lächelnd.

»Ich kann nicht finden, daß das, was bei einem Mädchen von sechzehn oder siebzehn Jahren als unmoralisch angesehen wird, nicht auch für eine Dreiundzwanzigjährige erst recht als unschicklich gelten sollte.«

Er strich liebkosend über ihre Hand.

»Aber Lieschen, du kannst mir doch vertrauen. Wir kennen und lieben uns doch nun schon bald ein Jahr. Da sehnt man sich doch danach, sich einmal so recht von Herzen zu küssen und sich so recht behaglich beieinander zu fühlen.«

»Das können wir doch auch, wenn wir im Sommer wieder Ausflüge machen.«

Ein frohes Leuchten ging über ihr Gesicht, und der Glanz der Erinnerung an schöne, im lauschigen Walde verbrachte Stunden strahlte in ihren blauen Augen.

»Freilich. Aber bis dahin ist noch lange Zeit.«

Er schlang seinen einen Arm sanft unter den ihren, beugte sich zu ihr hinüber und sah sie verliebt an; seine Stimme nahm einen wärmeren, zärtlich vibrierenden Ton an.

»Sehnst du dich denn gar nicht, einmal mit mir ungestört zusammen zu sein? Immer nur in Kneipen und Cafés sitzen, in der rumpelnden Droschke mal einen flüchtigen Kuß tauschen, oder im kalten, zugigen Hausflur! Ach, Lieschen, wenn du mich liebst, wie ich dich liebe, mußt du doch auch das Verlangen haben, einmal nach Herzenslust zu kosen.«

Er drückte ihren Arm, während sie, mehr und mehr in Erregung geratend, mit allen Sinnen lauschte.

»Du mußt nicht gleich an etwas – etwas denken, was du als unziemlich, unerlaubt empfindest. Aber sage selbst, wäre es nicht wunderschön, wenn du mich des Abends mit deinem Besuche beglücken möchtest, wenn wir in meinem stillen Stübchen behaglich nebeneinander auf meinem Sofa säßen. Ich besorge ein einfaches, aber nettes Abendbrot, du bestreichst mir das Brot und legst mir vor, kurz, wir speisen zusammen, plaudern fröhlich und sind lieb und nett zueinander wie – na, eben wie junge Liebesleute, wie ein junges Ehepaar in seiner Häuslichkeit. Wäre das nicht herrlich, Schatz?«

Sie atmete tief; seine Schilderung fachte ihr Interesse aufs äußerste an, weckte ihre Phantasie, und unwillkürlich nahm das Bild, das er so verlockend entworfen, plastische Gestalt vor ihr an. Sie sah sich an seiner Seite, hausfraulich schaltend, liebevoll für ihn sorgend. Hatte er nicht recht, würde es nicht wundervoll sein? Dennoch wallte auch ein Gefühl instinktiver Abwehr, peinlicher Furcht in ihr empor. Sie seufzte leise und entgegnete sanft, bedauernd, fast klagend:

»Es darf doch nicht sein, lieber Kurt!«

»Darf nicht? Warum nicht? Wegen kindischer Vorurteile? Sind wir nicht selbständig? Wenn es uns gefällt, wenn es uns Freude bereitet, warum sollten wir es uns versagen? Weil Hinz und Kunz es vielleicht nicht für recht halten? Was geht uns das Urteil fremder Menschen an? Übrigens, es braucht ja niemand zu erfahren.«

»Aber deine Wirtin?«

»Pah, die kümmert sich nicht darum. Die Berliner Vermieterinnen sind das gewöhnt. Wenn man nur pünktlich seine Miete zahlt und sonst ein ruhiger, anständiger Mieter ist!«

Sie sah mit einem scheuen Blick in seine glühenden Augen.

»Aber ich – ich habe doch solche –«

»Furcht?« fiel er lächelnd ein, als sie stockte und schämig das Gesicht vor ihm senkte. »Na, höre mal! Du tust ja, als ob du mich erst heute kenntest. Du bist doch kein kleines Kind, und ich – na, ich bin doch kein Räuber.«

Sie hob, noch immer befangen, den Blick. Er zog die Brauen zusammen. Ein Schatten lief über seine Züge. »Hast du so wenig Vertrauen zu mir? Du, das ist eigentlich eine Beleidigung für mich.«

Sie griff begütigend nach seiner Hand.

»Nein, sei nicht böse, Kurt! Ich weiß ja, du würdest mir nie etwas Böses antun.«

»Na also! Wann darf ich dich erwarten?«

Sie zögerte mit der Antwort; ihre Brust wogte stürmisch, offenbar rang ihr Verlangen, seinen Wunsch zu erfüllen, mit ihrem Bedenken noch einmal im Kampfe.

»Nun, Lisbeth?«

»Seine Stimme klang mahnend, ein wenig empfindlich. »Mor – morgen, wenn es dir recht ist!« stieß sie hervor, während ihr Atem heftig ging. –

Als Lisbeth Glümer am anderen Tage gegen Abend nach Hause kam, erfaßte sie noch einmal die Besorgnis. Sie hatte schon einen besseren Rock und eine seidene Bluse aus ihrem Schrank genommen; jetzt warf sie beides auf das Bett, das an der Wand stand, und ließ sich schwer atmend auf den nächsten Stuhl fallen. Sinnend, in heißen Gedanken, stützte sie die Stirn in die Hand. Gewiß, er hatte recht: in Berlin war das nichts Ungewöhnliches. Das wußte sie aus ihrem Geschäft von den Verkäuferinnen. Die hatten alle ihr Verhältnis, und so viel hatte sie längst aus ihren Bemerkungen und manchen Anzüglichkeiten und Scherzen, mit denen sie einander je nach Laune bedachten, entnommen, daß sie keine Bedenken trugen, ihren »Herrn« – so nannten sie zumeist ihren Liebhaber – in seiner Wohnung zu besuchen. Aber war es nicht immer ihr Stolz gewesen, daß sie besser war als die Leichtsinnigen, die so wenig auf sich hielten? Und nun – nun sollte sie selbst – ?

Energisch richtete sie sich in die Höhe. Nein, vergeben würde sie ihrer Mädchenehre nie etwas. Und das würde ja auch Kurt Vollbrecht nicht von ihr verlangen. Sie war überzeugt, daß er sie aufrichtig liebte und achtete. Hatte er ihr nicht oft gesagt, daß ihn gerade ihr Ernst, ihre Zurückhaltung angezogen hatte? Er habe ihr gleich angemerkt, daß sie anders sei als die Berliner Durchschnittsmädchen mit ihrer Leichtfertigkeit, ihrer Vergnügungssucht, ihrem unbeständigen, wetterwendischen, wankelmütigen Wesen, die sich leicht und flatterhaft von einem zum andern wandten, wenn ein Liebhaber ihren Ansprüchen an das Leben nicht genügte. Gewiß, sie tat ihm unrecht, wenn sie ihm mißtraute, wenn sie an seiner Rechtschaffenheit und seinen ehrlichen Absichten zweifelte. Und – eine Idee schoß plötzlich in ihr auf und färbte ihre Wangen und ließ ihre Augen freudig erstrahlen – würde ihr Besuch bei ihm sie nicht vielleicht der Erfüllung ihres heißen Wunsches näher bringen? Wenn sie gemeinsam speisten, wenn sie ihn mit hausfraulicher Sorge umgab und durch ihre Gegenwart, durch ihr Walten seinem einsamen Zimmer den Reiz eines schönen, wohligen Heims verlieh, würde dann nicht auch in ihm das Sehnen nach einer eigenen behaglichen Häuslichkeit wach werden? Ganz erfüllt von diesem Gedanken kleidete sie sich an, während die Erwartung in ihr glühte. Nun auf einmal kam ein belebender Eifer über sie, eine ungestüme Freude, und trällernd sprang sie die Treppen ihrer Wohnung hinab.

In einem Delikateßgeschäft kaufte sie allerlei appetitliche Sachen: Sprotten, Zunge, Wurst, Schweizerkäse, ja sogar ein Achtelchen Kaviar. Damit zurück zur Schwedterstraße, wo Kurt Vollbrecht wohnte. Das Herz schlug ihr im Sturmtakt, als sie die erste Treppe hinaufgeeilt war. Die zweite Treppe stieg sie langsamer hinan, und vor seiner Tür – zum Glück ging seine Zimmertür direkt auf den Korridor hinaus – blieb sie zaudernd stehen. Ein qualvoller Kampf dämpfte mit einemmal die Vorfreude, die sie während ihres Einkaufs und des schnellen Ganges beseelt hatte. Merkwürdig beklommen war ihr plötzlich zumute, und sie konnte sich des dumpfen Gefühls nicht erwehren, als ob sie vor einer verhängnisvollen, folgenschweren Tat stände. Mit verstörten Augen blickte sie um sich. Dämmerung herrschte auf der Treppe mit den abgetretenen Stufen. Es war eines jener alten Häuser mit primitiven schmalen Treppen und engem, unwirtlichem Flur. Es schauderte sie unwillkürlich, und ein jäher Impuls beherrschte sie, umzukehren, davonzulaufen.

Schon machte sie die Wendung, da öffnete sich die Tür; leise und vorsichtig spähte ein Männerkopf hinaus. Es war der Geliebte. Als er ihrer ansichtig wurde, strahlte sein Gesicht.

»Na endlich! Ich hatte schon Furcht, es sei dir wieder leid geworden!« sagte er halblaut.

Er zog die schwach Widerstrebende in das Zimmer, schloß die Tür und drehte den Schlüssel herum. Bei dem Geräusch schreckte sie nervös zusammen und machte eine unwillkürliche Bewegung nach dem Flur.

»Aber Schatz«, sagte er, drückte sie an sich und küßte sie auf die bebenden Lippen.

»Ach Kurt!« seufzte sie, noch ganz benommen, noch in voller Aufregung, mit ängstlich pochendem Herzen.

Er schlang den Arm um sie, führte sie weiter in das Zimmer und deutete auf den festlich gedeckten Tisch.

»Du siehst, es ist schon alles bereit zum üppigen Mahl.«

In der Tat, ihre umherhuschenden Blicke sahen ein weißes, sauberes Tischtuch, darauf Teller, ein Brot, eine gefüllte Butterdose, Messer, Gabel, eine Weinflasche und zwei grünlich schimmernde Gläser. Sogar ein Sträußchen duftender Blumen befand sich in einer Vase mitten auf dem Tische.

Dieser Anblick scheuchte einen großen Teil ihrer Beklommenheit hinweg, und der Gedanke, der sie zu Hause so froh und hoffnungsvoll gestimmt hatte, tauchte wieder in ihr auf.

»Was hast du denn da?« fragte er und deutete auf das Paketchen, das sie in der Hand hielt.

Sie lächelte verheißungsvoll und wollte es aufschnüren, aber er nahm es ihr ab, legte es auf den Tisch und bat: »Erst mache es dir bequem!«

Er half ihr aus dem Jackett und legte es auf das Bett, das an der gegenüberliegenden Wand stand.

»So!« sagte er vergnügt. »Und nun einen Willkommensgruß!«

Sie bot ihm selbst ihre Lippen. Als sie sich geküßt hatten, strich er ihr liebevoll die Wangen.

»Einen schönen Dank, Lisbeth, daß du ein Versprechen wahrgemacht und in meine öde Junggesellenbude den Glanz deiner lieben Persönlichkeit, deiner Schönheit und Anmut bringst.«

Sie sah ihn ganz erstaunt, angenehm überrascht an. An so poesievolle Artigkeiten hatte er sie nicht gewöhnt. Er war wirklich ganz aufgeräumt; die innigste Freude, das lebhafteste Vergnügen leuchtete aus seinen Augen.

»So! Und nun laß uns einmal sehen!« rief er und zog sie wieder zum Tische zurück.

Gemeinsam schnürten sie das Paket auf, und sie breitete mit ihren zarten, feinen Fingerchen die mitgebrachten Herrlichkeiten auf die verschiedenen Teller.

»Ei, du!« lobte er und rieb sich frohlockend die Hände und betrachtete alles bewundernd. »Sogar Kaviar! Du Verschwenderin!«

Und er küßte sie zum Dank. Dann lud er sie ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Bevor er sich neben sie setzte, entkorkte er die Weinflasche und schenkte ein.

»Du hättest dir nicht solche Unkosten machen sollen!« bemerkte sie, während es ihr doch im stillen schmeichelte.

Er verneigte sich mit strahlendem Gesicht und nahm eine humoristisch feierliche, ehrfurchtsvolle Miene an.

»Wenn man so hohen Besuch hat! Das muß doch gebührend gefeiert werden!«

Sie lachten fröhlich und stießen an. Dann begann das Schmausen. Sie legte ihm vor und tat ihm einen tüchtigen Klecks Kaviar auf den Teller.

Mit glänzenden Augen sah er zu, wie sich die fleißigen Finger für ihn regten und sah ihr dankbar, mit tiefster Befriedigung ins Gesicht.

Ihr ging das Herz vor Freude auf bei dem sichtbaren Behagen, das ihn erfüllte. Auch der letzte Rest der Scheu war von ihr gewichen, und nur noch frohe, stolze Genugtuung war in ihr.

Während sie durch Gebärden, bittende Blicke und am wirkungsvollsten durch ihr hausfrauliches Walten zum Essen einlud, nötigte er zum Trinken, wobei er in kurzen Zwischenräumen allerlei fröhliche und galante Trinksprüche ausbrachte.

»Auf das Wohl meiner Herzallerliebsten, der lieblichen Fee, die Glanz und Poesie des Märchens in mein prosaisches Dasein trägt!«

Am schönsten aber klang es in ihr Ohr, und ein Jauchzen erhob sich in ihrer Brust, als er, sein Glas erhebend, rief: »Auf das Wohl meiner zukünftigen Hausfrau!«

Als sie angestoßen, getrunken und die Gläser auf den Tisch zurückgestellt hatten, konnte sie sich nicht zurückhalten. In dem Überschwang ihres Glücks sank sie an seine Brust und sah selig zu ihm auf.

»Ach, Kurt!«

»Nun«, sagte er, nachdem sie sich geküßt hatten, »tut es dir leid, daß du gekommen bist?«

»Nein, nein!« erklärte sie mit Entschiedenheit. »Ich danke dir, Kurt, von Herzen! Einen so herrlichen Abend habe ich noch nie erlebt!«

Als sie gegessen hatten, präsentierte er ihr Zigaretten. Er selbst steckte sich eine Zigarre an, während sie die weiße Papyros zwischen die in frischem Rot prangenden Lippen schob. Sie schmauchten, schwatzten und kosten dazwischen. Immer glühender loderten seine Küsse; ihr wurde ganz heiß.

»Ich muß mir doch einmal dein Zimmer ordentlich ansehen!« sagte sie und erhob sich.

Sie trat an den Bücherschrank, der ihr Interesse erregt hatte, nahm das eine und andere Buch heraus, blätterte darin und las hier und da ein paar Zeilen.

Er zog sie endlich fort.

»Ach laß doch den Kram!«

Dann umschlang er sie, preßte sie an sich und überschüttete sie mit einer Flut von Küssen. Ganz eigen durchschauerte es sie; so war ihr noch nie gewesen, auch draußen nicht, wenn sie im Walde nebeneinander geruht, die Arme ineinander verschränkt, liebestrunken. Das Herz hämmerte ihr wie rasend in der Brust, und das Blut stürmte ihr mit einer Glut durch die Adern, daß sie meinte, vor Hitze vergehen zu müssen. Willenlos hing sie in seinen Armen; ihre Körper verwuchsen förmlich ineinander.

»Komm!« raunte er ihr zu und führte sie zum Sofa. Hier ließ er sich nieder und nahm sie auf seine Knie. Und wieder begann dieses wilde Küssen, das sie fast betäubte und ihr den Atem raubte. Da fühlte sie, wie seine Rechte ihren Fußknöchel umspannte und höher hinaufgleiten wollte. Ernüchtert, empört sprang sie auf.

»Kurt! Nein, das ist häßlich! Das ist abscheulich von dir!«

Betroffen stand er auf; das Haar hing ihm wirr ins Gesicht; die Adern auf seiner Stirn waren dick angeschwollen; seine Augen hatten einen Ausdruck, der ihr Furcht einflößte. Sie flüchtete zu dem Bett und riß ihr Jackett an sich. Er wollte sie hindern und sie von neuem umfassen, aber sie wies ihn zornig zurück.

»Nein, laß mich! Ich bereue, daß ich dir vertraut habe! Jetzt sehe ich, was du von mir gewollt.«

Mit zuckenden Händen, in fiebernder Hast rüstete sie sich zum Gehen. Er rang nach Worten, nach einer Entschuldigung. Ihre Entrüstung dämpfte auch bei ihm das Feuer.

»Du – du tust mir unrecht!« verteidigte er sich mit vor Aufregung lallender Stimme. »Nichts habe ich gewollt, nichts! Man ist doch eben nur ein Mensch, und – das ist doch ohne meinen Willen, unbewußt, ganz von selbst über mich gekommen. Sei doch vernünftig, Lisbeth!«

Er ergriff ihre Hand, aber sie riß sich heftig los und stürmte hastig davon.

*

Ganz aufgelöst kam Lisbeth Glümer in ihrem Zimmer an. Hier konnte sie endlich ihren Tränen, die sie auf der Straße mit großer Mühe zurückgehalten, freien Lauf lassen. Sie schluchzte bitterlich.

In ihrer Erbitterung gab sie sich den schwärzesten Gedanken hin. Nun war alles aus. Konnte sie denn noch glauben, daß er sie liebte? Ohne Achtung keine Liebe. Er aber hatte ihr bewiesen, daß er sie auf eine Stufe stellte mit den liederlichen Mädchen, die das Gefühl für weibliche Ehre nicht kannten und den häßlichen Gelüsten der Männer schwach und willfährig nachgaben.

Alles, was er ihr gesagt, womit er ihr Interesse, ihre Liebe sich listig erschlichen hatte, war Verstellung und Lüge gewesen. Von vornherein war er darauf ausgegangen, sie zu betören. O pfui, pfui, pfui! Sie schämte sich vor sich selber, und sie haßte und verachtete ihn aus voller Seele.

Als der erste Entrüstungssturm ihrer keuschen Mädchenseele vorüber war, fing sie an, ruhiger zu überlegen. Sie erinnerte sich, wie zart und achtungsvoll er ihr bisher immer gehuldigt hatte, wieviel ehrliche, warme Anteilnahme er ihr immer bewiesen, wie er an allem, was sie betraf, herzlichen Anteil genommen. So oft sie im Geschäft Schwierigkeiten und Ärger gehabt, hatte er ihr seinen Rat gegeben. Nichts in ihrem Leben war ihm zu gering und unbedeutend gewesen, daß er es nicht eingehend mit ihr besprochen hätte. Auch von seinen eigenen Verhältnissen hatte er ihr häufig erzählt, daß er schon zehn Jahre in der Fabrik Buchhalter sei und daß er Aussicht habe, wenn der alte kränkliche Prokurist würde ausscheiden müssen, in diese gutbezahlte Stellung einzurücken. Und dann – das hatte er ihr wiederholt angedeutet – , dann würde er endlich daran denken können, zu heiraten, sich eine Häuslichkeit zu schaffen.

Ein heftiger Schmerz durchrüttelte die Einsame. Wie oft hatten nicht liebliche Zukunftsbilder ihre Mädchenseele berauscht: ein Heim, ein eigenes Heim, nicht mehr für fremde Geschäfte arbeiten, sich nicht von rücksichtslosen Chefs Befehle und Zurechtweisungen erteilen lassen, nicht mehr in täglicher Berührung mit leichtlebigen Mädchen stehen, ihre frivolen Gespräche mitanhören, unziemliche Geschichten, die sich zwischen männlichem und weiblichem Personal anspannen, mitansehen zu müssen – eine Häuslichkeit zu haben, in der man der Mittelpunkt war, für einen geliebten Mann zu sorgen, die Hände regen zu können!

Die Sinnende hob den auf der Brust hängenden Kopf; ein verklärender, matter Schimmer glitt über das noch tränennasse Antlitz. Hatte sie nicht heute einen kleinen Vorgeschmack dieses ersehnten Glückes genossen? War es nicht herrlich, war es nicht wunderschön gewesen, wie sie so einträchtig in seinem Heim nebeneinander gesessen, wie sie die zärtlich besorgte Hausfrau hatte spielen dürfen! Und wie nett und lieb er zu ihr gewesen, bis dann – –

Die Grübelnde legte ihre Rechte gegen die Stirn.

Ja, wie war es nur gekommen? Wie hatte er sich nur so – so schamlos vergessen können?

Sie sann und sann schüttelte mit dem Kopf und sprang plötzlich auf, um lebhaft im Zimmer umherzugehen.

Plötzlich durchzuckte sie ein schrecklicher Gedanke. Sollte diese eine unglückliche Minute alles das, was sie in den letzten sechs Monaten miteinander erlebt, auslöschen, als wäre es nie gewesen? Hatte er in all der Zeit wirklich nur geheuchelt, gelogen? Und war in dieser einen Minute, in der er sie so schwer gekränkt, so tief verletzt hatte, sein wirklicher Charakter erst zum Durchbruch gekommen? War er wirklich der gewissenlose Verführer, der sie mit listiger Berechnung getäuscht und schließlich ihre Unerfahrenheit, ihre Arglosigkeit mißbrauchen und überrumpeln wollte?

Während sie sich mit Eifer in diese Frage vertiefte und sich noch einmal alle Einzelheiten der Vorgänge in des Geliebten Zimmer in der Erinnerung zurückrief, kamen ihr auch die Worte ins Gedächtnis, mit denen er sich entschuldigen und sie hatte besänftigen wollen.

»Du tust mir unrecht! Nichts habe ich gewollt. Ganz von selbst ist das über mich gekommen.«

Ja, so oder ähnlich hatte er ihre Entrüstung abzuwehren sich bemüht.

»Nichts habe ich gewollt!«

War das die Wahrheit oder nur eine Ausrede, eine Bemäntelung seiner Absichten? War es denkbar, daß man eine so – so ungehörige und dreiste Handlung begehen konnte, ohne es zu wollen, ja, ohne sich dessen bewußt zu sein, also unwillkürlich, unter einem inneren, unentrinnbaren Zwange?

Sie vertiefte sich in diese Frage, und marterte ihr Gehirn ab, ohne doch zu einem klaren, bestimmten Ergebnis zu kommen. Sie hielt ihre Schritte an, blieb am Fenster stehen und starrte auf die Straße hinab. Die Laternen brannten, Menschen gingen vorüber, eine Droschke rasselte lärmend am Hause vorbei.

Wieder wandte sie sich in das Zimmer zurück, setzte sich auf einen Stuhl, um ungestörter nachdenken zu können.

Warum war denn sie nicht einer ähnlichen Regung unterlegen? Warum war denn in ihr im Gegenteil nur Empörung, Widerwille, Furcht gewesen?

Hatte sie ihn denn nicht lieb? War denn in ihr die Liebe nicht so stürmisch, so bezwingend wie bei ihm? Doch – doch! Wie wohl hatte sie sich immer in seiner Gegenwart gefühlt! Wie hatte sie sich stets nach einem Zusammensein mit ihm gesehnt! Und wie glücklich war sie auch an diesem Abend gewesen, glücklicher als je! Hatten seine Küsse sie heute nicht noch mehr beseligt als sonst? Und war nicht auch über sie ein süßes Selbstvergessen gekommen, ein so seliger Zustand, wie sie ihn noch nie empfunden? War das nicht Liebe? Ja gewiß, das war Liebe, Liebe, die den Menschen froh und glücklich, gut und rein machte, ihn wappnete gegen alles Häßliche.

Aber das, was er getan und was er noch hatte tun wollen, das war keine Liebe, nein, das war – ja, was war das eigentlich? Was war das eigentlich?

Die halbe Nacht über ging ihr die Frage im Kopf herum, bis sie endlich, vom vielen vergeblichen Grübeln müde geworden, im tiefen Schlaf Ruhe und Vergessen fand.

Am nächsten Abend, als Lisbeth Glümer vom Geschäft nach Hause kam, fand sie einen Brief von dem Geliebten vor. Sie zitterte und zögerte ein paar Augenblicke, ihn zu öffnen. Zürnte er ihr, war es eine Absage? Oder – ? Sie riß erregt, mit vor Bangigkeit fliegenden Händen den Umschlag auf. Schon die ersten Zeilen ließen sie aufatmen. Er schrieb zärtlich und liebevoll; er flehte mit innigen Worten um ihre Verzeihung und bat um eine Zusammenkunft am Abend in einer stillen Konditorei, wo sie sich schon häufig getroffen hatten. Ihr Zorn, ihre Empörung war auch ohnedies schon fast verraucht und hatte einer milderen, versöhnlichen Stimmung Platz gemacht.

Als sie sich ein Stündchen später trafen, kam er ihr mit ausgestreckter Hand und bittendem Blick entgegen. Ja, als sie sich gesetzt und ihre Tasse Schokolade erhalten hatte, und als sie nun allein in dem einen der beiden Gastzimmer waren, strahlte er sie mit einem warmen Blick seiner schönen braunen Augen an, bei dem ihr immer das Herz aufging, und ein glückliches Lächeln erhellte den Ernst seiner Züge.

»Weißt du, Lisbeth«, sagte er mit frohem Klang in seiner Stimme, »so sehr ich auch erschrocken und in Furcht versetzt war, du könntest mir nun für immer gram sein, etwas Gutes hat das – na, eben der peinliche Vorgang doch gehabt: ich habe deinen Wert noch überzeugter, beglückender erkannt – wirklich!«

Sie sah ihn überrascht an und verstand ihn nicht recht.

Er nickte bekräftigend.

»Jawohl! Dein starkes Entsetzen, deine flammende Empörung haben mir bewiesen, wie keusch dein Empfinden ist, wie unberührt du innerlich von allem, was du doch in Berlin gesehen, gehört und erlebt hast, geblieben bist. Ich glaube, es gibt hier nicht viele, die mit dreiundzwanzig Jahren, noch dazu wenn sie eine geschäftliche Tätigkeit ausüben, so zart, so rein und so tief empfinden.«

Er nahm ihre Hand in die seine und sah sie mit einer Mischung von zärtlicher Liebe und Bewunderung, ja, mit wirklicher Ehrerbietung an, die sie froh und stolz und dankbar machte und auch den letzten Rest eines Unwillens in ihr tilgte. Nachdem so die Versöhnung geschlossen war, plauderten sie, beide verliebter ineinander als je, lebhaft und fröhlich eine ganze Weile, dann sagte er, wieder ihre Hand ergreifend:

»Also, liebe Lisbeth, nun ist alles vergessen, nicht wahr? Nun wirst du es mir nicht mehr nachtragen, nun sind wir wieder wie früher miteinander, und ich darf darauf rechnen, daß du mir wieder dein Vertrauen und das Glück deines Besuches schenken wirst.«

Sie sah ihn betreten an, unsicher, zögernd, und wußte nicht, was sie erwidern sollte. Da drang er noch bittender, inniger in sie: »Du wirst mich doch nicht so hart bestrafen, mich und dich selber auch?«

Er drückte ihr die Hand so fest, daß es sie fast schmerzte, und suchte ihren befangenen, ratlosen Blick.

»Ich verspreche dir auch, daß ich besser auf mich achten werde. Überhaupt, ich bin doch kein gewalttätiger Mensch, und niemals werde ich dich zu etwas zwingen, was du nicht willst. Das wirst du mir doch glauben, Lisbeth?«

Sein aufrichtiger, herzlicher Ton rührte sie.

»Ja«, gab sie mit überströmendem Gefühl zurück, »ja, Kurt, ich glaube dir.«

Und dann flog ein verschämtes Lächeln über ihr Antlitz.

»Aber eins mußt du mir versprechen –«

»Alles, Lisbeth! Also?«

»Daß du – daß wir nicht mehr Wein trinken.«

Sie war schon in der Nacht während ihres emsigen Grübelns auf den Gedanken gekommen: das feurige Getränk möchte wohl die Ursache gewesen sein, daß er sich so unbeherrscht hatte gehen lassen.

Es wurde zur Regel, daß sie jede Woche einen und auch zwei Abende bei ihm verlebte. Immer brachte sie den Aufschnitt mit, und er sorgte für das andere. Statt Wein, der ja auf die Dauer auch zu teuer geworden wäre, tranken sie Bier zu ihrem Abendbrot. Das hinderte nicht, daß stets die wohligste Stimmung herrschte und daß ihre gegenseitige Liebe immer herzlicher, inniger wurde. Die anfängliche Befangenheit und Unsicherheit, deren sie sich bei den ersten beiden Besuchen doch nicht hatte erwehren können, schwand, und sie gab sich rückhaltlos dem Glück hin, das ihr Herz in der ungestörten Gesellschaft des Geliebten höher schlagen machte. Er war stets artig und von zarter Aufmerksamkeit, und kein Wort, keine Gebärde, kein Verlangen störte sie in ihrem Behagen und ihrer Sicherheit. Sie plauderten, scherzten und lachten, und jeder bemühte sich, dem anderen Liebes zu erzeigen. Das liebste war ihr, wenn er aus seiner kleinen Bibliothek einen der Klassiker nahm und ihr vorlas. Von Goethe und Schiller kannte sie das meiste, aber von Shakespeares dramatischen Werken hatte sie das meiste weder gesehen noch gelesen. Mit größtem Interesse, in einer Spannung, die ihre Wangen rötete und ihren Augen einen verklärenden Glanz verlieh, hörte sie ihm zu, um ihn, wenn er müde wurde, mit ihren Küssen zu belohnen. Freilich, wenn sie fühlte, daß seine Glut sich mehr und mehr entzündete, entwand sie sich ihm.

»Nein, nein«, wehrte sie lächelnd, bittend, »du zerzaust mir ja das ganze Haar.«

Vor allem hütete sie sich, sich auf seine Knie zu setzen, und drückte ihn sanft von sich, wenn er sie allzu stürmisch umarmte. Mit der Zeit aber wurde ihre Abwehr schwächer und schwächer, ja, sie vergaß Furcht und Vorsicht immer mehr und überließ sich immer rückhaltsloser, widerstandsfähiger dem beseligenden, in süßes Selbstvergessen versetzenden Gefühl, das sie in seinen Armen, bei seinen leidenschaftlichen Küssen überkam. Ja, sie konnte nicht hindern, daß seine Liebkosungen eine Glut in ihr entzündeten, die sie früher nicht gekannt, und die noch in ihr nachwirkte, wenn sie ihn verlassen hatte und schon in ihr Zimmer zurückgekehrt war. Dann flammten ihre Wangen noch immer, und die Erregung ließ sie nicht ruhen, sondern trieb sie in ihrem Zimmer hin und her. Und wenn sie sich zum Schlaf niedergelegt hatte, konnte sie keine Ruhe finden. Ihre Phantasie fing an zu arbeiten, und sie warf sich erregt, schlaflos noch eine ganze Weile hin und her. Auch den nächsten Tag über war eine Unruhe in ihr, etwas Träumerisches und Hastiges, das sie zerstreut machte, und sie mußte ihre ganze Willenskraft aufbieten, um sich vor den Verkäuferinnen nichts anmerken zu lassen und keinen Fehler zu begehen.

Der Zustand besserte sich nicht; sie war sogar im Geschäft manchmal nicht imstande, sich zu beherrschen. Immer häufiger verlor sie die Ruhe und die sichere Bestimmtheit, die sie als Aufsichtsdame mit den ihr unterstellten Verkäuferinnen in dem großen Schuhwarengeschäft immer beobachtet hatte. Ja, sie ließ sich zuweilen schon bei geringen Verfehlungen und Nachlässigkeiten der jungen Mädchen zur Ungeduld und zu heftigen Verweisen hinreißen, so daß die dicke Erna Wernicke eines Tages zu ihr sagte: »Aber Sie sind nervös, Fräulein! Was ist denn bloß mit Ihnen?«

Worauf die freche, gefallsüchtige Alma Röpke, die mit jedem Käufer, der ihr gefiel, kokettierte, boshaft lachte: »Na, was wird denn sein! Fräulein ist verliebt.«

Wenn sie sich auch diese Dreistigkeit mit scharfen Worten verbat, die Bemerkung machte sie stutzig und ging ihr für den Rest des Tages im Kopfe herum.

Zu Hause dachte sie angelegentlich darüber nach. Hatte die naseweise, vorlaute Person recht? Hatte sie sich wirklich verändert, und war ihre Liebe zu Kurt Vollbrecht schuld daran?

Lisbeth Glümer fing an, sich in der nächsten Zeit selbst zu beobachten. Und sie mußte dabei allerdings feststellen, daß sie von einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Nervosität heimgesucht wurde. Ihr gleichmäßiges, ruhiges Wesen war einer unruhvollen, hin und her schwankenden Stimmung gewichen. Sie war launisch geworden. Bald fühlte sie eine überschäumende Fröhlichkeit, ein berauschendes Glücksbewußtsein in sich, bald wieder fiel sie einer sie plötzlich erfassenden Unrast, einer scheinbar gegenstandslosen Unzufriedenheit anheim, die sie sich nicht erklären konnte. Ihr guter Appetit ließ nach. Ihr Schlaf war nicht mehr der tiefe, stärkende wie sonst. Nicht nur, daß sie erst spät einschlief, sie wachte oft mitten in der Nacht auf, trotz der leichten Decke von einer inneren Hitze geplagt. Auch träumte sie viel mehr als früher, und zuweilen umgaukelten sie Traumbilder, über die sie sich beim Erwachen vor sich selbst schämte.

Auch Kurt Vollbrecht wandelte sich sichtlich in seinem Wesen; auch an ihm gewahrte sie bei jedem Besuche eine sich steigernde Hast und Nervosität. Eines Abends erschrak sie heftig. Sie waren beim Bücherschrank gewesen; auf dem Rückwege nach dem Sofa und Tisch blieben sie stehen; seine Arme legten sich ihr um Rücken und Taille, er zog sie an sich und küßte sie. Immer glutvoller wurden seine Küsse, immer fester preßte er sie an sich. Ein Taumel schien ihn gepackt zu haben, und auch ihr schwand das Bewußtsein ihrer selbst.

»Du – du!« stammelte er wie trunken.

Sie hörte, wie er stürmisch den Atem ausstieß, und dann flammten von neuem seine Küsse auf ihren Lippen und versetzten sie wieder in den süßen, sie selig durchschauernden Zustand völligen Hingegebenseins. Seine Hände drückten sie so fest, daß sie einen Moment lang die Empfindung hatte, sie müßte zerbrechen.

Da plötzlich lösten sich seine Arme, und mit einer jähen Bewegung schob er sie von sich. Mit wogender Brust, atemlos keuchend, stand er vor ihr, mit glühender Röte, fieberhaft glänzenden Augen. Nun wandte er sich mit hastigem Ruck zum Fenster und preßte seine Stirn auf die kühlende Glasscheibe.

Sie schaute betreten zu ihm hinüber; er drehte ihr den Rücken zu; an seinen zuckenden Schultern sah sie, daß ihn noch immer eine starke Bewegung schüttelte.

»Kurt!« sagte sie leise.

Er schien sie nicht gehört zu haben. Abermals nannte sie seinen Namen, diesmal lauter. Er drehte sich nach ihr um. In seinen verstörten Mienen wühlte noch immer die sprühende Erregung.

»Du – du darfst nicht mehr zu mir kommen, Lisbeth!« keuchte er.

Sie sah ihn betroffen, fragend, erschrocken an. »Siehst du denn nicht, daß ich es nicht mehr ertragen kann!« rief er ihr heftig, fast vorwurfsvoll zu.

Eine Ahnung stieg in ihr auf. Bestürzt starrte sie zu ihm hinüber.

»Man ist doch – doch von Fleisch und Blut!« sprudelte er in der Aufregung, die alle seine Nerven peitschte. »Ich bin doch nahezu achtundzwanzig Jahre. Weißt du, was das heißt?«

»Ach, Kurt!« stammelte sie und schlug ihre Augen vor seinen flammenden Blicken nieder.

Seine beiden Arme hingen herab; seine Hände schlossen sich krampfhaft.

»Ich liebe dich doch! Und seit ich dich kenne, habe ich –«

Seine Stimme, die die Worte schreiend hervorgestoßen hatte, verstummte plötzlich; seine Lippen bewegten sich konvulsivisch und preßten sich dann zusammen, als wollten sie das, was in seiner Brust stürmte, gewaltsam zurückhalten.

»Was denn?« fragte sie verständnislos und hob ihr Gesicht zu ihm. »Was hast du denn, Kurt?«

Er blickte überrascht, erstaunt. Verstand sie ihn denn nicht? Er zog die Brauen zusammen; forschend, zweifelnd ruhte sein Blick auf ihr.

»Ja, weißt du denn nicht«, brach es jetzt unaufhaltsam aus ihm heraus, »daß Männer in meinem Alter nicht so – so leben können, daß wir anders sind als ihr Mädchen, die ihr von Natur anders geartet und die ihr in Keuschheit und Enthaltsamkeit erzogen seid?«

Sie schrak zusammen und senkte wieder unwillkürlich ihre Blicke zu Boden. Plötzlich schlug sie ihre Hände vor das erglühende Antlitz.

»Ach, Kurt!« stöhnte sie.

Stillschweigen herrschte für ein paar Minuten. Sie verharrte erschüttert, voll Scham, in zwiespältigen Empfindungen, die auf sie einstürmten. Sie vernahm, wie er im Zimmer auf und ab zu schreiten begann.

Nach einer Weile nahm er einen Stuhl und ließ sich darauf nieder.

»Komm, Lisbeth«, sagte er ruhiger, sanfter. »Setze dich zu mir und laß uns einmal vernünftig und offen miteinander sprechen!«

Er rückte einen Stuhl in die Nähe des seinen. Sie ging langsam zu ihm hinüber, voll beklemmender Spannung, mit einer instinktiven Abwehr in ihrem Innern.

Er nahm ihre beiden Hände in die seinen und begann, anfangs zögernd, stockend, nach geeigneten Worten suchend, die ihr Empfinden nicht verletzten, nach und nach, von dem Gegenstande fortgerissen, lebhafter, in immer schnellerem Fluß: »Also, wie ich dir schon andeutete, wenn wir beide ungestört in meinem Zimmer zusammen sind, wenn wir uns küssen und herzen, dann – dann regt sich doch naturgemäß ganz von selbst – na ja, das Begehren in mir, das natürliche Begehren. Und wenn du dich verletzt fühlst und ungehalten bist, so – so ist das eine Folge der Unwissenheit, in der ihr Mädchen aus besseren Familien erzogen werdet, die Unwissenheit über die menschliche und besonders die männliche Natur. Sieh mal, kannst du es nicht verstehen, wenn ich sage, daß du keinen Grund hast, beleidigt zu sein, und es als ein Zeichen von Nichtachtung oder gar von Lieblosigkeit zu empfinden, wenn sich bei diesen fortgesetzten längeren, ungestörten Zusammenkünften zwischen uns Leidenschaft in mir regt? Im Gegenteil, liebe Lisbeth, wenn ich bei unserem Zusammensein in meiner Wohnung, bei deinen Küssen gleichgültig, kalt, unbeeinflußt bliebe – : würde das nicht eher eine verletzende Unempfindlichkeit dir gegenüber oder aber ein anderes, naturwidriges Manko bei mir beweisen?«

Er beugte sich in seinem Eifer, ganz durchdrungen von der Wichtigkeit und Berechtigung seiner Auseinandersetzungen, zu ihr hinüber, suchte den Blick ihrer unruhig flirrenden Augen und drückte ihre Hände in den seinen.

»Das ist doch klar, liebe Lisbeth, und braucht dich wahrhaftig nicht zu verwundern und noch weniger dich zu beleidigen, wenn ich dich, der ich dich von Herzen liebe, deine Seele, dein liebenswertes Wesen nicht nur, sondern doch auch deine äußere Erscheinung, deinen schönen jugendfrischen. Körper, wenn ich mich hinreißen lasse, wenn das Blut in mir wallt, wenn die heißen Triebe in mir erwachen. Die Natur hat es doch so gewollt. Das ist doch bei allen gesunden Männern so; ich bin doch keine Ausnahme. Und du selbst, Lisbeth, bist du hier bei mir, wenn ich dich in meinen Armen halte, wenn sich mein Körper an den deinen schmiegt, wenn ich dich küsse, nicht von ähnlichen Empfindungen, von gleichen Regungen erfüllt? Auch wenn du nachher allein bist in deinem Zimmer, gärt es da nicht noch in dir, treibt dich nicht die Unruhe, das heiße Sehnen hin und her?«

Ein Seufzer rang sich von ihrer heftig wogenden Brust los, und tief senkte sie ihr schamerglühtes Gesicht.

»Du brauchst dich nicht zu schämen, Lisbeth!« fuhr er eifrig fort. »Jedem normalen Mädchen in deinem Alter und in gleicher Lage wird es ebenso ergehen. Ja, das ist ja bei euch Mädchen noch mehr als beim Mann das Zeichen einer starken, tiefen, natürlichen, von allen anderen Rücksichten unbeeinflußten Liebe.«

Er schwieg und atmete wie befreit. Das hatte ihm schon seit langer Zeit auf dem Herzen gelegen, in seiner Seele gegärt. Nun war es heraus, aber wie war nun die Wirkung?

Die Geliebte blickte noch immer zu Boden. Doch an ihrem schnellen Atem, an der zitternden Bewegung, die durch ihren Körper ging, erkannte er, daß seine Erklärungen nicht ohne Eindruck auf sie geblieben waren.

Schweigend saßen sie sich eine Weile gegenüber, dann gab er ihre Hände frei. Die Ungewißheit in ihm, die Sorge um die Zukunft und das, was er ihr noch zu sagen hatte, trieb ihn auf die Füße. Mit ungestümen Schritten durchmaß er das Zimmer, um endlich vor ihr stehenzubleiben.

»Was soll nun werden, Lisbeth?« stieß er erregt, sich zu ihr hinabbeugend, hervor. »Sollen wir unsere schönen, gemütlichen Abende aufgeben, die uns beiden, jawohl Lisbeth, auch dir, schließlich zur Qual werden? Willst du das? Du weißt ja, daß ich leider noch nicht in der Lage bin, ein ständiges eheliches Zusammensein zwischen uns zu ermöglichen. Ich bin doch noch immer nur Buchhalter, und wenn ich auch bei meinen Chefs gut angeschrieben bin, meine Stellung ist noch nicht gesichert und mein Gehalt recht mäßig. Erst wenn ich die Prokura erhalte, habe ich ein gutes Auskommen, das mir die Gründung einer Familie erlaubt, und brauche mich nicht vor einer Kündigung zu fürchten. Aber bis dahin kann noch ein Jahr oder auch zwei vergehen. Willst du, daß wir uns bis dahin immer nur an fremden öffentlichen Orten sehen und uns darauf beschränken, unsere Gefühle nur gelegentlich einmal durch einen verstohlenen Kuß zum Ausdruck bringen? Du als Mädchen könntest es ja gewiß aushalten ohne Anfechtungen und ohne körperlichen und seelischen Schaden für dein Befinden. Aber ich, Lisbeth, –«

Er stemmte in seiner wieder stark wachsenden Aufregung ein Knie auf den Stuhl, neigte sich tief zu ihr hinab, und in einander überstürzenden, ungestüm hervorsprudelnden Worten rief er: »Ich könnte es einfach nicht ertragen, Lisbeth, ich hätte keine Ruhe zur Arbeit und könnte nicht schlafen. Ja, meine Gesundheit würde unter der unnatürlichen Entbehrung ernstlich leiden. Ich würde verdrießlich, unzufrieden, nervös und heftig werden. Vielleicht würde ich dir im stillen grollen und ungerecht gegen dich sein. Unsere ganze Liebe würde am Ende in die Brüche gehen, und meine erhitzten, unbefriedigten Sinne würde mich zuletzt in die Arme einer anderen –«

»Kurt – !«

Lisbeth Glümer sprang, aufs äußerste gequält, in peinlichster Bewegung vom Stuhle auf, um gleich darauf wieder auf ihn niederzusinken und in ein heftiges Schluchzen auszubrechen.

Erschüttert legte der junge Mann der fassungslos Schluchzenden seine Rechte auf den Scheitel und strich sanft, liebkosend darüber.

»Verzeihe!« sagte er. »Aber ich mußte es dir sagen, ich mußte dir klaren Wein einschenken. Wäre es besser, wenn ich stillschweigend an diesem Konflikt vorübergegangen und heimlich bei anderen Mädchen den Forderungen der Natur genügt hätte, wie es so viele andere in ähnlicher Lage tun? Die eine lieben sie ehrlich, innig, mit voller Seele und wollen sie später, wenn ihre materielle Lage es ihnen gestattet, zu ihrer Frau, zur Mutter ihrer Kinder machen, mit der andern aber, die ihnen seelisch nichts bedeutet, gehen sie zur selben Zeit die intimste Verbindung ein, die zwei Menschen überhaupt eingehen können. Wäre es dir lieber, Lisbeth, wenn ich, anstatt offen mit dir zu sprechen, es ebenso machte?«

Sie ließ gemartert, verstört ihre Hände sinken und hob das tränenüberflutete Antlitz zu ihm empor.

»Was soll ich denn tun, Kurt? Was verlangst du denn von mir?« schrie sie außer sich.

»Nichts, Lisbeth, nichts verlange ich. Ich habe getan, was ich für meine Pflicht hielt. Das Weitere liegt bei dir. Überlege, gehe mit dir zu Rate und tue dann, was dein Herz, dein Empfinden dir gebietet! Ich werde kämpfen, solange ich es vermag. Mehr kann ich dir nicht versprechen.«

Er half ihr in ihr Jackett; sie nestelte mit zitternden Händen ihren Hut auf den Kopf und stürmte davon.

*


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