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Im Besitz gemeinsamer Sitten und Gebräuche ist vielleicht das älteste Merkmal einer Nation zu suchen: ihr Unterbewußtsein, die tiefen, geheimnisvollen Gewässer, auf deren Gefälle die winzigen Lichter der Generationen dahingleiten, einige wenige vorerst, große Schwärme später und am Ende dann wieder nur ganz wenige. Aus den dunklen Tiefen frühester Überlieferung erheben sich hauchdünne Nebel und verwandeln die Luft der großen Welt über den Grenzen einer Nation in eine ganz spezielle, einmalige Atmosphäre, die von der Gemeinschaft über alles geliebt wird und an der sich die Mitglieder einer Nation in der ganzen Welt erkennen.
Die Sitten und Gebräuche einer Nation sind aus der gemeinsamen Abstammung, dem gemeinsamen Charakter, der gemeinsamen Geschichte und Religion und allen übrigen Merkmalen einer Nation entstanden. In ihnen lebt das dunkle Erbe der Vorfahren weiter, das Vermächtnis des Blutes und darüber hinaus das Erbe all der Völker, die jemals dieses Stück Land bewohnt hatten. In ihnen ist die Erinnerung an eine Vergangenheit lebendig, von welcher der berufsmäßige Geschichtschreiber keine Vorstellung hat: Wanderungen, Naturereignisse, persönliche Schicksale, Alltägliches und das »Immer-Wieder« des unentrinnbaren Pfades zwischen Wiege und Grab, zwischen Frühling und Winter, Reichtum und Not und Krieg und Frieden, aber auch Erinnerungen an das einmalige des Wunders und des Zufalls.
Sitten und Gebräuche haben ihren Ursprung in der geschichtlichen Zeit und auch in der Vorgeschichte. Sie sind der Hausrat im Hause des Lebens, das seit undenklichen Zeiten von undenklich vielen Generationen betreten und wieder verlassen worden ist. Sie sind die ungeschriebene Bibel der Völker, nach deren Lehre und Rat Betragen und Umgang mit anderen Menschen geregelt werden muß. Die Sitte ist es, die dies als recht und jenes als falsch erklärt, auch wenn die Gesetzesbücher des Staates, in dem man lebt, anders urteilen. Der Brauch will es, daß diese oder jene Speise so und nicht anders zubereitet werde und daß man, will man nicht unliebsam auffallen, sich so und gewiß nicht anders kleide. Man glaube nicht, daß die moderne Konfektion in ihrer Gleichförmigkeit der Männerkleidung und ihrer internationalen Damenmode imstande wäre, solche Eigenheiten auszulöschen. Mit einiger Übung kann jedermann ohne weiteres einen Italiener, Deutschen, Amerikaner oder Engländer an seiner Kleidung erkennen. Man erkennt ihn an der Art des Schnittes, den er wählt, den Schuhen, die er bevorzugt, an seiner Krawatte oder seinem Hemd. Abgesehen vom Hauptzweck, zu verhüllen und gegen die Elemente zu schützen, dient die Kleidung dem weiteren Zweck, das Aussehen des Menschen zu verbessern. Aus der Erkenntnis dessen, was verbessert oder unterstrichen und dem, was abschwächt oder verhüllt wird, lassen sich leicht Schlüsse auf das Vorhandensein gemeinsamer Wünsche, Sehnsüchte und Schwächen ziehen. Die Kostümgeschichte liefert nicht allein wichtige Hinweise auf den Zeitgeist, sie gibt auch wertvolle Auskunft über den Nationalcharakter im Spiegel der Mode.
Wir sagten, daß gemeinsame Sitten und Gebräuche gewissermaßen den Hausrat der Nation bilden, und das will heißen, daß Tradition und Heimat aufs engste miteinander verbunden sind. In ihnen spiegelt sich die Lebensweise eines bestimmten Landstrichs mit seinen topographischen und klimatischen Verhältnissen, seinen in der Gegend verwurzelten Traditionen und der Bodensatz, den der Strom der sich wandelnden Sprache und umherziehender Völker zurückgelassen hat. Der aufmerksame Beobachter wird bemerken, daß gemeinsame Sitten und Gebräuche sowohl vom kleineren Bereich, in dem der in der Erde Verwurzelte lebt, als auch von dem größeren der Sprachgemeinschaft umgrenzt sind.
So wie Hausrat sich zumeist aus zu verschiedenen Zeiten erworbenen Stücken zusammensetzt, so ist es auch mit den Sitten und Gebräuchen: Vieles ist verlorengegangen, vieles dazugekommen. Aber das Ganze wird durch Wechsel und Tausch nur noch einmaliger, noch persönlicher, noch unnachahmlicher.
Sitten und Gebräuche sind die Statuten, nach denen eine Nation sich richtet und agiert und an der Werkbank ihres Kulturkreises wirkt. Sie sind der »genius loci« in den Heimaten der Völker, die Umrisse im Bilde des Allgemeincharakters einer Nation, die Grundtönung, nach der Licht und Schatten des Charakters ihrer Eliten gemalt werden, aufgesetzt werden. Sie sind das Produkt der aufgesammelten Erinnerungen gemeinsamer Geschichte. Aber in ihnen liegt nicht der Ursprung der Ersatzreligionen, wie man glauben möchte. Ihre Gesetze und Verhaltensmaßregeln sind nicht »mystischen« Ursprungs, wie oft behauptet wird, aber sie sind in ihrem Verhältnis zur Religion sowohl die Hausaltäre bestehender als auch die Ruinen zerstörter Religionen, die wie Überreste von Mauerwerk vergangener Zeiten inmitten moderner Städte erhalten und behütet werden. Ihr Verhältnis zur Sprache ist dasselbe wie das zwischen Radio und dem gesprochenen Wort: Sie verdanken ihr Dasein der Sprache. Der Staat hat keinen Einfluß auf sie. Er kann als Wahrer des Rechts höchstens im Verlauf schier endloser Zeit auf sie einwirken.
Sitten und Gebräuche sind, aus einer langen gemeinsamen Vergangenheit hervorgegangen und an den »genius loci« gebunden, Vorbilder für das Verhalten einer Nation, und durch sie unterscheidet sich eine Nation von der anderen.
Die großen Massenwanderungen der Neuzeit, die einen unaufhörlichen Wechsel in der Bevölkerung der von ihnen betroffenen Landstriche verursachen, bringen nicht, wie oft angenommen wird, eine Nivellierung der Sitten und Gebräuche im internationalen Sinn mit sich. Es hat sich gezeigt, daß sich Immigranten sehr rasch den »Landessitten« anpassen und sich diese zu eigen machen. Selbst Gruppen, die sich jeder Tradition widersetzen, leben, genau besehen, in Einklang mit den Gepflogenheiten des Landes und passen sich seinen Bräuchen an. Sich der Landessitte, sei es in Kleidung, Benehmen usw., zu widersetzen, wird in der ganzen Welt als ungehörig angesehen. Sitten und Gebräuche sind das Hausrecht der Völker, dem sich Wirt und Gast gleichermaßen fügen müssen. Wer es nicht tut, hebt damit nicht die Sitten auf; er macht sich damit lediglich zum Kandidaten, früher oder später aber sicher aus der Gemeinde, deren Lebensart er durch taktloses Benehmen verletzt hat, ausgestoßen zu werden.