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Einleitung

Die Gesamtbevölkerung der fünf boroughs von New York City und der Staaten Connecticut, Rhode-Island und Maine entspricht etwa der Zahl der Toten, die auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges gestorben sind.

Dazu wurden mehr als zwanzig Millionen Menschen verwundet. Die Riesenarmeen derer, die der erste Weltkrieg um ihre Heimat und ihre Existenz gebracht hat, wurden nie gezählt.

Was dieser zweite Weltkrieg an Opfern gekostet haben wird, wenn einmal der Donner seines letzten Geschützes, die Explosion seiner letzten Bombe verhallt sein wird, wissen wir nicht.

Die Massen der Geknechteten, der Vertriebenen, der Hungernden und der Verzweifelten ist heute schon zu einer unabsehbaren Dimension angewachsen.

Wenn dieses Opfer der Menschheit, die innerhalb von fünfundzwanzig Jahren zweimal ihre strahlende Jugend dem Tode preisgibt, irgendeinen Sinn haben kann, so ist es der, daß der Erfolg des Ringens ein Frieden für viele Generationen wird.

Wenn es nicht gelingen sollte, nach diesem Krieg einen Damm des Friedens aufzurichten, an dem sich die Stürme und die Krisen wenigstens eines Jahrhunderts brechen müssen, wird die letzte Gelegenheit zur Rettung dessen, was wir unsere Kulturwelt oder unsere Zivilisation nennen, vorüber sein. Die Welt, in der wir leben, wird dahinsterben wie einst die Metropolen der alten Kulturen des Vorderen Orients und des südlichen Europas dahingestorben sind.

Ein dauernder Frieden ist nicht möglich, wenn man die Ursachen des Krieges nicht kennt. Man kann keine Krankheit wirklich heilen, wenn man ihre Veranlassung nicht genau kennt.

Wenn man nach der Veranlassung der großen Kriege unserer Zeit fragt, so wird man sehr oft – und mit Recht – die Antwort hören: »Es war der Nationalismus, der die Brandfackel des Streites zwischen die Menschen geworfen hat.«

Die Kriege unserer Zeit gehen um die Rechte der Nationen, ihr Recht der Selbstbestimmung, ihr Recht auf eigene Staaten, ihr Recht auf Lebensraum, ihr Recht auf Kolonien, Rohstoffe.

Die Bausteine, aus denen sich die Welt unserer Zeit aufbaut, heißen »Nationen«. Der moderne Staatsmann, der Volkswirt, der Kulturpolitiker, sie alle denken und rechnen mit »Nationen«, nicht anders wie ein Stratege mit Regimentern oder Divisionen rechnet und agiert.

Unsere Zeit spricht von Nationen, rechnet in ihrer Politik mit Nationen, ihre Weltgeschichte baut sich auf Nationen auf – aber sie weiß nur sehr ungenau, was eine Nation ist.

Die besondere Gefährlichkeit dieses Zustandes liegt darin, daß es bisher sehr wenigen Menschen zum Bewußtsein gekommen ist, daß der Begriff »Nation«, den sie so oft im Munde führen und mit dem die brüchigen Kunstbauten der modernen politischen Welt aufgerichtet werden, ein überaus vieldeutiger und deshalb unklarer ist. Die meisten Menschen glauben, sie wüßten, was eine Nation sei. Sie gehen mit dem Begriff jedenfalls so um, als wüßten sie es.

Es ist falsch, zu glauben, daß eine Nation nichts anderes sei als die Bevölkerung eines Staates.

Der Staat ist eine Einrichtung, eine Rechts- oder Herrschaftsform. Diejenigen, die innerhalb dieser Einrichtung oder Herrschaftsform leben, sind deshalb, weil sie das tun, noch keine Nation. Sie sind in ihrer Gesamtheit lediglich die Summe aller Staatsangehörigen, das Staatsvolk, aber keine Nation.

Es ist falsch, zu glauben, daß alle Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, eine Nation seien. Die Sprache ist ein Verständigungsmittel, sie ist das Gefäß, in dem und durch das Kulturgut und Wissen zusammengehalten, aufgesammelt und vermittelt wird. In einem Sprachkreis vermögen viele Staaten und viele Nationen zu leben. Die Engländer und die Nordamerikaner, die Dänen und die Norweger, die Spanier und die Zugehörigen der lateinamerikanischen Nationen, die Portugiesen und die Brasilianer, die Serben und die Kroaten (um nur einige Beispiele zu nennen) sprechen dieselbe Sprache. Gehören sie deshalb ein und derselben Nation an? Die Sprache bewahrt die wichtigsten und wesentlichsten Teile des geistigen Lebens einer Nation, sie ist gewiß eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten, die die Angehörigen einer Nation besitzen. Aber die Zugehörigkeit zu einem Sprachkörper muß noch nicht aussagen, welcher Nation man angehört.

Es ist völlig falsch, zu glauben, daß die gemeinsame Abstammung oder eine Rassengemeinschaft das entscheidende Merkmal einer Nation seien. Alle großen und die meisten kleinen Völker unserer Zeit sind bunte Mischungen von Menschen vieler Rassen, aus vielen ethnischen Gruppen und Sprachkreisen; keine Nation unserer Zeit aber ist eine geschlossene ethnische Einheit. Es ist möglich, daß große Massen von Menschen ein gemeinsames Rassenideal haben, das heißt, daß sie so sein möchten wie ein gewisser Menschentyp, in den sie alles hineindichten, was ihnen abgeht. Große Völker können sich unter einem bestimmten Eindruck geradezu darauf verlegen, anders sein zu wollen, als sie es sind, und können dazu gebracht werden, einen bestimmten Rassentyp darstellen zu wollen. So wie ein Schauspieler einen erdichteten Menschentyp darzustellen versucht. Aber diese Masse von Schauspielern eines Rassenideals ist deshalb noch keine Abstammungsgemeinschaft, keine ethnische Einheit und schon gar nicht eine Nation. Ebensowenig wie ein bestimmter Schauspieler Hamlet ist oder Othello, oder eine bestimmte Schauspielerin Maria Stuart oder Lady Macbeth.

Es ist falsch, zu glauben, daß gemeinsame Geschichte, gleiche Sitten und Gebräuche für sich die Nation ausmachen. Die Menschen, die einen relativ gleichen Charakter, einen gemeinsamen Nationalcharakter besitzen, sind deshalb noch ebensowenig eine Nation wie diejenigen, die innerhalb ein und derselben Wirtschaftseinheit leben und damit die Angehörigen ein und derselben »Nationalwirtschaft« sind.

Die Nation ist eine Gemeinschaft von Menschen, die weit umfassender, vielseitiger und auch komplizierter ist.

Das, was die Menschen, die eine Nation bilden, zusammenhält, sind Gemeinsamkeiten oder Merkmale verschiedenster Art: Es gibt Gemeinsamkeiten, in die man hineingeboren wird, wie die ethnische Gemeinschaft, die Sprachgemeinschaft u. a. Und es gibt Gemeinsamkeiten, in die man – wenigstens theoretisch – durch einen freien Entschluß eintreten kann, wie die Gemeinsamkeit des Staates, der Wirtschaft, des Territoriums usw.

Eine Nation ist niemals durch die Tatsache des Auftretens eines einzelnen Gemeinschaftsmerkmales vorhanden. Es braucht immer mehrere Verbindungsglieder, damit aus einer Gruppe von Menschen eine Nation wird.

Die Gemeinschaft des Staates allein macht es, wie wir gesehen haben, noch nicht aus. Aus einer Staatsgemeinschaft wird eine Nation erst dann, wenn außer dem Staat noch andere Gemeinsamkeitsmerkmale unter der Bevölkerung vorhanden sind. Die Gemeinsamkeit der Sprache reicht, wie wir weiters gesehen haben, für sich auch noch nicht aus, um aus den Angehörigen eines Sprachkreises eine Nation zu bilden. Auch wenn Staatsgemeinschaft und Sprachgemeinschaft vorhanden sind, ergibt das noch keine Nation. Die Kroaten und die Serben z. B. sind im gemeinsamen jugoslawischen Staatswesen sprachgleich – aber beide Völker beanspruchen für sich, je eine eigene Nation zu sein.

Um eine Nation zu bilden, braucht es mehr. Es sind immer mehrere Gemeinsamkeitsmerkmale notwendig. Aber nicht alle Nationen haben dieselben Gemeinsamkeiten. Sehr wenige Nationen besitzen die gleichen Gemeinsamkeitsmerkmale, und wenn dieser Fall eintritt, daß zwei oder mehrere Nationen die gleiche Zahl und die gleiche Art von Gemeinsamkeitsmerkmalen besitzen, so sind diese einzelnen Merkmale in verschiedener Intensität vertreten bzw. in einer anderen Wertordnung vorhanden. Keine Nation ist ebenso wie eine zweite.

Das hat, abgesehen von der Verschiedenheit der Gemeinsamkeitsmerkmale und der Verschiedenheit der Wirkungsintensität dieser Merkmale, noch den weiteren Grund darin, daß die Nation als ein innerhalb der Zeit liegendes Phänomen sich wie alle zeitlich gebundenen Erscheinungen mit dem Zeitablauf verändert. Jede Nation hat ihr eigenes Lebensalter, durch das sie sich auch, um es so auszudrücken, generationsmäßig von allen anderen Nationen unterscheidet.

Das Wesen der Nationen in ihrem Innersten zu erkennen, das was sie trennt und das, was ihnen gemeinsam ist, festzustellen und die richtigen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen, ist die erste Aufgabe, die die Menschen, denen es um die Rettung unserer Welt zu tun ist, zu lösen haben.


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