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(1917)
Die Panther springen lautlos durch die Bäume.
Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer …
In dem verschweinten Quartier des Gehölzes von St. Gobain sprach irgendeiner ihren Namen unglaublich gemein: » Jadwiga.« Es ging eine Welle von rotem Klee durch den Raum und blies die Lider von dreißig Augenpaaren hoch. Die weißen Dünstungen der Julinacht rieben sich an den verknoteten Schläfen. Das Blut zischte durch die Adern und riß die Finger begehrlich empor. Orgelhaft donnerten die Stimmen der Bande nach außen: » Jadwiga!«
Am nächsten Morgen wußte der Gefreite Bandom ihr Haus. Es war das zweite hinter der Kirche; einstöckig, weiß und mit grauen Ziegeln gedeckt.
Brunnen, Stall und Geräteschuppen ertranken in einem aufreizend bunten Gemisch von Malven. Im Sonnenfleck der Treppe lauerte ein weißes Katzentier und der ganze Flur duftete nach einer starken Kaffeebeize.
Jadwiga saß neben einer gräßlich dicken Person, deren zahnloses Maul den Gefreiten Bandom anblaffte.
Der Gefreite Bandom schob sich einen Stuhl heran, so, daß er die Alte im Rücken hatte und von Jadwiga das Profil, scharf geschnitten auf dem gedunkelten Zinnober eines Schrankes. Jadwiga hob die Tasse ohne Erregung zum Kinn.
Der Gefreite Bandom sah eine Weile nur die schräge Linie ihrer Nase.
Danach hob Jadwiga die Hand und jagte die Alte hinaus. Ihre Stirn zeigte eine häßliche Falte, die bis in das Haar hinaufsprang.
Der Gefreite Bandom warf seine Mütze auf den Tisch und begehrte zu reden.
Jadwiga aber stand plötzlich auf und lockte die Katze. Mit einem sicheren Griff in das strähnige Fell hob sie das Tier auf die Schulter und warf den Gefreiten Bandom das Köpfepaar entgegen.
Der Gefreite Bandom litt noch immer an dem lauten Gelächter im Quartier.
Er besah Jadwiga mit Augen, die durch den blauen Flanell über den gelben Flaum ihrer Haut huschten. Und fand alles voller Widerstand und Frost.
Verwirrt bat er um eine Faust Reseda und spürte, kaum ausgesprochen, diese Albernheit bitter bis in das Gehirn.
Jadwiga überhörte den Satz.
Er bat noch einmal und jetzt schon voller Hinterhalt um jenen Reseda, dessen Dasein sich mit Vehemenz aus den hinteren Beeten in das Zimmer wälzte.
Jadwiga biß die Lippen zusammen, riß sie wieder von den Zähnen zurück und lachte mit einem Ton, dessen Schwingung den Gefreiten Bandom in ein anderes Gefühl kippte. Danach drehte sie sich kurz in den Hüften und hieß ihn, ihr in das Gärtchen zu folgen. Sie schritten über einen Flur aus schreiend roten Ziegeln und durch eine Flucht von drei ausgeleierten Türen. Draußen sprang mit einem mächtigen Satz die Katze von Jadwigas Schulter einer feisten Amsel nach.
Jadwiga führte den Gefreiten Bandom an die Resedabeete.
Sie zeigte noch einmal, ohne den Willen seiner Augen zu prüfen, die Zähne und bückte sich auf das verwucherte Kraut.
Einen Augenblick nur sah der Gefreite Bandom die Kurve ihres Halses, dessen Haut wie aus braunem Samt gepreßt schien, und darüber wölbte sich der schwere Knoten ihres Haares um zwei, drei Nuancen dunkler und von derselben Stumpfheit des Glanzes.
Nie an der Aisne hatte der Gefreite Bandom Hals und Haar dieser Färbung bei Weibern gesehen.
Jadwiga errötete, da sie sich erhob, und der Gefreite Bandom fragte sie, aus welcher Gegend sie stamme. Sie legte, seine Frage mit einer Geringschätzung belächelnd, die Blumen in seine Hand, wie irgendeine Ware. Da er sekundenlang ratlos stand, drehte sie ab, tänzelnd, frech, und nestelte zerstreut im Gerank der Feuerbohnen. Das Beet wölbte sich um ihre Hüften wie die geschwungenen Flügel eines Sofas. Das intensive Rosa einer Handbreit Strumpf wurde sichtbar. Dann lockte sie mit dem Ton eines Peitschenhiebes die Katze von der Baumspitze herab.
Der Gefreite Bandom wölbte die Brust zu einem Anlauf. Es lagen Zentner Angst auf den Rippen.
Jadwiga streichelte den Rücken des Tieres. Heftig. Und sang ein Chanson aus Montmartre-Kneipen.
Der Gefreite Bandom fühlte endlich, daß seine Maske nichts half und sein Gehen erwünscht sei. Da er sich einbildete, Jadwiga etwas schenken zu müssen, legte er eine seltene Münze aus Silber in ihre Hand. Es war ein Amulett. Blondes Haar klebte daran.
Jadwiga warf die Münze mit einer unglaublichen Grimasse der Verachtung in das Gestrüpp und drehte sich herum, langsam zur Hecke schreitend.
Der Gefreite Bandom sah Jadwiga danach ein paar Wochen lang nicht.
In dem Quartier des Gehölzes von St. Gobain gröhlte Nacht für Nacht ein Chor: »Jadwiga!« Bis das Regiment in die kleine Stadt verlegt wurde.
Die Korporalschaft des Gefreiten Bandom bezog einen Boden in der Schule, drei schmale Straßen von Jadwiga.
Der Gefreite Bandom marschierte Tag für Tag zum Übungsplatz an Jadwigas Haus vorüber. Und sie saß am Fenster mit der großen Katze Gesicht an Gesicht. Der Gefreite Bandom spannte oft hinüber mit neidischen Augen. Jadwiga spie Verachtung.
Der Gefreite Bandom mischte sich in den abendlichen Verkehr der schmutzigen Straßen und streifte Gestalt und Begehren vieler Mädchen. Die Lust, Jadwiga in diesen abendlichen Gängen plötzlich zu begegnen und ihre Arme auf den Rücken zu zwingen, offenbarte ihm die tiefsten Winkel der Stadt und ihre Bewohner in ihren dunkelsten Hantierungen und Gewohnheiten. Er fühlte allmählich Beziehungen zu den geringsten Dingen aufkeimen. Die Linie eines Giebels beglückte ihn zu stummen Heiterkeiten. Er hielt Zwiesprache mit den herrenlosen Tieren, dehnte sich in die Sterne und blieb vor dem massiven Barock eines Turms wie vor einem Gipfel stehn. Er sah über die Mauer eines Gartens auf die unendlichen Wiesen am Kanal hinunter und wie die großen Pappeln einer Chaussee den Himmel in einem mächtigen Halbkreise schnitten.
Über die weiße Brücke, die einer hastigen Sprengung widerstanden hatte, stolperten in endlosem Zug die Kolonnen, streiften die Stadt in einer kleinen Gasse und schoben sich den Berg empor, über dessen Kamm zuweilen die farbigen Feuer der Leuchtraketen schwebten. Die Donner der Front röhrten über die Kuppen der Waldung nicht hinaus. Aus den Häusern aber scholl bis zur Stunde des Zapfenstreiches die Unbändigkeit des Ruhebataillons aus Ziehharmonika und Weibergekreisch. Die Kantinen schwammen in Fusel. Es war nur ein kleiner Sprung bis Sodom. In den Lazaretten aber heulte der Tod, daß den Schwestern der Mund nach innen kroch vor Ekel und Angst.
Der Gefreite Bandom stand wie auf einem Karussell. Der Wirbel der Drehungen hetzte in rasende Läufe Luft und Dinge. Die Konturen flossen zusammen. Ein wellengehügeltes Meer kochte auf, und nur eine Insel blieb als riesenhafter Pfahl in der Brandung.
Der Gefreite Bandom zerrte an Muskeln und Sehnen, als schmerzten sie unter Stricken. Und über seiner aufgereckten Stirn schwebte der Mond. Jadwiga grinste aus dem Spiegel.
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An einem hellen Mittwochmorgen schleppte der Landsturm dreißig blessierte Franzosen vor das Divisionsquartier zum Verhör. Das ganze Weibsvolk lag auf der Straße und brüllte. Die verdreckten Gefangenen zupften eitel an den aufgeschürzten Mänteln. Schnurrbärte stiegen empor. In vielen Augen brannte die Kohle gelb auf. Da warfen die Weiber die Breite ihrer Körper in die vierfache Schnur der Männer und reckten die Arme. Einer von den Kerlen pfiff auf den Fingern, und es war Jadwiga, die sie ihm aus dem Mund riß und ihr ganzes Gesicht hineinwarf.
Man sah, wie die beiden Körper nun ineinander drangen und ein Koloß von Brunst und Glück wurden. Fast unbewegt und mit einem erschütternden Gebrüll.
Als sich der Zug der Gefangenen in den Hof des umgitterten Schlosses schob, drängte Jadwiga den braunen Kerl aus der Reihe, bis er als letzter hinkte. Der Landsturm hieb mit Fäusten auf die Rasende. Sie sah sich eine Sekunde lang um und sah im Haufen zusammengelaufener Husaren ein halbes Dutzend ihrer Liebhaber in hilfloser Aufregung. Das trieb den Motor ihrer Begierden noch heftiger an. Sie schüttelte den Kopf, daß der Haarwust aufflog und sah wie ein Hund zu dem braunen Gefangenen auf.
Der Gefangene grinste verlegen, da man ihn fragte, ob Jadwiga seine Geliebte sei. Er schlug seine brutal geschweiften Arme übereinander, daß Jadwiga von ihm abfiel. Sie aber schraubte sich in seine Schenkel fest, daß er fast aus dem Gleichgewicht kam. Da schleuderte er sie mit einem Fußtritt in die Gasse, wo sie in Krämpfen liegen blieb.
Die Husaren schrien mit quietschend gelächelten Gebissen: »Jadwiga!«
Der Gefreite Bandom hielt sich, mit verschleierten Augen an einem Schwellenpfosten. Schnappte Luft: warum ist jene, an die ich denke, so fern meinem Blut? Ich fühle nicht einmal die Brutalität ihrer Hand auf meiner Wange … oh …!
Nach einer Weile wurde Jadwiga von ein paar alten Kerlen aufgehoben. Von ihrer Stirn herab strömte Blut aus einer flachen Schramme. Das häßlich veränderte Gesicht schien fast ohne Mund und wie von den schwarzen Augen nur geformt.
Sie ließ sich bis über die zweite Straße führen, riß sich mit einer Kraft los, daß die Männer leblos einsackten und den Hagel der Granaten über sich wähnten. Sie floh mit Beinen, die bis zu den Schenkeln nackt aus den Röcken flogen. Die ganze Stadt donnerte: »Jadwiga!«
Sie drehte die Haustür dreimal ins Schloß, schnappte der Alten den Milchtopf fort und soff das Liter in einem Zuge aus. Warf sich aufs Bett, maßlos in den roten Drell des Kissens gebissen. Sie heulte, daß die Bretter aufknackten von der Wut dieses Weinens. Aber kein Ton scholl nach außen.
Die alte Frau streichelte ratlos die große Katze.
Der Abend kam mit einem leichten Nebel, der die kitschigen Konturen der Häuser noch weicher formte und das Licht verzettelte. Die von den endlosen Staublawinen des Kolonnenverkehrs ausgehaarten Bäume der Promenade glänzten maifrisch unter dem beginnenden Mond und dem Himmel, der in einem dunklen Orange mählich verklang. Die Straße war wieder voller Soldaten, die immer zu zweien, dreien gingen und die Häuser absuchten nach irgendeinem farbigen Licht oder einem Fenster, den ein Mädchenkopf wie eine antike Bronze bewohnte. Viele Haustüren knarrten schon unter mächtigem Druck und die Luft begann Suppen und Alkohol zu dunsten. Stundenschläge vom Turm fielen wie silberne Perlen eines Rosenkranzes. Wer aber lag im Gebet, da alle Instinkte des Rausches und alle Laster des Hasses ineinandertobten zu einem Choral Beelzebubs?
Vom Fenster seines Quartiers sah der Gefreite Bandom durch das Gebüsch einiger Bäume auf das Haus Jadwigas. Das Fenster brannte dort unter dem Druck von fünfundzwanzig Kerzen. Der Schein der gelben Vorhänge erhellte den halben Vorgarten. Die Sträucher der Lichtkegel erschienen leicht braun; nach der Straße zu türmten sie sich zu zackigen Mauern. Ein halbes Dutzend Kerle setzte plötzlich über sie hinweg. Einer von ihnen horchte sekundenlang am Fenster, daß sein Kopf sich scharf abhob. Der Gefreite Bandom sah an der Massigkeit des Kinns, daß der Horcher sein Feldwebel war. Dann brauste die Schar in das Haus und eine Weile flatterten die Schatten von schnell bewegten Körpern durch das gelbe Licht.
Durch die ganze stille Luft hörte der Gefreite Bandom das Gekreisch Jadwigas, bis der Vorhang wieder ohne Fleckenwirbel auf den Vorgarten die vielen Lichter warf.
Plötzlich setzte ein Orchester von unterscheidbaren Männerstimmen ein und spannte über die Straßen hinweg bis zum Giebel des Quartiers ein Netz von Sentimentalität. Der Gefreite Bandom fröstelte. Er versuchte sich klar zu machen: vieles in diesen zwei Jahren Gelebte war Gewalt und Härte. Warum nur dieser dunkeläugigen Hure die Sanftheit jenes Vormittags? Alles an ihr war offen und zum Griff bereit. Überall Vertiefungen, mühelos einzudringen … und doch jenes Zögern, jene nichtsnutzige Beklemmung von der natürlichen Tat?
Er stand unbeweglich und hatte die Hände auf der Brust gefaltet. Zu sehr sauste noch Heimat durch sein Gefühl, durchflüsterte Stunden in Parks, das zittrige Weinen einer überrumpelten Scham. Jene Augen der Sechzehnjährigen, rehhaft Erschrockenen dürfen nicht wiederkommen.
Nie mehr! Sie weinten stumm und brennend und waren verwandelt in lauter Leid und die Bangheit ewigen Verlustes …
Schließlich: wozu dieses Erinnern jetzt? Gewalt und Härte sind!
Seine Haut war von Kühle wie Rinde gerauht. Aber noch ehe er das Fenster schloß, bewegte sich ein Haufen Infanterie auf das Haus Jadwigas zu. Nur einer lief durch den Vorgarten und begann auf dem heißen Glas des Fensters zu trommeln. Darauf beugte sich ein Kopf aus einem vorsichtigen Spalt der Haustür und überschüttete mit einem Fluch den Störer. Eine Weile standen die Infanteristen ratlos auf der Straße. Es war geradezu irrsinnig, dieses Auf-etwas-hoffen.
Mürrisch entfernten sie sich. Drehten nach einigen Schritten die schweren Körper um und warfen mit Steinen nach dem gelben Fenster. Eine Wache verscheuchte sie. In dem vermorschten Turm des Schlosses schlugen die Eulen.
Die Stadt schraubte sich auf den letzten Exzeß.
Man hörte das Weserlied gröhlen.
Am andern Morgen schallte das Quartier von Jadwiga. Auf dem runden Tisch vor dem Spiegel hätte sie nackt getanzt, lachte der Feldwebel. Und die Alte war hundertmal in den Keller gestiegen, bis das Ciderfaß keinen Ton mehr von sich gegeben hatte. Kurz vor dem Zapfenstreich hätte er Jadwiga besessen, während die andern besoffen nach der Katze gejagt seien.
Er zeigte die großen weißen Raubtierzähne, über seiner rechten Schläfe aber lief eine frische Schramme bis zum Hals herunter. Sonst aber hatte die ganze Gestalt Kraft und Saftigkeit. Jede Gewalttat war dem mächtigen Oberarm zu glauben. Näherwinkend flüsterte der Feldwebel, den Gefreiten Bandom zu Jadwiga zu führen. Prahlte: »Auf meinen Schenkeln muß sie tanzen!«
Der Gefreite Bandom sagte keinen Ton darauf. Schüttelte irgend etwas ab mit eingezogenen Schultern. Dachte: als du ein kleiner Knabe warst, standest du in solchen Situationen am Fenster und drücktest die Stirn an die Scheibe, und unten spielten deine Kameraden und du weintest. Grundlos. Bloß um irgendwie Luft zu haben. Bis endlich die Glocken gingen: Du hast gesiegt! Du bist errettet!
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Der Vormittag ballte ein Gewitter herauf. Es war unerträglich auf dem Exerzierplatz. Die Kompanie hatte Übungen am Drahtverhau mit scharfen Minen. Der Leutnant jagte die Kerle in Ströme Schweiß. Wie ein angedrehter Brunnen schossen seine Befehle aus dem Schattenwall eines Gesträuchs empor. Erst nach einer Stunde merkte er, wie es in den Körpern der Gejagten wütete. Das tat ihm wohl: Gewalt und Härte. Und nach einer Pause, die mit hundert Köpfen mit riesigen Augen in die Richtung seines bösartigen Mundes zwang, sagte er: »Danke!« Darauf marschierte die Kompanie zurück. Die Kerle lagen wie betäubt auf den Strohsäcken und verschliefen die Mittagskost.
Kurz nach zwei schritt der Gefreite Bandom durch die stillen Gärten zu Jadwiga hinüber. Die große Katze lag allein im Fenster und zerfetzte die Gardine. Die Malven hingen träge in der Sonne und das Holz der Türen knisterte. Die Stille von außen und innen floß zusammen, ausgebreitet wie ein großer Teich ohne Regung.
Der Gefreite Bandom ängstigte sich vor dem Klopfen seines Herzens: um so gefaßter hingen seine Hände kurz herab. Er nahm einen kurzen Springer-Anlauf. Und fand Jadwiga auf der Bank hinter dem Haus. Sie nähte rosa Spitzen an ein Hemd, warf die Arbeit rasch hinter sich, da sie ihn erblickte und verschloß den summend geöffneten Mund. Ihre Augen fielen vor Kälte wie Quecksilber herab. Auf ihrem Gesicht dicht unter den Backenknochen brannten zwei kreisrunde Flecken. Langsam erhob sie sich und spreizte die Hände krallenhaft seitwärts.
Der Gefreite Bandom fragte sie, nur um schnell in ein Gespräch zu kommen, nach der Art der Pfirsiche, die schon groß und eine Fülle von Saft verheißend aus dem Dunkel des Gebüsches lockten. Sie schüttelte so hastig den Kopf, daß sich die Zöpfe lösten. Sie fielen ihr fast bis in die Kniekehlen herunter und wogen sehr schwer. In elastischem Trotz bog sich der Hals den Zöpfen nach. Beider Gesichter standen kaum handbreit auseinander.
Nun lag alles ein paar Sekunden lang an dem Entschluß gewalttätiger Arme. Jadwiga lauerte aus den schrägen Spalten der Lider, die die Augen nicht sehen ließen. Sie schob sich höherschwebend in die Zehenspitzen und in ihren Mundwinkeln begann ein dunkles Feuchten.
Der Gefreite Bandom fühlte sein Gehirn von einer mächtigen Woge überschwemmt, mit Gewalt hielt er die Hände zurück, die zitternd aufbegehrten, die Schläfen zu zerhämmern.
Eine Türe knarrte plötzlich, und das verwirrte ihn mit einer solchen Macht, daß er zurücktaumelte.
Mit einer maßlosen Wut ließ sich Jadwiga in den Arm eines halbwüchsigen Franzosen fallen, der wunschlos den Garten betrat. Sie hob den Mund zu ihm empor, über den er sich mit einem unverstehenden Kräuseln der Stirn warf.
Es wäre ein leichtes gewesen, den Bengel mit dem Messer zu kitzeln und das Weib in einem aufrasenden Brüllen in die Kammer zu zerren.
Irgendein feines Äderchen platzte in das Bewußtsein der Sinne des Gefreiten Bandom hinein und begehrte: Jadwiga erst tanzen zu sehen. Nackt. Auf dem runden Tisch vor dem Spiegel, wenn ein Dutzend von der Infanterie besoffen unter den Stühlen liegt …
Alles in ihrem Körper war in diesen Sekunden auf solchen Sprung gefaßt.
Der Gefreite Bandom besann sich noch immer; vor seinen Augen blinkte das silberne Amulett, und durch seine Ohren murrten die Worte der Schenkerin wie eine Beschwörung.
Jadwiga lag noch immer in den langsam ermattenden Armen des Franzosen, da der Gefreite Bandom sich zum Gehen anschickte. Sie zischte ihm ein Schimpfwort nach, das den ganzen Abend auf seiner Stirn brannte.
War sie wirklich Beginn und Ende jenes Scheusals, das darzustellen sie sich bemühte? grübelte er.
War darum sie zu sehen ihm jeden Tags Gebot, Aufruf in jeder Stunde?
Ihm war heute, es sei ihm messerscharf ein Keil zwischen die Rippen getrieben.
Aber noch ehe der Feldwebel abends ihn erinnerte mitzugehn, donnerte Alarm durch die Stadt und jagte die Kompanie einige Stunden Marsches in die Stellung.
Fünfmal griffen die Franzosen in dieser Nacht an und jeder Sturm zerschellte schrecklich vor den Verhauen. Danach lag drei Tage lang schweres Minenfeuer auf den Gräben. Die halbe Kompanie flog, in Atome zerstückt, in die Luft. Am vierten Tage, noch ehe die Sonne aus den grauen Schwaden der Ebene aufbrach, griffen die Franzosen abermals an. Diesmal trugen die Schwarzen den Furor der ersten Sturmwellen. Die Kadaver türmten sich bis über die Brustwehr, und als dann Alpenjäger kamen, kaum noch Widerstand wähnten, lag der völlig verschüttete Graben von der Kompanie geräumt. Die Jäger hielten die Eroberung kaum drei Stunden und jagten, ein zerschundenes Drittel, in ihre Ausgangsstollen zurück. Danach war Ruhe.
Als die Kompanie in die Stadt zurückmarschierte und Jadwigas Haus passierte, stand sie faul und mit halboffener Bluse vor dem Zaun und suchte den Feldwebel. Ihr Gesicht wurde eine kubische Plastik aus Kalk, da sie ihn nicht fand, und sie warf die Rose, die schon bereit war in den begehrlichen Händen, dem jungen Leutnant unter das Pferd, daß es erschrocken aufbäumte.
Drei Tage lang sprach im Quartier niemand von Jadwiga. Und die Abende lagen kirchenstill über der Stadt, die ungeheuer gefüllt war mit Sternen und dem Duft der Gärten. Nur aus dem Lazarett herüber scholl in Pausen das Gebrüll eines Menschen im Wundkrampf. Und das Gebalge der vielen Katzen in den Gebüschen schnitt in die Nerven, von dem Gequarr hungriger Bastards in Giebelstuben das schaurige Echo.
Der Gefreite Bandom hatte den Fall Jadwiga aufgegeben. Er warf sich intensiv in eine Fülle von Briefen an Leute, die ihm gleichgültig waren. Sein Anzug wurde ein Muster von scharfen Bürstenstrichen, und an einem Nachmittag, es war gerade Begräbnis mit öligen Predigerworten, entdeckte er Gott zum zweiten Male. Er gelobte sich, ein Neues Testament zu kaufen. Zigarren, die es abends gab, teilte er aus. Präzise neun Uhr streckte er sich auf dem Lager, zuweilen polterte Jadwiga noch durch seine Träume. Ein kalter Umschlag verscheuchte sie bald. Und morgens besaß er Kraft unter den Füßen. Nach dem Exerziervormittag war ein Ereignis, wovon er das ganze Essen hindurch sprechen mußte, zum Tollwerden der Kameraden.
Danach wurde er Unteroffizier. Dies dünkte ihm Gipfel. Sickerte, schwoll und läutete nach, grenzenloses Staunen in seinem Erleben.
Nach ein paar Wochen: Bataillon in Ruhe. Der Sommer kochte unbändig in den Beeren. Auf den Feldern brannte das Korn zu jenem reifen Braun der Ernten. An Mohn und Raden vorbei strich der Unteroffizier Bandom erhobenen Hauptes wie ein Apostel.
Eines Morgens um neun mußte er auf die Kommandantur. In einer Ecke zusammengekauert hockte Jadwiga. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Nur die schwarze Bluse, die ihren Oberkörper entstellte. Es wurde ihm befohlen, Jadwiga nach L... zu transportieren. In einer Stunde. Ordonnanzanzug. Gewehr. Gegen den Stachel Befehl war nicht zu locken. Aber warum das gerade mir, murrte er. Wie gern führe ich: unmöglich jedoch mit dieser Vergangenheit. Wären Gasmasken doch Uniform auch zu solchem Dienst!
Wäre ich doch heute gerade nicht so schwach, wenn ich mich doch bewegen und das Harte doch befühlen konnte, das ich im Gehirn halte, das mich so sehr drückt und ängstigt …
Im Quartier erfuhr niemand von seinem Kommando. Der Tambour lag noch auf der Pritsche und röchelte tief: »Jadwiga!« Der Unteroffizier Bandom schluckte verächtlich: »Auch du?«
Die Straße zum Bahnhof war mit abreisenden Urlaubern gefüllt, da er mit Jadwiga schritt. Schweigsam und niedergesenkt ihr Schreiten. Sie trippelte mit sich, kaum wahrnehmbarer Kampf in Scham und Widersetzlichkeit. Ihn aber beflügelt der von oben grellbesonnte Triumph der Wolken von Westen.
Viele von den reisenden Soldaten drängten sich an Jadwiga heran. Aber niemand fing ihr Gesicht, indem sie den Kopf wie in stechendem Schmerz in ein schweres Wolltuch vergrub. Der Zugführer wies dem Transport ein leeres Abteil an. Tuschelte dem Unteroffizier Bandom, während er Jadwiga einsteigen ließ, irgend etwas Unflätiges zu. In seinen kleinen braunen Augen stand ein gemeines Wissen.
Rasch flogen die Waldparzellen der Außenstadt vorüber. Eine alte Chaussee mit einem steilen Kerzenwuchs von Pappeln lief lange und mit immer schnellerem Fliehn vorüber. Dann kamen nichts als Wiesen voller Rinder in schönen Farben. Zuweilen blitzte Wasser.
Nach einer Weile sah der Unteroffizier Bandom auf Jadwiga, sie krümmte sich in die Fensterecke und senkte rasch das Gesicht, da er es suchte. Mit einer leisen Bewegung der Hand fühlte sie den Gürtel heran und preßte zwei Finger unter die Schließen. Vor Erwartung des Kommenden, in diesem Abteil sich endgültig Vollziehenden mürb. Nervös bis in Zehenspitzen und zum Auflodern heiß.
Der Unteroffizier Bandom blätterte mechanisch in den Transportpapieren. Hatte gewiß keine Untergedanken. Aber Jadwiga beugte sich plötzlich vor mit einer endlosen Spannung in den Augen. Die runden roten Flecke unter den Backenknochen waren sichtbar, in den Haarwellen oberhalb der Schlafen stand leiser Schweiß wie verfrühtes Silber.
Der Unteroffizier Bandom versuchte mit keiner Miene das Entsetzliche der Krankheit preiszugeben, deshalb Jadwiga nach L... mußte. Mit einer ungeheuren Beherrschung des Gehirns versuchte er sein Gesicht zu halten. Seine Augen schmerzten von der Anstrengung, und auf der Stirn drohten die Abgründe der Falten zu bersten. Er fühlte, wie die Maske seines ganzen Äußeren fast Stein wurde, je stärker das Gesicht Jadwigas flammte und zu einer unmenschlichen Grimasse schwoll.
Der Atem aus ihrem Munde zischte ineinander, er fühlte Jadwigas Knie gegen das seine schlagen, unartikulierter Laute einzige Verständigung.
Ein rotes Gewölk tanzte vor seinen Augen, und in diesem Augenblick, da das tropisch riechende Haar ihrer Schläfen seinen Mund streifte, knallte ein Blitz durch sein Gehirn: das vor Schmerz heißer und höher zückende Fleisch dieses Weibes in die Gewalt seiner Arme zu zwingen. Seine Haltung war mit einem Ruck bis aufs äußerste gespannt. Die Hände bewegten sich vipernhaft über die Schenkel, der Kopf flog etwas zurück und drückte die Brust wie einen überstürzenden Felsen heraus. Schreie versammelten sich in der Kehle und drängten nach außen. Von seinen Augen war nur das Weiße sichtbar. Das Gehirn ganz ausgeschaltet. Wahnsinnig tobte das Blut.
Mit einem glühenden Schrei, als hätte sie auf diesen Moment gewartet, warf sich Jadwiga zurück, riß die Bluse blind greifend auseinander und zeigte die von der Krankheit bläulich und grün bepilzten Brüste.
Ihre Augen heulten vor Triumph, da sie den Unteroffizier Bandom taumeln sah. Ein schmaler Streifen Schaum stand auf den Lippen. Alles Leben in diesem Weibe stand in dem verrückt arbeitenden Muskel des Mundes.
Des Unteroffiziers Bandom Kopf rollte schwerfällig nach vorn. Überrumpelt und maßlos beschimpft. Es war seinem Munde in diesem Moment nicht gegeben auszuspeien, was zwischen den Zähnen wie qualmender Eiter schäumte. Die Kehle gurgelte zum Ersticken: der heiße Atem peitschte sich durch das ganze Abteil. Flimmernde Punkte sprangen hin und her. Alles drehte sich, und plötzlich glitt das Gewehr in seine Hände und flatterte und fiel kraftlos auf den Boden.
Jadwiga brauste auf. »Weißt du's nun?« und schob ihm die Brüste mit den wütend pressenden Händen heran, daß sie wie zwei bläuliche Glaskugeln flammten.
Er zögerte noch immer, den Ekel, der ihn würgte, auszuspeien. Das spöttische Ziehen ihrer Mundwinkel besiegte ihn endlich.
Er brüllte wie besessen: »Hure!«
Sie schüttelte den Kopf und krümmte sich in die Ecke zurück. Mit zitternden Fingern, die immer weißer wurden und länger, hakte sie die Bluse wieder zu und strich die Strähnen des verrutschten Haares zurück.
Eine Weile brauste die Landschaft an ihren Augen vorbei und gab ihnen beiden die Sicherheit zu denken.
Der Unteroffizier Bandom begriff in diesen ruhigen Sekunden, wie sehr er gelogen hatte mit dem Willen: Jadwiga aufzugeben, in dem alle Handlung von ihr gebunden war an die Zeit seiner Fäuste.
Langsam begann er sich der Wunde zu freuen, die sie gerissen hatte.
Wie wenig war es doch in diesem Krieg.
Er schoß in die Höhe, als Jadwiga jetzt fließend deutsch sprach mit einem leisen höhnischen Akzent.
Sie war am ganzen Körper ruhig, als sie zu erzählen begann.
Die Geschichte ihres Lebens, beginnend in Prag über Wien, Genf, Paris bis in die Singspielhallen von Charleroi.
Der eindeutige und kalte Intellekt ihrer Sätze befror den Unteroffizier Bandom mit einem furchtbaren Erschauern. Er fühlte, daß nicht die Spur einer Lüge die Sätze verbrämte, und wie sie das Gemeine und Verworfene und das Halbverhaltene, aber rasend Aufkohlende ihres Hasses wider ein Schicksal, das sie stellte, wie in einen Zerrspiegel schob und an der Fratze sich berausche vor Erlösung.
Er wartete auf den Augenblick, da ihre Lider aufbrächen und die Nacktheit des Bekenntnisses vervollständigen müßten und spannte sich in eine atemlose Erregung.
Aber auch diese Lüge lag ihr nicht. Und weil sie sich edel vorkam und groß unter der Last des ungeheuer Durchlebten, weil ihre Erkenntnis sich dahin verknotete, daß sie, von tierisch bestirnten Eltern dazu bestimmt, die höchste Sensation ihres Körpers aufgespart hatte, ganze Geschlechter zu ruinieren in dem Augenblick, da sie Schutz suchten vor der Kugel des Brudermörders, hatte sie das Feuer einer Heiligen in den Augen.
Sie sprach weiter. Doch in keinem Satz gemein von den Soldaten, die das Gift des Körpers empfangen hatten wie eine Hostie. Von der Tobsucht ihres unersättlichen Schoßes sprangen sie weltumwogt in den kurzen Knall der Kugel und starben gern für eine solche ungemeine Stunde.
Der Unteroffizier Bandom hörte eine Viertelstunde lang zu. Jene dunklen Abende kamen ihm wieder, da er alle Huren, die er durchfuhr, zum Weinen brachte und an die Heilsarmee verkaufte. Jadwigas Schicksal aber war doch nicht stark genug, um in die pietistisch getiefte Welt seines Innen zu dringen und Keime zu setzen. Er fühlte es nur wie einen Frost über sein Herz gehen, der gewiß wehe tat, sehr wehe, aber nur der Schmerz einer Oberfläche war. Jadwiga sank vor Erschöpfung um und schloß die Lider, die bläulich geädert waren und maßlos blank. Ihr Kopf lag jetzt so, daß nur ein wenig Licht das Profil traf und die Schärfen milderte. Zehn Jahre wichen von dem Gesicht, so daß es aussah wie das eines anreifenden Kindes aus großen Städten. Die Hände hingen in lebloser Starre mit dünnen Fingern herab.
Der Unteroffizier Bandom zwang sich, diese Hände zu küssen und noch höher hinauf das angewelkte Fleisch des Unterarms. Jadwiga starrte gefühllos. Einmal lief ein Zucken über ihren Mund und schob die Lippen vor.
Der Unteroffizier Bandom verneinte.
Sie fuhren noch zwei Stunden durch Wald und Wiesen und an wohlhabend gespreizten Dächern vorbei. Immer allein in dem Abteil, wie wenn von draußen Kreuze gemalt waren.
Die Sonne bestieg den Mittag und goß Schlaf herab. Aber der Unteroffizier bezwang sich, die Schwäche über sich kommen zu lassen. Grübelte: so kurz vor dem Ziel – vielleicht wird sie noch etwas zu sagen haben. Und ich weiß, ich würde sie laufen lassen, wenn sie darum bäte. Dieser Gedanke preßte ihm das Hirn dunkel und wohltuend zusammen.
»Ich werde dich laufen lassen,« versuchte er zu flüstern. Aber seine Kehle hing voller Angst vor dem: was dann? Wie vermögen wir uns wiederzufinden? Jadwiga lag regungslos in der Ecke. Sein Kampf: was konnte er ihr noch geben? Vor jenen Tagen war noch die Kurve frei, in die Böschungen ihrer Begierden zu entgleisen. Als er aber dann kam auf graden Spuren und mit Volldampf, bedauerte sie seine fabelhafte Blondheil. Überhaupt das erstemal, daß ihr jemand zu zart schien für den Exzeß. Nur darum hatte sie versagt. Nicht seine Tölpelhaftigkeit war der Grund.
Mit einem knarrenden Ruck hielt der Zug. Alles stieg aus. Und als Jadwiga den Bahnsteig betrat, war sie ganz zerfallen und schlich wie ein Weib in den vierziger Jahren.
Die Sonne begrellte vornehme Plätze und den Lustwandel gut angezogener Frauen mit leichten Puderspuren auf den Wangen.
Der Unteroffizier Bandom schritt mit geblendeten Augen, vortastend wie durch einen Tunnel. Die Existenz Jadwigas war ganz aus seinem Bewußtsein geschwunden. Sie folgte ihm aber mit einem kurzen Abstand wie ein ruppiger Hund. Ihre Augen wurden immer glanzvoller, ihr Gesicht gelber und verhutzelter, die Arme schleppten nach, zwei lahme Flügel.
Eine breite Brücke kam über den Strom. Das Wasser lag fast ohne Verkehr, ohne den Farbenton des klaren Sommertages.
Der Unteroffizier blieb an einem gewaltigen Bogen stehn. Merkle jetzt erst, daß ihm ein Befehl die Richtung wies und eine Bürde anvertraut hatte. Er stemmte den Rücken an. Die angehitzte Fläche des Eisens schnitt tief in seinen Körper. Er lehnte sich immer schwerer an und wartete auf Jadwiga, die sich von dem Gitter ziehen ließ.
Sie hatte kaum noch Augen, da sie vor ihm stand, so sehr lag das Haus, von dem sie ahnte, daß es eine Hölle sei, schon in ihrem Gefühl. Bilder von den verrufenen Lazaretten am Montmartre hakten sich in ihr Gehirn. Mit einer, in jenen Häusern Geheilten, hatte sie einmal einen Tag lang zusammengewohnt. Und hatte fliehen müssen vor den gehusteten Erkenntnissen der Dirne.
Der Unteroffizier Bandom litt unter den Schmerzen, die über das Gesicht Jadwigas zuckten. Er überlegte kurz: irgend in ein Café mit ihr zu gehen. Und erst wenn alle Häuser in das Grau der Nacht hinübermündeten, die Kranke abzuliefern. Nur ein wenig Ruhe noch. Hier, mit dem Blick auf das hemmungslos hinfließende Wasser, auf die zierlichen Villenlinien am Ufer, auf den Halbmond des Parks, der mit sauberen Bänken aufbrach.
Jadwiga hatte beide Arme über das Gitter geworfen und ließ die bitteren Laugen ihres Mundes ausfließen.
Der Unteroffizier Bandom sah nur das Profil ihres Gesichts und wie der Mund sich bewegte, als zählten die Lippen jetzt: eins … zwei … ganz langsam.
Er mußte sich umdrehn, so sehr tat ihm die Verlassenheit dieser Seele wehe: »Wenn das Menschenkind doch fortliefe!« knurrte er dutzendmal. Reizte sich, einen vorübergehenden Zivilisten anzusprechen und kam mit ihm in eine intensive Konversation.
Diesen Moment benutzte Jadwiga, um schreielos in den Strom zu springen. Der Unteroffizier Bandom hörte nur den pfeifenden Zug der Röcke. Als er das Geländer berührte, hatte der Strom schon die gelösten Haare nach unten gezogen.
Im Nu war die ganze Brücke ein johlender Haufen. Aber niemand warf sich in den Fluß. Über die Köpfe der Gaffer, mit einem mächtigen Satz sprang der Unteroffizier Bandom in die Stadt und verschwand in den Tumult der Passanten.
Vor einem Tabakladen blieb er stehen und suchte unter den gestapelten Zigarren ein anständiges Format. Und kaufte sich davon ein gutes Dutzend. Paffend, in gewaltigen Zügen, durchschwamm er den Verkehr, bis es dunkelte. Es wurde ihm unbändig schwül bei dem langsamen Gehn. Er knöpfte die Uniform bis zum Koppel auf.
Murrte: dieser beißende Frost auf meinen Schläfen … diese Wassermassen zu durchschwimmen … immer noch nicht die Insel … diese sonderbare Ermattung … habe ich mich angestrengt? Wer setzte dieses Blutegelgezücht mir an? Wer?
Nach wenigen Minuten brannte die Stadt aus einem kühlen weißen Netz von kopflosen Ampeln. Die Fenster der Bazare warfen fabelhafte Strähnen gelben Lichtes auf die angestaubten Trottoirs. In Rudeln strichen die geschminkten Gemsen des Lasters und lispelten Scheu und Jungfräulichkeit. An den Anschlagsäulen, beschienen von Kinoplakaten und Interieurs gelogener Kabaretts kamen sie zu Fall. Die Einkäufer von der Front fielen in hellen Haufen herein.
Der Unteroffizier Bandom bog in eine dunkle Nebengasse, über die ein tiefdunkler sternpunktierter Himmel drückte. Er begann die Brust aus der Weste zu stemmen. Musiken umwehten ihn kühlend. Seine Arme streckten sich nach den Seiten. Er knotete die Hände zusammen, zog die Finger aus, bis sie knackten und schlug sie in ein zufriedenes Pendeln.
Das Ende der Gasse beschien ein Mohnrot, das, näherkommend, ein kleines Lokal beherrschte und die Flügeltüren drehte.
Ohne zu wählen betrat der Unteroffizier Bandom den Raum, warf Flinte und Helm irgendwo in die Ecke und durchtanzte mit einer blonden Hure die Nacht. Da sie, müde gehetzt und von soviel Zerknirschtheit eines Barbaren erschüttert, zu heulen begann, versetzte er ihr einen Fußtritt und warf seinen Brustbeutel nach.
Vor einer halbleeren Flasche stützte er den Kopf und ließ sich von Jadwiga überkommen. Zischte mit überschäumter Lippe: Wie, sie darf nicht bei mir sitzen? Räudig … ausgeliefert jedem Nachttopf … Wie, sie darf nicht tanzen … Jadwiga, wo bist du, Hitzige? Schweißige Jüdin, warum gibst du dich nicht? Wie? Zu zage bin ich? Jadwiga, zu deutsch? Zermalmen will ich dich … setz' dich näher … mit meinen Schenkeln zertanzen will ich dich! Du weinst, Jadwiga? Du weinst …
Im Zwielicht des Dämmerns soff der Unteroffizier Bandom das ganze Gesindel unter den Tisch, skandalierte, stach mit dem Messer und ließ sich willig von der Patrouille abführen.
Man nahm ihm die Hosenträger ab und sperrte eine Zelle auf, die ohne Nagel an der Wand war und kein Fenster hatte.
Er dachte keine Minute nach sich zu entleiben.
Als im Verhör der Beamte nach dem Verbleib der Jadwiga Lemaire fragte, sagte der Unteroffizier Bandom vernehmlich: »Ermordet!«
Man fragte noch einmal, langsam und beherrscht: »Wer?«
Der Unteroffizier Bandom skandierte mit einer irrsinnigen Ruhe: »Ich!«
Und wiederholte diese Aussage, jedes Weitere bestimmt verweigernd, vor dem Kriegsgericht.
Verschickung in ein Irrenhaus lehnten die Richter ab.
In einer Gewitternacht schrie er dreimal: »Jadwiga!«
Die Stimme eines Hahns antwortete dreimal.
Er starb, drei Monate nach seiner Verurteilung, an Blutsturz.
Franzosen verscharrten ihn.
Ich setze ihm dieses Kreuz.