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Zweites Kapitel

Als Frau Josserand, ihre Töchter voran, die Abendgesellschaft bei Frau Dambreville verließ – die im vierten Stockwerk eines Hauses der Rivoli-Straße an der Ecke der Oratoriumsstraße wohnte – warf sie in einem plötzlichen Ausbruch ihres seit zwei Stunden zurückgehaltenen Zornes die Haustüre wütend zu. Berta, ihre jüngere Tochter, hatte wieder einmal eine Partie verfehlt.

Nun, was macht ihr da, rief sie zornig ihren Töchtern zu, die unter der Torwölbung stehen geblieben waren und den vorüberfahrenden Droschken nachblickten. So geht doch!... Glaubt ihr gar, daß ich eine Droschke nehmen werde... Um noch weitere zwei Franken auszugeben, was?

Das wird hübsch werden bei dem Schmutz, meinte Hortense, die ältere Tochter. Meine Schuhe werden es kaum überstehen.

Vorwärts! rief die Mutter wütend. Wenn ihr keine Schuhe mehr habt, bleibt ihr im Bett, – damit ist es gut. Was nützt es auch, daß man euch unter die Leute führt?!

Berta und Hortense ließen die Köpfe hängen und wandten sich der Oratoriumsstraße zu; sie hoben ihre langen Röcke so hoch über ihre Krinolinen, wie es möglich war und gingen mit eingezogenen Schultern, fröstelnd unter ihren dünnen Mantillen dahin. Hinter ihnen kam Frau Josserand, eingehüllt in einen alten Pelz von abgetragenem Grauwerk. Alle drei waren ohne Hüte, das Haar bedeckt mit einem Spitzenschleier, einer Haartracht, die bewirkt, daß die wenigen Fußgänger, die in so vorgerückter Abendstunde heimkehrten, sich überrascht umwandten, um diesen Damen nachzublicken, welche die Häuser entlang, eine hinter der andern, mit gekrümmtem Rücken sorgfältig dem Schmutz auszuweichen suchten und dahineilten. Die Erbitterung der Mutter stieg noch, wenn ihr einfiel, wie oft sie seit drei Jahren in ähnlicher Weise den Heimweg angetreten hatten mit zerknitterten Toiletten durch den Morast der Straßen, verhöhnt von verspäteten Lümmeln. Nein! Sie hatte jetzt entschieden genug davon, ihre Töchter in allen vier Enden von Paris herumzuschleppen, ohne sich eine Droschke gönnen zu dürfen, aus Furcht, sich am folgenden Tage eine Speise beim Essen absparen zu müssen.

Und das bringt Heiratspartien zusammen, sagte sie laut, von Frau Dambreville mit sich selber sprechend, gleichsam um sich zu trösten, während ihre Töchter, von ihr fast unbeachtet, in die Honoriusstraße einbogen. Saubere Partien übrigens! Eine Schar Zieraffen, die, Gott weiß woher, zu ihr kommen. Ach, wenn man nicht gezwungen wäre! ... Da ist zum Beispiel ihr neuester Erfolg, diese junge Frau, mit der sie prunkte, gleichsam um uns zu zeigen, daß es nicht immer fehlschlägt ein sauberes Exemplar, ein unglückliches Kind, das nach einem Fehltritt, den es begangen, wieder auf sechs Monate ins Kloster gesteckt werden mußte, um frisch gebleicht zu werden.

Als die Mädchen über den Königsplatz gingen, entlud sich ein Platzregen. Das gab ihnen den Rest. Bei jedem Schritte ausgleitend, völlig durchnäßt, blieben sie wieder stehen und blickten den Droschken nach, die leer vorbeifuhren.

Vorwärts! schrie die Mutter unbarmherzig. Wir sind ja jetzt ganz nahe zu Hause, es lohnt nicht mehr die Mühe, vierzig Sous zu bezahlen. Euer Bruder Leo ist auch ein sauberer Filz! Aus Furcht, den Wagen bezahlen zu müssen, hat er sich geweigert, mit uns zu kommen. Wenn er bei dieser Dame findet, was er sucht – umso besser! Aber sauber scheint mir die Sache nicht. Eine Frau über die Fünfzig, die nur junge Leute empfängt! Eine ehemalige Nichtsnutzige, die irgendeine hohe Persönlichkeit mit diesem Schwachkopf Dambreville verheiratet und ihn dafür zum Bürochef gemacht hat.

Hortense und Berta trabten im Regen hintereinander her und schienen nichts von all dem zu hören. Wenn ihre Mutter sich in solcher Weise das Herz erleichterte, alle Rücksichten außer acht lassend, der schönen Erziehung vergessend, die sie ihnen zu geben meinte, dann waren sie gewohnt, taub zu sein. In der finstern und öden Leitergasse verlor Berta endlich die Geduld.

Nein, das ist nett! Jetzt verliere ich einen Schuhabsatz! ... Ich kann nicht weiter!

Frau Josserand ward schrecklich.

Wollt ihr wohl gehen! ... Hört ihr mich klagen? ... Paßt es mir, zu solcher Stunde und bei solchem Wetter in den Straßen umherzupatschen? ... Ja, wenn ihr einen Vater hättet wie andere Väter! Aber nein, der Herr bleibt zu Hause, um der Ruhe zu pflegen. Immer habe ich das Vergnügen, euch in Gesellschaft zu führen; er will nichts davon wissen. Ich erkläre euch, daß ich es satt habe bis an den Hals. Euer Vater soll mit euch gehen, wenn er will. Ich habe keine Lust, Häuser zu besuchen, wo ich nur Gift und Galle bekomme! ... Soll ich auch das nicht von diesem Manne haben können, der mich über seine Fähigkeiten getäuscht hat? ... Nein, den würde ich auch nicht wieder zum Manne nehmen, wenn ich von vorne anfangen sollte.

Die jungen Mädchen widersprachen nicht mehr. Sie kannten zur Genüge dieses unversiegbare Kapitel über die zerstörten Hoffnungen ihrer Mutter. Die Spitzenschleier klebten durchnäßt an ihren Gesichtern, die Schuhe waren voll Wasser – so gingen sie schweigend die Annenstraße entlang. In der Choiseul-Straße sollte vor ihrem Hause Frau Josserand eine letzte Demütigung erfahren: da ward sie von dem Wagen der Familie Duverdy bespritzt, die eben von einer Abendgesellschaft heimkehrte.

Obgleich kreuzlahm und wütend, fanden die Damen Josserand, Mutter und Töchter, ihre Anmut wieder, als sie auf der Treppe Octave begegneten. Als aber einmal die Türe hinter ihnen geschlossen war, drängten sie sich in aller Hast, überall an die Möbel stoßend, durch die dunklen Zimmer und eilten in den Speisesaal, wo Herr Josserand bei dem matten Lichte einer kleinen Lampe schrieb.

Verfehlt! schrie Frau Josserand, auf einen Stuhl sinkend.

Mit einer hastigen Bewegung riß sie sich den Schleier vom Kopfe, warf den Pelz auf eine Stuhllehne hin und erschien nun in einem feuerroten, mit schwarzem Samt besetzten Kleide, sehr dick, sehr tief ausgeschnitten, mit Schultern, die noch immer schön waren und den glänzenden Schenkeln eines Reitpferdes glichen. Ihr viereckiges Gesicht mit den hängenden Wangen und der dicken Nase drückte die tragische Wut einer Königin aus, die sich Zwang auferlegt, um nicht in die Sprache eines Fischweibes zu verfallen.

Ah! sagte einfach Herr Josserand, verblüfft durch diesen stürmischen Eintritt.

Er zuckte unruhig mit den Wimpern. Er fühlte sich vernichtet beim Anblicke seiner Frau, deren ungeheurer Busen ihn plattzudrücken drohte. In einem alten abgeschossenen Überrock, den er zu Hause trug, das Gesicht fast völlig verwischt durch fünfunddreißig Jahre Bürodienst, – so saß er da und betrachtete sie einen Augenblick mit seinen großen, blauen, glanzlosen Augen. Dann strich er seine ergrauenden Haarlocken hinter die Ohren zurück, und da er in seiner argen Verlegenheit kein Wort zu sägen wußte, suchte er seine Arbeit wieder aufzunehmen.

Verstehst du denn nicht? fuhr Frau Josserand in herbem Tone fort; ich sage, daß wir wieder eine Partie verfehlt haben, – und das ist die vierte!

Ja, ich weiß, die vierte! murmelte er; es ist verdrießlich, sehr verdrießlich! ...

Um der vernichtenden Nacktheit seiner Frau zu entgehen, wandte er sich mit einem freundlichen Lächeln zu seinen Töchtern. Sie hatten inzwischen gleichfalls ihre Spitzenschleier und Mäntel abgelegt; die ältere war in blauer, die jüngere in rosa Toilette; diese Toiletten von allzu freiem Schnitt und überladener Ausstattung waren an sich eine Herausforderung. Hortense hatte eine gelbe Gesichtsfarbe; das Gesicht war verunstaltet durch die dicke Nase, die sie von der Mutter geerbt und die ihr den Ausdruck geringschätzigen Eigensinns verlieh. Sie war kaum dreiundzwanzig Jahre alt, schien aber achtundzwanzig alt zu sein. Berta hingegen, die um zwei Jahre jünger war, bewahrte ihre kindliche Anmut; sie hatte wohl die nämlichen Züge, aber viel feiner und war glänzend weiß; die grobe Maske der Familie dürfte bei ihr erst viel später zum Vorschein kommen.

Wann wirst du uns endlich eines Blickes würdigen? schrie Frau Josserand ihrem Gatten zu. Um des Himmels willen, laß die Schreiberei, die mich schon nervös macht.

Aber, meine Liebe, sagte er sanft, ich mache Adreßschleifen.

Ach, ja! Adreßschleifen zu drei Franken das Tausend! ... Willst du vielleicht mit diesen drei Franken deine Töchter unter die Haube bringen?

Der von der Lampe schwach beleuchtete Tisch war in der Tat bedeckt mit bedruckten Adreßschleifen von grauem Papier, auf die Herr Josserand die Namen schrieb; er machte diese Arbeit im Auftrage eines großen Verlegers, der mehrere Zeitschriften herausgab. Da seine Bezüge als Kassierer nicht ausreichten, um den Haushalt zu bestreiten, verbrachte er ganze Nächte mit dieser undankbaren Arbeit, im geheimen und von der Furcht getrieben, daß man die Verlegenheiten seines Hausstandes merken könne.

Drei Franken sind drei Franken, sagte er langsam. Diese drei Franken bieten euch die Mittel, Bänder für eure Roben zu kaufen und euren Gästen, die ihr jeden Dienstag empfangt, Kuchen vorzusetzen.

Er bedauerte sogleich, was er gesagt, denn er fühlte, daß er damit seine Frau im Innersten ihres Herzens getroffen, in ihrem Stolze verletzt habe. Ein Blutstrom rötete ihre Schultern; sie schien auf dem Punkte, in eine Flut von bitteren Reden auszubrechen; doch in einer Regung der Würde bemeisterte sie sich und begnügte sich zu stammeln:

Ach, mein Gott, mein Gott! ...

Sie blickte auf ihre Töchter und zermalmte ihren Gatten durch ein Zucken ihrer furchtbaren Schultern, als wolle sie sagen: »Hört ihr ihn, den Kretin?« Die Mädchen nickten stumm. Als er sich geschlagen sah, legte Herr Josserand zögernd die Feder weg und faltete den »Temps« auseinander, welches Blatt er jeden Abend aus dem Büro brachte.

Saturnin schläft? fragte Frau Josserand trocken. Saturnin war ihr jüngerer Sohn.

Er schläft schon lange, sagte der Vater. Ich habe auch Adele fortgeschickt ... Und Leo? Habt ihr ihn nicht im Hause der Dambreville gesehen?

Er schläft ja dort! ließ sie sich wütend vernehmen.

Überrascht fragte der Vater:

Du glaubst?

Hortense und Berta waren wieder taub geworden. Sie lächelten indessen still vor sich hin und taten, als ob sie damit beschäftigt seien, ihre Schuhe auszuziehen, die in einem erbärmlichen Zustande waren. Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, suchte Frau Josserand einen anderen Streit mit ihrem Gatten. Sie ersuchte ihn, seine Zeitung jeden Morgen wieder mitzunehmen und sie tagsüber nicht herumliegen zu lassen wie eben gestern wieder eine Nummer, in der von einem abscheulichen Prozeß zu lesen war, den seine Töchter hätten lesen können. Darin zeige sich, wie wenig moralischen Sinn er habe.

Geht man denn zu Bett? fragte Hortense. Ich bin hungrig.

O, und erst ich! sagte Berta. Ich sterbe vor Hunger.

Was, ihr habt Hunger? schrie die Mutter entrüstet. Habt ihr denn auf der Abendgesellschaft keinen Kuchen gegessen? Ei, sind das dumme Gänse! Aber, man muß ja essen! Ich habe gegessen.

Die jungen Mädchen erhoben Einspruch. Sie seien hungrig und würden krank davon. Das Ende war, daß die Mutter sie in die Küche begleitete, um zu sehen, ob nichts übrig geblieben sei. Sogleich machte der Vater sich wieder an seine Adreßschleifen. Er wußte recht gut, daß ohne diese Adreßschleifen der Luxus des Haushaltes längst verschwunden wäre; und darum harrte er trotz ihrer Verachtung und des ungerechten Gezänkes bis zum dämmernden Morgen bei dieser geheimen Arbeit aus, glücklich wie nur ein Rechtschaffener es sein kann, wenn er daran dachte, daß ein Endchen Spitze mehr vielleicht einer seiner Töchter zu einer guten Heirat verhalf. Da man sich schon von der Nahrung einiges abzwackte, ohne den Bedürfnissen der Toilette und der Dienstagsempfänge gerecht zu werden, fügte er sich in diese Märtyrerarbeit, in Lumpen gehüllt, während seine Frau und Töchter die Salons besuchten und Blumen im Haar trugen.

Aber da ist es ja scheußlich schmutzig! schrie Frau Josserand, in die Küche eintretend. Ich kann es bei diesem Schmutzfinken Adele nicht durchsetzen, daß sie das Fenster halb offen läßt. Sie behauptet, daß es dann am Morgen in der Küche so kalt sei wie in einer Eisgrube.

Sie öffnete das Fenster. Da stieg aus dem engen Lichthofe eine eisige Feuchtigkeit, ein muffiger Kellergeruch herauf. In dem Lichtschein, den die von Berta angezündete Kerze auf die Wand warf, sah man die riesigen Schatten der nackten Schultern der Mutter tanzen.

Und welche Schlamperei hier herrscht, fuhr Frau Josserand fort, ihre Nase in alle Winkel, selbst an die schmutzigsten Orte steckend. Den Küchentisch hat sie seit zwei Wochen nicht gescheuert ... Da sind Teller von vorgestern .. Wahrhaftig, das ist ekelhaft! ... Und ihr Ausguß! Riecht einmal in ihren Ausguß!

Sie geriet immer mehr in Zorn und stieß das Eßgeschirr mit ihren reichlich gepuderten, mit Goldreifen geschmückten Armen hin und her; schleppte ihr feuerrotes Kleid durch alle Flecke, blieb an den umherliegenden Küchengeräten hängen und gab so den mühsam zusammengestoppelten Luxus in dieser schmutzigen Umgebung preis. Beim Anblick eines schartigen Messers brach endlich ihr Zorn los.

Morgen früh werfe ich sie hinaus!

Da wirst du weit kommen, bemerkte Hortense ruhig. Wir können keine Magd behalten. Sie ist die erste, die drei Monate geblieben ist ... Wenn sie ein wenig reinlich sind und einmal eine weiße Soße zu machen verstehen, suchen sie das Weite.

Frau Josserand spitzte die Lippen. In der Tat hatte Adele allein, eben aus der Bretagne angekommen, blöd und unsauber in dem von stolzem Elend starrenden Haushalte dieser Spießbürgerleute ausgehalten, die ihre Unverwendbarkeit und Unflätigkeit mißbrauchten, sie hungern zu lassen. Schon zwanzigmal hatten sie – aus Anlaß eines Kammes, der auf dem Brot gefunden oder wegen eines abscheulichen Essens, das ihnen eine Kolik verursachte – davon gesprochen, sie davonjagen zu wollen; dann behielten sie die Magd doch immer wieder, weil sie verlegen waren, durch wen sie sie ersetzen sollten; denn selbst die Diebinnen weigerten sich, zu ihnen in den Dienst zu gehen, in diesen Käfig, wo selbst die Zuckerstückchen abgezählt wurden.

Ich finde nichts! sagte Bertha, in einem Küchenschrank suchend.

Dieser Schrank zeigte die trübselige Leere und den falschen Luxus der Familien, wo man die schlechteste Sorte Fleisch kauft, um Blumen auf den Tisch stellen zu können. Man sah nichts als einige Porzellanteller mit Goldleisten völlig leer, ein Brotmesser mit abgegriffenem Heft, kleine Fläschchen, in denen Essig und Öl längst versiegt waren, und nicht eine vergessene Brotkrume, kein Stück Obst, kein Restchen Käse – nichts. Man sah wohl, daß der nie gesättigte Hunger Adeles hier gründlich aufgeräumt hatte.

Hat sie denn das ganze Kaninchen aufgegessen? rief Frau Josserand.

Richtig! sagte Hortense, es ist ein Schwanzstück davon übrig geblieben ... Ach, da ist es. Es hätte mich auch gewundert, daß sie es wagen sollte ... Ich nehme es. Es ist wohl kalt, aber das schadet nichts.

Nun suchte Berta etwas zu essen, aber vergebens. Endlich entdeckte sie eine Flasche, in der ihre Mutter einen alten Rest eingekochter Frucht aufgelöst hatte, um Himbeersaft für ihre Abendgesellschaften herzustellen. Berta nahm ein halbes Glas voll davon und sagte:

Ein Gedanke! Da will ich mein Brot eintunken ... Wenn nichts anderes da ist! ...

Doch Frau Josserand schaute sie streng an.

Geniere dich nicht! Nimm lieber gleich das ganze Glas voll, wenn du schon dabei bist Ich werde dann unseren Gästen frisches Wasser vorsetzen ...

Glücklicherweise ward eine neue Missetat Adeles entdeckt, wodurch die Strafpredigt unterbrochen wurde. Als sich Frau Josserand in der Küche immerfort hin und her drehte, um ein neues Verbrechen der Magd zu entdecken, erblickte sie auf dem Küchentisch ein Buch. Das schlug dem Faß den Boden aus.

Ei, das schmutzige Tier! Sie hat schon wieder meinen Lamartine in die Küche herausgebracht!

Sie nahm das Buch und begann es abzureiben und abzuwischen, wobei sie immerfort wiederholte, sie habe der Magd schon zwanzigmal verboten, das Buch herumzuschleppen, um ihre Rechnungen darauf zu schreiben, Berta und Hortense hatten inzwischen das Stückchen Brot geteilt, das übriggeblieben war; dann nahmen sie ihr mageres Essen mit und sagten, sie wollten sich erst auskleiden, bevor sie äßen. Die Mutter warf einen letzten Blick auf den kalten Herd und kehrte in den Speisesaal zurück, den »Lamartine« fest unter ihren dicken Arm pressend.

Herr Josserand fuhr fort zu schreiben. Er hatte gehofft, daß seine Frau sich begnügen werde, durch das Zimmer gehend, um sich schlafen zu legen, ihm einen Blick tiefer Verachtung zuteil werden zu lassen. Allein sie ließ sich ihm gegenüber von neuem auf einen Sessel nieder und sah ihn starr an, ohne ein Wort zu sprechen. Er fühlte die Wucht ihres Blickes und ward von einer solchen Beklemmung ergriffen, daß seine Feder auf dem dünnen Papier der Adreßschleifen unruhig tanzte.

Du also hast Adele verhindert, eine Creme für morgen abend zu machen? sagte sie endlich.

Er blickte betroffen auf.

Ich, meine Liebe?

Jawohl, du wirst wieder leugnen wie gewöhnlich. Weshalb sonst hätte sie die Creme nicht bereitet, die ich befohlen habe? ... Du weißt wohl, daß wir morgen vor der Abendgesellschaft den Onkel Bachelard zum Essen zu Gaste haben, dessen Geburtstag diesmal sehr ungelegen gerade auf den Empfangstag fällt. Wenn wir keine Creme haben, müssen wir Fruchteis haben, und da sind gleich fünf Franken mehr hinausgeworfen.

Er machte nicht einmal den Versuch, sich zu rechtfertigen. Da er nicht wagte, seine Arbeit wieder aufzunehmen, und anderseits sich nicht entschließen konnte, sie im Stiche zu lassen, begann er mit dem Federhalter zu spielen. Es entstand ein Schweigen.

Morgen früh, sagte Frau Josserand trocken, wirst du mir den Gefallen erweisen, bei den Campardon vorzusprechen und sie in höflicher Weise zu erinnern, – wenn du es kannst – daß wir am Abend auf sie zählen ... Der junge Mann, den sie erwartet haben, ist angekommen. Bitte sie, ihn mitzubringen. Ich will, daß er kommt.

Welcher junge Mann?

Ein junger Mann. Es würde zu lange dauern, dir das näher zu erklären ... Ich habe meine Erkundigungen eingezogen. Ich muß alles versuchen, da du mir deine Töchter auf dem Halse läßt, ohne sich um ihre Verheiratung mehr zu kümmern als um die des Großtürken.

Dieser Gedanke brachte sie wieder in Zorn.

Du siehst, ich bezwinge mich ... Aber ich habe es satt bis hinauf! ... Sage mir nichts! Sage mir gar nichts, oder ich breche los! ...

Er sagte nichts, sie aber brach dennoch los.

Das wird nachgerade unerträglich! Ich mache dich rechtzeitig aufmerksam, daß ich eines Tages durchgehen werde und zwar bald und dir deine Töchter auf dem Halse lasse! ... Bin ich für ein solches Bettlerleben geschaffen? ... Ich muß jeden Sou in vier Teile zerschneiden, muß mir ein Paar Stiefelchen versagen, kann meine Freunde nicht anständig empfangen – und alles deinetwegen! ... Schüttele nicht den Kopf! Bringe mich nicht noch mehr in Wut! Ja, deine Schuld ist es! Du hast mich betrogen, in unwürdiger Weise betrogen! Man heiratet nicht, wenn man entschlossen ist, seine Frau an allem Mangel leiden zu lassen. Du machtest den Prahlhans, hast mir eine schöne Zukunft vorgespiegelt, gabst dich für den Freund der Söhne deines Chefs aus, dieser Brüder Bernheim, die dich hinterher schön zum besten gehalten haben ... Was, du wagst es zu leugnen? Du müßtest heute ihr Teilhaber sein! Du hast aus ihrer Glasfabrik das gemacht, was sie ist, eines der ersten Häuser von Paris, und bist ihr Kassier geblieben, ein untergeordneter Beamter, ein besoldeter Mensch ... Du hast keinen Mut, schweig!

Ich beziehe achttausend Franken, erwiderte der Kassier, das ist ein schöner Posten.

Ein schöner Posten nach mehr als dreißig Dienstjahren! rief Frau Josserand. Man zehrt dich auf, und du bist entzückt! ... Weißt du, was ich getan hätte? Zwanzigmal hätte ich dieses Haus in meine Tasche gesteckt. Das war federleicht! Ich habe es sofort eingesehen, als ich dich zum Manne nahm, und habe seither nicht aufgehört, dich anzutreiben. m Aber dazu gehört Tatkraft und Verstand. Man darf nicht einschlafen auf seinem Sitzleder wie ein Faultier.

Willst du mir etwa vorwerfen, daß ich ehrlich geblieben bin?

Sie erhob sich, näherte sich ihm und schrie, mit ihrem Band Lamartine herumfuchtelnd:

Ehrlich? Was verstehst du darunter? Sei vor allem ehrlich gegen mich! Die anderen kommen erst später. Ich wiederhole es dir: es heißt unehrlich sein, wenn man ein junges Mädchen einfädelt, dabei sich das Ansehen gibt, einst reich sein zu wollen, und sich dann damit begnügt, die Kasse der anderen zu hüten! ... Ja, ich bin schön betrogen worden! ... Ach, wenn ich heute in die Lage käme ... und wenn ich deine Familie gekannt hätte!

Sie ging heftig erregt auf und ab. Trotz seiner Friedensliebe konnte Herr Josserand eine Regung der Ungeduld nicht unterdrücken.

Du solltest zu Bett gehen, Eleonore. Ein Uhr ist vorüber und meine Arbeit ist dringend ... Meine Familie hat dir nichts zuleide getan, sprechen wir nicht darüber.

Schau, schau! Warum denn nicht? Ist deine Familie etwa heiliger als andere Familien? Jedermann in Clermont weiß, daß dein Vater, nachdem er seine Advokaturkanzlei verkauft hatte, sich durch eine Haushälterin ruinieren ließ. Du hättest deine Töchter längst verheiratet, wenn dein Vater nicht mit siebzig Jahren solche sauberen Streiche gemacht hätte. Auch einer, der mich arg getäuscht hat.

Herr Josserand erbleichte. Er erwiderte mit bebender, allmählich lebhafter werdender Stimme:

Was soll das nützen, daß wir uns wieder einmal unsere Familien gegenseitig vorwerfen? ... Dein Vater hat mir die dreißigtausend Franken, die er mir als Heiratsgut versprochen hatte, niemals ausbezahlt.

Wie, was? Dreißigtausend Franken?

Jawohl, spiele doch nicht die Erstaunte! ... Wenn mein Vater von Unglücksfällen heimgesucht wurde, so hat sich dagegen der deine geradezu unwürdig benommen. In seine Hinterlassenschaft habe ich nie ganz klar gesehen; es sind alle möglichen Gaunereien aufgewandt worden, damit das Pensionat in der Viktorstraße dem Manne deiner Schwester in die Hände gespielt werde, diesem schäbigen Gimpel, der uns jetzt nicht einmal grüßt, wenn wir ihm auf der Straße begegnen ... Wir sind bestohlen worden wie in einem Walde! ...

Angesichts dieser unbegreiflichen Auflehnung ihres Gatten war Frau Josserand bleich geworden; sie schnappte nach Luft.

Rede nichts Übles von Papa: Er war vierzig Jahre hindurch die Zierde des Unterrichtswesens. Frage einmal im Pantheon-Stadtviertel, was das Institut Bachelard gewesen! Meine Schwester und mein Schwager sind, was sie sind; ... sie haben mich bestohlen, ich weiß es wohl; aber du darfst es nicht sagen. Das werde ich nicht dulden, hörst du? Spreche ich etwa von deiner Schwester, die mit einem Offizier durchgegangen ist? Ach, es sind saubere Leute, die deinen!

Mit einem Offizier, der sie geheiratet hat. Dagegen der Herr Onkel Bachelard, dein Bruder, ein sittenloser Mensch ...

Aber du bist ja ein Narr! Er ist reich, er verdient in seinem Kommissionsgeschäft enormes Geld und hat versprochen, unserer Berta die Heiratsausstattung zu geben ... Achtest du denn schon gar nichts?

Ach ja, die, Berta will er ausstatten! ... Wollen wir wetten, daß er keinen Sou hergeben wird, und daß wir seine widerwärtigen Gewohnheiten umsonst ertragen haben? Ich schäme mich, sooft er herkommt. Ein Lügner, ein Schwelger, ein Mensch, der die anderen Leute ausbeutet und auf die jeweilige Lage rechnet; ein Mensch, der, weil er uns seit fünfzehn Jahren vor seinem Vermögen auf den Knien liegen sieht, mich jeden Samstag in sein Büro mitnimmt, damit ich ihm seine Rechnungen in Ordnung bringe, wodurch er hundert Sous erspart ... Wir werden schon sehen, wie seine Geschenke ausfallen.

Frau Joserand saß mit stockendem Atem da. Nachdem sie sich endlich ein wenig erholt hatte, stieß sie den letzten Schrei aus:

Aber du hast einen Neffen bei der Polizei!

Es entstand abermals Schweigen. Das Licht der kleinen Lampe ward immer bleicher, die Adreßschleifen flogen unter den fieberhaften Bewegungen des Herrn Josserand, und er schaute dabei seiner Frau ins Gesicht, die ausgeschnitten, in ihrem feuerroten Kleide dastand, entschlossen, alles zu sagen, und bebend über seine Kühnheit.

Mit achttausend Franken kann man viel machen, fuhr Josserand fort; du beklagst dich immerfort; allein du hättest unsern Haushalt nicht auf einen Fuß stellen sollen, der über unsere Verhältnisse geht. Deine Leidenschaft, Leute zu empfangen, Besuche zu machen, einen Empfangstag zu haben, deinen Gästen Tee und Kuchen vorzusetzen ...

Sie ließ ihn nicht vollenden.

Ach, ist es das! Sperre mich in einen Korb ein! Wirf mir vor, daß ich nicht nackt ausgehe! Und deine Töchter! Wen werden sie heiraten, wenn wir keine Leute empfangen? Es kommen ohnehin nicht viele mehr ... Es lohnt die Mühe, sich zu opfern, um hinterher so schmachvoll beurteilt zu werden.

Wir alle haben uns aufgeopfert. Leo mußte vor seinen Schwestern zurücktreten; er hat das Haus verlassen, weil er sah, daß er auf sich selbst angewiesen sei. Was Saturnin betrifft, so kann der arme Knabe kaum lesen. Ich selbst verzichte auf alles, bringe die Nächte bei der Arbeit zu ...

Warum hast du Töchter in die Welt gesetzt? Willst du den Kindern ihre Ausbildung vorwerfen? Ein anderer Mann würde großtun mit dem Lehrerindiplom Hortensens und den Talenten Bertas, die heute wieder alle Welt mit dem Vortrage des Walzers »Am Ufer der Oise« entzückt hat und deren neuestes Gemälde ohne Zweifel morgen unsere Gäste bezaubern wird. Aber du bist nicht einmal ein Vater. Du hättest deine Töchter wohl lieber die Kühe hüten geschickt als sie in ein Pensionat gegeben.

Ei was! Ich hatte für Berta eine Prämie versichert.

Hast du nicht schon die vierte Rate dazu verwendet, die Möbel des Salons neu überziehen zu lassen? Und hast du nicht die Prämie verschachert, noch ehe sie fällig geworden?

Gewiß, weil du uns Hunger sterben ließest. Du kannst dich in die Finger beißen, wenn deine Töchter alte Jungfern werden.

Mich in die Finger beißen! Aber Herrgott! Schließlich jagst du mit ihren Toiletten und lächerlichen Abendgesellschaften die Männer in die Flucht!

Noch niemals war Herr Josserand so weit gegangen. Frau Josserand stammelte fast erstickend: »Lächerlich, ich! lächerlich!« Da öffnete sich die Tür, und es erschienen Hortense und Berta in Unterrock und Leibchen, mit aufgelöstem Haar, die nackten Füße in Pantoffeln steckend.

Hu, wie kalt ist es in unserem Zimmer! sagte Berta fröstelnd. Der Bissen gefriert einem im Munde. Hier ist wenigstens am Abend eingeheizt gewesen.

Beide setzten sich dicht an den Ofen, der noch einen Rest von Wärme hatte. Hortense hielt mit den Fingerspitzen ihren Kaninchenknochen, von dem sie sehr geschickt das Fleisch abknabberte. Berta hingegen tauchte Brotschnitten in ihr Sirupglas. In der Hitze des Streites hatten die Eltern das Erscheinen ihrer Töchter gar nicht bemerkt; sie fuhren fort zu zanken.

Lächerlich bin ich? ... Ich will es nicht länger sein! Man soll mir den Kopf abschneiden, wenn ich fernerhin auch nur ein Paar Handschuhe verbrauche, um die Mädchen zu verheiraten. Beschäftige du dich jetzt mit der Sache und mache dich weniger lächerlich als ich.

Jetzt, nachdem du sie überall herumgeschleppt und bloßgestellt hast? Verheirate sie oder verheirate sie nicht – mir ist es ganz gleich!

Mir nicht minder! Es ist mir so gleichgültig, daß ich sie vor die Türe setzen werde, wenn du es noch lange so treibst. Wenn es dir beliebt, kannst du ihnen folgen, die Tür steht offen. Da bekäme ich eine schöne Last vom Halse!

An ähnliche Auseinandersetzungen gewöhnt, hörten die Mädchen den Zank ruhig mit an. Sie aßen still, ließen ihre Leibchen von den Schultern herabgleiten und rieben ihre nackte Haut an dem warmen Porzellanofen. Sie waren reizend in ihrer Jugend und Entblößung mit ihrem Heißhunger und ihren schlaftrunkenen Augen.

Es ist schade, daß ihr euch zankt, sagte endlich Hortense mit vollem Munde; Mama regt sich allzusehr auf, und Papa wird vielleicht gar morgen im Büro krank sein ... Ich denke, wir sind groß genug, um uns selbst zu verheiraten.

Das schien dem Gespräch eine andere Wendung geben zu sollen. Der Vater schien mit seiner Kraft zu Ende und wollte sich jedenfalls wieder an seine Adreßschleifen machen; er vermochte nicht zu schreiben, weil seine Hände zitterten; so saß er denn mit der Nase über das Papier gebeugt da. Inzwischen war die Mutter, die im Zimmer herumrannte wie eine wütende Löwin, vor Hortense stehen geblieben.

Wenn du für dich sprichst, dann bist du ein rechtes Gänschen! Dein Verdier wird dich niemals heiraten.

Das ist meine Sache, erwiderte kurz das Mädchen.

Nachdem sie fünf oder sechs Freier voll Verachtung abgewiesen hatte, einen kleinen Beamten, einen Schneiderssohn, andere junge Leute, die ihr keine Zukunft zu haben schienen, entschied sie sich für einen Advokaten, den sie bei den Dambreville getroffen hatte, und der schon an die vierzig Jahre zählte. Sie hatte eine sehr gute Meinung von ihm und seiner Zukunft. Das Unglück wollte, daß Verdier seit fünfzehn Jahren mit einer Geliebten lebte, die in dem Stadtviertel, wo sie wohnten, sogar für seine Frau galt. Hortense wußte davon und schien darüber nicht sonderlich beunruhigt zu sein.

Mein Kind, sagte der Vater und erhob von neuem den Kopf, ich habe dich gebeten, an diese Verbindung nicht zu denken ... Du kennst ja die Lage.

Sie unterbrach sich einen Augenblick in dem Saugen an ihrem Knochen und erwiderte im Tone der Ungeduld:

Was weiter? ... Verdier hat mir versprochen, sie zu verlassen. Sie ist eine dumme Gans.

Hortense, es ist nicht recht von dir, so zu sprechen. Was dann, wenn der Mann einst auch dich verlassen wird, um zu jener zurückzukehren, die er um deinetwillen verlassen hat?

Das ist meine Sache, wiederholte das junge Mädchen kurz.

Berta hörte ruhig zu; sie war vollständig eingeweiht in diese Angelegenheit, über deren Möglichkeiten sie täglich mit ihrer Schwester sich unterhielt. Gleich ihrem Vater nahm auch sie Partei für die arme Frau, die man nach einem fünfzehnjährigen gemeinschaftlichen Haushalte auf die Straße setzen wollte. Doch jetzt trat Frau Josserand dazwischen.

Laßt gut sein! Solche Geschöpfe kehren immer wieder in die Gosse zurück. Allein ich fürchte, daß Verdier niemals den Mut haben wird, sie zu verlassen. Er wird dich anführen, meine Liebe. Ich an deiner Stelle würde keinen Augenblick länger warten, sondern einen andern zu finden trachten.

Hortensens Stimme ward noch herber; zwei fahle Flecke erschienen auf ihren Wangen.

Mama, du kennst mich ja ... Ich will ihn haben, und ich werde ihn haben. Niemals werde ich einen andern heiraten, und wenn ich hundert Jahre auf ihn warten müßte.

Die Mutter zuckte die Achseln.

Und du behandelst andere als dumme Gänse! ...

Das junge Mädchen erhob sich, vor Aufregung zitternd.

Ich bitte dich, mich aus dem Spiele zu lassen! rief sie. Ich bin mit meinem Kaninchenschwanze zu Ende und will jetzt zu Bett gehen ... Da du uns nicht zu verheiraten vermagst, erlaube, daß wir es selbst tun, so gut wir können.

Damit ging sie hinaus und schlug die Türe heftig zu.

Frau Josserand wandte sich zu ihrem Gatten und sprach:

Da siehst du, wie du deine Töchter erzogen hast.

Herr Josserand widersprach nicht; er vertrieb sich die Zeit damit, kleine Figuren auf das Papier zu zeichnen. Berta hatte kein Brot mehr und wischte jetzt das Glas mit ihren Fingern aus. Sie fühlte sich sehr behaglich, denn ihr Rücken war gut durchwärmt, und sie beeilte sich keineswegs, in ihr Zimmer zu kommen und dort die zänkische Laune ihrer Schwester zu ertragen.

Ja, das ist der Lohn! sagte Frau Josserand und nahm ihren Spaziergang durch das Speisezimmer wieder auf. Zwanzig Jahre hindurch strapaziert man sich für diese Fräulein; man legt sich die härtesten Entbehrungen auf, um sie zu feinen Damen zu erziehen, und sie bieten uns nicht einmal die Genugtuung, daß wir sie nach unserem Geschmack verheiraten können ... Wenn man ihnen noch jemals das geringste verweigert hätte! ... Ich habe niemals einen Sou für mich behalten, habe mir in der Toilette die äußerste Beschränkung auferlegt und sie in einer Weise gekleidet, als ob wir fünfzigtausend Franken Rente hätten. Wahrhaftig, es ist zu dumm! Wenn diese Nichtsnutzigen eine sorgfältige Erziehung genossen haben, von Religion just soviel wissen wie nötig ist, das Benehmen reicher Mädchen haben, dann lassen sie uns fahren und sprechen davon, Advokaten und Abenteurer heiraten zu wollen, die sich einem lasterhaften Lebenswandel ergeben haben.

Sie blieb vor Berta stehen, drohte dieser mit dem Finger und sagte:

Wenn du es deiner Schwester nachmachen wolltest, würdest du es mit mir zu tun haben.

Dann fuhr sie fort, im Zimmer auf und ab zu trippeln, mit sich selber zu reden, von einem Gedanken auf den andern überzuspringen und sich zu widersprechen, aber immer mit der Miene einer Frau, die in allen Dingen recht behalten will.

Ich habe getan, was ich tun mußte, und was ich auch heute tun würde, wenn ich von vorne anfangen müßte. Im Leben verlieren nur die Verschämten. Geld ist Geld. Wer keines hat, soll sich schlafen legen. Wenn ich zwanzig Sous hatte, sagte ich, daß ich vierzig habe; darin liegt alle Weisheit; es ist besser, Neid zu erregen als Mitleid ... Es nützt nichts, eine gute Erziehung genossen zu haben; gut gekleidet muß man sein, sonst wird man verachtet. Das ist ungerecht, aber es ist so. Lieber würde ich schmutzige Unterröcke tragen als ein Kleid von Kattun. Man soll Erdäpfel essen, aber ein Huhn auf den Tisch bringen, wenn man Gäste zum Essen hat. Wer das Gegenteil sagt, ist ein Schwachkopf.

Sie schaute ihren Gatten scharf an, an den die Bemerkungen gerichtet waren. Dieser schien erschöpft; er wollte das Gefecht nicht wiederaufnehmen und war feige genug zu sagen:

Es ist wahr: heutzutage gilt nur das Geld.

Du hörst mich wohl, sagte sie dann zu ihrer jüngeren Tochter. Gehe geradeaus und biete uns Genugtuung ... Warum hast du diese Partie wieder verfehlt?

Berta begriff, daß nun an ihr die Reihe sei.

Ich weiß nicht, Mama, murmelte sie.

Ein Bürounterchef, fuhr die Mutter fort, kaum dreißig Jahre alt, mit einer herrlichen Zukunft. Der bringt jeden Monat sein Gehalt nach Hause, das ist solide, es gibt nichts Besseres. Du hast gewiß wieder eine Dummheit begangen wie mit den übrigen?

Ich versichere dir: nein. Er wird sich unterrichtet und erfahren haben, daß ich keinen Sou besitze.

Frau Josserand rief heftig aus:

Und die Ausstattung, die der Onkel dir geben wird? Davon weiß ja alle Welt! ... Nein, da steckt was anderes dahinter. Er hat zu schroff abgebrochen. Während des Tanzes habt ihr euch in den kleinen Salon begeben.

Berta geriet in Verwirrung.

Ja, Mama ... Und als wir allein waren, da wollte er abscheuliche Dinge; er hat mich geküßt und dabei in einer Weise umarmt ... Da bekam ich Furcht und stieß ihn gegen ein Möbel ...

Ihre Mutter unterbrach sie wütend:

Gegen ein Möbel hast du ihn gestoßen! ... O, die Unglückliche! Gegen ein Möbel ...

Aber Mama, er hielt mich umfangen ...

Und was weiter? Er hielt dich umfangen ... Ist das eine große Sache! ... Gebt diese Dinger in die Pension! Was lernt ihr denn eigentlich dort?

Ein Blutstrom ergoß sich in die Schultern und Wangen des jungen Mädchens. Ihre jungfräuliche Züchtigkeit empörte sich bei diesen Reden, und Tränen traten ihr in die Augen.

Es ist nicht meine Schuld! Er sah so bösartig aus ... Ich weiß ja nicht, was man tun muß.

Was man tun muß? Sie fragt, was man tun muß? Habe ich dir nicht hundertmal gesagt, wie lächerlich deine Zimperlichkeit ist. Du bist berufen, in der Gesellschaft zu leben. Wenn ein Mann rücksichtslos ist, so beweist dies, daß er dich liebt, und es gibt immer Mittel, ihn artig in die gehörigen Schranken zurückzuweisen. Wegen eines Kusses hinter einer Türe! ... Ist es der Mühe wert, uns, deinen Eltern, das zu erzählen? Du stößt die Leute gegen die Möbel und stößt so deine Versorgung von dir!

Sie nahm einen belehrenden Ton an und fuhr fort:

Ich verzweifle schon an dir, denn du bist blöde, meine Tochter ... Es wäre nötig, dir alles vorzupfeifen und das wird auf die Dauer lästig. Da du kein Vermögen hast, mußt du die Männer durch andere Mittel fangen. Man muß liebenswürdig sein, zärtliche Augen machen, seine Hände vergessen, kleine Kindereien gestatten, ohne es merken zu lassen, – kurz: man muß sich einen Mann angeln ... Glaubst du, es werde deinen Augen zuträglich sein, wenn du plärrst wie ein Vieh!

Berta schluchzte.

Du machst mich nervös; plärre nicht! ... Mann, befiel deiner Tochter, ihr Gesicht nicht mit dem Flennen zu verderben. Das fehlt uns noch, daß sie häßlich wird!

Mein Kind, sagte der Vater, sei vernünftig; gehorche deiner Mutter, die dir gewiß nur gute Ratschläge geben wird. Du darfst dich nicht häßlich machen, mein Kind.

Was mich verdrießt, ist, daß sie gar nicht übel ist, wenn sie will, fuhr Frau Josserand fort. Schau her! Trockne dein Gesicht ab und betrachte mich, als ob ich ein Herr wäre, der dir den Hof machen will ... Du lächelst, du läßt deinen Fächer fallen, damit der Herr, wenn er ihn aufhebt, deine Finger streift ... Nicht so! Du ziehst dich ja zurück wie ein krankes Hühnchen ... Wirf den Kopf zurück und laß deinen Hals sehen, er ist ja jung genug, um gezeigt zu werden.

Demnach so, Mama? ...

Ja, das ist besser ... Und sei nicht steif; die Taille muß biegsam sein. Die Männer lieben die steifen Bretter nicht ... Und wenn einer zu weit geht, der sitzt fest, meine Liebe! ...

Die Pendeluhr im Salon schlug die zweite Morgenstunde; in der Aufregung dieses lang ausgedehnten Abends, in ihrem wütenden Verlangen nach einer sofortigen Verheiratung Bertas vergaß die Mutter sich so weit, daß sie laut dachte und dabei ihre Tochter hin und her drehte wie eine Puppe aus Kartonpapier. Das Mädchen überließ sich ihr willenlos; doch ihr Herz war tief beklommen; Furcht und Scham drohten sie zu ersticken. Plötzlich aber brach sie mitten in einem perlenden Gelächter, daß ihre Mutter sie zwang zu versuchen, in ein Schluchzen aus und stammelte mit verstörter Miene:

Nein, das fällt mir zu schwer! ...

Frau Josserand stand einen Augenblick verblüfft und entrüstet da. Schon seitdem sie die Abendgesellschaft bei Frau Dambreville verlassen, fühlte sie ein Glühen in der Hand; Prügel lagen in der Luft. Jetzt brach sie los: sie ohrfeigte Berta aus voller Kraft.

Da nimm! Du bringst mich endlich aus der Fassung! So ein Tropf! Meiner Treu, die Männer haben recht!

In der Hast der Bewegungen war der Band Lamartine zu Boden gefallen. Sie hob ihn auf, wischte ihn ab und begab sich, ohne weiter ein Wort zu sagen, mit königlicher Miene ihre Ballrobe hinter sich herschleppend, in ihr Schlafzimmer.

Das mußte so kommen, brummte Herr Josserand, der seine Tochter nicht zurückzuhalten wagte, die nun laut weinend und sich die Wange haltend, ebenfalls hinausging.

Als Berta tastend durch das dunkle Vorzimmer ging, fand sie, daß ihr Bruder Saturnin wach war und bloßfüßig hinter der Türe stehend gehorcht hatte. Saturnin war ein langer Bursche von fünfundzwanzig Jahren mit schlotterigem Gang und seltsamen Blicken, der infolge eines Gehirnfiebers kindisch geblieben war. Er war zwar nicht verrückt; doch wenn er gereizt ward, versetzte er zuweilen durch seine Wutanfälle das ganze Haus in Schrecken. Berta allein hatte Gewalt über ihn; sie bändigte ihn mit einem Blicke. Als sie noch ein Kind war, hatte sie eine lange, schwere Krankheit zu überstehen, in der er sie pflegte; er gehorchte allen Launen des leidenden Kinde und hegte später, als sie genesen war, ein Gefühl der Verehrung für sie, in welche die Liebe in jedem Sinne sich mengte.

Hat sie dich wieder geschlagen? fragte er mit zitternder Stimme.

Berta war beunruhigt darüber, ihn da zu treffen, und versuchte, ihn zu Bett zu schicken.

Geh' schlafen! Das geht dich nichts an!

Doch geht es mich an. Ich will nicht, daß sie dich schlägt ... Sie hat mich durch ihr Geschrei aus dem Schlafe geweckt ... Daß sie ja nicht wieder anfange, sonst schlage ich zu! ...

Da faßte sie ihn an den Handgelenken und sprach zu ihm wie zu einem wilden Tiere. Er unterwarf sich sogleich und stammelte mit Tränen in den Augen:

Es tut dir weh, nicht wahr? Wo tut es dir weh? Ich will es küssen.

Da er im Dunkel ihre Wange traf, küßte er sie, benetzte sie mit seinen Tränen und sagte:

Es ist schon gut, es ist schon geheilt!

Herr Josserand war inzwischen allein geblieben; er ließ die Feder sinken; sein Herz war tief bekümmert. Nach Verlauf einiger Minuten erhob er sieh und ging leise zu den Türen, um zu horchen. Frau Josserand schnarchte. Aus dem Zimmer seiner Töchter war kein Weinen mehr hörbar, die Wohnung war still und dunkel. Er kehrte ein wenig erleichtert zu seinem Schreibtisch zurück, richtete die Lampe, deren Docht schon halb verkohlt war, und begann wieder mechanisch zu schreiben. Er merkte gar nicht, daß zwei schwere Tränen auf die Adreßschleifen fielen.


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