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Gemeinsame Geschichte

»Gemeinsame Geschichte oder trennende«, sagte Fichte mit Recht, »entscheidet über die Bildung zum Volke.« Mit anderen Worten: Das Faktum der gemeinsamen Geschichte ist als ein entscheidendes Gemeinschaftsband der Nation zu betrachten. Unter diesem Begriff »gemeinsame Geschichte« hat man nicht einfach die Ergebnisse der Geschichtsforschung und die Geschichtsdarstellung zu verstehen, wie sie uns durch die zünftige Historiographie dargeboten werden.

Die gemeinsame Geschichte ist viel mehr Gefühl als Wissen, viel mehr praktische Erfahrung als logische Schlußfolgerung. Die wissenschaftliche historische Darstellung liefert uns eine Darstellung von vergangenen Ereignissen in ihrer chronologischen Abfolge und versucht, die großen Zusammenhänge aufzuzeigen, die Ursachen und die Wirkungen, Parallelerscheinungen und Analogien. Die gemeinsame Geschichte ordnet vergangene Ereignisse nicht nach ihrer chronologischen Abfolge. Sie registriert lediglich verschiedene Ereignistypen: Hungersnot, Seuchen, Niederlagen, Okkupation und Unterdrückung, Verfolgung, allgemeine Armut – aber auch die »sieben fetten Jahre«, erfolgreiche Kriegserlebnisse, Wohlstand, Herrendasein. All diese Erlebnistypen, aufgelöst in bezeichnende Episoden, die eine der anderen folgen wie Strophen in einem Lied, Beispiel auf Beispiel für das gleiche Erlebnisthema ohne Rücksicht auf die zeitliche Abfolge.

Aus dieser Registrierung, dieser Aufreihung und dieser Wiederholung von Beispielen ergeben sich starke Wirkungen, die sich in verschiedenen Verhaltungsformen der Masse äußern.

Seit vielen Jahrhunderten kamen z. B. die gefährlichsten Feinde Italiens nicht übers Meer, sondern über die Alpenkämme im Norden. Für die Italiener liegt der Wetterwinkel, die gefährliche Zone im Norden. Das »gemeinsame Geschichtsbewußtsein« der Italiener wird deshalb trotz aller Bemühungen der »Achse« sich niemals ernstlich bedroht fühlen, wenn der Krieg nicht im Norden geführt wird, sondern anderswo. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die für diesen Krieg so lange geschulten italienischen Soldaten sich deshalb so schlecht bewähren, weil sie sich in einen Krieg verwickelt sehen, der ihrem Geschichtsbewußtsein nicht entspricht.

Für die Franzosen kam der Feind – in der Gestalt des Prussien, des Boches, des Nazi – aus dem Nordosten. Er kam dort zweimal im XIX., und bisher zweimal im XX. Jahrhundert. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Tatsachen sich dem gemeinsamen Geschichtsbewußtsein des französischen Volkes tief eingeprägt haben und die wesentliche Grundeinstellung Frankreichs auf weite Sicht stärker beeinflussen werden als jeder auch noch so verlockende Versuch einer Zusammenarbeit mit Deutschland.

Die irische Stellung innerhalb der Ereignisse dieser Jahre ist für den Außenstehenden logisch nicht erklärbar. Der gefühls- und erfahrungsmäßige Inhalt der »gemeinsamen Geschichte« der Iren liefert aber jede Erklärung.

Die Eingliederung Ungarns und Rumäniens in das Bündnissystem der Achse war, weil eine solche Bundesgenossenschaft dem Geschichtsbewußtsein der Ungarn wie der Rumänen extrem widerspricht, nicht imstande, die fast tierhaft instinktive Abneigung zwischen den Angehörigen der beiden Nationen auch nur zu mildern.

Die hochentwickelte politische Propaganda unserer Zeit ist gewiß fähig, Abneigungen, die im gemeinsamen Geschichtsbewußtsein einer Nation begründet sind, zu mildern oder zu verstärken, Sympathien abzuschwächen oder zu vergrößern. Eine Beseitigung vorhandener Gefühle oder gar ihre Umkehrung ins Gegenteil ist bisher nur ganz selten gelungen. Ein Massenvertrauen zwischen Italienern und Deutschen wurde bisher ebensowenig hergestellt wie etwa ein echter Haß unter den Massen des deutschen Volkes gegen viele ihrer Opfer und Kriegsgegner erzeugt werden konnte. Die Kunst der politischen Propaganda bleibt eben darauf beschränkt, vorhandene Gefühle der gemeinsamen Geschichte eines Volkes zu verstärken oder abzuschwächen. Gemeinsame Geschichte als Gefühl ist stärker als Propaganda.

Gemeinsame Geschichte ist, wie wir sagten, mehr im Gefühl als im Wissen begründet. Die zünftige Geschichtsschreibung liefert uns konkrete Berichte über vergangene Ereignisse. Für die gemeinsame Geschichte ist nichts von dem, was sie registriert, schlichtweg vergangen. Sie registriert nichts, was nicht irgendeinen Wert für die Gegenwart und für die Zukunft hätte. Der Inhalt der gemeinsamen Geschichte sind immer Ereignisse, die in der Gegenwart warnend oder aneifernd nachklingen. Sie ist das, was Jakob Burckhardt die »aufsummierte Vergangenheit« nannte.

Der nationale Charakter der gemeinsamen Geschichte liegt in der Tatsache, daß sie mit Sicherheit annimmt, daß das, was sie zu berichten weiß, vom Angehörigen des gleichen Sprachkreises, von dem Bewohner des gleichen Landes, das man selbst als Heimat empfindet, vom Angehörigen des gleichen Religionsbekenntnisses, kurz vom »Vorfahren«, in irgendeinem Sinn gestaltet und erlitten worden ist.

Aus diesem Glauben – ob er durch historische Realitäten belegt werden kann oder nicht, ist gleichgültig – wächst ein Teil jener mächtigen Kraft, die die Angehörigen einer Nation zusammenhält. Aus ihm entsteht das Gefühl »avoir fait des grandes choses ensemble«, dem das bedeutsame »et en vouloir faire encore« folgt, die »condition essentielle pour être un peuple«, wie Ernest Renan es ausdrückt.

Den Einfluß, den die zünftige Geschichtsschreibung auf die Massen genommen hat, soll man nicht überschätzen, man soll im Gegenteil sich immer dessen bewußt sein, daß die historische Wissenschaft von den Gefühlswerten des »gemeinsamen Geschichtsbewußtseins« stark beeinflußt ist.

Es ist allgemein bekannt, daß Augenzeugen irgendeines Ereignisses, z. B. eines Unfalls, das, was sie sicher völlig gleichartig gesehen haben, verschieden darstellen, wenn sie später darüber befragt werden. Jeder Richter weiß, wie weit die Verschiedenheit solcher Zeugendarstellungen, denen die bona fide nicht abzusprechen ist, gehen kann. Noch viel unklarer und verwirrter muß die Darstellung sein, wenn man nicht Aussagen von Augenzeugen heranziehen kann, sondern Berichte aus zweiter und dritter Hand verwenden muß, um ein Ereignis zu rekonstruieren. Das ist die Lage, in der sich der Geschichtsschreiber rein sachlich gesehen immer befindet. Geschichtsschreibung ist nicht immer sachlich. Geschichtsschreiber sind: leidenschaftliche, temperamentvolle Menschen, die an ihren sachlichen Werkstoff mit zwei Werkzeugen, Sympathie und Antipathie, herangehen.

Wenn wir, von unseren Geschichtsschreibern angeleitet, in die Vergangenheit schauen, so sehen wir sie meist durch die schiefen Linsen der Sympathie oder Antipathie, die uns dabei vor die Augen gehalten werden. Die geschriebene Geschichte erzieht meist nicht objektive Beobachter. Sie erzieht Anhänger und Gegner. »L'histoire est devenue chez nous une sorte de guerre civile en permanence«, sagte Fustel de Coulanges einmal.

Dieser Bürgerkrieg erneuert sich von Generation zu Generation. Man möchte glauben, daß die verschiedenen Epochen der Geschichte, die uns so oft dargestellt worden sind, einmal keiner Darstellung mehr bedürfen. Einmal müßte alles, was über jede einzelne dieser Epochen zu sagen ist, gesagt sein. Das ist aber nicht so. Jede Generation hat das Bedürfnis, ihre Geschichte neu zu schreiben. Jede Generation wünscht sich und erhält – aller exakten Forschung zum Trotz – ein neues Bild der Vergangenheit, in das die Konflikte ihrer Zeit hineinprojiziert sind. Es gibt, so besehen, auch für die exakte Geschichtsschreibung selten eine Vergangenheit, wie sie wirklich war, sondern nur eine Vergangenheit, die für die Kinder jeder Generation am angenehmsten, am verständlichsten oder am aufregendsten ist.

Damit ist gesagt, daß die Grenzen der gefühlsmäßigen gemeinsamen Geschichte auch weit in die Historiographie hineinreichen.

Die gemeinsame Geschichte als aufsummierte Vergangenheit hält sich, wie wir schon andeuteten, nicht an die Grenzen, die einer nationalen Geschichte im wissenschaftlichen Sinn gezogen sind. Sie verwertet und konserviert das, was sie irgendwie braucht, auch wenn die Ereignisse, um die es sich handelt, außerhalb des nationalen Rahmens liegen oder nur einen kleinen Teil der Nation betroffen haben. Die Geschichte des deutschen Volkes z. B. ist ein fast unentwirrbares Ineinander und Nebeneinander verschiedener Nationalgeschichten. Die österreichische Geschichte hat mit der preußischen Geschichte fast nichts Gemeinsames. Dabei besteht zwischen Österreichern und Deutschen eine Sprachgemeinschaft, aus der manche Gemeinschaften anderer Art folgten. Die tschechische Nationalgeschichte spielt durch viele Jahrhunderte im Rahmen der deutschen Reichsgeschichte, weil die Länder der Wenzelskrone Bestandteil des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« waren. Dabei besteht zwischen den Tschechen und den Deutschen nicht nur keine Sprachgemeinschaft, sondern ein tiefgehender Gegensatz verschiedentlicher Beziehung.

Die slowakische Geschichte ist durch viele Jahrhunderte ungarische Geschichte gewesen, weil die Slowakei ein Bestandteil der Stefanskrone war. Zwischen Magyaren und Slowaken besteht keine Sprachgemeinschaft, auch keine Kulturgemeinschaft. Beides ist aber zwischen Tschechen und Slowaken vorhanden. Die kroatische Geschichte war durch mehr als neunhundert Jahre ungarische Geschichte. Es gab also eine Schicksalsgemeinschaft zwischen Magyaren und Kroaten, obwohl die Kroaten eine Sprachgemeinschaft (wenn auch keine Kulturgemeinschaft) mit den Serben besitzen.

Die serbische Geschichte spielte sich ihrerseits zwischen dem XIV. und XIX. Jahrhundert im Rahmen der Geschichte des Osmanischen Reiches ab. Diese Zugehörigkeit zur Welt des Islams unterbrach nicht die Kulturgemeinschaft der byzantinischen (orthodoxen) Kirche, in deren Rahmen nicht nur alle Völker des Balkans, sondern auch der Großteil der Völker Rußlands lebten.

Die spanische Geschichte war durch siebenhundert Jahre mehr oder weniger Bestandteil der Geschichte des maurischen Reiches.

Die Grenzen der gemeinsamen Geschichte sind, wie man sieht, weder mit den Grenzen der Staaten noch mit denen der Sprachgemeinschaften identisch. Die »aufsummierte gemeinsame Erfahrung« ist ein besonderes Ding. Sie verschwindet niemals oder nur nach sehr großen Zeiträumen. Den Engländern ist es nie gelungen, die »Schicksalsgemeinschaft« der Iren, ihre »aufsummierte gemeinsame Erinnerung« aufzulösen oder in einem gemeinsamen englischen Geschichtsbewußtsein zu absorbieren. Die Slowaken haben unter ungarischer Herrschaft nie aufgehört, Slowaken zu sein, wie die Kroaten unter der gleichen Herrschaft nie aufgehört haben, Kroaten zu sein – obwohl das sicherlich nicht sehr einfach war.

Und auf der anderen Seite sind die Österreicher durch das Erlebnis eigener Geschichte Österreicher geworden und sind trotz gemeinsamer Sprache aus einem gemeindeutschen Nationalverband ausgeschieden, wie die deutschen Schweizer, die auch trotz Sprachgemeinschaft auf der Basis eigener Geschichte zu einem nationalen Eigenleben gelangt sind. Ähnliches gilt für die Dänen und die Norweger: eine Sprache – zwei Nationen.

Um mehr Klarheit über das Phänomen zu gewinnen, muß man einen Blick auf die Art seiner Entstehung werfen. Wir haben früher festgestellt, daß es Nationen erst seit relativ kurzer Zeit gibt. Die Feststellung erlaubt uns aber nicht, das Material außer acht zu lassen, aus dem sie entstehen, das rohe Holz, aus dem ihre kunstvolle Form geschnitzt ist.

Der Urkeim jeder Nation lag, lange bevor der Zustand der Handlungsfähigkeit erreicht war, durch lange Zeiten im Mutterschoß anderer Gemeinschaften. In dieser »pränatalen« Zeit spricht man von ethnischen Gruppen, von Sprachgemeinschaften, von Sippen, Stämmen. Aus dieser Zeit ist kaum eine Spur von Erfahrungen übriggeblieben. Alles, was aus dieser Zeit stammt, gehört in die Kategorie des Legendären, Semireligiösen, Mythischen. Es gibt keine Erinnerung konkreter Art. Alles ist mit dem Mantel des Geheimnisses umhüllt. Und das ist ganz natürlich. Auch keines Menschen Erinnerung reicht in jene geheimnisvollen Tage zurück, in denen er keimend und wachsend im Mutterleib lag. Erst mit dem großen Feuerakt der Verwirklichung beginnt das Leben, das sich in schmerzhafter Entbindung von einem Vorherigen, Früheren ablöst. Erst nach dieser Befreiung beginnen sich Ereignisse einer ersten nationalen Erinnerung einzuprägen.

Das erste Handeln einer Nation besteht in der Ausbildung einer eigenen Elite. Ohne Elite gibt es keine Nation. Die ersten Eliten geben dem vorher bedeutungslosen Allgemeincharakter, Zustandscharakter einer Gruppe von Menschen das Gefühl der Zusammengehörigkeit durch die Werbung für eine gemeinsame Aktion, durch die Durchführung einer gemeinsamen Aktion.

Wie entstehen eigene Eliten? Sie entstehen immer als Folge eines Gefühles des Andersseins. Dieses Gefühl des Andersseins ist aber noch keine gestaltende Kraft an sich. Das Gefühl wird zur Kraft dadurch, daß das Anderssein, zu dem man verurteilt oder mit dem man begnadet ist, zugleich als ein »Geringer-Sein«, ein »Schlechter-Sein« empfunden wird. Aus der Erkenntnis des Anders- und zugleich Geringerseins muß notwendigerweise das Bedürfnis nach »Gleichsein«, »Gleichgeachtetwerden«, »Gleichberechtigtsein« fließen.

Die erste Handlung jeder werdenden Nation ist daher eine Aktion, die Gleichberechtigung anstrebt. Im Kampf um diese Gleichberechtigung kann man in der Geschichte jeder Nation drei verschiedene Aktionsetappen feststellen:

1. Aktion zur Erreichung der Toleranz der bloßen Existenz,

2. Aktion zur Erreichung der vollen Gleichberechtigung innerhalb eines größeren Gemeinschaftskörpers und

3. Aktion zur Erreichung der vollen Souveränität.

Zur Zeit des Bischofs Clain, von dem hier schon die Rede war, wurde seiner kaiserlichen Majestät in Wien ein »blutfließendes, kniefälliges Bitten der mit der wahren römisch-katholischen Kirche vereinigten siebenbürgisch-walachischen Cleri und nationis um Ansehung der invermeldeten blutigen Bitten« zu Füßen gelegt. Das ist die Sprache der ersten Etappe.

Die Erlaubnis zum Gebrauch der Muttersprache in Kirche und Schule, auch in Ämtern und vor Gericht, die Erlaubnis zur Organisation kultureller und wirtschaftlicher Vereine, die Herausgabe von Druckschriften in der eigenen Sprache ist das, was in der zweiten Etappe angestrebt wird.

In der dritten Etappe geht man von der Bitte zur Forderung über. Man fordert die volle Autonomie für alle in der zweiten Etappe geschaffenen Institutionen. Die volle freie Selbstverwaltung der Einrichtungen der Nation und das Recht der Selbstbestimmung über alle Angelegenheiten, die die Angehörigen der Nation betreffen. Die Nation will die Freiheit vom Zwang der großen Gemeinschaft, in deren Rahmen sie gelebt hat, um sich selbst zu führen oder um sich unter die Herrschaft ihrer eigenen Eliten zu begeben.

Aus diesen drei Etappen der nationalen Entwicklung stammen die ersten konkreten gemeinsamen Erinnerungen einer Nation, aus denen sich im Verlaufe sehr langer Zeiträume die Kraft der »aufsummierten gemeinsamen Erinnerung« ergibt, das in der Gegenwart wirkende und in die Zukunft weisende Phänomen der gemeinsamen Geschichte.


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