Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wieder auf dem Pariser Pflaster wurde Claude von einem Fieber nach Geräusch und Bewegung ergriffen, von dem Bedürfnis auszugehen, die Stadt zu durchstreifen, die Kameraden aufzusuchen. Gleich am Morgen eilte er fort und überließ Christine allein die Sorge, das Atelier einzurichten, das sie in der Douaistraße nahe der Clichy-Promenade gemietet hatten. So sprach er denn schon am zweiten Tage nach seiner Ankunft bei Mahoudeau vor. Es war erst acht Uhr früh an einem grauen kalten November-Morgen.
Der Laden in der Mittags-Straße, den der Bildhauer noch immer innehatte, war indes schon offen; Mahoudeau, bleich und schläferig, hatte soeben fröstelnd die Fensterläden entfernt.
»Ach, du bist es? ... Du hast dir auf dem Lande das Frühaufstehen angewöhnt ... Bist du endlich zurück?«
»Ja, seit vorgestern.«
»Da wird man sich also jetzt öfter sehen. Es ist frisch heute Morgen.«
Doch Claude fror in dem Laden noch mehr als draußen. Er behielt den Kragen seines Überrocks aufgestülpt und die Hände in den Taschen, von einem Schauer ergriffen angesichts der wassertriefenden Mauern, der Lehmhaufen und der ewigen Lachen auf dem Fußboden. Ein Wind des Elends war durch diesen Raum gefahren, hatte die antiken Modelle von den Brettern gefegt, die Böcke und Zuber gebrochen, daß sie mit Stricken zusammengehalten werden mußten. Es war ein Loch voll Unordnung und Verfall, ein Maurerkeller in Trümmern. An der mit Kreide belegten Scheibe war – wie zum Hohn – eine strahlende Sonne mit dem Finger gezeichnet, mit einem Antlitz in der Mitte, dessen halbkreisförmiger Mund zu einem Grinsen verzerrt war.
»Wart' einen Augenblick, man wird sogleich Feuer machen«, sagte Mahoudeau. »Diese verwünschten Ateliers mit ihren nassen Tüchern kühlen so schnell aus!«
Als Claude sich umwandte, bemerkte er Chaine, der vor dem Ofen kniete und von einem alten Sessel das Strohgeflecht abriß, um die Kohle anzuzünden. Er sagte ihm guten Morgen; doch der andere grunzte nur etwas Unverständliches, ohne den Kopf zu erheben.
»Was machst du derzeit?« fragte der Bildhauer.
»Nichts Rechtes. Das Jahr ist schlecht, schlechter als das vorige, das auch schon nicht viel taugte. Über die Heiligenbilder ist eine kritische Zeit gekommen, sie sind stark im Kurse gesunken. Ich mußte mich einschränken. Sieh, inzwischen muß ich das machen.«
Er nahm von einer Büste die Tücher weg, und man erblickte ein langes, durch den Backenbart noch länger gemachtes Gesicht, ungeheuerlich in seiner Anmaßung und Dummheit.
»Es ist ein Advokat, der nebenan wohnt ... Ist der Pavian häßlich, wie? Dabei ärgert er mich fortwährend mit seinem Verlangen, ihm einen schönen Mund zu machen! ... Man muß doch leben, nicht wahr?«
Er hatte zwar einen Gedanken für die Ausstellung: eine stehende Figur, eine Badende, die einen Fuß prüfend ins kühle Wasser steckt, mit jenem Frösteln, welches das Fleisch des Weibes so reizend macht; und er zeigte Claude eine schon umrissene Modellskizze. Der Maler betrachtete sie still, überrascht und unzufrieden wegen der Zugeständnisse, die er daselbst bemerkte: eine Entwicklung des Schönen unter der fortdauernden Übertreibung der Formen, ein natürliches Verlangen zu gefallen, aber ohne gänzlichen Bruch mit der Voreingenommenheit für das Kolossale. Der Bildhauer aber war in Verzweiflung: die stehende Figur verursachte ihm viele Schwierigkeiten. Er mußte Eisengestelle haben, die viel Geld kosteten, dann einen Bock, den er nicht besaß, außerdem noch allerlei Gerät. Unter solchen Umständen werde er sich wahrscheinlich entschließen müssen, eine am Rande des Wassers liegende Figur zu schaffen.
»Was hältst du davon? Wie findest du sie?«
»Nicht übel«, sagte der Maler schließlich. »Etwas romantisch trotz ihrer Schenkel einer Metzgerin; allein das wird man erst nach der Durchführung beurteilen können ... Kopf hoch! sonst verdirbt dir alles unter der Hand.«
Der Ofen summte schon, und Chaine erhob sich stumm. Er irrte eine Weile in dem Laden herum und trat dann in die finstere Hinterstube ein, wo das Bett stand, das er mit Mahoudeau teilte; dann erschien er wieder mit dem Hut auf dem Kopfe noch schweigsamer, in ein eigensinniges, niederdrückendes Schweigen gehüllt. Ohne Eile ergriff er mit seinen steifen Bauernfingern ein Stück Kohle und schrieb an die Wand: »Ich hole Tabak; lege Steinkohlen nach.« Damit ging er.
Verblüfft sah Claude dies Tun mit an. Dann wandte er sich an den andern.
»Wir reden nicht miteinander, wir schreiben uns nur«, sagte der Bildhauer ruhig.
»Seit wann?«
»Seit drei Monaten.«
»Und ihr schlaft beisammen?«
»Ja.«
Claude brach in ein helles Lachen aus. Alle Wetter, das mußten harte Köpfe sein! Und weswegen das Zerwürfnis? Doch auf diese Frage erboste sich Mahoudeau über diesen Tölpel Chaine. Eines Abends habe er ihn mit Mathilden, der Kräuterhändlerin von der Nachbarschaft überrascht; beide waren im Hemde und aßen einen Topf eingemachter Früchte. Daß er Mathilden im Unterröckchen antraf, machte ihm nichts, aber der Topf eingemachter Früchte war zuviel. Er werde niemals verzeihen, daß jener sich Süßigkeiten gönnte, während er – Mahoudeau – trockenes Brot aß. Zum Teufel! man teile die Süßigkeiten, wie man das Weib teilt!«
Der Groll dauerte nunmehr seit drei Monaten ohne ein Nachlassen, ohne eine Erklärung. Ihr Zusammenleben war geregelt; ihr unumgänglich notwendiger Verkehr beschränkte sich auf kurze Sätze, die mit Kohle an die Wand geschrieben wurden. Im übrigen fuhren sie fort, eine Frau und ein Bett zu haben, nachdem sie sich stillschweigend über die Stunden geeinigt hatten. Der eine ging fort, wenn der andere an die Reihe kam. Mein Gott, man brauchte im Leben nicht soviel reden; man konnte sich trotzdem verständigen.
Während er Kohlen nachlegte, sagte er alles, was er auf dem Herzen hatte.
»Du kannst es mir glauben, wenn du willst: Wenn man hungert, ist es ganz angenehm, mit dem andern nicht zu reden. Ja, man verliert im Schweigen; es ist wie eine Verschleimung, welche die Magenschmerzen lindert.. Dieser Chaine! Du hast keine Vorstellung von seiner Verbauerung. Als er seinen letzten Sou verzehrt hatte, ohne mit der Malerei den ersehnten Reichtum zu erwerben, warf er sich auf einen Kleinhandel, der ihm ermöglichen sollte, seine Studien zu beendigen. Ein schlauer Junge, wie du an seinem Plan sehen wirst: Er ließ sich Olivenöl aus seinem Heimatsdorfe Saint-Firmin senden, machte sich dann auf den Weg durch die Stadt und verkaufte das Öl in den reichen provencalischen Familien, die in Paris eine Stellung haben. Unglücklicherweise hat es nicht lange gedauert; er ist zu bäuerisch und hat sich überall vor die Türe setzen lassen. Da. ihm ein Krug Öl geblieben ist, das niemand will, leben wir davon. Ja, an den Tagen, wo wir Brot haben, tauchen wir es in das Öl.«
Er zeigte auf das Fäßchen, das in einem Winkel des Ladens stand. Das Öl war durchgesickert, die Mauer und der Fußboden zeigten breite Fettflecke.
Claude hörte auf zu lachen. Wie mußte das Elend den Menschen entmutigen! Wie will man jenen zürnen, die unter dem Joch des Elends seufzen? Er schritt in dem Atelier auf und ab, war nicht mehr böse über die durch Zugeständnisse erniedrigten Modellskizzen und duldete sogar die abscheuliche Büste. Bei seiner Wanderung stieß er auf eine Kopie, die Chaine im Louvre gemacht hatte, auf einen Mantegna, der mit einer außerordentlich trockenen Genauigkeit wiedergegeben war.
»Der dumme Kerl!« murmelte Claude; »es ist fast wie das Original; er hat nie etwas Besseres gemacht. Vielleicht besteht sein Unrecht nur darin, um vier Jahrhunderte zu spät geboren zu sein.«
Als die Hitze im Laden sehr stark wurde, zog er den Rock aus und setzte hinzu:
»Es dauert lang, bis er seinen Tabak holt.«
»Ich kenne seinen Tabak«, sagte Mahoudeau, der sich wieder an seine Büste gemacht hatte und jetzt den Backenbart bearbeitete. Sein Tabak ist da jenseits der Mauer. Wenn er mich beschäftigt sieht, schleicht er zu Mathilden, weil er mich zu betrügen glaubt. Geh, Tölpel!«
»Die Liebschaft mit ihr dauert noch immer?«
»Ja, es ist eine Gewohnheit. Sie oder eine andere. Übrigens will sie nicht weichen. Es bleibt für mich noch mehr als genug übrig!«
Er sprach übrigens von Mathilden ohne Zorn und sagte bloß, sie müsse krank sein. Seit dem Tode des kleinen Jabouille war sie wieder in Frömmigkeit verfallen, was sie nicht hinderte, durch ihre Aufführung im ganzen Stadtviertel Ärgernis zu erregen. Trotzdem ihr einige fromme Damen geblieben waren, die fortfuhren, bei ihr gewisse geheimnisvolle intime Gegenstände zu kaufen, um ihrer Schamhaftigkeit die erste Verlegenheit zu ersparen, sie anderswo zu verlangen, ging es mit der Kräuterhandlung abwärts, und der Bankerott schien nahe bevorzustehen. Als eines Abends die Gasgesellschaft ihr die Uhr gesperrt hatte, weil sie mit der Zahlung im Rückstande war, hatte sie bei den Nachbarn Olivenöl geliehen, das übrigens in den Lampen nicht brennen wollte. Sie bezahlte niemanden, vermied selbst die Ausgabe für einen Arbeiter und vertraute Chaine die Ausbesserung der Spritzen und Klystiere an, welche die frommen Damen ihr sorgfältig in Zeitungspapier eingewickelt zurückbrachten. Bei dem Weinhändler gegenüber behauptete man sogar, daß sie in den Klöstern schon gebrauchte Spritzenröhrchen von neuem verkaufte. Kurz: es war ein Zusammenbruch; der geheimnisvolle Laden mit seinem huschenden Schatten von Sutanen, ihrem Geflüster, so heimlich wie im Beichtstuhl, ihrem kalten Weihrauchduft, alles, was es da an kleinen Verrichtungen und Besorgungen gab, von denen man nicht laut sprechen konnte, – es geriet in Vernachlässigung und Verfall. Die Not war so groß, daß die trockenen Kräuter an der Decke eine Beute der Spinnen wurden und die Blutegel tot und grün an der Oberfläche der Gläser schwammen.
»Da ist er schon«, sagte der Bildhauer; »sie wird gleich hinterdrein kommen.«
Chaine kam in der Tat zurück. Er holte in auffälliger Weise eine Tüte Tabak hervor, stopfte seine Pfeife und begann, vor dem Ofen zu rauchen. Es war wieder so still geworden, als wenn kein Mensch da sei. Sogleich erschien Mathilde als Nachbarin, die im Vorübergehen einen guten Morgen sagen will. Claude fand sie noch abgemagerter, das Gesicht mit roten, unter der Haut sitzenden Flecken gesprenkelt, mit ihren lodernden Augen und ihrem, durch den Verlust von weiteren zwei Zähnen noch breiter gewordenen Munde. Die aromatischen Gerüche, die sie stets in den ungekämmten Haaren trug, schienen jetzt ranzig zu werden; es war nicht mehr der süßliche Geruch der Kamillen, noch auch der frische Duft des Anis; sie erfüllte den Raum mit jener scharfen Pfeffermünze, die ihr Hauch zu sein schien, aber herb geworden und gleichsam verdorben durch das zermarterte Fleisch, das ihn ausatmete.
»Schon bei der Arbeit!« rief sie. »Guten Morgen, mein Püppchen.«
Sie küßte Mahoudeau, unbekümmert um Claude. Dann schüttelte sie diesem die Hand mit jener Schamlosigkeit, jener ihr eigentümlichen Art, den Bauch vorzustrecken, die sie gleichsam allen Männern sich anbieten ließ.
»Daß ich euch nur sage«, – fuhr sie fort; »ich habe eine Büchse Eibischpastillen gefunden, die wollen wir zum Frühstück essen. Wir teilen sie auf; das wird gut tun, nicht wahr?«
»Ich danke«, sagte der Bildhauer, »das verpappt mir den Mund. Ich rauche lieber meine Pfeife.«
Als er Claude seinen Überrock nehmen sah, rief er:
»Wie, du gehst schon?«
»Ja, ich will mir die Beine wieder gelenkig machen und wieder ein wenig Pariser Luft atmen.«
Doch verweilte er noch einige Minuten, um Chaine und Mathilden zuzusehen, die sich mit Eibischpastillen stopften und immer nacheinander ein Stück davon nahmen. Trotzdem er schon unterrichtet war, sah er dennoch mit Erstaunen Mahoudeau ein Stück Kohle nehmen und die Worte an die Wand schreiben: »Gib mir den Tabak, den du in deine Tasche gesteckt hast.«
Wortlos zog Chaine die Tüte hervor und reichte sie dem Bildhauer, der seine Pfeife stopfte.
»Nun denn, auf baldiges Wiedersehen!«
»Ja; wenn nicht früher, jedenfalls nächsten Donnerstag bei Sandoz.«
Auf der Straße stieß Claude einen Ruf der Überraschung aus bei dem Anblick eines Herrn, der vor der Kräuterhandlung stehend, zwischen den verstaubten Bandagen des Aushängekastens hindurch das Innere des Ladens musterte.
»Schau, Jory! Was machst du da?«
»Nichts; ich ging gerade vorüber und schaute hinein ...«
Doch er hielt sein Lachen nicht zurück; dann dämpfte er die Stimme, als ob man ihn hätte hören können, und fragte:
»Sie ist bei den Kameraden, nicht wahr? ... Gut, laß uns rasch fortgehen. Es bleibt für einen andern Tag.«
Er führte den Maler hinweg und erzählte ihm abscheuliche Geschichten. Jetzt kam die ganze Schar zu Mathilden: einer hatte es dem andern gesagt, und sie kamen der Reihe nach, manchmal mehrere zugleich, wenn sie es so drolliger fanden, es geschahen greuliche Geschichten, die er ihm ins Ohr flüsterte, mitten in der Straße stehen bleibend, unbekümmert um die Stöße der Vorübergehenden. Was? Rom war wieder erstanden! Konnte er sich das Bild vorstellen da hinter dem Wall von Bandagen und Spritzen unter den Heilkräutern, die von der Ladendecke herab zerstäubten! Eine feine Bude, ein Lustort für Pfaffen, mit den Gerüchen einer verdächtigen Winkel-Parfümeuse, die in einer kapellenartigen Stille ihr Gewerbe betreibt.
»Aber«, sagte Claude lachend, »du hast doch das Weib für abscheulich erklärt?«
Jory machte eine Gebärde der Sorglosigkeit.
»Ach, was wir mit ihr machen wollen, dazu ist sie gut ... Ich kam heute Morgen vom Westbahnhofe zurück, wohin ich einen Freund begleitete; und weil ich durch diese Gasse kam, wollte ich die Gelegenheit benützen. Du wirst doch einsehen, daß man sich nicht gerade deshalb herbemüht.«
Er gab diese Erklärungen mit einer Miene der Verlegenheit; dann entriß ihm, dem Gewohnheitslügner, der Freimut seines Lasters folgendes Geständnis:
»Wenn du es wissen willst: ich finde sie ganz außerordentlich! Sie ist nicht schön, das gebe ich zu; aber sie ist eine Hexe; kurz ein Weib, das man vor den Leuten nicht mit der Zange anfassen möchte, und für das man dennoch die schlimmsten Torheiten zu begehen imstande ist.«
Jetzt erst fiel ihm auf; daß er Claude in Paris sah; als dieser ihn aufgeklärt hatte und er erfuhr, daß der Maler sich wieder in Paris niedergelassen, rief er plötzlich:
»Hör' mal, ich nehm' dich mit; du kommst mit mir zu Irma frühstücken.«
Der Maler lehnte betroffen ab; er schützte vor, keinen schwarzen Rock zu haben.
»Was schadet das? Im Gegenteil, es wird umso drolliger sein. Irma wird entzückt sein. Ich glaube, sie hat ein Auge auf dich geworfen; sie spricht immer von dir. Sei nicht dumm! Ich sage dir, sie erwartet mich heut, und wir werden wie Prinzen empfangen.«
Er ließ seinen Arm nicht mehr los, und sie setzten plaudernd ihren Weg in der Richtung zur Magdalenen-Kirche fort. Gewöhnlich schwieg er über seine Liebschaften, wie die Trunkenbolde über den Wein Schweigen beobachten. Diesen Morgen jedoch sprudelte er über, scherzte über sich selbst, gestand seine Geschichten. Seit langer Zeit schon hatte er mit der Tingeltangel-Sängerin gebrochen, die er aus seinem Städtchen mitgebracht; jene, die ihm mit ihren Fingernägeln so oft das Gesicht zerkratzt hatte. Jetzt gingen bei ihm jahraus jahrein die Weiber wie wild aus und ein; und es waren die seltsamsten, unglaublichsten Weiber: die Köchin eines Bürgerhauses, wo er speiste; die rechtmäßige Gattin eines Stadtserganten, dessen Dienststunden er abwarten mußte; die junge Angestellte eines Zahnarztes, die sechzig Franken monatliche Bezahlung dafür erhielt, daß sie vor jedem Klienten sich einschläfern und wieder erwecken ließ, was dazu diente, das Vertrauen zu dem Zahnarzte zu befestigen; und noch andere; die fahrenden Mädchen aus den Speisehäusern, feine Damen, die abenteuerlustig waren, die kleinen Wäscherinnen, die ihm seine Leibwäsche brachten, die Haushälterinnen, die ihm sein Bett machten; alle, die sich dazu hergaben: die ganze Straße mit ihren zufälligen Begegnungen; alles, was sich anbot und was man stahl, und zwar auf gut Glück: die schönen, die häßlichen, die jungen, die alten, ohne Wahl, bloß um seine starken Mannesgelüste zu befriedigen, wobei er die Qualität für die Quantität opferte. Jede Nacht, wenn er allein heimkehrte, trieb ihn das Entsetzen vor seinem kalten Bett auf die Jagd, und er trieb sich auf den Fußsteigen herum bis in die späten Nachtstunden, wo einsame Wanderer abgeschlachtet werden, und ging nicht eher schlafen, als bis er eine aufgetrieben hatte; dabei war er in dem Grade kurzsichtig, daß ihm die seltsamsten Mißgriffe passierten; so geschah es, daß er eines Morgens eine Sechzigjährige neben sich liegen sah, deren weiße Haare er in der Eile für blonde angesehen hatte.
Im übrigen war er vom Leben entzückt; seine Geschäfte gingen gut. Sein geiziger Vater hatte ihm die Unterstützungen abermals entzogen und ihn wegen seiner Ärgernis erregenden Lebensweise verflucht. Aber er machte sich nichts daraus; er erwarb jetzt sieben- bis achttausend Franken jährlich als Journalist und hatte sich als Berichterstatter und Kunstkritiker eine Stellung errungen. Die geräuschvollen Tage des ›Tambour‹, die Artikel zu einem Goldstück waren längst vorbei; er führte jetzt ein geregeltes Leben und war Mitarbeiter zweier sehr gelesener Blätter; obgleich er im Grunde der spöttelnde Genußmensch geblieben war, dem der Erfolg alles galt, nahm er doch eine gewisse spießbürgerliche Wichtigtuerei an und tat Aussprüche, die unumstößlichen Urteilen gleichgeachtet wurden. Von seinem angeborenen Geiz getrieben, legte er bereits allmonatlich Geld in allerlei häßlichen, ihm allein bekannten Spekulationen an; denn niemals hatten seine Laster ihm weniger gekostet; wenn er mit dem Weibe sehr zufrieden gewesen und sich am Morgen in sehr freigebiger Laune befand, zahlte er eine Tasse Schokolade.
In der Moskauer Straße fragte Claude:
»Du unterhältst die kleine Bécot?«
»Ich?« rief Jory entrüstet. »Aber, mein Freund, sie hat eine Wohnung für zwanzigtausend Franken und spricht davon, ein Palais bauen zu lassen, das eine halbe Million kosten soll ... Nein, nein, ich frühstücke bei ihr und speise zuweilen zu Mittag; das ist doch genug.«
»Du schläfst wohl auch da?«
Der andere lachte und wich der Antwort aus.
»Narr, das gehört immer mit dazu ... Doch wir sind da; rasch hinein!«
Aber Claude wehrte sich noch immer. Sein Weib erwarte ihn zum Frühstück, er könne nicht bleiben. Jory mußte anläuten und ihn in den Flur drängen, wobei er wiederholte, das sei keine Entschuldigung, man werde den Kammerdiener nach seiner Wohnung senden, um seine Frau zu benachrichtigen. Eine Tür ward geöffnet, sie befanden sich Irma Bécot gegenüber, die, als sie den Maler ansichtig wurde, ausrief:
»Wie, sie sind's, Wilder?«
Er fühlte sich sogleich behaglich, denn sie empfing ihn wie einen alten Kameraden, und er empfand in der Tat, daß sie seinen alten Überrock nicht zu bemerken schien. Er war erstaunt, denn er erkannte sie kaum wieder. In vier Jahren war sie eine andere geworden; der Kopf war mit der Kunst einer Schauspielerin zugerichtet, die Stirn durch krause Löckchen verkleinert, das Gesicht – dank einer Willensanstrengung – in die Länge gezogen; das früher fahlblonde Haar war jetzt von einer flammenden Röte, so daß das kleine Gassenmädchen von ehemals sich in eine Kurtisane von Tizian verwandelt zu haben schien. In den Stunden, wo sie sich gehen ließ, sagte sie manchmal, das sei ihr Kopf für die Gimpel. Das Haus war eng und, wenn auch mit Luxus eingerichtet, dennoch unvollständig. Den Maler überraschten einige gute Bilder, die an den Wänden hingen: ein Courbet und vor allem eine Skizze von Delacroix. Das Mädchen war also nicht dumm, trotzdem es eine abscheuliche Katze von bemaltem Ton auf einer Konsole im Salon liegen hatte.
Als Jory sagte, man müsse den Kammerdiener in die Wohnung seines Freundes senden, rief sie überrascht:
»Wie? Sie sind verheiratet?«
»Ja«, erwiderte Claude einfach.
Sie blickte Jory an; dieser lächelte; sie begriff und fuhr fort:
»Ihr habt euch zusammengetan ... Und man erzählte mir, daß Sie vor den Frauen davonliefen! ... Ich bin ordentlich verletzt, weil ich Ihnen Furcht eingeflößt habe – erinnern Sie sich? Finden Sie mich denn häßlich, daß Sie noch immer vor mir zurückweichen?«
Mit beiden Händen hatte sie die seinen ergriffen und streckte das Gesicht vor, lächelnd und im Grunde wirklich verletzt, ihm aus unmittelbarer Nähe in die Augen schauend, mit dem lebhaften Wunsche zu gefallen. Er fuhr zusammen unter dem Hauche dieses Mädchens, der ihm heiß um den Bart strich. Doch sie ließ seine Hände wieder los und sagte:
»Nun, wir werden darüber noch reden.«
Mit der Überbringung der benachrichtigenden Zeilen Claudes wurde der Kutscher beauftragt, denn der Kammerdiener hatte die Tür des Speisezimmers geöffnet, um anzukünden, daß das Essen angerichtet sei. Das sehr feine Frühstück nahm im Beisein des mit kalter Höflichkeit aufwartenden Bedienten einen vornehmen Verlauf; man sprach von den großen Arbeiten, die Paris von unterst zu oberst kehrten, dann von den Preisen der Baugründe nach Art von Spießbürgern, die Gelder anzulegen haben. Doch als beim Nachtisch die drei vor Kaffee und Likören allein waren, wurden sie lebhafter und vergaßen sich, als seien sie wieder im Café Baudequin.
»Kinder«, sagte Irma, »es gibt nichts Schöneres, als unter einander lustig sein und sich um die Welt nicht kümmern!«
Sie rollte Zigaretten; sie hatte das Chartreuse-Fläschchen an sich genommen und leerte es; dabei ward sie sehr rot, und ihre Haare flatterten; sie war wieder in den Ton der verfluchten Kerle von der Straße verfallen.
Jory war im Zuge, sich zu entschuldigen, weil er ihr ein Buch nicht gesandt, das sie gewünscht hatte.
»Ich wollte das Buch gestern Abend gegen zehn Uhr kaufen, da traf ich Fagerolles ...«
»Du lügst«, sagte sie, ihn mit scharfer Stimme unterbrechend.
Um seinen Beteuerungen kurz ein Ende zu machen, setzte sie hinzu:
»Fagerolles war hier; du siehst also, daß du lügst.«
Dann wandte sie sich zu Claude.
»Es ist ekelhaft: Sie haben keinen Begriff von dieser Verlogenheit! ... Er lügt wie ein Weib um des bloßen Vergnügens willen an kleinen Schmutzigkeiten, die nichts weiter auf sich haben. Seine ganze Geschichte läuft darauf hinaus, daß er nicht drei Franken ausgeben wollte, mir dieses Buch zu kaufen. Jedesmals wenn er mir einen Blumenstrauß senden sollte, fuhr ein Wagen darüber, oder es gab keine Blumen mehr in Paris. Das ist einer, den man um seiner willen selbst lieben muß.«
Jory fühlte sich durch diese Reden nicht getroffen; er schaukelte sich auf seinem Sessel und sog an seiner Zigarre. Schließlich bemerkte er grinsend:
»Ja, wenn du mit Fagerolles wieder angeknüpft hast ..«
»Ich habe keineswegs wieder angeknüpft!« rief sie wütend. »Und dann: geht es dich etwas an? ... Ich kümmere mich wenig um deinen Fagerolles. Er weiß sehr wohl, daß ich keinen Groll kenne. Wir beide kennen uns gut; wir sind zwischen denselben Pflastersteinen hervorgewachsen. Wenn ich wollte, brauchte ich nur den kleinen Finger zu rühren, und er läge da vor mir auf der Erde und leckte mir den Staub von den Füßen. Dein Fagerolles hat mich nicht vergessen!«
Sie wurde immer lebhafter, und Jory fand es ratsam, den Rückzug anzutreten.
»Mein Fagerolles«, murmelte er; »mein Fagerolles ...«
»Ja, dein Fagerolles! Glaubst du, ich sehe euch nicht? ihn, wie er immer seine Hand in deinem Rücken hat, weil er Artikel von dir hofft; und dich als ›guten Jungen‹, den Nutzen berechnend, den es dir bringen kann, wenn du einem beim Publikum beliebten Künstler unterstützest?«
Verdrossen über diese Reden in Gegenwart Claudes, stammelte Jory verlegen. Er verteidigte sich nicht und zog es vor, die Sache ins Spaßhafte zu ziehen. War sie nicht ergötzlich, wenn sie sich so erhitzte, mit ihren lasterhaften Augen und ihrem zum Schimpfen verzerrten Munde?
»Aber, Liebste« – schloß er – »dabei geht dein Tizian-Kopf zugrunde!«
Sie war entwaffnet und lachte.
Wohlbehaglich leerte Claude die Kognak-Gläschen, ohne zu zählen, wie viele es waren. Seit den zwei Stunden, die sie beisammen waren, stieg in der Gesellschaft ein Taumel auf, ein Likör-Rausch, umwogt von Tabakrauch. Man sprach jetzt von anderen Dingen; es war von den hohen Preisen die Rede, welche die Malerei zu erzielen begann. Irma sprach nicht mehr; mit einem erloschenen Zigaretten-Stummel im Munde betrachtete sie unverwandten Blicks den Maler. Plötzlich fragte sie, ihn duzend wie im Traume:
»Woher hast du deine Frau genommen?«
Das schien ihn nicht zu überraschen; er saß zerstreut, gedankenlos da.
»Sie kam eben aus der Provinz und war bei einer Dame; und ehrbar, ganz bestimmt.«
»Und hübsch?«
»Ja, gewiß!«
Irma versank einen Augenblick wieder in ihr Brüten; dann sagte sie mit einem Lächeln:
»Alle Wetter, das war ein Glücksfall! Es gab keine mehr; man hat eigens für dich eine gemacht.«
Doch jetzt sprang sie vom Tische auf und rief:
»Was? bald drei Uhr! Kinderchen ich muß euch vor die Tür setzen. Ich habe ein Stelldichein mit einem Architekten; ich will einen Baugrund in der Nähe des Park Monceau besichtigen; ihr wißt in dem neuen Stadtviertel, das jetzt ausgebaut wird. Ich glaube, es ist da ein gutes Geschäft zu machen.«
Man war in den Salon zurückgekehrt; sie blieb vor einem Spiegel stehen und war verdrossen, als sie sich so rot sah.
»Es ist wegen des Hauses, nicht wahr?« fragte Jory. »Du hast also das nötige Geld aufgetrieben?«
Sie kämmte ihr Haar auf die Stirn herab, schien mit der Hand das Blut aus ihren Wangen zu verdrängen, verlängerte das Oval ihres Gesichtes und stellte so ihren Kopf einer goldblonden Kurtisane wieder her, der den eigenartigen Reiz eines Kunstwerks hatte; Jory antwortete sie bloß:
»Da ist mein Tizian-Kopf wieder!«
Lachend drängte sie die beiden auf den Flur. Dort ergriff sie nochmals die Hände Claudes und schaute ihm wortlos mit ihrem lüsternen Blick in die Augen. Auf der Straße fühlte er ein Mißbehagen. Die frische Luft ernüchterte ihn, und es reute ihn jetzt, dieser Dirne von Christine gesprochen zu haben. Er nahm sich fest vor, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen.
»Ein gemütlicher Kerl, nicht wahr?« rief Jory, indem er eine Zigarette anbrannte, die er vor dem Aufbruch noch aus der Schachtel genommen hatte. Die Bekanntschaft verpflichtet zu nichts: man frühstückt bei ihr, man speist bei ihr, man schläft bei ihr, dann Lebewohl und gute Nacht; jeder geht seinen Geschäften nach.«
Eine gewisse Scham hinderte Claude, sogleich heimzukehren, und als sein Gefährte, von dem Frühstück zu einem Spaziergang angeregt, davon sprach, man solle Bongrand auf suchen, war er von diesem Vorschlage entzückt und beide lenkten ihre Schritte nach der Clichy-Promenade.
Bongrand hatte hier ein geräumiges Atelier, wo er dem Geschmack des Tages nicht huldigte und jenen Aufwand an Teppichen und Schmuckgegenständen verschmähte, den die jüngeren Maler zu entfalten begannen. Es war das alte, kahle und graue Atelier, bloß mit einigen Studien des Meisters geschmückt, die ohne Rahmen an den Wänden hingen dicht beisammen wie die frommen Spenden in einer Kapelle. Der ganze Luxus bestand in einem Stehspiegel im Stile des Kaiserreichs, einem großen normannischen Schirm und zwei Lehnsesseln mit vom Gebrauch abgenütztem Utrechter Samt überzogen. In einer Ecke stand ein breites Sofa, bedeckt mit einem Bärenfell, das schon alle Haare verloren hatte. Aus seiner Jugend, die noch in die Zeit des Romantik fiel, hatte der Künstler die Gewohnheit einer besonderen Arbeitstracht beibehalten. So empfing er seine Besucher bekleidet mit einer weiten Hose, einem Talar, den eine Schnur um seinen Leib festhielt, und einem Priesterkäppchen auf dem Kopfe.
Er selbst hatte die Tür geöffnet, ohne Palette und Pinsel aus der Hand zu legen.
»Da sind Sie ja! das ist ein guter Gedanke! ... Ich dachte an Sie, mein Lieber. Jawohl; jemand hatte mir Ihre Rückkehr angezeigt, und ich hatte die Absicht, Sie demnächst zu besuchen.«
In einer Aufwallung lebhaften Wohlwollens hatte er seine freie Hand zuerst Claude hingestreckt. Dann drückte er die Jorys und fuhr fort:
»Sie, junger Pontifex, empfangen Sie meinen Dank für das freundliche Wort, das Sie mir in ihrem jüngsten Artikel gewidmet haben ... Treten Sie ein, meine Herren, Sie stören mich nicht; ich nütze den Tag bis zur letzten Minute aus, denn an diesen verwünschten Novembertagen hat man keine Zeit, etwas Rechtes zu arbeiten.«
Er hatte sich wieder an die Arbeit gemacht und stand vor seiner Staffelei, auf der eine kleine Leinwand befestigt war, zwei Frauen – Mutter und Tochter – darstellend, die in einer sonnenhellen Fensternische sitzen und nähen. Die jungen Leute blieben hinter dem Maler stehen und schauten zu.
»Das ist reizend!« murmelte Claude endlich.
Bongrand zuckte die Achseln, ohne sich umzuwenden.
»Eine Kleinigkeit! Man muß sich doch irgendwie beschäftigen, nicht wahr? Ich habe es in einem befreundeten Hause nach der Natur gemalt und putze jetzt ein wenig nach.«
»Aber es ist vollkommen, ein Juwel an Wahrheit und Licht!« rief Claude begeistert. »Diese Einfachheit! Sehen Sie, die Einfachheit gefällt mir besonders!«
Der Maler wich einen Schritt zurück, betrachtete sein Werk mit einem Augenzwinkern und sagte dann mit einer Miene der Überraschung:
»Sie finden? Das gefällt Ihnen wirklich? So hören Sie: eben als Sie kamen, war ich im Begriffe, das Bild ganz abscheulich zu finden. Bei meiner Ehre! ich gab mich schwarzen Gedanken hin und war überzeugt, nicht für zwei Heller Talent mehr zu haben.«
Seine Hände zitterten; sein ganzer großer Körper war von dem schmerzlichen Beben des Schaffens ergriffen. Er legte die Palette weg und trat fuchtelnd zu ihnen; dieser Künstler, der unter Erfolgen alt geworden, dessen Platz in der französischen Schule gesichert war, rief ihnen zu:
»Ihr seid erstaunt; ja, es giebt Tage, an denen ich mich frage, ob ich noch eine Nase zu zeichnen verstehe ... Jawohl; bei jedem meiner Bilder ergreift mich eine lebhafte Aufregung wie einen Anfänger; das Herz pocht mir, die Angst trocknet mir den Mund aus, kurz: es ist eine abscheuliche Beklemmung. Ihr jungen Leute glaubt diese Angst zu kennen und habt doch keine Ahnung davon; wenn ein Werk euch mißlingt, strengt ihr euch an, ein besseres zu schaffen, und seid quitt; niemand wird euch einen Vorwurf machen. Wir Alten hingegen, die wir unsern Maßstab geliefert haben und genötigt sind, uns selbst gleich zu bleiben, wenn nicht fortzuschreiten: wir dürfen nicht schwächer werden, wenn wir nicht in die allgemeine Grube geworfen werden wollen ... Geh, berühmter Mann, großer Künstler, verzehre dein Gehirn, verbrenne dein Blut, um höher, immer höher zu steigen; und wenn du auf dem Gipfel Fuß gefaßt hast, schätze dich glücklich und trachte, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. Wenn du fühlst, daß es abwärts mit dir geht, dann reibe dich vollends auf im Todeskampf deines Talentes, das mit der Zeit nicht mehr Schritt hält, in der Vergessenheit, der deine unsterblichen Werke verfallen sind, verzweifelt über deine ohnmächtigen Anstrengungen, Neues zu schaffen!«
Seine Stimme war allmählich zu einem Donnergrollen angewachsen, und in seinem breiten, roten Gesichte drückte sich Angst und Bangen aus. Von seiner Heftigkeit unwillkürlich getrieben, lief er im Atelier auf und ab und fuhr fort:
»Ich habe es euch zwanzigmal gesagt, daß man immer ein Anfänger bleibt, daß die Freude nicht darin besteht, oben angelangt zu sein, sondern in dem Aufstieg, in der Freude des Kletterns. Aber ihr versteht es nicht, ihr könnt es nicht verstehen, man muß es hinter sich haben ... Bedenkt nur: in eurem Alter erhofft man alles, erträumt man alles. Es ist die Zeit der schrankenlosen Wahnvorstellungen; man hat so gute Beine, daß die schwierigsten Wege kurz erscheinen; man ist von einem solchen Durst nach Ruhm verzehrt, daß die ersten kleinen Erfolge den Mund mit einem köstlichen Geschmack füllen. Wie schön, wenn man seinen Ehrgeiz wird befriedigen können! man ist fast schon so weit, man schindet sich mit Wonne. Dann ist es geschehen: der Gipfel ist erreicht, es handelt sich darum, sich dort zu behaupten. Da beginnt der Jammer; man hat den Rausch erschöpft, man findet ihn kurz und im Grunde bitter, des Kampfes nicht wert, den er gekostet. Nichts Unbekanntes ist mehr zu erkennen, kein Gefühl mehr zu empfinden. Der Stolz hat seinen Anteil am Ruhme gehabt; man weiß, daß man seine großen Werke geliefert hat, und ist erstaunt, daß sie keine größere Freude bereitet haben. Fortan schränkt sich der Gesichtskreis ein, keine neue Hoffnung winkt euch, es bleibt euch nichts übrig als zu sterben. Und dennoch klammert man sich an; man will nicht abgetan sein, man will vom Schaffen nicht lassen, wie die Greise vom Lieben, und hätte man auch nur die Mühe und Schande davon ... Man müßte den Mut und den Stolz besitzen, sich vor seinem letzten Meisterwerke aufzuknüpfen!«
Er war gewachsen, erschütterte fast die hohe Decke des Ateliers, von einer so gewaltigen Bewegung durchrüttelt, daß Tränen in seinen Augen erschienen. Dann sank er wieder auf einen Sessel vor seinem Bilde und fragte mit der unruhigen Miene eines Schülers, der ermutigt werden muß:
»Ihr findet es wirklich hübsch? ... Ich wage nicht daran zu glauben. Es muß ein Unglück sein, daß ich zuviel und doch nicht genug kritischen Sinn habe. Sobald ich an eine Studie gehe, versteige ich mich zur Begeisterung; wenn sie keinen Erfolg hat, martere ich mich. Es wäre besser, überhaupt keinen kritischen Sinn zu haben wie das Vieh Chambouvard, oder ganz klar zu sehen und das Malen sein zu lassen ... Gefällt euch das Bildchen wirklich? Sagt es offen.«
Claude und Jory standen unbeweglich, erstaunt und verwirrt angesichts dieser furchtbaren Geburtswehen. In welchem Augenblicke der Krise waren sie denn gekommen, daß dieser Meister vor Schmerzen heulte, indem er sie wie Kameraden zu Rate zog? Das Schlimmste war, daß sie ein Zögern nicht hatten verbergen können unter den großen, glühenden Augen, mit denen er sie anflehte, mit Augen, in denen die geheime Furcht vor seinem Niedergange zu lesen war. Sie kannten und teilten die allgemein verbreitete Meinung, daß der Maler seit seiner »Ländlichen Hochzeit« nichts geschaffen habe, was diesem berühmten Bilde gleichwertig sei. Nachdem er mit einigen Bildern sich auf der Höhe erhalten, glitt er zu einer mehr gekünstelten und trockenen Mache herab. Es schwand der Glanz, jedes neue Werk schien eine Stufe tiefer zu stehen. Aber das waren Dinge, die man nicht sagen konnte; und Claude – nachdem er sich gefaßt hatte – rief aus:
»Sie haben nie etwas so Mächtiges gemalt!«
Bongrand schaute ihm noch einmal fest in die Augen. Dann wandte er sich noch einmal zu seinem Werke, versenkte sich in seine Betrachtung und bewegte seine beiden Herkulesarme, als habe er sich anstrengen müssen, daß seine Knochen knackten, um dieses kleine, leichte Bildchen emporzuheben. Er bemerkte, mit sich selbst sprechend:
»Herrgott, wie schwer! Doch will ich lieber die Haut dabei lassen als vom Platze weichen!«
Er nahm die Palette wieder, beruhigte sich bei dem ersten Pinselstrich, rundete seine Schultern eines kräftigen Mannes mit seinem breiten Nacken, wo etwas von der zähen Vierschrötigkeit des Bauern in der Kreuzung mit der spießbürgerlichen Feinheit, aus der er hervorgegangen, zurückgeblieben war.
Ein Schweigen war eingetreten. Jory, dessen Augen noch immer auf dem Bilde hafteten, fragte:
»Ist es verkauft?«
Der Maler beeilte sich nicht mit der Antwort als Künstler, der arbeitet, wenn es ihm beliebt, und sich um den Erwerb nicht kümmert.
»Nein ... Es lähmt mich, wenn ich einen Händler hinter mir habe.«
Ohne in der Arbeit innezuhalten, fuhr er in heiterspöttischem Tone fort:
»Die Malerei wird nachgerade zum Geschäft! ... Ich als einer von den Alten habe Ähnliches nie gesehen ... Auch Sie, der liebenswürdige Journalist, haben in dem Artikel, in dem Sie mich nannten, den Jungen Blumen gestreut: es waren zwei, drei darunter, die geradezu Genie hatten.«
Jory lachte.
»Mein Gott, wenn man eine Zeitung hat, bedient man sich ihrer. Übrigens liebt das Publikum es, wenn man ihm große Männer entdeckt.«
»Gewiß die Torheit des Publikums ist grenzenlos, und es ist mir ganz recht, daß Sie diese ausbeuten ... Aber ich erinnere mich an die Anfänge zu unserer Zeit. Alle Wetter! wir waren nicht verhätschelt; wir hatten zehn Jahre Arbeit und Kämpfe vor uns, ehe wir in der Malerei ein Wörtchen mitreden durften ... Und heute? Der erst-beste grüne Junge, der ein Männchen hinmalen kann, läßt alle Trompeten der Öffentlichkeit erschallen. Und welche Öffentlichkeit! Ein Lärm, der Frankreich von einem Ende bis zum andern durchhallt, über Nacht auftauchende Berühmtheiten, die inmitten der gaffenden Menge einen höllischen Lärm machen. Von den Kunstwerken ganz zu schweigen, den armseligen Kunstwerken, die mit Artillerie-Salven angekündigt, mit einer wahnsinnigen Ungeduld erwartet werden, Paris acht Tage lang in eine Tollwut des Entzückens versetzen, um dann in ewige Vergessenheit zu versinken!«
»Sie machen da der aufklärenden Presse den Prozeß«, erklärte Jory, der sich auf das Sofa ausgestreckt und sich eine neue Zigarre angebrannt hatte. »Sie hat ihre guten und schlechten Seiten; aber man muß mit dem Strome schwimmen.«
Bongrand schüttelte den Kopf und rief mit einer geräuschvollen Heiterkeit:
»Es genügt, die mindeste Kleckserei aus der Hand zu geben, um ein junger Meister zu werden. Hören Sie: Ihre jungen Meister machen mir höllischen Spaß!«
Doch als habe eine Gedanken-Verbindung sich in ihm vollzogen, ward er plötzlich still und wandte sich an Claude mit der Frage:
»Haben Sie Fagerolles Bild gesehen?«
»Ja«, antworte der junge Mann einfach.
Beide schauten einander eine Weile an, und ein unbezwingliches Lächeln kräuselte ihre Lippen. Endlich sagte Bongrand:
»Das ist einer, der sie plündert!«
Jory blickte verlegen zu Boden und fragte sich, ob er Fagerolles in Schutz nehmen solle. Ohne Zweifel schien es ihm nützlich, es zu tun, denn er lobte dieses Bild, – eine Schauspielerin in ihrer Ankleideloge – dessen Wiedergabe im Kupferstich so viele Leute an die Schaufenster der Kunsthändler lockte. War der Vorwurf nicht modern? war es nicht hübsch gemalt im hellen Ton der neuen Schule? Man hätte vielleicht mehr Kraft verlangen können, allein man muß jedem seine Natur lassen. Und dann: Reiz und Vornehmheit liegen nicht auf der Straße.
Bongrand, der gewöhnlich über die jungen Maler sich nur in väterlich wohlwollenden Lobsprüchen äußerte, saß zitternd über seine Leinwand gebeugt und machte eine sichtbare Anstrengung, um nicht loszubrechen. Aber es brach gegen seinen Willen aus ihm hervor.
»Lassen sie uns in Frieden mit ihrem Fagerolles!« rief er. »Halten Sie uns denn für übernatürlich dumm? Sehen Sie den großen Maler hier? Ja, diesen jungen Mann, der vor Ihnen steht? Der ganze Kniff besteht darin, ihm seine Eigenart zu stehlen und sie der dünnen Tunke der Schule der schönen Künste anzubequemen. So ist es: man nimmt einen modernen Stoff, man malt hell, aber man behält die läppisch genaue Zeichnung, die angenehme Darstellung; kurz: die Formel, die dort zum Vergnügen der Spießbürger gelehrt wird. Das ganze wird mit Behendigkeit übergossen, mit jener abscheulichen Behendigkeit der Finger, die ebensogut Kokosnüsse schnitzen könnten, mit jener fließenden, wohlgefälligen Leichtigkeit, die den Erfolg ausmacht und die mit der Galeere bestraft werden müßte, verstehen Sie!«
Er schwang mit beiden geschlossenen Fäusten Pinsel und Palette.
»Sie sind streng«, sagte Claude verlegen. »Fagerolles hat wirklich seine Vorzüge.«
»Man hat mir erzählt«, brummte Jory, »daß er soeben einen sehr vorteilhaften Vertrag mit Naudet abgeschlossen hat.«
Dieser in das Gespräch geworfene Name brachte Bongrand noch einmal zum Sprechen. Er wiegte die Schultern und meinte:
»Naudet ... Naudet!«
Er belustigte sie sehr mit Naudet, den er gut kannte. Es war ein Kaufmann, der seit einigen Jahren einen wahren Umsturz im Bilderhandel hervorbrachte. Es war nicht mehr die alte Methode, der schmierige Rock und der feine Geschmack des Vaters Malgras, der den Bildern der Anfänger nachspürt, sie für zehn Franken kauft, um sie für fünfzehn weiterzugeben; es war nicht mehr der Kleinhandel des Kenners, der vor dem Bilde, nach dem es ihn gelüstet, eine Grimasse schneidet, um es in seinem Werte herabzusetzen, der im Grunde die Malerei anbetet und sein armseliges Leben damit fristet, in vorsichtigen Geschäften rasch sein kleines Kapital zu erneuern. Nein, der famose Naudet hatte das Auftreten eines feinen Herrn: Phantasie-Jackett, ein Brillant in der Halsbinde, parfümiert, lackiert, geschniegelt und geziert; überdies eine vornehme Lebensführung: ständige Mietdroschke, ständiger Sitz in der Oper, besonderer Tisch bei Bignon, Erscheinen an allen Orten, wo man als feiner Mann sich zeigen muß. Im übrigen ein Spekulant, ein Börsenmann, der sich über die gute Malerei gründlich lustig machte. Er hatte eine unvergleichliche Witterung für den Erfolg; er erriet den Künstler, den man in die Höhe bringen mußte; nicht den, der das umstrittene Genie eines großen Malers verhieß, sondern den, dessen verlogenes, von trügerischen Kühnheiten geschwelltes Talent auf dem spießbürgerlichen Markte zur Geltung kommen mußte. So geschah es, daß er einen Umsturz auf dem Markte hervorbrachte, indem er den ehemaligen Liebhaber vom Geschmack beiseite schob und nur mit dem reichen Liebhaber unterhandelte, der nichts von der Kunst versteht und ein Bild kauft wie einen Börsenwert aus Eitelkeit oder in der Hoffnung, daß es im Werte steigen werde.
Bongrand, ein alter Spaßvogel, an dem ein Schauspieler verloren gegangen, begann die Szene zu spielen. Naudet kommt zu Fagerolles. »Sie haben Genie, mein Lieber. Ihr Bild von neulich ist verkauft. Wie teuer denn? Für fünfhundert Franken. Aber Sie sind toll! es war zwölfhundert wert. Was kostet dieses da?« »Mein Gott, ich weiß nicht, sagen wir zwölfhundert!« »Verstehen Sie mich denn nicht, mein Lieber? Es ist zweitausend wert; ich nehme es für zweitausend. Von heute ab arbeiten Sie für mich, für Naudet. Leben Sie wohl, mein Lieber, und verschleudern Sie Ihr Talent nicht; Ihr Glück ist gemacht, ich nehme es auf mich.« Damit geht er fort; er nimmt das Bild in seinem Wagen und führt es bei seinen Liebhabern herum, unter denen er die Nachricht verbreitet hat, daß er soeben einen ganz außerordentlichen Maler entdeckt hat. Schließlich beißt einer an und fragt nach dem Preise. »Fünftausend.« »Wie? fünftausend? Das Bild eines Unbekannten! Wollen Sie mich zum Besten halten?« »Hören Sie, ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen: ich verkaufe Ihnen das Bild für fünftausend Franken und verpflichte mich schriftlich, es nach einem Jahre, wenn es Ihnen nicht mehr gefallen sollte, für sechstausend zurückzunehmen.« Das verlockt den Liebhaber; was riskiert er denn? Es ist im Grunde eine gute Anlage, und er kauft. Ohne Zeit zu verlieren, bringt Naudet in dieser Weise neun oder zehn Bilder jährlich an den Mann. Die Eitelkeit mengt sich mit der Hoffnung auf Gewinn, die Preise steigen, es bildet sich ein förmlicher Kurs, so daß, wenn er wieder bei seinem Amateur erscheint, dieser, anstatt das Bild zurückzugeben, ein anderes mit achttausend bezahlt. Die Preise gehen immer höher, die Malerei ist nur mehr ein Gebiet für fragwürdige Geschäfte, ein Goldbergwerk auf den Höhen von Montmartre, von Bankiers in die Höhe gebracht; man reißt sich um die Bilder, daß die Banknoten nur so in der Luft herumfliegen.
Claude war entrüstet; Jory fand den Mann sehr schlau. Da ward an die Tür geklopft. Bongrand öffnete und stieß einen Ruf der Überraschung aus.
»Sieh da, Naudet! ... Soeben sprachen wir von Ihnen.«
Sehr vornehm gekleidet trotz des abscheulichen Wetters ohne das mindeste Stäubchen, trat Naudet grüßend ein mit der gemessenen Höflichkeit eines Mannes von der Welt, der in eine Kirche tritt.
»Sehr erfreut, sehr geschmeichelt, teurer Meister ... Ich bin überzeugt, Sie haben nur Gutes gesagt.«
»Keineswegs, Naudet, keineswegs!« sagte Bongrand im ruhigem Tone. »Wir sagten, daß Ihre Art, die Malerei auszubeuten, dazu angetan sei, uns ein schönes Geschlecht von spottsüchtigen Malern und unredlichen Geschäftsleuten zu schaffen.«
Naudet blieb ruhig und lächelte.
»Das Wort ist hart, aber reizend! Nur zu, teurer Meister, von Ihnen verletzt mich nichts.«
Vor dem kleinen Bilde – den zwei nähenden Frauen – in Verzückung geratend, rief er aus:
»Ei, mein Gott! dieses Wunderwerk kannte ich ja gar nicht! Dieses Licht, diese solide und breite Arbeit! ... Man muß bis Rembrandt zurückgehen, um Ähnliches zu finden ... Hören Sie, teurer Meister, ich bin nur gekommen, um Ihnen meine Achtung zu bezeugen; aber ich sehe jetzt, daß mein guter Stern mich geleitet hat. Machen wir endlich ein Geschäft miteinander; überlassen Sie mir dieses Juwel ... Ich zahle was Sie verlangen, ich bedecke es mit Gold.«
Man sah Bongrand bei jedem Satze gereizt mit den Schultern zucken. Er unterbrach den anderen rauh.
»Zu spät; es ist verkauft.«
»Verkauft? Mein Gott! Und können Sie den Verkauf nicht mehr rückgängig machen? Sagen Sie mir wenigstens: an wen? Ich werde alles aufbieten, jeden Preis zahlen ... Welch ein furchtbarer Schlag! Verkauft! Sie sind dessen sicher? Wenn ich Ihnen den doppelten Preis böte?«
»Es ist verkauft, Naudet; und nun genug, ja?«
Doch der Händler fuhr fort zu wehklagen. Er blieb noch einige Minuten, begeisterte sich vor anderen Studien, machte die Runde im Atelier mit den scharfen Blicken eines Wettenden, der seine Gewinn-Aussichten berechnet. Als er endlich begriffen, daß er zu ungünstiger Stunde gekommen sei und nichts mitnehmen werde, ging er von dannen, mit dankbarer Miene grüßend und noch auf dem Flur sich in Ausrufen der Bewunderung ergehend.
Jory, der überrascht zugehört hatte, gestattete sich eine Frage, sobald der andere draußen war.
»Mich dünkt, Sie sagten uns, es sei nicht verkauft?«
Bongrand antwortete nicht sogleich. Er kehrte zu seiner Leinwand zurück; dann rief er mit dröhnender Stimme, die sein verborgenes Leid, seinen uneingestandenen inneren Kampf verriet:
»Er langweilt mich, er wird nie etwas von mir bekommen! ... Mag er von Fagerolles kaufen.«
Eine Viertelstunde später nahmen auch Claude und Jory Abschied und ließen ihn bei der Arbeit zurück, die er im Lichte des zur Neige gehenden Tages eifrig fortsetzte. Als draußen der erstere sich von seinem Gefährten getrennt hatte, ging er nicht sogleich heim, trotzdem er schon lange von Hause fort war. In seinem Bedürfnis, noch weiter zu wandern, sich diesem Paris zu überlassen, wo die Begegnungen eines einzigen Tages ihm den Schädel füllten, irrte er noch weiter herum bis zur sinkenden Nacht im eisigen Schmutz der Straßen bei dem Lichte der Gaslaternen, die eine nach der andern angezündet wurden und im Nebel rauchenden Sternen glichen.
Claude erwartete ungeduldig den Donnerstag, um bei Sandoz zu essen; dieser empfing noch immer einmal wöchentlich seine Freunde. Der Tisch war gedeckt; wer kommen wollte, kam. Obgleich er geheiratet, seine Lebensweise geändert, sich mitten in den literarischen Kampf gestürzt hatte: behielt er seinen Empfangstag bei, den Donnerstag, der noch aus jener Zeit datierte, da im Kollegium dies sein Ausgangstag war und er seine ersten Tabakspfeifen rauchte. Es sei ein Kamerad mehr da, pflegte er zu sagen, indem er auf seine Frau anspielte.
Er hatte sich Claude gegenüber offen ausgesprochen.
»Die Geschichte verdrießt mich sehr ...«
»Du bist nicht verheiratet ... Ich für mein Teil würde deine Frau sehr gern empfangen. Aber die albernen Spießbürger lauern mir auf und würden abscheuliche Dinge erzählen ...«
»Gewiß, Christine selbst würde nicht kommen ... Wir begreifen es sehr wohl; ich komme allein; zähle darauf.«
Um sechs Uhr begab sich Claude zu Sandoz in der Nollet-Straße tief in Batignolles. Nur mit vieler Mühe entdeckte er das Häuschen, das sein Freund bewohnte. Zuerst betrat er ein großes Haus, das in der Straßenzeile erbaut war; hier wandte er sich an den Pförtner, der ihn durch drei Höfe wies; dann kam er durch einen engen Gang zwischen zwei anderen Gebäuden, stieg eine Treppe von wenigen Stufen herab und stieß an das Gitter eines schmalen Gartens. Das war es; das Häuschen befand sich am Ende einer Allee. Aber es war so finster, er war auf der Treppe so sehr in Gefahr gewesen, die Beine zu brechen, daß er sich nicht weiter wagte, umsomehr als ein riesiger Hund ein wütendes Gebell ausstieß. Endlich hörte er die Stimme Sandoz', der den Hund beschwichtigend näher kam.
»Bist du's?« Wir wohnen so recht auf dem Lande, nicht wahr? Man muß eine Laterne anbringen, damit unsere Gäste sich nicht den Kopf einrennen. Herein! herein! ... Verwünschter Bertrand, bist du stille? Tölpel! siehst du nicht, daß es ein Freund ist?«
Der Hund begleitete sie schweifwedelnd und mit fröhlichem Gebell nach dem Hause. Eine junge Magd war mit einer Laterne erschienen, die sie an dem Gitter festmachte, um die schreckliche Treppe zu beleuchten. Der Garten bestand aus einem kleinen Rasenplatz in der Mitte; darauf stand ein ungeheurer Pflaumenbaum, in dessen Schatten das Gras nicht recht gedeihen konnte. Vor dem niedrigen Häuschen mit nur drei Fenstern in der Front stand eine mit wildem Wein umsponnene Laube, darinnen schimmerte eine ganz neue Bank, die man als Zierde noch während der winterlichen Regen in Erwartung des sonnigen Frühlings aufgestellt hatte.
»Nur herein«, wiederholte Sandoz.
Er führte ihn in den rechts vom Flur gelegenen Salon, der ihm als Arbeitszimmer diente. Speisezimmer und Küche lagen links vom Flur. Seine Mutter, die das Zimmer nicht mehr verließ, nahm im ersten Stockwerk das größere Zimmer ein, während das Ehepaar sich mit dem kleineren Zimmer und dem zwischen den beiden Gemächern gelegenen Ankleideraum begnügte. Das war alles: eine Kartonschachtel, Zimmer so groß wie Schubfächer, durch Wände getrennt so dünn wie ein Blatt Papier. Ein kleines Häuschen, von Arbeit und Hoffnung erfüllt, ungeheuer groß durch die Freuden der Jugend, verschönt durch einen Anfang von Wohlstand und Luxus.
»Hier haben wir Platz, wie?« rief Sandoz; »viel bequemer als in der Höllenstraße. Du siehst, ich habe ein Zimmer für mich allein; ich habe einen eichenen Tisch gekauft, um darauf zu arbeiten; meine Frau hat mir die Palme hier in diesem Topfe von Rouener Steingut geschenkt. Ist fein, wie?«
Eben trat seine Frau ein. Groß, mit einem ruhigen, freundlichen Gesicht und schönen braunen Haaren trug sie über ihrem sehr einfachen Kleide von schwarzer Popeline eine breite, weiße Schürze; obgleich sie eine Magd in ihren Dienst genommen hatten, befaßte sie sich doch mit der Küche, war stolz auf gewisse Gerichte und richtete ihr Haus mit gut bürgerlicher Sauberkeit und Feinschmeckerei ein.
Claude und sie waren sogleich wie alte Bekannte.
»Nenne ihn Claude, Liebste!« sagte Sandoz. »Und du, nenne sie Henriette. Nicht »gnädige Frau« – und nicht »mein Herr« – oder Ihr habt jedesmal eine Strafe von fünf Sous zu zahlen.«
Sie lachten; dann eilte Henriette in ihre Küche, um ein südländisches Gericht, die Bouillabaisse zu bereiten, womit sie die Freunde aus Plassans überraschen wollte. Das Rezept zu dieser Speise hatte sie von ihrem Gatten und wußte sie – wie er versicherte – mit erstaunlichem Geschick zu bereiten.
»Deine Frau ist reizend«, sagte Claude; »und sie verzärtelt dich.«
Vor seinem Arbeitstische sitzend, die Ellbogen zwischen den am Morgen geschriebenen Blättern seines neuesten Werkes, begann Sandoz von dem ersten Roman seiner Serie zu sprechen, den er im Oktober veröffentlicht hatte. Man hatte es ihm schön zugerichtet, sein armes Buch. Es war ein Erwürgen, ein Gemetzel; die ganze Kritik war heulend hinter ihm her; man schüttete eine Breitseite von Beschimpfungen über ihn aus, als habe er Reisende am Waldessaume abgeschlachtet. Er lachte darüber, es eiferte ihn noch an; denn er hatte feste Schultern, die ruhige Kraft eines Arbeiters, der weiß, wohin er geht. Nur eines setzte ihn in Verwunderung: das tiefe Unverständnis dieser Kerle, deren Artikel – auf einer Schreibpultecke zusammengeschweißt – ihn mit Schmutz bedeckten, ohne von der geringsten seiner Absichten eine Ahnung zu haben. Alles wurde in den Schimpfkübel geworfen: seine neue Studie über den physiologischen Menschen, die allmächtige Rolle, die er der Umgebung des Menschen beimaß, die gewaltige, ewig schöpferische Natur, kurz: das Leben, das ganze, allgemeine Leben, das von einem Ende des Tierischen bis zum andern geht, ohne Hoch und Nieder, ohne Schönheit und Häßlichkeit; dann die Kühnheiten der Sprache, die Überzeugung, daß man alles sagen müsse, daß es abscheuliche Worte gebe, die geradeso notwendig sind wie das glühende Eisen, daß eine Sprache aus diesen Kraftbädern nur bereichert hervorgeht; und vor allem der sexuelle Teil, der fortdauernde Anfang und Abschluß der Welt, aus der Schmach hervorgezogen, hinter der man ihn verbirgt, in sein helles Licht gestellt. Daß man ihm zürnte, wollte er sich gern gefallen lassen; aber er hätte wenigstens gewünscht, daß man ihm die Ehre antue, ihn zu verstehen, und man ihm wegen seiner Kühnheiten zürne, nicht wegen der blöden Unflätigkeiten, die man ihm beilegte.
»Schau!« fuhr er fort, »ich glaube, daß es noch mehr Tölpel als Bösewichte gibt ... Es ist die Form, die sie so wütend wider mich macht, der geschriebene Satz, das Bild, das Lebendige des Stils. Ja, das ganze Spießbürgertum platzt vor Haß gegen die Literatur.«
Er schwieg in tiefer Traurigkeit.
»Bah«, sagte Claude nach einer Weile, »du bist glücklich, denn du arbeitest und schaffst.«
»Oh ja, ich arbeite, ich fördere meine Bücher bis zur letzten Seite. Aber wenn du wüßtest! wenn ich dir erzählte, in welcher Trostlosigkeit, unter welchen Qualen ich arbeite! Die Tölpel zeihen mich jetzt gar des Stolzes, mich, den die Unvollkommenheit meines Werkes bis in den Schlaf verfolgt; mich, der ich niemals die am vorhergehenden Tage geschriebenen Seiten überlese aus Furcht, daß ich sie abscheulich finde, unwert der Fortsetzung. Ich arbeite; gewiß, ich arbeite. Ich arbeite, gleichwie ich lebe, weil ich dazu geboren bin; aber ich bin deshalb nicht froher; ich kann mich nie zufriedenstellen, und am Schlusse droht immer der große Sturz.«
Eine laute Stimme unterbrach ihn, und Jory erschien, des Lebens sich freuend und erzählend, daß er soeben einen alten Artikel umgearbeitet habe, um seinen Abend frei zu haben. Gagnière und Mahoudeau, die sich vor dem Haustor getroffen, folgten alsbald plaudernd nach. Der erstere hatte sich seit einigen Monaten in eine neue Farben-Erklärung versenkt und erklärte dem andern den Vorgang.
»Ich setze meinen Ton hin«, fuhr er fort. »Das Rot der Fahne verblaßt und vergilbt, weil es sich von dem Blau des Himmels abhebt, dessen ergänzende Farbe – Orange – sich mit dem Rot zusammentut.«
Claude, den die Sache interessierte, befragte ihn darüber, als die Magd ein Telegramm brachte.
»Dubuche entschuldigt sich«, sagte Sandoz; »er will uns gegen elf Uhr überraschen.«
In diesem Augenblicke öffnete Henriette die Tür angelweit und kündigte das Essen an. Sie hatte nicht mehr ihre Küchenschürze vor und drückte fröhlich als Frau des Hauses die ihr entgegengestreckten Hände. Zu Tische! es sei halb acht Uhr, die Bouillabaisse könne nicht warten. Als Jory bemerkte, Fagerolles habe ihm versichert, daß er komme, wollte man nichts hören; Fagerolles wurde lächerlich in seiner Rolle eines jungen Meisters, der mit Arbeiten überhäuft ist.
Das Speisezimmer war so klein, daß man, um das Piano unterzubringen, eine Art Alkoven in eine dunkle Kammer durchbrechen mußte, die bisher für das Geschirr gedient hatte. An großen Empfangstagen fanden immerhin zehn Personen Platz rings um den runden Tisch im Lichte der weißen Porzellanlampe; dann mußte man aber den Speiseschrank verstellen, so daß die Magd nicht einen Teller vom Bort holen konnte. Übrigens bediente die Hausfrau selbst bei Tische, der Hausherr saß ihr gegenüber hart an dem blockierten Büfett, um ihr von da alles, was sie brauchte, hinüberzureichen.
Henriette hatte Claude zu ihrer Rechten, Mahoudeau zu ihrer Linken sitzen, während Jory und Gagnière zu beiden Seiten Sandoz' saßen.
»Franziska!« rief die Hausfrau; »geben Sie mir die gerösteten Brotschnitten, sie stehen auf dem Ofen.«
Als die Magd die gerösteten Brotschnitten gebracht hatte, tat sie je zwei davon auf jeden Teller und begann dann die Suppe der Bouillabaisse darüber zu schütten. Da ging die Tür auf.
»Fagerolles, endlich!« rief sie. »Setzen Sie sich hierher, zu Claude.«
Er entschuldigte sich sehr höflich und führte eine geschäftliche Zusammenkunft an. Er trug sich jetzt sehr elegant; in seinen Kleidern von englischem Schnitt hatte er das Aussehen eines Klubmenschen mit einem Stich in das Künstlerisch-Zwangslose. Als er Platz genommen hatte, schüttelte er seinem Nachbarn sogleich die Hand und bekundete eine lebhafte Freude.
»Mein lieber Claude! Schon seit langem wollte ich dich besuchen. Jawohl; zwanzigmal schon hatte ich es vor, zu dir zu gehen; aber ... du weißt ja ... das Leben ...«
Claude, der sich angesichts dieser Beteuerungen sehr unbehaglich fühlte, bemühte sich mit ähnlicher Herzlichkeit zu antworten. Doch Henriette, die fortfuhr, ihre Gäste zu bedienen, rettete ihn, indem sie ungeduldig ausrief:
»Fagerolles, reden Sie; wollen Sie zwei geröstete Brotschnitten?«
»Gewiß, Gnädige, zwei Brotschnitten. Ich esse die Bouillabaisse für mein Leben gern; und Sie bereiten sie wunderbar, Gnädige!«
Alle waren in der Tat entzückt von diesem Gericht, hauptsächlich aber Jory und Mahoudeau, die erklärten, daß sie es in Marsaille niemals besser gegessen hätten, so daß die junge Frau, entzückt, noch rosigrot von der Hitze des Feuerherdes, mit dem großen Löffel in der Hand vollauf zu tun hatte, die Teller zu füllen, die ihr immer wieder hingehalten wurden. Sie verließ sogar den Sessel und lief in die Küche, um den Rest der Suppe zu holen, denn die Magd verlor den Kopf.
»Aber iß doch!« rief Sandoz ihr zu. »Wir warten, bis du gegessen hast.«
Doch sie gab nicht nach, sondern blieb bei ihren Hausfrauenpflichten.
»Laß nur«, antwortete sie. »Gib lieber das Brot her; dort hinter dir auf dem Büfett. Jory zieht die weiche Krume vor.«
Jetzt erhob sich auch Sandoz und half mit die Gäste bedienen, während man über Jory scherzte und die Pasteten, die er liebte.
Durchdrungen von dieser anheimelnden Heiterkeit, wie aus einem Schlafe erwacht, betrachtete Claude sie alle und fragte sich, ob er sie gestern verlassen habe, oder ob wirklich vier Jahre verflossen seien, seitdem er eines Donnerstags zuletzt hier gegessen. Dennoch waren sie andere geworden; er fühlte, daß sie sich verändert hatten, Mahoudeau hatte die Not verbittert, Jory war in sein Genußleben versunken, Gagnière mit seinen Gedanken in weiter Ferne; und besonders schien es ihm, als verbreite der neben ihm sitzende Fagerolles – trotz seiner übertriebenen Herzlichkeit – Kälte um sich. Ohne Zweifel waren ihre Gesichter, durch das Leben abgenützt, etwas älter geworden. Aber nicht das war es; es schien eine Kluft zwischen ihnen sich aufgetan zu haben; er sah sie einander entfremdet, obgleich sie Seite an Seite eng zusammen rings um diesen Tisch saßen. Auch war die Umgebung neu: heute brachte eine Frau ihren Reiz in die Gesellschaft, mäßigte, beruhigte sie durch ihre Anwesenheit. Warum hatte er denn angesichts des verhängnisvollen Laufes der Dinge, die vergehen und wiedererstehen, dieses Gefühl des Neubeginns? warum hätte er bestimmt versichert, er habe die vorige Woche an diesem Platze gesessen? Er glaubte endlich zu begreifen: Sandoz hatte sich nicht verändert, sondern an den Gewohnheiten des Herzens wie an den Gewohnheiten der Arbeit festgehalten, strahlend vor Freude, daß er sie an der Tafel seines jungen Hauswesens empfangen konnte, wie er ehemals erfreut gewesen, sein mageres Junggesellen-Essen mit ihnen zu teilen. Ein Traum von ewiger Freundschaft machte ihn veränderlich; in diesem Traume folgte Donnerstag auf Donnerstag, bis in die entferntesten Tage des Greisenalters. Alle ewig beisammen! alle zur nämlichen Stunde aufgebrochen und im nämlichen Siege ans Ziel gelangt!«
Sandoz schien den Gedanken zu erraten, der Claude stumm machte; er sagte ihm über den Tisch hinüber mit seinem gutmütigen Lächeln der Jugend:
»Da bist du wieder, lieber Alter! Alle Wetter! Du hast uns sehr gefehlt! ... Aber wie du siehst, hat sich nichts geändert, wir sind alle die nämlichen; nicht wahr, ihr Freunde?«
Sie nickten zustimmend mit den Köpfen. Ohne Zweifel, ohne Zweifel!
»Nur die Küche ist besser als in der Höllenstraße«, setzte er froh hinzu, »Ich hatte euch dort schauderhafte Sachen vorgesetzt!«
Nach der Bouillabaisse kam ein gebeizter Hasenrücken; ein Geflügelbraten mit Salat machte den Schluß des Essens. Aber man blieb noch lange sitzen; man verweilte beim Nachtisch, obgleich die Unterhaltung nicht so stürmisch war wie ehemals. Jeder sprach von sich selbst und schwieg schließlich, als er sah, daß ihm niemand zuhörte. Erst beim Käse und als man einen etwas säuerlichen Burgunder gekostet, von dem das junge Ehepaar auf Kosten der Urheberrechte nach dem ersten Roman des Gatten ein Fäßchen hatte kommen lassen, wurden die Stimmen lauter und lebhafter.
»Also du hast mit Naudet einen Vertrag geschlossen?« fragte Mahoudeau, dessen knochiges Hungerleider-Gesicht noch hohler geworden. »Ist es wahr, daß er dir für das erste Jahr fünfzigtausend Franken zugesichert hat?«
Fagerolles antwortete leichthin:
»Ja, fünfzigtausend ... Aber es ist noch nichts abgeschlossen, ich überlege die Sache noch; es ist doch unbequem, sich so zu binden. Ich will mich nicht festrennen.«
»Ei, ei, du bist aber schwierig«, murmelte der Bildhauer. »Für täglich zwanzig Franken unterschreibe ich alles, was man will.«
Alle hörten jetzt Fagerolles zu, der den durch seine wachsenden Erfolge eitel gemachten Mann spielte. Er hatte noch immer sein hübsches, keckes Dirnengesicht; aber eine gewisse Anordnung der Haare und der Zuschnitt des Bartes verliehen ihm einen gewissen Ernst. Obgleich er noch zuweilen zu Sandoz kam, trennte er sich doch von der Schar, trieb sich auf den Promenaden, in den Kaffeehäusern, in den Zeitungsredaktionen herum, an allen öffentlichen Orten, wo er nützliche Bekanntschaften machen konnte. Dies war ein Vorgehen, ein Wille, seinen Triumph gesondert zu suchen, der schlaue Gedanke, daß er, um Erfolg zu haben, nichts mehr mit diesen Revolutionären gemein haben dürfe: keinen Händler, keine Beziehungen, keine Gewohnheiten. Man sagte sogar, daß er die Frauen einiger Salons dem Aufbau seines Glückes dienstbar mache; nicht als brutaler Sinnenmensch wie Jory, sondern als Lasterhafter, der seine Leidenschaften beherrscht und sich darauf beschränkt, einigen alternden Baroninnen schön zu tun.
Jory kündigte eben einen Artikel an zu dem einzigen Zwecke, sich eine Bedeutung beizulegen; denn er gefiel sich in der Behauptung, Fagerolles gemacht zu haben, wie er ehemals Claude gemacht.
»Hast du Verniers Studie über dich gelesen? Das ist wieder einer, der mich abschreibt!«
»Er bekommt Artikel!« seufzte Mahoudeau.
Fagerolles machte eine Handbewegung, die Gleichgültigkeit ausdrücken sollte, aber er lächelte mit der geheimen Verachtung gegen die ungeschickten armen Teufel, die hartnäckig in ihrer albernen Abgeschlossenheit verharren, während es so leicht ist, die Menge zu erobern. Ihm genügte es, mit ihnen abzubrechen, nachdem er sie ausgeplündert. All der Haß, den man gegen sie hegte, kam ihm zugute; seine gemilderten Bilder überhäufte man mit Lobsprüchen, während die hartnäckig ungestümen Werke der anderen in den Schmutz gezerrt wurden.
»Hast du den Artikel Verniers gelesen?« wiederholte Jory zu Gagnière. »Ist's nicht wahr, daß er dasselbe sagt, was ich gesagt habe?«
Seit einer Weile versenkte sich Gagnière in die Betrachtung seines Glases, das auf dem weißen Tafeltuche stand und vom Wein rot gefärbt wurde. Jetzt fuhr er auf.
»Was? den Artikel Verniers?«
»Ja; kurz, alle Artikel, die über Fagerolles erscheinen.«
Verblüfft wandte er sich zu diesem.
»Man schreibt Artikel über dich. Ich weiß nichts davon, ich habe sie nicht gesehen ... Man schreibt Artikel über dich! Warum denn?«
Ein tolles Gelächter brach los; nur Fagerolles grinste verdrossen, weil er an einen boshaften Scherz glaubte. Allein Gagnière befand sich vollständig in gutem Glauben: er war erstaunt, daß ein Maler Erfolg haben konnte, der selbst das Gesetz der Werte nicht beobachtete. Einen Erfolg für diesen Schwindler? Niemals! Was soll dann aus dem Gewissen werden?
In dieser geräuschvoll heiteren Stimmung ging die Mahlzeit zu Ende. Man aß nicht mehr, nur die Frau des Hauses wollte noch einmal die Teller füllen.
»Liebling, gib doch acht«, wiederholte sie ihrem Manne, den die lebhafte Unterhaltung sehr angeregt hatte. »Der Zwieback steht auf dem Büfett, du darfst nur die Hand darnach ausstrecken.«
Doch sie wehrten ab, und man erhob sich. Da man den Abend beim Tee zubringen sollte, verweilten die Herren, an die Wände gelehnt, im Geplauder, während die Magd den Tisch abräumte. Das Ehepaar half ihr dabei; Henriette tat die Salzfässer in ein Schubfach, Sandoz half das Tafeltuch zusammenfalten.
»Die Herren können rauchen«, sagte die Hausfrau; »Sie wissen, daß es mich nicht im mindesten belästigt.«
Fagerolles hatte Claude in eine Fensternische gezogen und bot ihm eine Zigarre an, die dieser ablehnte.
»Richtig, du rauchst nicht? Höre: ich will mir demnächst ansehen, was du mitgebracht hast. Sicherlich sehr interessante Sachen. Du weißt, was ich von deinem Talent halte. Du bist der Tüchtigste ...«
Er zeigte sich sehr unterwürfig, war im Grunde aufrichtig, äußerte sich mit der Bewunderung von ehemals, für immer gezeichnet mit dem Stempel des Genies eines andern, den er anerkannte trotz seiner berechnenden Schlauheit. Doch seine Demut ward noch drückender durch eine bei ihm allerdings seltene Verlegenheit, durch die Verwirrung, in die ihn das Schweigen versetzte, das der Meister seiner Jugend über sein Gemälde beobachtete. So entschloß er sich denn und fragte mit zitternden Lippen:
»Hast du meine Schauspielerin im Salon gesehen? Liebst du diese Art? Sprich offen!«
Claude zögerte einen Augenblick, dann sagte er als guter Kamerad:
»Ja, es sind sehr hübsche Sachen daran.«
Fagerolles blutete schon innerlich, weil er diese dumme Frage gestellt hatte; jetzt verlor er vollends seine Fassung, entschuldigte sich, trachtete seine Anleihen als harmlos hinzustellen und seinen Pakt mit der alten Schule zu verteidigen. Als er endlich mit vieler Mühe und verzweifelt wegen seiner Ungeschicklichkeit sich herumgewunden hatte, ward er einen Augenblick wieder der Spaßmacher von ehemals, unterhielt sie alle, brachte selbst Claude zum Lachen, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Dann reichte er Henriette die Hand zum Abschiede.
»Wie? Sie verlassen uns so schnell?«
»Leider ja, teure Frau. Mein Vater hat heute Abend einen Amtsvorsteher zu Gaste, den er bearbeitet, um eine Auszeichnung zu erhalten ... Da ich einer seiner Rechtstitel bin, habe ich ihm versprechen müssen, nach Hause zu kommen.«
Als er fort war, verschwand Henriette, nachdem sie mit Sandoz einige leise Worte gewechselt hatte; man hörte das leise Geräusch ihrer Schritte im oberen Stockwerk. Seitdem Sandoz geheiratet, pflegte sie die alte kranke Mutter und entfernte sich im Laufe des Abends wiederholt, wie ehemals es der Sohn getan hatte.
Übrigens hatte keiner der Gäste bemerkt, daß sie hinausgegangen. Mahoudeau und Gagnière plauderten von Fagerolles und bekundeten eine dumpfe Erbitterung, ohne ihn jedoch geradehin anzugreifen. Es waren nur spöttische Blicke von einem zum andern, Achselzucken, die ganze stumme Verachtung junger Leute, die einen Kameraden nicht totmachen wollen. Sie wandten sich jetzt zu Claude; sie lagen vor ihm im Staube und erdrückten ihn schier mit den Hoffnungen, die sie in ihn setzten. Es war Zeit, daß er zurückkehrte; er allein mit den Gaben eines großen Meisters, seiner kräftigen Faust konnte der Meister, der anerkannte Führer sein. Seit dem Salon der Zurückgewiesenen hatte die Schule des Freilichts an Ausbreitung gewonnen, ihr wachsender Einfluß war wahrzunehmen. Leider zersplitterten sich die Anstrengungen, die neuen Anhänger begnügten sich mit Skizzen, mit oberflächlich hingeworfenen Eindrücken. Man harrte noch des erforderlichen Geistes, der die Formel in Meisterwerken verkörpern werde. Welch ein wichtiger Platz war da auszufüllen! Die große Menge erobern, ein neues Jahrhundert erschließen, eine neue Kunst schaffen! Claude hörte sie bleich mit gesenkten Blicken an. Ja, das war allerdings sein uneingestandener Traum, der Ehrgeiz, den er sich selbst nicht zu beichten wagte. Allein in die Freude über diese Schmeichelei mengte sich eine seltsame Angst, eine Furcht vor dieser Zukunft, wenn er hörte, wie sie ihn zu dieser Rolle eines Diktators erhoben, als ob er schon triumphiert habe.
»Laßt gut sein!« rief er endlich, »es gibt andere, die ebensoviel wert sind; ich habe mich selbst noch nicht gefunden.«
Jory war gereizt und rauchte still seine Zigarre. Doch als er die beiden anderen bei der Sache beharren sah, rief er plötzlich:
»Kinder, alles redet ihr nur deshalb, weil euch der Erfolg Fagerolles' ärgert.«
Sie protestierten laut und heftig. Fagerolles! der junge Meister! ein guter Spaß!
»Du läßt uns laufen, das wissen wir,« sagte Mahoudeau. »Wir brauchen nicht fürchten, daß du über uns zwei Zeilen schreibst.«
»Mein Gott! was ich über euch schreibe, wird mir gestrichen!« antwortete Jory verdrossen. »Man verabscheut euch überall. Wenn ich mein eigenes Blatt hätte!«
Jetzt erschien Henriette wieder; als Sandoz' Augen die ihren suchten, antwortete sie ihm mit einem Blick, mit jenem zarten, verstohlenen Lächeln, das er selbst auch ehemals immer zeigte, wenn er aus dem Zimmer seiner Mutter kam. Dann rief sie alle herbei, sie setzten sich wieder rings um den Tisch, während die Hausfrau den Tee bereitete und die Tassen füllte. Allein die Stimmung verschlechterte sich, ein Gefühl der Ermüdung hatte die Gesellschaft ergriffen. Vergebens ließ man Bertrand, den großen Hund, ins Zimmer, der für Zuckerstückchen sich erniedrigte und sich dann vor dem Ofen ausstreckte und schnarchte wie ein Mensch. Seit dem Gespräch über Fagerolles ward es von Zeit zu Zeit still in dem Gemach, und in dem Rauch der Pfeifen schien eine gewisse Langweile und Gereiztheit sich zu verdichten. Gagnière verließ sogar den Tisch, um sich an das Piano zu setzen, wo er einige Takte Wagnerscher Musik verstümmelte mit den steifen Fingern eines Musikliebhabers, der mit dreißig Jahren seine ersten Tonleitern versucht.
Gegen elf Uhr kam endlich Dubuche, und dies genügte, die Stimmung auf den Gefrierpunkt sinken zu lassen. Er war von einem Ball geflüchtet, um seinen alten Genossen gegenüber das zu erfüllen, was er für eine letzte Pflicht ansah; sein Frack, seine weiße Halsbinde, sein dickes, bleiches Gesicht drückten zugleich seine Verdrossenheit über sein Kommen aus, die Bedeutung, die er diesem Opfer beilegte, die Angst, die er hatte, sein neues Glück aufs Spiel zu setzen. Er vermied, von seiner Frau zu sprechen, um sie nicht zu Sandoz führen zu müssen. Als er Claude die Hand gedrückt hatte, – mit einer Ruhe, als habe er ihn gestern zuletzt gesehen – lehnte er die ihm angebotene Tasse Tee ab und sprach langsam mit aufgeblasenen Backen von den Mühseligkeiten seiner Einrichtung in einem neuen Hause, das noch nicht recht trocken sei; von der Arbeit, die ihn erdrücke, seitdem er sich mit den Bauten seines Schwiegervaters beschäftige, einer ganzen neuen Straße, die in der Nähe des Monceau-Parkes aufgeführt werde.
Claude fühlte ganz klar, daß ein Riß sich vollzog. Hatte das Leben wirklich schon die Abende von ehemals hinweggefegt, die so ungestüm und doch so brüderlich waren, als noch nichts sie trennte, kein einziger von ihnen seinen Anteil am Ruhm für sich allein behalten wollte? Heute begann der Kampf, jeder Hungrige biß zu. Ein kaum sichtbarer Riß war da, der die alten Freundschaften trennte und eines Tages in tausend Scherben sprengen mußte.
Sandoz aber in seinem Ewigkeitsbedürfnisse merkte nichts; er sah sie wie in der Höllenstraße Arm in Arm zu ihrem Eroberungszug aufbrechen. Warum sollte man ändern, was gut war? Lag nicht das Glück in einer Freude, die man unter allen gewählt hat und dann ewig genießt? Als – eine Stunde später – die Kameraden sich entschlossen zu gehen, weil der trostlose Eigennutz Dubuches, der endlos von seinen Geschäften sprach, sie einzuschläfern drohte, und als man den hypnotisierten Gagnière vom Piano weggezerrt hatte, bestand Sandoz darauf, mit seiner Frau trotz der kalten Nacht die Kameraden bis zum Gitter am Ende des Gartens zu begleiten. Er teilte Händedrücke aus und rief:
»Auf nächsten Donnerstag, Claude! ... Auf nächsten Donnerstag ihr alle! ... Kommt alle, ja?«
»Auf nächsten Donnerstag!« wiederholte Henriette, welche die Lampe genommen hatte und sie jetzt in die Höhe hielt, um die Treppe zu beleuchten.
Inmitten des Gelächters aller antworteten Gagnière und Mahoudeau scherzend:
»Lebe wohl, junger Meister! ... Gute Nacht, junger Meister! ...«
Draußen in der Nollet-Straße rief Dubuche sogleich eine Droschke, die ihn hinwegführte. Die anderen vier gingen zusammen bis zur äußeren Promenade, ohne ein Wort zu wechseln, gleichsam verwundert darüber, daß sie so lange beisammen waren. Als auf der Promenade eine Dirne vorüberkam, rannte Jory ihr nach, indem er vorgab, er habe bei seiner Zeitung Korrekturen zu lesen. Als Gagnière vor dem noch beleuchteten Café Baudequin Claude zurückhielt, weigerte sich Mahoudeau einzutreten und ging unter trübseligen Gedanken allein heim nach der Mittags-Straße.
Claude saß jetzt – ohne daß er es gewollt – an dem alten Stammtische dem schweigsamen Gagnière gegenüber. Das Kaffeehaus hatte sich nicht geändert; man versammelte sich daselbst noch immer am Sonntag; seitdem Sandoz in diesem Stadtviertel wohnte, beeilte man sich sogar, dahin zu kommen; allein die Schar verschwand in einer Flut neuer Gäste, man ging allmählich in der steigenden Alltäglichkeit der Jünger des Freilichts unter. Zu dieser späten Nachtstunde leerte sich übrigens das Kaffeehaus; drei junge Maler, die Claude nicht kannte, kamen herbei, um ihm die Hand zu drücken, ehe sie heimgingen; jetzt war außer ihnen niemand mehr da als ein Rentier aus der Nachbarschaft, der vor seinem Schälchen schlummerte.
Gagnière fühlte sich sehr behaglich wie zuhause, unbekümmert um den einzigen Kellner, der in dem leeren Saal die müden Glieder reckte. Mit träumerischen Augen schaute er Claude an, ohne ihn zu sehen.
Beiläufig fragte dieser: »Was hast du denn heute abend Mahoudeau erklärt? Ja, das Rot der Fahne vergilbt im Blau des Himmels. Du erforschest die Regeln der ergänzenden Farben, wie?«
Doch Gagnière antwortete ihm nicht. Er griff nach seinem Bierglase, stellte es wieder hin, ohne getrunken zu haben und murmelte schließlich mit einem Lächeln der Verzückung:
»Haydn, das ist die Anmut des Rhetorikers, die zarte, zitternde Musik der gepuderten, alten Urgroßmutter ... Mozart ist der geniale Vorläufer, der erste, der dem Orchester eine behendere Stimme verliehen hat ... Und diese beiden existieren hauptsächlich deshalb, weil sie Beethoven geschaffen haben ... Beethoven, die Macht, die Kraft in dem stillen Schmerze, Michel Angelo an der Gruft der Medici! Ein heroischer Logiker, ein Gehirnkneter, denn die Großen von heute sind alle von der Choral-Symphonie ausgegangen!«
Des Wartens müde begann der Kellner mit träger Hand die Gashähne abzudrehen. Schleppenden Ganges schritt er durch den trübseligen, öden, durch Speichellachen und Zigarrenstümpfe verunreinigten Saal, wo die schmutzigen Tische mit den Resten der verschiedenen Getränke ein ekliges Gemisch von Gerüchen verbreiteten.
Auf der Promenade draußen war es still; nur das Rülpsen eines spät heimkehrenden Trunkenboldes war zu hören.
Gagnières Gedanken schweiften noch immer in den Fernen, und er spann seine wirren Träume fort.
»Weber schreitet durch eine romantische Landschaft und führt den Totenreigen zwischen trauernden Weiden und krummästigen Eichen. Schubert folgt ihm im bleichen Mondenschein die silberschimmernden Seen entlang ... Und da ist Rossini, die verkörperte Vornehmheit, so lebensfroh, so natürlich; unbekümmert um den Ausdruck macht er sich über die Welt lustig. Er ist nicht mein Mann, nein; aber doch so erstaunlich durch den Reichtum seiner Erfindung, durch die riesigen Wirkungen, die er mit der Anhäufung der Stimmen und der immer kräftigeren Wiederholung desselben Themas erzielt. Diese drei haben Meyerbeer hervorgebracht, einen Schlaukopf, der aus allem Nutzen gezogen, nach Weber die Symphonie in die Oper verpflanzt, der unbewußten Formel Rossinis den dramatischen Ausdruck verliehen hat. Ein mächtiger Atem! der feudale Pomp, der militärische Mystizismus, das Leben der phantastischen Legenden, ein Schrei der Leidenschaft, der durch die Geschichte geht! Und Einfälle! Die Verkörperung der Instrumente, das dramatische Rezitativ symphonisch begleitet vom Orchester, die bestimmende Melodie, auf der das ganze Werk sich aufbaut. Ein großer Mann! ein sehr großer Mann!«
»Mein Herr, ich schließe«, meldete der Kellner.
Da Gagnière nicht einmal den Kopf umwandte, weckte er den kleinen Rentier, der noch immer vor seinem Schälchen schlief.
»Mein Herr, ich schließe.«
Der verspätete Gast erhob sich fröstelnd, tastete in dem dunkeln Winkel, wo er sich befand, nach seinem Stocke herum und ging fort – nachdem der Kellner jenen unter dem Sessel aufgelesen hatte.
»Berlioz hat die Literatur in seine Sache einbezogen. Er ist der musikalische Illustrator von Shakespeare, Virgil und Goethe! Aber welch ein Maler! der Delacroix der Musik, in blitzenden Farbengegensätzen lodern seine Klänge auf. Dabei der romantische Riß am Schädel, eine Frömmigkeit, die ihn fortreißt, Verzückungen, die über alle Gipfel gehen. Schlecht in der Mache der Oper, wunderbar im einzelnen Stück, vom Orchester, das er martert, oft zuviel fordernd, die Verkörperung der Instrumente zum Äußersten treibend, so daß für ihn jedes Instrument eine Person darstellt. Ach, was er von den Klarinetten gesagt, hat mich stets zusammenschauern lassen: »Die Klarinetten sind die geliebten Frauen!« Und Chopin! dieser Dandy in seinem Byronismus, der nebelhaft schwebende Dichter der Nervenkranken! ... Und Mendelssohn, dieser unfehlbare Künstler der feinen Arbeit, dieser Shakespeare in ballmäßigen Schnallenschuhen und Kniestrümpfen, dessen Romanzen ohne Worte wahre Schmuckstücke sind für die verständigen Damen! ... Und dann, und dann muß man niederknien vor ...«
Es brannte nur mehr eine Gasflamme über seinem Haupte, und der Kellner hinter seinem Rücken wartete in der finstern und eisigen Leere des Saales. Gagnières Stimme hatte ein andächtiges Zittern angenommen; er näherte sich dem Gegenstande seiner frommen Verehrung, dem fernen Allerheiligsten.
»Ach, Schumann! die Verzweiflung, der Genuß in der Verzweiflung! Ja, das Ende von allem, der letzte Gesang von trauriger Reinheit, über den Ruinen der Welt schwebend! ... Ach, Wagner! der Gott, in dem sich Jahrhunderte von Musik verkörpern! Sein Werk ist die ungeheure Arche, alle Künste in einer einzigen; und welches Vernichten des Herkömmlichen, der albernen Formeln! welche revolutionäre Befreiung in der Unendlichkeit! ... Die Einleitung zum Tannhäuser, welch ein erhabenes Hallelujah des neuen Jahrhunderts: vor allem der Pilgerchor, das fromme, ruhige, tiefe Motiv mit den langsamen Zuckungen; dann die Stimmen der Sirenen, die den Chor allmählich übertönen, die Lüste der Venus, voll sinnberückender Wonnen und süßer, einschläfernder Erschlaffung, immer lauter, immer wilder und gebieterischer; und alsbald das fromme Thema, das stufenweise wiederkehrt, wie ein Hauch aus der Ferne, sich aller Gesänge bemächtigt und in eine einzige, höchste Harmonie verschmilzt, um sie auf den Fittichen einer siegreichen Hymne emporzutragen!«
»Mein Herr, ich schließe«, wiederholte der Kellner.
Claude, der ihm nicht mehr zuhörte und gleichfalls in seine Gedanken versunken war, trank sein Bier aus und sagte sehr laut:
»Bester, man schließt!«
Da fuhr Gagnière erschauernd auf. Sein verklärtes Gesicht zog sich schmerzlich zusammen, und er fröstelte, als falle er aus einem Gestirn hernieder. Gierig trank er sein Bier; auf dem Fußwege draußen drückte er dem Gefährten still die Hand und verschwand im Dunkel der Nacht.
Es war fast zwei Uhr, als Claude heimkam. Seit einer Woche durchstreifte er so Paris, jeden Abend die fieberhaften Aufregungen des Tages mitbringend, aber noch niemals war er so spät und mit so glühendem Kopfe nach Hause gekommen. Von der Müdigkeit überwältigt schlief Christine unter der erloschenen Lampe, die Stirn auf den Tischrand gestützt.