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Der unendliche Flug

(1914)

Durch das rauchende Abendgelände
suchen wir nach dem rötlichen
Wort und dem erlösenden Ende.

Robert R. Schmidt

 

Das schlanke, schwarzhaarige Fräulein Gesine mit den bogenkühn überbauten Mandelaugen hatte die Zwanzig knapp überschritten, als jemand sich zu ihr gesellte, dem sie ohne viel Ziererei das gab, wonach ihn das Gehirn hinauf trieb.

Herr Stanislaus Zador, der nach ein paar flüchtigen Begegnungen auf der Promenade das Fräulein Gesine seinem Gefühl entdeckte, war Ingenieur. Mitte der Dreißig und viel gereist. Er ging unaufdringlich elegant, liebte Musik, neigte zur Skepsis und war zuweilen in politischen Versammlungen zu sehen. Sein Einkommen, aus einer nicht gerade aufreibenden Tätigkeit im fiskalischen Bergwerk, hielt sich in respektablen Grenzen: bekam überdies noch eine angenehme Rundung mittels jener Tantieme, die eine von ihm der Gewerkschaft verkaufte Erfindung abwarf.

Das Fräulein Gesine hatte, da sie seit ihrem fünfzehnten Jahre vaterlos und ohne Beruf war, stille und gleichgültig verflutete Jahre durchwacht, ehe sie die erdbraune Stärke des Mannes zum erstenmal erfuhr. Und weil dieses saftseufzende Erfahren vieles aufhob, das wie Regen über den Tageskreis strich und vieles ausriß, das dürr unter des Da-Seins Bläue stand, gab sie dem Löser und endlichen Erlöser gleichzeitig mit dem hellen Aufbruch des Körpers auch einen Zipfel des Herzens.

Stanislaus Zador kam jeden Abend nach sechs die drei Treppen zu Gesine hinauf. Küßte der scheuen, halbungläubigen Witwe die Hand und überreichte dem Fräulein ein paar Blumen oder Konfekt. Im Erker nahm er mit den Damen den Tee, besprach mit ihnen Naheliegendes und ließ über Gesines hauchrotes Gesicht die blanken Augen in das Dämmer-Grau fliegen, so daß das Fräulein ihm manchmal gern zugerufen hätte:

»Bitte, bück dich einmal vor, damit ich die Härten deines Kinns und die Linien deines Mundes genauer sehe …«

Erst wenn die alte Dame, die ihn nicht interessierte, sich entfernt hatte, rückte er den Rohrsessel vor, nahm des Fräuleins Hände und suchte das süße Muschversteck ihrer Küsse. Oder er nannte sie, während seine Finger knisternd durch ihren Haarwall flatterten, nannte sie: »Mein kleiner Gold-Schelm«

Des Sonntags gingen sie allein in das Theater oder zu einem Konzert und nach einer knappen und steifen Stunde im Café wieder in die einfache Wohnung zurück.

Dann wurde das Licht nicht mehr angezündet. Auf dem alten Sofa schwärmte seliges Stöhnen mit einem gewissen Eifer breit hinaus. Worauf ein wildatmendes Sich-Fassen folgte, in dessen Klammer dem Fräulein Gesine immer war wie in einem himmlischen Rund-Bau des Wiedersehens nach Jahren: Schein von seinem Schein und Andacht von seiner Andacht. Und die Uhr rief darüber die Ankunft einer neuen Stunde jedesmal in ihrer abgedämpften ruhigen Art aus. Waren ihrer zwei oder drei schon erschienen, die der Küsse Ermatten und Wieder-Aufbrennen belauscht und überrauscht hatten, erinnerte sich Herr Stanislaus, daß ein Morgen nahe, und hinter diesem der Werktag war. Er erhob sich, daß alle Federn des Sofas laut krachten.

Eine Weile lag nichts in dem Zimmer als dieser Mißton, der keine jubelnde Endung war.

Fräulein Gesine leitete ihren Gast im Umwogtsein verwühlter Haare und des nur provisorisch geordneten Gewandes die Treppen hinunter, öffnete die Tür und konnte seine Hand nicht lassen, die da unten in der Zug-Kühle nervös zuckte.

Selten gab es bei einem solchen Scheiden und nach einer derart verbrachten Nacht noch eine glutende Umarmung.

Herr Stanislaus wehte in das Dunkel fort wie ein fremder Wind und ließ nichts zurück, was wie ein Duft schwebte.

Zuweilen geschah es, daß Gesine auf ihrem Mädchenlager, wenn vom Bett der Mutter leises Schnarchen kam, lange noch wachte und ihr Gegenwärtiges und Zukünftiges wertend zerlegte. Doch immer wenn ihr Zweifel an Stanislaus Dauer aus der nicht ganz betäubten Seele heraufkamen, regte sich in ihren Brüsten die alte bange Erschlaffung zwischen Sein und Nicht-Sein, hob das gefährliche Prüfen und Vorerwägen auf, und das Nachzucken der einmal getrösteten Lippen antwortete: Schönheit ist über uns gekommen. Laßt uns von Schönheit träumen. Und der Schlaf löschte das letzte Irren der Augen durch die kühle Mondleere aus.

Dennoch kam es, daß sich zu Beginn des Sommers die Besuche des Herrn Stanislaus Zador verringerten, seine Umarmungen von Kühle und Sachlichkeit überwacht wurden und knappe Briefzeilen seine Gegenwart an den Teeabenden ersetzen mußten.

Gesine machte bei den spärlichen Sonntags-Zusammenkünften nie den Versuch, Stanislaus den Kern seiner schon nicht mehr stürmisch geäußerten Wünsche zu verweigern, um solchermaßen aus ihm ein Geständnis, das seiner Gefühle Hemmungen offenbaren könnte, zu erpressen.

Vielleicht fühlte sie auch, daß aus dem Zurückprallen der Pfeile ihr jene Wunde gebohrt würde, welche das Blut der letzten Wachheit ausströmte.

Und Stanislaus hinwiederum erwiderte dieses ruthhafte Benehmen des Mädchens, das sein Vorhaben wesentlich erleichterte, mit vermehrter Betriebsamkeit jenes Kultus, der sich im Gewähren niedlicher Geschenke erschloß. Und Gesine nahm die vielerlei goldenen und glitzernden Dinge mit jener ruhig heiteren Andacht auf, die einst Blumen und Konfekt umschwelte.

Schließlich kamen sie, ohne daß irgendein Exzeß voraufgegangen war, gänzlich auseinander.

Stanislaus zog abschiedslos in eine fremde Stadt und sandte von dort aus korrekt eine Ansichtskarte.

Und Gesine bewahrte dem Manne, der sie als erster genossen hatte, als ihre Lippen schon nicht mehr ganz feucht waren, ein Erinnern, welches halb achtungsvolle Pietät, halb unbegrenztes Dankgefühl war, durch stille Übergangswochen.

Nach einem Monat aber geschah es, daß sich unter Gesines Herzen das Kind regte. Wie der unvermutete Überfall eines Tag für Tag zwecklos herbeigesehnten Besuches kam ihr diese süße Gewißheit. Sie berauschte sich an dem Wunderwirkenden eines solchen Geheimnisses und trug es erst eine halbe Woche im Wachen und Träumen herum, ehe sie sich entschloß, die Mutter zu verständigen.

Gesines Mutter, welche die engen Grenzen einer ländlichen Pfarrhaus-Welt von kindauf, auch nach dem Tode ihres Mannes nur soweit überbaut hatte, wie es ein Witwen-Dasein, beglänzt mit einer repräsentablen Tochter aufreifender Jugend, in einer betriebsamen Stadt mindest gestattete, brachte den Tag, an dem das Geständnis der Tochter fiel, in dumpfer Besinnungslosigkeit zu.

Erst als Gesine, angesteckt von der Passivität der Mutter, ins Uferlose flüchtete und dunkel bangte: »Was muß man nun tun, liebe Mutter, damit es nicht so traurig ist, das. Nicht so sinnlos traurig?« da entschloß sich die Witwe, an Herrn Stanislaus Zador zu schreiben.

Unter Gesines liebevoller Assistenz kam ein heitermahnender Brief zustande, der noch am selben Abend abgesandt wurde. Gesine saß drei Tage lang am offenen Balkon-Fenster und sah nach dem Telegraphenjungen oder Postboten. Aber die gingen immer an dem Hause vorüber. Und Gesine dachte: wie schön ist dieses Warten unter dem Himmel, der abwechselnd wolkig und klar ist. Stets habe ich das Gefühl: wenn die Sonne dort einen Gold-Läufer über den Straßendamm spannt, muß Stanislaus selber kommen. Mit lauten, bewußten Schritten. Und mit einem Gesicht, in welchem nichts Verheimlichtes mehr ist.

Am anderen Tage aber war häßliches Regenwetter und die Mutter hustete hohl und trocken. Und während Gesine sich um die Hustende bemühte mit Tee und warmen Tüchern, ging draußen die Klingel.

Als Gesine die Korridor-Tür öffnete, trat Stanislaus ein. Feierlich, blaß und reisegeruch-umwogt. Er übersah ihre geöffneten Arme und die freudig genetzten Augen. Schritt ehern hin, wo die Witwe mit klopfenden Schläfen saß, und hielt förmlich um die Hand der Tochter an.

Er sprach die sparsamen Sätze sehr schnell wie etwas Geschäftliches und nahm die ihm hingereichte Hand wie ein Vertragspapier, das man mit seinem Namen unterzeichnet.

Er bemerkte kaum, daß er dann mit beruhigtem Gesicht wieder in der Mitte des Zimmers stand, spürte nur, daß ihm Gesine den nassen Mantel von der Schulter streifte und hinausging.

Er erwartete ruhig ihr Wiederkommen, nahm sie in eine leichte Umarmung und führte sie zum Erker.

Gesine fühlte ihr Herz wie ein Klavier in der Kehle hämmern und hielt der Töne Herausschlüpfen gewaltsam zurück.

Die Sonne hatte unterdessen das Gewölk zerteilt und breitete abendliche Röte wie einen Fächer aus. Und unter diesem, von einzelnen Schattenstößen noch auf- und niedergeworfenen Fächer besprach Herr Stanislaus Zador mit Fräulein Gesine den Termin der Hochzeit.

Als sie sich über diesen Punkt geeinigt hatten, gerieten ihre Hände ineinander und schaukelten durch die Stille, die der Raum schwieg. Es war wie in einem Juli-Wald oder an einem mondlosen Teich. Unten wo ging ein Orchestrion sehr laut, so daß keiner etwas sagen konnte.

Und Stanislaus hatte Gesines Gesicht langsam in seine Herzseite gerückt, so daß sie nicht sehen und wissen konnte, ob er bleich war. Aber seine Augen mußten rot und müde sein. Das hatte sie so im Gefühl, wie sie auch fühlte, daß seine Hände zitterten und immer schwerer wurden. Solches abzustellen, kam ihr kein Zweifel zu Hilfe.

Sechs Wochen nach diesem Abend fand die Hochzeit statt. Ohne Kirche, Equipagen und Tafelkreis.

Und in den Tagen, da Gesines Mutter den Umzug der alten Wirtschaft nach der Stadt regelte, wo sie im Hause des Schwiegersohns von nun an wohnen sollte, weilte das junge Paar im Süden. In den nüchternen Hotelzimmern, oder unter Laubgängen in alten Parks mit Brunnen, Schwänen und Steinfiguren, wiederholte Stanislaus Gesine gegenüber jenes an- und abschwellende Spiel aus der Anfangszeit, mit werbenden Küssen, leisen Steigerungen der Umarmungen und elementaren Einbrüchen. Denn für ihn hatte dieses Auskreisen der Blutwogen in einer fremden Umgebung, unterstützt von der veränderten Psyche Gesines, den Reiz eines Neuen.

Die junge Frau aber fühlte hinter dem Taumel sehr deutlich das Wiedernahen der Kühle. Sie kam dazu, noch über die Erschöpfung hinaus zu überdenken, welchen Weg der Kälteprozeß in Stanislaus' Gefühlen nunmehr nehmen würde, da die Grundlinien ihres Verhältnisses zueinander, in einen Ring gezwängt, nicht mehr ins Ferne queren konnten. Es würde schwer sein, empfand sie, eine Beziehung zu begründen, für welche keine Maßregeln vorgesehen sind innerhalb der Konvention.

Und gelänge es wirklich, wäre es doch nicht ein zu kleines Ziel für ein ganzes Leben?

Dann wieder erwog sie, einen Weg in sein Innerstes zu bauen und mit der weißen Flamme angespanntester Erregung das Dunkel aufzuhellen, welches Kälte und Skepsis erzeugte. Vielleicht war das Dunkel nur ein Vorhang, den irgendeine Enttäuschung herabgelassen hatte, aus Furcht vor dem Einbruch einer zweiten.

Aber zu all diesen Erwägungen kam ihr nie die praktische Tat, solange sie in einer Umgebung weilte, die Stanislaus irgendwie reizte. Und die Tage flatterten mit der Anmut junger, elastischer Vögel dahin.

In der Heimat, endlich zurückgekehrt, nahm das Berufliche Herrn Stanislaus Zador stark in Anspruch, so daß er Gesine nur flüchtig bei den Mahlzeiten sah.

Und Gesine, mit dem Ordnen der veränderten Zustände und dem Sich-hin-einfinden in das Neue eines eigenen Heimes völlig beschäftigt, war ihrerseits nicht in der Lage, etwas Außergewöhnliches, das ein Entscheidendes für immer bringen sollte, zu bauen. Daß ihr solches mit dem erst wirklichen Vorhandensein des Kindes ohne Mühe gelingen müßte, erwog sie nie.

Gesines Mutier mischte sich in das ihr allerdings nicht erfaßbare Benehmen der jungen Eheleute zueinander nie ein. Sie glitt wie das Ticken einer Uhr mit wunschloser Pünktlichkeit durch die Räume. Stanislaus brachte wieder Blumen und Konfekt. Aber seine Augen suchten nichts. Denn der Wipfel, den er sich auf Geheiß hatte erpflanzen müssen, um den Duft der Betäubungen fortan nur von dorther zu beziehen, schwamm wie ein Schiff und hörte über sich das Meer erbrausen.

Soweit es aber ihr Zustand noch erlaubte, formte Gesine weiche Worte, die sie leise hinaustönte. Und es war ihr, wie wenn Stanislaus nach dem Rhythmus der gleitenden Silben, die sich zu ihm hinschmiegten, die Schritte stellte, oder ein besonders glückliches Wort ein Stück begleiten wollte aus der verwehenden Spur durch den Raum. Aber nie hatte sich Gesine gründlicher getäuscht, als in dem Auslegen jenes Schwunges, der Stanislaus um den Lampenkreis trieb.

Nun ihm das Wissen um den Keim eines neuen Lebens unter ihrem Herzen immer fühlbarer wurde und die unumstößliche Gewißheit hatte, daß er der alleinige Säer war, kam ihm ein Verantwortungsgefühl der Saat gegenüber. Und genau so wie vor einem wachsenden Werk seines schöpferischen Intellektes, stand er auch vor dem des Fleisches mit allen Schauern banger Erwartung. Die schlackenlose Höhe der Vollendung zu bewundern, war ihm im Vorgefühl schon ein Triumph, der, ins Extrem umschlagend, mit monarchischer Huld Sentiments auf die Umgebung verschleuderte, die ihm sonst fremd waren.

Mit den Blumen und Süßigkeiten für Gesine schleppte er mögliche und unmögliche Dinge für das nahende Kind ins Haus. Einen prunkvollen Wagen, niedliche Puppen und bunte Tiere. Er ließ sich ferner Kartonproben kommen und entwarf den Text zu den Geburtsanzeigen. Entwarf hundert Texte und keiner wollte genügen.

Schließlich stand er stundenlang mit abgewandtem Gesicht und nervös rauchend in einer Ecke, wo ihn Gesine nicht sah, und errechnete die Tragweite und den Nutzungswert seiner Blutschöpfung mit allen mathematischen Finessen. Es war ihm eine Genugtuung zu wissen, daß man dieses alles haben konnte inmitten einer Gesellschaft, wo man sich unbekümmert unsichtbar machen kann, wenn etwas rief, das nicht behagte, soweit es über sachliche Vergnügen hinausging.

Und in einer Nacht mit lautem Türenschlagen, Treppenlaufen, scheußlichen Gerüchen und mörderischem Geschrei kam das Kind und war tot.

Durch drei oder vier mehr oder minder betrübte Menschen kam Herrn Stanislaus Zador die Nachricht. Und als er in das Zimmer trat, wo Gesine sich im Fieber krümmte, trug man das Leben, das für diese Welt zu klein geraten war, hinaus.

Er verlangte nicht, dieses mißratene Werk zu prüfen. Wortlos schritt er an das Fenster und sah in das Dunkel, bis es sich regengrau hellte. Sein Körper, der nach diesen Geschehnissen wie ein zusammengerollter Igel war, an dem sich alles stieß, alles hineinhakte – die Haut, die vor jedem Geräusch aufbrodelte und die Tage junger Ungebundenheiten wie Wasserbläschen auf die Oberfläche trieb – Körper und Haut glätteten sich wieder. Haß stand dahinter und verfluchte die ungewollten Erregungen des Blutes, weil sie vergessene Qualen der Seele in sich trugen.

Als die ersten Milchwagen schellten, schnallte sich ein Blitz in seinem Gehirn los und bohrte in den Augenhöhlen mit gärendem Geräusch. Er begann an den Funktionen seiner Sinne zu zweifeln; denn daß seine fleischliche Kraft nicht fähig war, ein gangbares Werk zu gestalten, schien ihm ein Vorzeichen zu sein, daß sich auch seine Denkkraft rapide einem Defekt näherte. Und das würde er nicht erleben.

Seine Gedanken mahlten weiter, ohne Tatkraft, sich fürchtend vor dem ersten Ruf von rückwärts und fuhren in die Lippen und quälten diese mit den großen Schneidezähnen.

Schließlich wurde das Gesicht wie ein zerfurchter Fels, über den Sonne und Gletscherkälte schwindelnd stiegen.

Unten auf der Straße hellte sich der Zug der Tagelöhner, strich schmalschwankend vorüber, von den frierend-zitternden Bäumchen schneller gejagt. Zwei bloße Mädchenbeine stolperten über einen Stock, den irgendein Nachtschwärmer verloren hatte. Das blasse fünfzehnjährige Ding raffte den Kattunrock und stand da in verrucht lockender Bewegung, wie wenn ein Bild sich in ihm entzündet hätte. Sein Kopf stand in orangeblonder Beleuchtung, hob sich an den Frontfenstern empor und traf den Ingenieur Stanislaus Zador.

Er bog sich vom Sims los und dachte: die graue Leere ist unerträglich um mich. Aber keinen Grund schaue ich, mich selbst zu töten. Denn dann habe ich nichts mehr. Dann ist nur sie da – die Leere. Ach, ich hätte niemals ein Fühlen für irgendeine Frau in mir fühlen dürfen. Dann stünde auch jetzt nicht der Strich des Verzichtes wie ein Pfahl in meinem Gehirn. Dann spürte ich nicht die Erdschollen über das Vergangene rollen. Es ist grausig, sie über sein eigenes Begräbnis poltern zu hören. Aber vielleicht könnte eine Reise Schnitt und Erlösung sein …

Ja, reisen will ich. Aus der Enge dieses Gebäudes und aus der Lüge weit fort in die Gewißheit einer Fremde. Mit den noch Ärmeren will ich in dem langen holpernden Wagen sitzen. Zeitlos wie ein Wandern wird die Fahrt dauern. Ich werde viele Arme sehen. Die Sklaven der Äcker und die Erniederten der Städte. Alle die einander Unähnlichen aus unterscheidbaren Landstrichen und Provinzen werden meine brüderlichen Gefährten sein. In meiner Nähe auf den hölzernen Bänken sitzen, mich den Ekel ihres Schmutzes, den sie selber nicht kennen, spüren lassen. Ihr Reisegegröhl und ihre Ausdünstungen werden umherschallen und mich quälen, ohne daß sie es merken. Aber dann, nach den Tagen der Fahrt wird das Meer, wird die Insel sein, wo ein Wiederwahrsein mich endlich hinabhilft auf den Urgrund der Kraft.

· · · · · · · · ·

Aus diesen Erwägungen schreckte ihn ein Weinen, und er sah, daß Gesine in den Kissen laut geworden war. Aber bis in die Tiefen konnten ihre Tränen nicht gedrungen sein. Denn als er ihre Augen mit einem ihm jäh entschlüpften Seufzer wieder emporzwang und ihnen nahe war, sprachen sie deutlich: »Nun, siehst du, ich darf kein Kind von dir haben, Stanislaus. Aber alles andere war. War wirklich. Und es gibt nur diese eine ewige Wirklichkeit.«

Leicht und lockend war diese Stimme der Augen. War wie ein Streicheln mit Giftblumen.

Stanislaus Zador trat mit harten Schritten tiefer in das Zimmer zurück. Sein Kopf trieb durch feurige Schleier in das Weiß der Betten hinein und sah einen Weltkörper in der Maske eines Weibes. Da hob Gesine mit einem sieghaften Schrei des Entzückens ihre Arme, als würde sie nun durch Äonen-Jahre über Sternenwiesen schweben wie eine weiße sanfte Gottestaube.

Stanislaus Zador aber drehte die Pupillen der Augen nach innen, nahm den Hut und schlug die Tür ins Schloß. Ging auf die Grube und kam nie wieder.


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