Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.

In jener Nacht, da der schneidende Novemberwind durch ihre Stube und das geräumige Atelier blies, war es bald drei Uhr, als sie zu Bett gingen. Noch keuchend von ihrem Laufe war Christine rasch unter die Bettdecke geschlüpft, um zu verheimlichen, daß sie ihm gefolgt war; Claude hatte in tiefer Niedergeschlagenheit, ohne ein Wort zu sprechen, seine Kleider – eines nach dem andern – abgelegt. Ihr Lager blieb seit Monaten schon eisig kalt; sie streckten sich wie Freunde nebeneinander aus, nachdem die Bande des Fleisches zwischen ihnen sich langsam gelöst hatten; es war eine freiwillige Enthaltsamkeit, eine Keuschheit, zu der er endlich gelangen mußte, um seiner Malerei seine ganze Mannhaftigkeit zu widmen, und der sie sich in stolzem und stummem Schmerze gefügt hatte trotz der Marter ihrer Liebe. Aber noch niemals vor dieser Nacht hatte sie zwischen sich ein solches Hindernis gefühlt, eine solche Kälte, als könne fortan nichts mehr sie erwärmen und einander in die Arme führen.

Fast eine Viertelstunde kämpfte sie gegen den überwältigenden Schlaf. Sie war sehr müde, eine Erstarrung nahm sie gefangen; aber sie gab nicht nach in ihrer Angst, ihn wach zu lassen. Um selbst ruhig schlafen zu können, wartete sie jeden Abend, bis er vor ihr eingeschlafen war. Allein er hatte die Kerze nicht ausgelöscht und lag mit offenen Augen da; auf die Flamme starrend, die ihn blendete. An was dachte er denn? War er dort unten geblieben in der finsteren Nacht, in dem feuchten Hauch der Ufer, angesichts von Paris, das mit seinen Gaslichtern gestirnt war wie ein Winterhimmel? Welcher innere Kampf, welche Unschlüssigkeit verzerrte sein Gesicht? Dann ward sie von großer Müdigkeit überwältigt und schlief ein.

Eine Stunde später fuhr sie plötzlich erschauernd auf; das Gefühl einer Leere, die Beklemmung eines Mißbehagens hatte sie erweckt. Sogleich tastete sie mit der Hand nach dem schon kalten Platze neben ihr; er war nicht mehr da, sie hatte es im Schlafe gefühlt. Sie erschrak halb wach mit schwerem, summendem Kopfe, als sie durch die halb offene Tür des Zimmers einen Lichtstreif sah, der aus dem Atelier kam. Sie beruhigte sich; sie dachte, er sei ein Buch holen gegangen, weil er nicht schlafen könne. Als er nicht zurückkam, erhob sie sich leise, um zu schauen. Doch was sie sah, versetzte sie in eine solche Bestürzung, daß sie barfüßig wie festgewurzelt dastand und sich nicht zu zeigen wagte.

Claude, der trotz der rauhen Kälte in bloßen Hemdärmeln war und in seiner Hast nur Hosen und Pantoffeln angezogen hatte, stand auf der großen Leiter vor seinem Bilde. Die Palette lag zu seinen Füßen; mit der einen Hand hielt er die Kerze, mit der andern Hand malte er. Er hatte die weit offenen Augen eines Mondsüchtigen, genaue, steife Bewegungen; er bückte sich jeden Augenblick, um Farbe zu nehmen, und wenn er sich wieder aufrichtete, warf er einen großen, phantastischen Schatten mit den eckigen Bewegungen eines Automaten an die Mauer. Kein Hauch war zu vernehmen; nichts weiter war in dem riesigen, finsteren, erschreckend stillen Raume.

Christine begriff und schauerte zusammen. Es war der Bann, die unten auf der Brücke verbrachte Stunde, was ihn nicht schlafen ließ und vor seine Leinwand trieb, von dem Bedürfnis verzehrt, sie trotz der Nacht wiederzusehen. Ohne Zweifel war er nur auf die Leiter gestiegen, um aus größerer Nähe zu sehen. Dann hatte er – verletzt durch irgendeinen falschen Ton, unwillig über diesen Fleck, daß er den Morgen nicht erwarten konnte – einen Pinsel ergriffen, anfänglich wohl nur, um darüber hinzufahren, nachher allmählich von Verbesserung zu Verbesserung getrieben und endlich malend wie ein Nachtwandler mit der Kerze in der Faust in diesem fahlen Lichte, das seine Bewegungen hin und her schwanken ließen. Seine ohnmächtige Schaffensgier hatte ihn wieder ergriffen; er erschöpfte sich und vergaß darüber die Stunde und die ganze Welt; er wollte seinem Werke sogleich sein Leben einflößen.

Welch ein Jammer! mit welch tränenschweren Augen betrachtete sie ihn! Einen Augenblick dachte sie daran, ihn bei dieser tollen Arbeit zu lassen, wie man einen wahnsinnigen Menschen der Auswirkung seiner Tollheit überläßt. Er würde dieses Bild niemals beendigen, das war jetzt sicher. Je mehr er sich ereiferte, desto mehr wuchs die Zerfahrenheit; es war ein Wirrsal von schweren Tönen, eine Schwerfälligkeit und Gezwungenheit in der Zeichnung. Selbst der Hintergrund, besonders die Gruppe der Schiffsauslader, ehemals so sicher gemalt, wurde immer schlechter; er setzte sich beharrlich fest und wollte alles fertig machen, ehe er die Hauptfigur neu malte, die nackte Frau, welche die Furcht und die Begierde seiner Arbeitsstunden blieb, der berauschende Leib, der ihn vernichten sollte an dem Tage, wo er sich abermals anstrengen würde, sie lebendig zu gestalten. Seit Monaten hatte er keinen Pinselstrich mehr an ihr gemalt, und das hatte Christine beruhigt, hatte sie in ihrem eifersüchtigen Groll duldsam und mitleidig gemacht; solange er nicht zu dieser begehrten und gefürchteten Geliebten zurückkehrte, glaubte sie sich weniger verraten.

Mit ihren auf den eiskalten Fliesen schier erstarrten Beinen machte sie eine Bewegung, ihr Bett wieder aufzusuchen, als eine Erschütterung sie wieder umkehren ließ. Sie hatte nicht sogleich begriffen, aber endlich sah sie. Mit seinem farbentriefenden Pinsel malte er in großen Strichen runde, kräftige Formen. Es war gleichsam eine wahnwitzige, liebkosende Geste; ein unbewegliches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen; er fühlte nicht das heiße Wachs der Kerze, das ihm über die Finger hinabfloß, während in der Stille das leidenschaftliche Hin und Wieder seines Armes allein sich an der Wand abzeichnete: es war ein ungeheuerliches, schwarzes Wirrsal, eine Verschlingung von Gliedern in einer ungestümen Begattung. Er arbeitete an der nackten Frauengestalt.

Da öffnete Christine die Tür und trat näher. Eine unüberwindliche Empörung, der Zorn einer im eigenen Hause beschimpften, während ihres Schlafes im benachbarten Zimmer betrogenen Frau trieb sie sie vorwärts. Ja, er war mit der andern; malte den Bauch und die Schenkel als wahnwitziger Träumer, den das quälende Forschen nach dem Wahren in die Überspanntheit des Unwirklichen geschleudert hatte. Diese Schenkel vergoldeten sich wie die Säulen eines Heiligtums, dieser Bauch ward ein Gestirn, schimmernd in reinem Gelb und reinem Rot, strahlend und überirdisch. Die seltsame Nacktheit einer Monstranz, an der Edelgestein zu schimmern schien für irgendeine fromme Anbetung, brachte sie vollends außer sich. Sie hatte zuviel gelitten und wollte diesen Verrat nicht mehr dulden.

Indes bewahrte sie anfänglich nur eine verzweifelte und flehende Haltung wie eine Mutter, die ihren großen, närrischen Künstler auszankt.

»Claude, was machst du da? Claude, ist es vernünftig, auf solche Einfälle zu kommen? Ich bitte dich, komm' doch schlafen, bleib' nicht auf der Leiter, wo du dich erkälten wirst.«

Er antwortete nicht, bückte sich wieder, um Farbe zu nehmen und zeichnete die Achselhöhlen mit zwei hellroten Streifen.

»Claude, höre, komm' mit mir, ich bitte dich ... Du weißt, daß ich dich liebe; du siehst die Unruhe, in die du mich versetzt hast ... Komm', ach komm', wenn du nicht willst, daß ich vor Kälte und Unruhe umkomme.«

Seine stieren Augen hatten keinen Blick für sie; während er dem Nabel eine blühende rote Färbung gab, sagte er mit beklommener Stimme:

»Laß mich in Ruhe; ich arbeite.«

Christine blieb einen Augenblick stumm. Sie richtete sich empor, ein düsteres Feuer flammte in ihren Augen auf, eine Empörung schwellte ihr sanftes und liebliches Wesen. Dann brach sie los in dem Grollen einer zum Äußersten getriebenen Sklavin.

»Nein, ich lasse dich nicht in Ruhe! Es ist genug, und ich muß dir sagen, was mich erstickt, was mich tötet, seit ich dich kenne ... Diese Malerei! ja, diese Malerei ist die Mörderin, die mein Leben vergiftet hat. Ich hatte es am ersten Tage geahnt; ich fürchtete sie wie ein Ungeheuer, ich fand sie abscheulich, scheußlich; aber ich war feige; ich liebte dich zu sehr, um nicht auch sie zu lieben, ich habe mich allmählich an diese Verbrecherin gewöhnt ... Aber was habe ich später gelitten, wie sehr hat sie mich gemartert! Seit zehn Jahren hatte ich keinen tränenlosen Tag ... Nein, laß mich; mir wird leichter, wenn ich spreche; ich habe die Kraft dazu gefunden ... Zehn Jahre täglicher Verlassenheit, täglicher Kränkung; ich war dir nichts mehr, fühlte mich immer mehr beiseite geworfen, zur Rolle einer Magd erniedrigt: während die andere, die Diebin, sich zwischen dir und mir einnistete, dich in ihren Besitz nahm, triumphierte, mich beschimpfte. Wagst du zu behaupten, daß sie dich nicht vollständig in ihre Gewalt gebracht habe, Glied um Glied, das Gehirn, das Herz, das Fleisch, alles? Sie hält dich fest wie ein Laster, sie frißt dich auf. Kurz, sie ist dein Weib, nicht wahr? Nicht ich schlafe bei dir, sondern sie ... Ha, die verdammte Dirne!«

Claude hörte sie jetzt an, erstaunt über diesen lauten Schmerzensschrei, noch kaum erwacht aus seinem erbitterten Schaffenstraum, noch nicht recht begreifend, weshalb sie so zu ihm sprach. Angesichts dieser Betroffenheit, dieses Zitterns eines in seinen Ausschweifungen überraschten und gestörten Mannes ward sie noch zorniger; sie stieg die Leiter hinan, riß ihm die Kerze aus der Hand und fuhr damit vor dem Bilde hin und her.

»So schau' doch und sage dir selbst, wohin du damit geraten bist! Es ist abscheulich, es ist jämmerlich und plump; Du mußt es doch schließlich merken! Wie? ist das nicht häßlich, ist das nicht blöd? Du siehst doch daß du nicht kannst, warum noch länger dabei beharren? Das hat keinen Sinn; das empört mich ... Wenn du kein großer Maler sein kannst, bleibt uns noch das Leben. Ach, das Leben, das Leben! ...«

Sie hatte die Kerze auf die Plattform der Leiter gestellt. Als er wankend hinabgestiegen war, sprang auch sie hinab; nun waren beide unten, er auf die letzte Stufe hingesunken, sie vor ihm hockend und mit aller Kraft seine schlaff herabhängenden Hände pressend.

»Hörst du? Es bleibt uns noch das Leben ... Verjage deinen Alpdruck und laß uns leben, zusammen leben! ... Ist es nicht zu dumm, daß wir, die wir niemanden außer uns zweien haben und schon altern, uns so quälen, unser Glück nicht finden können? Die Erde wird uns früh genug bekommen; suchen wir, uns ein wenig zu wärmen, zu leben, uns zu lieben. Erinnere dich an unser Leben in Bennecourt! ... Höre meinen Traum. Ich möchte dich morgen von hier hinwegführen. Wir wollen fort, weit fort von diesem verdammten Paris; wir werden irgendwo einen ruhigen Winkel finden, und du sollst sehen, wie ich dein Leben freundlich gestalten will, wie schön es sein wird, einander in den Armen liegen und alles zu vergessen ... Am Morgen schläft man in seinem großen Bett; dann streift man in der Sonne herum, dann kommt das duftige Frühstück, der Nachmittag mit seiner Trägheit, der Abend, den man vor der Arbeitslampe hinbringt. Keine Qualen durch Wahngebilde und nichts als Lebensfreude! ... Genügt es dir denn nicht, daß ich dich liebe, daß ich dich anbete, daß ich einwillige, deine Magd zu sein, nur für dein Vergnügen da zu sein? Hörst du, ich liebe dich, ich liebe dich; es gibt nichts anderes, das ist genug; ich liebe dich!«

Er hatte seine Hände frei gemacht und sagte mit dumpfer Stimme und einer Gebärde der Weigerung:

»Nein, das ist nicht genug ... Ich will nicht mit dir gehen; ich will nicht glücklich sein, ich will malen.«

»Ich soll den Tod davon haben, nicht wahr? Und du gleichfalls? Es soll uns all unser Blut und alle unsere Tränen kosten! ... Es gibt nichts als die Kunst; das ist der Allmächtige, der zürnende Gott, der uns zerschmettert und den du verehrst. Er kann uns vernichten, er ist der Herr, du wirst ihm Dank sagen.«

»Ja, ich gehöre ihm; er soll mit mir tun, was er will ... Ich würde sterben, wenn ich nicht mehr malen könnte; ich will lieber malen und daran sterben ... Übrigens gilt da mein Wille nichts. Das ist so; außerdem gibt es nichts, mag die ganze Welt zugrunde gehen!«

In einem neuen Ausbruch ihres Zornes richtete sie sich auf; ihre Stimme wurde hart und heftig.

»Aber ich bin lebendig! und jene sind tot, die Weiber, die du liebst ... Sage nicht nein; ich weiß wohl, daß sie deine Geliebten sind, alle diese gemalten Weiber. Noch ehe ich dein war, merkte ich es schon; man mußte nur sehen, mit welcher Hand du ihre Nacktheit liebkostest, mit welchen Augen du sie nachher stundenlang betrachtetest. War das nicht ungesund und blöd, eine solche Begierde bei einem jungen Manne? Für Bilder zu glühen, die Leere eines Wahnes in seine Arme zu schließen! Du warst dich dessen bewußt! Du hieltst es geheim wie eine Sache, die man nicht gestehen will. Dann hat es einen Augenblick den Anschein gehabt, als liebtest du mich. Zu jener Zeit hast du mir diese Torheiten erzählt, deine Liebschaften mit deinen ›Weibchen‹, wie du sie – gleichsam über dich selbst scherzend – genannt hast. Erinnerst du dich? Wenn du mich in deinen Armen hieltst, hattest du nur Mitleid für die Schatten ... Aber das hat nicht lange gedauert, du bist schnell zu ihnen zurückgekehrt wie ein Narr zu seiner Tollheit. Ich, die ich lebte, war nicht mehr; sie, die Wahngesichte, wurden die einzigen Wirklichkeiten deines Lebens ... Was ich damals litt, hast du nie erfahren, denn du kennst uns alle nicht; ich habe an deiner Seite gelebt, ohne daß du mich begreifen konntest. Ja, ich war eifersüchtig auf jene. Wenn ich dir nackt Modell stand, hat ein einziger Gedanke mir den Mut dazu gegeben: ich wollte kämpfen, ich hoffte dich wiederzuerlangen; aber nichts, nicht einmal ein Kuß auf die Schulter, ehe ich mich wieder ankleidete. Mein Gott! wie sehr schämte ich mich oft; welchen Kummer mußte ich hinunterschlucken, wenn ich mich so mißachtet und verraten fühlte ... Seit jener Zeit ist deine Mißachtung stetig gewachsen, und du siehst, wohin es mit uns gekommen ist: wir liegen Seite an Seite, ohne uns mit dem Finger zu berühren. Es sind acht Monate und sieben Tage – ja, ich habe sie gezählt – seit wir nichts miteinander gemein hatten.«

Sie fuhr in kühner Offenheit fort, sie, die keusche Sinnliche, so glühend in der Liebe, die Lippen vom Schreien geschwellt, und so feinfühlig nachher, so stumm über diese Dinge, daß sie davon nicht sprechen wollte und verwirrt lächelnd den Kopf abwandte. Allein das Verlangen regte sie auf; diese Enthaltsamkeit war ein Schimpf. Ihre Eifersucht irrte sich nicht, beschuldigte noch immer die Malerei, denn diese Männlichkeit, die er ihr verweigerte, gab er der bevorzugten Nebenbuhlerin. Sie wußte wohl, weshalb er sie so vernachlässigte. Anfänglich geschah es oft, daß, wenn er für den nächsten Tag viele Arbeit vorhatte und sie beim Schlafengehen sich an ihn schmiegte, er sich weigerte und vorgab, es ermüde ihn zu sehr und er könne, aus ihren Armen kommend, drei Tage lang nichts Rechtes schaffen. So war nach und nach der Bruch entstanden; zuerst verging eine Woche, während der ein Bild beendet werden mußte; dann verging ein Monat mit der Vorbereitung eines neuen Gemäldes; dann kamen ein neuer Aufschub, Gelegenheiten wurden versäumt, man entwöhnte sich der Sache und vergaß sie schließlich ganz. Auf dem Grunde dieses seines Benehmens fand sie den in ihrer Gegenwart hundertmal wiederholten Gedanken: das Genie muß keusch sein und darf nur mit seinem Werke schlafen.

»Du stößt mich zurück,« schloß sie heftig, »du ziehst dich nachts von mir zurück, als ob ich dich anwiderte, du gehst anderswohin, um was zu lieben? ein Nichts, einen Schein, ein wenig Staub, Farbe auf Leinwand! ... Aber schau' sie doch noch einmal an, dein Weib da oben! schau, welches Ungeheuer du in deiner Narrheit aus ihr gemacht hast! Ist man so geschaffen? hat man goldene Schenkel und Blumen unter dem Bauche? Erwache doch, öffne die Augen, kehre ins Leben zurück!«

Der gebieterischen Bewegung gehorchend, mit der sie nach dem Gemälde zeigte, hatte Claude sich erhoben und schaute. Die oben auf der Plattform gebliebene Kerze beleuchtete wie ein Wachslicht die weibliche Hauptfigur, während der ungeheure Raum in Finsternis getaucht blieb. Er erwachte endlich aus seinem Traum, und wie er die Frauengestalt von unten, einige Schritte zurückweichend, betrachtete, erfüllte sie ihn mit Bestürzung. Wer hatte dieses Götzenbild einer unbekannten Religion gemalt? wer hatte sie gemacht aus Erz, Marmor und Edelstein, mit der voll erblühten mystischen Rose ihres Geschlechtes zwischen den kostbaren Säulen der Schenkel, unter der heiligen Wölbung des Bauches? War er selbst – ohne es zu wissen – der Urheber dieses Sinnbildes des unersättlichen Verlangens, dieses übermenschlichen Bildes des Fleisches, das in seiner vergeblichen Anstrengung, es lebensvoll zu gestalten, unter seinen Fingern wie aus Gold und Diamanten gebildet? Betroffen, erschreckt stand er vor seinem Werke, zitternd vor diesem Sprung ins Jenseits, sehr wohl begreifend, daß die Wirklichkeit selbst für ihn jetzt nicht mehr möglich sei am Ende seines langen Kampfes, um sie zu überwinden, mit seinen Manneshänden wahrer zu gestalten.

»Du siehst! Du siehst!« rief Christine sieghaft aus.

Er stammelte sehr leise:

»Was habe ich gemacht? Ist es denn unmöglich zu schaffen? Haben unsere Hände nicht die Macht, Wesen hervorzubringen?«

Sie sah ihn schwach werden und nahm ihn in ihre Arme.

»Wozu diese Torheiten? Wozu etwas anderes als mich, die ich dich liebe? ... Du hast mich zum Modell genommen, du wolltest Kopien von meinem Körper. Wozu? Sprich? Sind die Kopien soviel wert als ich selbst? Sie sind abscheulich; sie sind steif und kalt wie Leichen ... Ich liebe dich und will dich haben. Ich muß dir alles sagen. Du begreifst nicht, was es bedeutet, wenn ich dich umschleiche, wenn ich mich anbiete, dir Modell zu stehen, wenn ich dicht an deiner Seite bin, daß dein Hauch mich trifft. Es bedeutet, daß ich dich liebe, hörst du? Es bedeutet, daß ich lebe und dich will ...«

Stürmisch umschlang sie ihn mit ihren Gliedern, mit ihren nackten Armen, mit ihren nackten Beinen. Ihr halb herabgerissenes Hemd ließ ihre Brust frei, die sie an ihn preßte, die sie in diesem letzten Kampfe ihrer Leidenschaft gleichsam in seinen Leib eindringen lassen wollte. Sie war die Leidenschaft selbst, flammend und zügellos, ohne die keusche Zurückhaltung von ehemals, bereit, alles zu sagen und alles zu tun, nur um zu siegen. Ihr Gesicht glühte; die sanften Augen und die klare Stirn verschwanden unter den wirren Haarbüscheln; es war nichts zu sehen als die vorspringenden Kinnladen, das ungestüme Kinn, die roten Lippen.

»Nein, laß mich!« murmelte Claude. »Ich bin zu unglücklich!«

Sie fuhr mit ihrer erregten Stimme fort:

»Du hältst mich vielleicht für alt. Ja, du sagtest, daß ich häßlich werde, und ich selbst glaubte es, ich betrachtete mich während des Modellstehens, um Runzeln zu suchen ... Aber es ist nicht wahr! Ich fühle, daß ich nicht gealtert bin, daß ich noch immer jung, noch immer kräftig bin ...«

Als er sich noch immer wehrte, rief sie:

»So schau doch!«

Sie war drei Schritte zurückgewichen und zog mit einer einzigen Handbewegung ihr Hemd aus. Sie stand jetzt nackt und unbeweglich da in der Stellung, die sie so oft in langen Sitzungen eingenommen hatte. Mit einer bloßen Bewegung des Kinns zeigte sie die weibliche Hauptfigur des Gemäldes.

»Du magst vergleichen, ich bin jünger als sie ... Vergebens malst du ihr Edelsteine an die Haut, sie ist welk wie ein trockenes Blatt. Ich aber bin noch immer achtzehn Jahre alt, weil ich dich liebe.«

Sie strahlte in der Tat von Jugend in dem fahlen Lichte. In dieser heißen Aufwallung der Liebe streckten die Beine sich reizend und fein, die Hüften breiteten ihre seidenweichen Rundungen aus, die feste Brust hob sich, geschwellt vom Blute ihres Verlangens.

Schon hatte sie ihn wieder ergriffen und sich fest an ihn gepreßt ohne das hinderliche Hemd; ihre Hände verirrten sich, hasteten an seinen Seiten, an seinen Schultern herum, als suche sie sein Herz in dieser tastenden Liebkosung, in dieser Besitzergreifung, in der sie ihn zu dem Ihren machen zu wollen schien; dabei küßte sie ihn wild mit nimmersatten Lippen auf die Haut, auf den Bart, auf die Ärmel, ins Leere. Ihre Stimme erlosch; sie sprach nur mehr mit einem keuchenden, von Seufzern unterbrochenen Atem.

»Komm, laß uns lieben! ... Hast du denn kein Blut daß Schatten dir genügen? Komm, du sollst sehen, wie schön das Leben ist ... Hörst du: leben, einander am Halse hängen, ganze Nächte so verbringen, aneinander gepreßt, ineinander verschlungen, und am Morgen wieder anzufangen und abermals und abermals ...«

Er zitterte; er erwiderte allmählich ihre Umschlingung in der Furcht, welche die andere, das Götzenbild, ihm eingeflößt hatte; sie verdoppelte ihre verführerischen Anstrengungen, sie erweichte ihn endlich und überwand ihn.

»Ich weiß, daß du einen fürchterlichen Gedanken hegst; ja, ich habe niemals gewagt, dir davon zu sprechen, weil man das Unglück nicht herbeiziehen soll; aber ich kann bei Nacht nicht schlafen, du flößest mir Entsetzen ein ... Heute abend bin ich dir gefolgt bis zu jener Brücke, die ich hasse, und habe gezittert; ich glaubte, es sei aus und ich hätte dich nicht mehr ... Mein Gott, was sollte aus mir werden? Ich bedarf deiner; du wirst mich doch nicht töten? ... Laß uns lieben, laß uns lieben! ...«

Da überließ er sich ihr in der Rührung dieser unendlichen Leidenschaft; es war eine unermeßliche Trauer, ein Versinken der ganzen Welt, in das sein Wesen sich auflöste. Er schloß sie gleichfalls heiß an seine Brust und schluchzte und stammelte:

»Es ist wahr, ich hatte den fürchterlichen Gedanken ... Ich würde ihn auch ausgeführt haben, hätte ich nicht an dieses unvollendete Bild gedacht ... Aber kann ich noch leben, wenn die Arbeit mich nicht mehr will? Wie kann ich noch leben nach dem, was da ist, was ich soeben zerstört habe?«

»Ich werde dich lieben, und du wirst leben.«

»Ach, du kannst mich nie genug lieben ... Ich kenne mich wohl. Es wäre eine Freude nötig, die nicht existiert, eine Sache, die mich alles vergessen ließe ... Schon warst du ohne Kraft; du vermagst nichts.«

»Doch, doch, sollst du sehen ... Ich werde dich so nehmen; ich werde dich auf die Augen küssen, auf den Mund, auf jede Stelle deines Körpers. Ich werde dich an meiner Brust erwärmen, meine Beine um die deinen schlingen, meine Arme um deine Lenden legen, dein Hauch, dein Blut, dein Fleisch sein ...«

Endlich war er besiegt; er glühte wie sie, suchte Zuflucht in ihr, begrub sein Haupt zwischen ihren Brüsten, bedeckte sie mit seinen Küssen.

»Nun denn, rette mich; ja, nimm mich, wenn du nicht willst, daß ich mich töte ... Und erfinde ein Glück; laß mich ein Glück kennen, das mich zurückhält ... Schläfere mich ein, versenke mich in das Nichts, auf daß ich dein eigen werde, Sklave genug, klein genug, um unter deinen Füßen, in deinen Pantoffeln zu hausen ... Da hinabsteigen, nur von deinem Geruche leben, dir gehorchen wie ein Hund, essen, dich besitzen und schlafen: wenn ich das könnte, wenn ich das könnte! ...«

Sie stieß einen Jubelschrei aus.

»Endlich bist du mein; es gibt nichts mehr außer mir; die andere ist tot!«

Sie riß ihn hinweg von dem verabscheuten Werke und trug ihn grollend, triumphierend in ihr Zimmer, in ihr Bett. Die Kerze auf der Leiter war ausgebrannt, sie zuckte hinter ihnen einen Augenblick und erlosch dann. Es schlug die fünfte Morgenstunde auf der Kuckucksuhr; noch nicht der geringste Lichtschein erhellte den nebeligen Novembermorgen. Alles versank wieder in tiefe Finsternis.

Christine und Claude waren tastend quer auf das Bett hingefallen. Eine Raserei hatte sie ergriffen; niemals – selbst in den ersten Tagen ihres Verhältnisses nicht – hatten sie eine solche hinreißende Leidenschaft gekannt. Die ganze Vergangenheit stieg in ihrem Herzen wieder empor, aber in einer starken Verjüngung, die sie in einen betäubenden Rausch versetzte. Die Finsternis um sie her schien zu lodern; sie erhoben sich auf Feuerflügeln hoch hinauf, außerhalb der Welt, in regelmäßigen, fortgesetzten, kräftigen Schwingungen immer höher und höher. Er selbst stieß Rufe aus, war weit von seinem Jammer, vergaß alles, ward zu einem Leben der Glückseligkeit geboren. Herausfordernd, gebieterisch, mit dem Lachen eines sinnlichen Stolzes drängte sie ihn nachher zu Lästerungen. »Sage, daß die Malerei albern ist.« – »Die Malerei ist albern.« – »Sage, daß du nicht mehr arbeiten, daß du dich nicht darum kümmern, daß du mir zuliebe deine Bilder verbrennen wirst.« – »Ich werde meine Bilder verbrennen, ich werde nicht mehr arbeiten.« – »Und sage, daß es außer mir nichts gibt, daß es das einzige Glück ist, mich so zu halten, wie du mich jetzt hältst; daß du die andere anspeiest, die Dirne, die du gemalt hast. So speie doch, damit ich es höre.« – »Sieh! ich speie; es gibt nichts außer dir.« Sie drückte ihn zum Ersticken; sie besaß ihn. Von neuem entflogen sie nach den Sternenhöhen; von neuem begann ihr Entzücken; dreimal schien es ihnen, als flögen sie von der Erde bis zum Ende des Himmels. Welche Seligkeit! wie war es möglich, daß er nicht in diesem sicheren Glücke seine Heilung suchte? Sie gab sich ihm von neuem hin; er durfte glücklich leben, sich als gerettet ansehen, nunmehr, da er diesen Taumel hatte.

Der Tag dämmerte, als Christine selig, vom Schlaf erdrückt, in den Armen Claudes einschlief. Sie umschlang ihn mit einem Schenkel, das Bein quer über die seinen geworfen, wie um sich zu versichern, daß er ihr nicht mehr entkommen werde; den Kopf an dieser Mannesbrust gelagert, die ihr als warmes Kissen diente, atmete sie sanft, ein Lächeln auf den Lippen. Er hatte die Augen geschlossen; aber trotz der niederdrückenden Ermattung öffnete er sie wieder und schaute in das Dunkel. Der Schlaf floh ihn; in seiner Stumpfheit drängte sich eine Menge verworrener Gedanken hervor, je kühler er wurde und sich von der wollüstigen Betäubung freimachte, die noch alle seine Muskel erschütterte. Als der Morgen anbrach, ein schmutzig gelbes Licht, ein flüssiger Schmutzfleck vor dem Fenster, erbebte er; er glaubte eine laute Stimme gehört zu haben, die ihn aus der Tiefe des Ateliers rief. Seine Gedanken kehrten sämtlich wieder, überströmend, quälend, seine Wangen aushöhlend, seine Kinnbacken in einem menschlichen Ekel zusammenziehend, in zwei Falten, die aus seinem Antlitz das wüste Gesicht eines Greises machten. Dieser quer auf ihm liegende Frauenschenkel nahm jetzt eine bleierne Schwere an; er litt dadurch wie durch eine Marter, wie durch einen Mühlstein, mit dem man ihm die Knie zermalmte zur Strafe für noch ungesühnten Frevel. Auch der Kopf, der auf seiner Brust ruhte, drohte ihn zu ersticken, hemmte mit einer ungeheuren Wucht die Schläge seines Herzens. Doch lange zögerte er, sie zu stören, trotz der allmählichen Erbitterung seines ganzen Körpers, trotz eines gewissen Widerwillens, eines unwiderstehlichen Hasses, der ihn mit Empörung erfüllte. Besonders der Geruch des gelösten Haarknotens, dieser starke Haargeruch, reizte ihn. Plötzlich rief ihn die laute Stimme im Atelier ein zweitesmal gebieterisch. Da entschloß er sich; es war aus, er litt zuviel; er konnte nicht länger leben, da alles log und es nichts Gutes gab. Zuerst ließ er den Kopf Christinens hinabgleiten, die ihr unbestimmtes Lächeln bewahrte; dann mußte er mit unendlicher Behutsamkeit sich bewegen, um seine Beine aus der Umschlingung des Schenkels zu befreien, den er allmählich zurückschob in einer natürlichen Bewegung, als ob er von selbst einknicke. Endlich hatte er die Kette gelöst; er war frei. Ein dritter Ruf trieb ihn zur Eile an; er begab sich in das Atelier, indem er murmelte:

»Ja, ja, ich komme schon!«

Es wollte nicht recht hell werden; es war ein schmutziger, trüber, trauriger Wintermorgen. Nach Verlauf einer Stunde erwachte Christine in einem eisigen Schauer. Sie begriff nicht. Warum war sie allein? Dann erinnerte sie sich: sie war eingeschlafen, die Wange an sein Herz gelehnt, die Glieder um die seinen geschlungen. Wie hatte er fortgehen können? Wo konnte er sein? Mit einem Ruck fuhr sie aus ihrer Betäubung auf, sprang ungestüm vom Bette und lief in das Atelier. Mein Gott! sollte er zur andern zurückgekehrt sein? Sollte die andere ihn wieder genommen haben, nachdem sie ihn für immer zurückgenommen geglaubt?

Auf den ersten Blick sah sie nichts, das Atelier schien ihr leer in dem trüben, kahlen Lichte des Morgens. Doch als sie niemanden bemerkend sich zu beruhigen begann und die Augen zu dem Gemälde emporhob, brach ein furchtbarer Schrei aus ihrem weit offenen Munde hervor.

»Claude! ach, Claude! ...«

Claude hatte sich auf der großen Leiter erhenkt seinem verfehlten Werke gegenüber. Er hatte ganz einfach eine der Leinen genommen, die den Rahmen an der Mauer festhielten, und hatte die Plattform der Leiter erstiegen, wo er das Ende der Leine an dem eichenen Querbalken befestigte, den er eines Tages oben angenagelt hatte, um die Seitenpfosten fester zu machen. Dann war er von oben ganz einfach ins Leere gesprungen. Im Hemde mit nackten Füßen, furchtbar anzuschauen mit der heraushängenden schwarzen Zunge und den aus den Höhlen getretenen, blutunterlaufenen Augen, hing er da, ungeheuerlich größer scheinend in seiner starren Unbeweglichkeit, das Gesicht dem Gemälde zugekehrt, ganz nahe bei dem Weibe mit der blühenden mystischen Rose, als habe er mit seinem letzten Röcheln ihr seine Seele einhauchen und sie noch mit seinen starren Augen betrachten wollen.

Christine stand noch immer da, aufrecht erhalten durch den Schmerz, das Entsetzen und die Wut. Ihr Körper war davon aufgedunsen, und aus ihrem Munde brach nur ein fortgesetztes Geheul hervor. Sie öffnete die Arme, streckte sie nach dem Gemälde aus und schloß die Fäuste.

»Ach, Claude, ach, Claude! ... Sie hat dich wiedergenommen; sie hat dich getötet, getötet, getötet, die Dirne!«

Die Beine knickten ihr ein, sie drehte sich um sich selbst und stürzte auf die Fliesen nieder. Das Übermaß ihres Leides hatte alles Blut aus ihrem Herzen gedrängt; sie blieb ohnmächtig wie tot auf der Erde liegen, einem weißen Lappen gleich, bejammernswert, vernichtet, erdrückt von der grausamen Macht der Kunst. Das Weib über ihr strahlte im Glanze eines sinnbildlichen Götzenbildes; die Malerei triumphierte, allein unsterblich und aufrecht bis zum Wahnsinn.

Infolge der durch den Selbstmord verursachten Vorschriften und Verzögerungen konnte das Leichenbegängnis erst am Montag stattfinden. Als Sandoz um neun Uhr kam, fand er kaum zwanzig Personen auf dem Fußsteige vor dem Hause in der Tourlaquestraße. In seinem schweren Kummer lief er seit drei Tagen umher, genötigt sich mit allem zu beschäftigen: zuerst hatte er Christine, die man in sterbendem Zustande gefunden, nach dem Lariboisière-Krankenhause schaffen müssen; dann war er vom Standesamt zur Leichenbestattungs-Anstalt und zum Pfarramt gelaufen und hatte überall die geforderten Gebühren gezahlt; er entsprach den Gebräuchen, die ihm völlig gleichgültig waren, nachdem die Priester diesem Selbstmörder ein christliches Begräbnis bewilligt hatten. Unter den Leuten, die da harrten, sah er nur Nachbarn und wenige Neugierige; an den Fenstern erschienen einige Köpfe, wispernd und durch das Geschehene erregt. Die Freunde werden gewiß noch kommen, sagte er sich. Er hatte der Familie nicht schreiben können, weil ihm die Adressen unbekannt waren; er trat beiseite, als er zwei Anverwandte erscheinen sah, die ohne Zweifel durch die trockene Zeitungsnachricht über den Selbstmord veranlaßt wurden, aus jenem Dunkel hervorzutreten, in dem Claude selbst sie gelassen hatte. Es war eine Base in vorgerücktem Alter mit dem verdächtigen Aussehen einer Trödlerin und ein kleiner Vetter, sehr reich, mit einem Orden ausgezeichnet, Inhaber eines der großen Modemagazine von Paris, sehr gemütlich in seiner Eleganz, bestrebt, seinen aufgeklärten Kunstsinn zu zeigen. Die Base ging sogleich hinauf, machte die Runde in dem Atelier, witterte das nackte Elend und kam wieder herunter mit gespitzten Lippen, geärgert durch diese nutzlose Bemühung. Der kleine Vetter hingegen richtete sich empor, schritt als erster hinter dem Leichenwagen und führte den Trauerzug mit einer liebenswürdigen und stolzen Vornehmheit an.

Eben als der Zug sich in Bewegung setzte, kam Bongrand eilend an und blieb an der Seite Sandoz', nachdem er diesem die Hand gedrückt. Er war in trüber Stimmung und murmelte mit einem Blick auf die fünfzehn, zwanzig Menschen, die der Leiche folgten:

»Der arme Junge! ... Wir sind nur unser zwei?«

Dubuche war mit seinen Kindern in Cannes. Jory und Fagerolles hielten sich fern; der eine haßte den Tod, der andere hatte zuviel zu tun. Mahoudeau allein holte den Zug ein, als er die Lepicstraße erklomm, und erklärte, Gagnière müsse den Zug versäumt haben.

Langsam fuhr der Leichenwagen den steilen Abhang hinan, dessen schmaler Weg sich an der Seite der Montmartrehöhe emporwindet. Zuweilen kam man an abfallenden Quergassen vorüber, von wo man die Unermeßlichkeit von Paris überblickte, das tief und breit da lag wie ein Meer. Als man vor der Peterskirche angelangt war und den Sarg hinauftrug, beherrschte dieser einen Augenblick die große Stadt. Unter dem grauen Winterhimmel wallten dichte Nebeldünste, von einem eisigen Winde gejagt. Die Stadt schien noch größer, schier unendlich in diesen Dünsten und mit ihrer drohenden Rundung den Horizont auszufüllen. Der arme Tote, der sie hatte erobern wollen und sich dabei den Hals gebrochen, zog jetzt in ihrem Angesichte vorüber, zwischen vier Brettern vernagelt, zur Erde zurückkehrend wie eine der schmutzigen Wellen, die sie dahinwälzte.

Als man die Kirche verließ, verschwand die Base; Mahoudeau tat ein gleiches. Der kleine Vetter hatte seinen Platz hinter dem Leichenwagen wieder eingenommen. Sieben andere unbekannte Personen entschlossen sich mitzugehen, und man brach auf, nach dem neuen Kirchhofe von Saint-Quen, dem das Volk den traurigen Namen Cayenne beigelegt hatte. Die Leichengefolgschaft zählte zehn Personen.

»Nicht mehr als unser zwei sind da, um ihm das Geleit zu geben«, wiederholte Bongrand, indem er neben Sandoz weiterschritt.

Der Leichenzug, voran der Trauerwagen mit dem Priester und dem Chorknaben, stieg jetzt den jenseitigen Abhang hinab, durch krumme, gewundene Gäßchen, die durch Brustwehren geschützt waren wie Gebirgswege. Die Pferde des Leichenwagens glitten auf dem schmutzigen Pflaster aus, man hörte das dumpfe Rütteln der Räder. Die zehn Personen stampften hinterdrein, zwischen den Schmutzlachen sich mühsam aufrecht haltend, durch diesen schwierigen Abstieg so sehr in Anspruch genommen, daß sie kein Gespräch führen konnten. Als man jedoch unten am Fuße der Bachgasse vor dem Clignancour-Tore angekommen war inmitten der weiten Flächen, wo sich die Ringpromenaden, die Gürtelbahn, die Befestigungsgräben und Wälle hinziehen, atmeten alle erleichtert auf, man wechselte einige Worte, und der Zug begann sich aufzulösen.

Allmählich gelangten Sandoz und Bongrand an das Ziel; sie wollten sich von diesen Leuten trennen, die sie niemals gesehen hatten. In dem Augenblick, als der Leichenwagen den Mauthschranken passierte, neigte sich der Maler zu dem Schriftsteller mit einer Frage.

»Was wird aus der kleinen Frau?«

»Ein Jammer!« antwortete Sandoz. »Ich habe sie gestern im Krankenhause besucht. Sie hat ein Kopffieber; der Arzt behauptet, man werde sie retten, aber sie werde um zehn Jahre gealtert und völlig entkräftet aus der Krankheit hervorgehen. Sie wissen, sie hat im Laufe der Zeit alles vergessen, selbst die Orthographie. In ihrem Verfall, in ihrem Elend ist aus diesem wohlerzogenen Wesen eine niedrige Magd geworden. Wenn wir uns nicht ihrer annehmen wie einer Kranken, wird sie irgendwo als Geschirrwäscherin enden.«

»Natürlich ist nicht ein Sou da?«

»Nicht ein Sou. Ich glaubte, ich würde einige Studien vorfinden, die er zu seinem großen Gemälde nach der Natur gemacht hat, jene prächtigen Studien, von denen er später einen so schlechten Gebrauch gemacht hat. Aber ich habe vergebens gesucht; er hat alles verschenkt, Leute haben ihn bestohlen. Nein, es ist nichts da zu verkaufen, nicht ein einziges brauchbares Bild, nichts als die riesige Leinwand, die ich selbst zerrissen und verbrannt habe. Ich tat es gern, versichere ich Ihnen, es war wie eine Tat der Rache!«

Sie schwiegen einen Augenblick. Die breite Straße von Saint-Quen zog sich geradeaus, schier unendlich dahin; der armselige, kleine Leichenzug verlor sich fast in dieser flachen Landschaft auf dieser Heerstraße, die in einen Schmutzbach verwandelt war. Ein Zaun hegte sie zu beiden Seiten ein, rechts und links lagen wüste Flächen, in der Ferne sah man nur Fabrikschlote und einige hohe, weiße, vereinzelte, quer gestellte Häuser. Jetzt kam man durch den Jahrmarkt von Clignancourt; zu beiden Seiten standen Gauklerbuden, Zirkusse, Ringelspiele, trübselig in ihrer winterlichen Verlassenheit, leere Schenken, grün angestrichene Schaukeln, eine »pikardische Farm«, jämmerlich hinter ihrem zerrissenen Drahtgitter, einem Bühnenversetzstück gleichend.

»Ach, seine alten Bilder,« hub Bongrand wieder an, »die Sachen, die er in seinem Atelier am Bourbon-Ufer gemalt hat, Sie erinnern sich ja! Ganz außerordentliche Stücke. Die aus dem Süden mitgebrachten Landschaften und die im Atelier Boutin gemalten Studien, Mädchenbeine, ein weiblicher Bauch; oh, dieser Bauch ... Der Vater Malgras muß ihn erworben haben, ein prächtiges Stück, wie es keiner unserer jungen Meister malen kann. Ja, ja, der Junge war nicht dumm. Ganz einfach ein großer Maler!«

»Wenn ich bedenke,« sagte Sandoz, »daß diese kleinen Zierbengel aus der Schule ihn der Trägheit und Unwissenheit ziehen, indem sie einander erzählten, daß er sich stets geweigert habe, seine Kunst zu lernen! ... Träge, mein Gott! er, den ich vor Ermüdung umsinken sah, nachdem er zehn Stunden in einem Zuge gemalt; er, der sein ganzes Leben hingegeben, der sich in einer Arbeitswut umgebracht hat! ... Und unwissend: ist das nicht blöd? Diese Leute werden nie begreifen, daß das, was man mitbringt, wenn man etwas mitzubringen hat, das umgestaltet, was man lernt. Auch Delacroix hat seine Kunst nicht gekannt, weil er sich nicht in die exakte Linie einschließen konnte. Die Einfältigen, die blutleeren, dummen Schüler, die einer Abweichung unfähig sind!«

Er machte still einige Schritte, dann setzte er hinzu:

»Ein heldenmütiger Arbeiter, ein leidenschaftlicher Beobachter, dessen Schädel mit Wissen vollgestopft war, das Temperament eines wunderbar begabten, großen Malers ... Und er läßt nichts zurück.«

»Nichts, nicht eine einzige Leinwand«, erklärte Bongrand. »Ich kenne von ihm nur Skizzen, hingeworfene Notizen, das ganze Gepäck des Künstlers, der nicht vor dem Publikum erscheinen kann. Ja, es ist ein Toter, ein ganzer Toter, den man in die Erde versenken wird!«

Doch sie mußten ihre Schritte beschleunigen, denn sie waren während ihres Gespräches zurückgeblieben. Der Leichenwagen, der sich zwischen Weinhandlungen und Grabkreuzniederlagen fortbewegt hatte, bog jetzt rechts ein in die Straße, die zum Kirchhofe führte. Sie holten ihn ein und betraten den Kirchhof zugleich mit dem kleinen Gefolge. Der Priester im Chorhemd und der Chorknabe mit dem Weihwedel hatten den Trauerwagen verlassen und gingen voraus.

Es war ein großer, flacher, noch junger Kirchhof, auf der leeren Fläche der Bannmeile mit der Schnur ausgemessen und durch breite gleichmäßige Alleen gleichsam in Schachfelder geteilt. Es standen nur wenige Grabmale am Saume der Hauptwege; alle Gräber – und es waren ihrer schon sehr viele – lagen dem Boden gleich in dem vorläufig flüchtig hergestellten Raume, wo die Grabstellen nur für fünf Jahre überlassen wurden; die Scheu der Familien vor größeren Ausgaben, die mangels eines festen Untergrundes versinkenden Steine, die grünen Bäume, die nicht Zeit hatten zu wachsen, diese ganze vorübergehende und wohlfeile Trauer verlieh dem weiten Leichenacker ein armseliges, kahles, säuberlich kaltes Aussehen, die Traurigkeit einer Kaserne und eines Krankenhauses. Kein romantischer Liederwinkel, kein geheimnis-schattiges Dickicht, nicht ein einziges größeres Grabmal, das von Stolz und Ewigkeit sprach. Man befand sich in einem neuen, nach Gassen und Nummern eingeteilten Kirchhofe, in dem Kirchhofe der demokratischen Hauptstädte, wo die Toten in Amtsschachteln zu schlafen scheinen, wo jeden Tag die neu ankommende Flut von Toten die vom vorhergegangenen Tage verdrängt, wo alle in langer Reihe vorüberziehen wie bei einem Feste, unter den Augen der Polizei, damit ein Gedränge vermieden wird.

»Alle Wetter!« murmelte Bongrand, »hier ist's nicht angenehm.«

»Warum?« sagte Sandoz. »Es ist bequem, und man hat Luft. Obgleich die Sonne nicht scheint, sehen sie nur die schönen Farben.«

In der Tat: unter dem grauen Himmel dieses Novembermorgens nahmen in der eisigen Kälte des Windes die niedrigen, mit Blumengewinden und Perlenkränzen bedeckten Gräber sehr feine Töne von reizender Zartheit an. Es gab darunter ganz weiße und ganz schwarze, je nach den Perlen, und dieser Farbengegensatz verbreitete einen sanften Schimmer inmitten des matten Grüns der zwerghaften Bäume. Auf diesen für fünf Jahre gemieteten Begräbnisstätten genügten die Familien ihrem Gedenken der Abgeschiedenen: es war eine Anhäufung, ein Reichtum von Zeichen liebevoller Erinnerung, die nach dem kurz vorher gewesenen Allerseelentage noch gut erhalten waren. Nur die natürlichen Blumen in ihren papiernen Hüllen waren schon verwelkt. Einige gelbe Immortellenkränze schimmerten wie frisch bearbeitetes Gold. Die Perlen aber waren vorherrschend; es war eine Flut von Perlen, welche die Inschriften verbargen, die Steine und Einfriedigungen bedeckten, Perlen in Herzform, Perlengewinde, Perlenmedaillons, Perlen, die unter Glas geborgene Gegenstände einrahmten, wie Sinnsprüche, verschlungene Hände, Photographien von Frauen, gelbe Vorstadtphotographien, häßliche und mit ihrem linkischen Lächeln rührende Gesichter.

Während der Leichenwagen den zum Rundplatze führenden Weg einschlug, kam Sandoz im Zusammenhang mit seiner malerischen Bemerkung wieder auf Claude zu sprechen.

»Das ist ein Kirchhof, den er in seiner Leidenschaft für das Moderne sehr wohl begriffen hätte. Ohne Zweifel war er leiblich krank, zerrüttet durch den allzu starken Bruch des Genies; drei Gramm zu wenig oder drei Gramm zu viel, wie er zu sagen pflegte, wenn er seine Eltern beschuldigte, ihn so sonderbar gezeugt zu haben. Allein das Übel steckte nicht in ihm allein; er war das Opfer einer Zeit ... Ja, unser Geschlecht hat bis zum Leib im Romantismus gewatet; wir sind davon durchdrungen und haben uns vergebens bemüht, uns davon zu befreien, kräftige Wahrheitsbäder zu nehmen; der Fleck haftet uns an, alle Waschungen der Welt werden den Geruch nicht zu bannen vermögen.«

Bongrand lächelte.

»Ich steckte darin bis über den Kopf,« sagte er. »Meine Kunst ist davon genährt worden und ich bin sogar ein unbußfertiger Romantiker. Wenn es wahr ist, daß mein letztes Unvermögen daher stammt: was liegt daran? Ich kann die Religion meines ganzen Künstlerlebens nicht verleugnen ... Aber ihre Bemerkung ist sehr richtig: ihr seid die aufrührerischen Söhne jener Schule. So auch er mit seinem großen, nackten Weibe inmitten der Ufer; dieses maßlose Sinnbild ...«

»Jenes Weib!« unterbrach ihn Sandoz. »Sie hat ihn erwürgt. Wenn Sie wüßten, wie er an ihr hing! Es war mir nicht möglich, sie von ihm zu verjagen ... Wie soll man hell sehen und das Denken fest und im Gleichgewichte behalten, wenn ähnliche dumme Gedanken im Kopfe immer wiederkehren? ... Nicht bloß ihr Geschlecht, auch das unsere ist zu sehr mit dem Gedanklichen behaftet, um gesunde Werke zu hinterlassen. Es wird noch eines Geschlechtes, vielleicht zweier bedürfen, bis man logisch malen und logisch schreiben wird in der hohen und reinen Einfachheit des Wahren ... Die Wahrheit, die Natur allein ist die mögliche Grundlage, die notwendige Ordnung, außerhalb der die Narrheit beginnt. Man fürchte nicht, daß dadurch das Werk verflacht; das Temperament ist da, das den Schöpfer stets emportragen wird. Leugnet denn jemand die Persönlichkeit, den unwillkürlichen Druck mit dem Daumen, der da umgestaltet und unsere armselige Schöpfung kennzeichnet?«

Doch er wandte den Kopf und setzte plötzlich hinzu:

»Schau, was brennt da? ... Zünden sie hier Freudenfeuer an?«

Der Leichenzug war auf dem Rundplatze angekommen, wo das Beinhaus stand, die gemeinsame Gruft, allmählich gefüllt mit den aus den Gräbern hier zusammengetragenen menschlichen Überresten; der in der Mitte eines runden Rasenplatzes gelegene Gruftstein verschwand völlig unter einem Haufen von Kränzen, die hier das liebevolle Gedenken der Verwandten niederlegte, deren Tote nicht mehr in eigenen Gräbern ruhten. Als der Leichenwagen nach links einbog in den Querweg Nr. 2, vernahm man ein Knistern und sah einen dichten Rauch über die kleinen Platanen aufsteigen, welche den Fußweg einsäumten. Man näherte sich langsam und sah von der Ferne einen großen Haufen erdiger Sachen, die da brannten. Endlich begriff man. Es war am Rande eines großen Vierecks, das man durch breite Parallelfurchen tief aufgewühlt hatte, um die Särge auszuheben und die Erde anderen Leichen zu überlassen, wie der Bauer ein Stoppelfeld umackert, ehe er es von neuem besäet. Die langen, leeren Gräben klafften, die aufgeworfenen Hügel fetter Erde trockneten unter dem freien Himmel. In diesem Winkel verbrannte man die verfaulten Bretter der Särge, die – feucht vom menschlichen Moder – nicht brennen wollten, mit dumpfen Krachen barsten und nur einen dichten Rauch entsandten. Der Qualm stieg zum grauen Himmel empor, der Novemberwind jagte ihn wieder abwärts, zerriß ihn in rötliche Streifen, die zwischen den niedrigen Grabhügeln hintrieben und eine Hälfte des Kirchhofes fast ganz erfüllten.

Sandoz und Bongrand hatten wortlos zugeschaut, als sie am Feuer vorüber waren, begann der erstere wieder:

»Nein, er war nicht der Mann der Formel, die er in die Kunst mitbrachte. Ich will sagen, er dachte nicht klar genug, um die Formel auf die Beine zu stellen und in einem endgültigen Werke den Zweiflern und Widersachern aufzunötigen. Sehen Sie, wie um ihn her und hinter ihm her die Arbeiten sich zersplittern! Alle bleiben bei den Skizzen, bei flüchtigen Eindrücken; kein einziger scheint die Kraft zu haben, der erwartete Meister zu werden. Diese neue Bezeichnung des Lichts, diese bis zur wissenschaftlichen Zergliederung getriebene Leidenschaft für die Wahrheit, diese so eigenartig begonnene Schwenkung: ist es nicht ärgerlich zu sehen, wie sie sich verzögert, geschickten Leuten in die Hände fällt, die sie ausnützen, und nicht ans Ziel gelangt, weil der notwendige Mann noch nicht geboren ist? ... der Mann wird kommen; nichts geht verloren, es muß Licht werden!«

»Wer weiß? nicht immer!« sagte Bongrand. »Auch das Leben macht Fehlgeburten ... Ich höre Ihnen zu, aber ich bin ein Verzweifelter. Ich vergehe schier vor Traurigkeit und fühle alles, was vergeht ... Ach ja, die Luft der Zeit ist schlecht, diese Jahrhundertneige voll Niederreißens, in Trümmer gelegter Bauten, hundertmal umgegrabener Erdflächen, die einen Leichengestank ausströmen lassen! Kann man gesund sein inmitten von alldem? Die Nerven verderben, das gewaltige Leiden wirkt sich aus, die Kunst gerät in Verwirrung: es ist das Gedränge, die Anarchie, die Verrücktheit der im Todeskampfe liegenden Persönlichkeit ... Man hat niemals soviel gezankt und niemals weniger klar gesehen, als seitdem man alles zu wissen behauptet.«

Sandoz war bleich geworden und blickte in die Ferne nach den großen, roten Rauchwolken, die der Wind vor sich hertrieb.

»Es war verhängnisvoll,« sagte er halblaut; »dieses Übermaß von Tätigkeit und von Stolz im Wissen mußte uns in den Zweifel zurückschleudern; dieses Jahrhundert, das schon so viel Licht geschaffen, mußte unter einer drohenden neuen Flut von Finsternis zu Ende gehen ... Ja, daher kommt unser Mißbehagen. Man hat zuviel verheißen, man hat zuviel gehofft, man hat die Eroberung und Ausbeutung von allem erwartet, und nun grollt die Ungeduld. Wie? man kommt nicht rascher vorwärts? die Wissenschaft hat uns in hundert Jahren noch nicht die volle Gewißheit, das vollkommene Glück gebracht? Wozu fortsetzen, da man niemals alles wissen kann und unser Brot immer so bitter bleiben wird? Das ist ein Bankerott des Jahrhunderts, der Pessimismus tötet das Herz, der Mystizismus hüllt die Gehirne in Nebeldünste. Vergebens haben wir durch die Lichtstrahlen der Zergliederung Gespenster verscheucht, das Übernatürliche hat den Kampf wieder aufgenommen, der Geist der Legende empört sich und will uns wiedererobern, während wir angstvoll und ermüdet haltmachen. Nein, ich behaupte auch nichts mehr, ich selbst fühle mich zerrissen. Aber es scheint mir, daß dieses letzte Zucken der alten religiösen Scheu vorauszusehen war. Wir sind kein Ende, sondern Übergang, der Beginn von etwas anderem ... Das beruhigt mich; es tut mir wohl zu glauben, daß wir der Vernunft und der Festigkeit der Wissenschaft entgegengehen ...«

Seine Stimme verriet seine tiefe Bewegung, und er setzte hinzu:

»Es wäre denn, daß die Narrheit uns in die Finsternis stößt und wir alle vom Ideal erwürgt von hinnen gehen, wie der alte Kamerad, der da zwischen seinen vier Brettern schläft.«

Der Leichenwagen bog jetzt in den Seitenweg Nr. 3 ein; hier zeigte der Maler dem Schriftsteller mit dem Blick ein Gräberviereck, an dem jetzt das Leichengefolge entlang zog.

Es war ein Kinderkirchhof, nichts als Kindergräber, in unendlichen Reihen, schön geordnet, durch schmale Pfade voneinander getrennt, einer Kinderstadt des Todes gleichend. Es waren ganz kleine, weiße Kreuze, ganz kleine, weiße Gitter, die fast verschwanden unter einer Fülle von weißen und blauen Kränzen; und der friedliche Leichenacker mit dem milden Ton schien durch diese in die Erde gebettete Kindheit zu blühen. Die Kreuze kündeten das Alter der Toten: zwei Jahre, sechzehn Monate, fünf Monate. Ein armes Kreuzlein, das herausgefallen war und quer auf dem Wege lag, trug die Inschrift: Eugen, drei Tage alt. Kaum noch sein und schon da schlafen, abseits wie die Kinder, welche die Familien an Festabenden am kleinen Tische speisen lassen!

Endlich hielt der Leichenwagen in der Mitte des Weges. Als Sandoz das offene Grab bemerkte in einem Winkel des benachbarten Vierecks dem Kinderfriedhofe gegenüber, murmelte er in zärtlichem Tone:

»Ach, mein lieber Claude, großes Kinderherz, du wirst dich an ihrer Seite wohl befinden!«

Die Leichenbestattungsdiener hoben den Sarg vom Wagen. Der Priester wartete in übler Laune, vom Winde gepeitscht; die Totengräber standen mit ihren Schaufeln bereit. Drei Nachbarn waren unterwegs weggeblieben, das Leichengefolge von zehn Personen war auf sieben zusammengeschmolzen. Der kleine Vetter, der trotz des abscheulichen Wetters schon seit der Kirche den Hut in der Hand hielt, näherte sich jetzt. Alle andern entblößten die Häupter, und die Gebete sollten eben beginnen, als ein schriller Pfiff alle emporzuschauen nötigte.

An diesem noch leeren Winkel vorüber fuhr am Ende des Querweges Nr. 3 ein Zug auf dem hohen Damm der Gürtelbahn, die den Kirchhof beherrschte. Die grasbewachsene Böschung stieg hoch empor, die durch dünne Drähte verbundenen Telegraphenstangen hoben sich als geometrische, schwarze Linien vom grauen Himmel ab; man sah außerdem das Häuschen eines Bahnwärters und eine Signaltafel, den einzigen roten Fleck, der einen lebendigen Ton in die trübe Landschaft brachte. Als der Zug mit donnerähnlichem Getöse vorüberrollte, unterschied man deutlich – wie durch das Transparent eines chinesischen Schattenspiels – die Abschnitte der Wagen, selbst die Leute, die hinter den hellen Fensteröffnungen saßen. Dann tauchte die Eisenbahnlinie wieder rein auf: ein einfacher, tintenschwarzer Strich, der den Horizont durchschnitt; während in der Ferne unaufhörlich Signalpfiffe ihre schrillen, klagenden Töne vernehmen ließen. Schließlich erscholl gar ein Nebelhorn mit seinem Jammergeheul.

»Revertitur in terram suam unde erat ...« wiederholte der Priester, der ein Buch geöffnet hatte und seine Gebete schleunig hersagte.

Aber man hörte ihn nicht; eine große Lokomotive hatte pustend Halt gemacht und rangierte gerade oberhalb der Zeremonie. Die Maschine hatte eine Riesenstimme, einen Gutturalpfiff von ungeheuerlicher Traurigkeit. Rauchend rollte sie hin und her mit dem Aussehen eines schwerfälligen Ungeheuers. Plötzlich ließ sie mit einem wütenden Sturmgeheul ihren Dampf fahren.

»Requiescat in pace,« sagte der Priester.

»Amen,« antwortete der Chorknabe.

Alles andere verschlang das zischende, betäubende Getöse, das mit ungeschwächter Heftigkeit fortdauerte wie Flintengeknatter.

Bongrand wandte sich erbittert zur Lokomotive hin. Sie schwieg endlich, und man atmete auf. Sandoz waren Tränen in die Augen getreten; er war schon bewegt durch die Dinge, die sich ihm unwillkürlich auf die Lippen gedrängt hatten, wie sie so hinter der Leiche seines alten Kameraden einhergeschritten waren, als hätten sie wieder eine ihrer ehemaligen anregenden Unterhaltungen. Ihm war jetzt, als wolle man seine Jugend zu Grabe tragen; es war ein Teil von ihm, der bessere Teil, der Teil der Träume und Begeisterungen, den die Totengräber aufhoben, um ihn in die Grube gleiten zu lassen. Ein Zwischenfall erhöhte in diesem furchtbaren Augenblicke noch seinen Kummer. Es hatte die vorangegangenen Tage soviel geregnet, und die Erde war dermaßen durchweicht, daß plötzlich eine Seitenwand des Grabes einstürzte. Einer der Totengräber mußte in die Grube springen, um die Erde mit der Schaufel wieder hinaufzuwerfen, was er mit langsamen gleichmäßigen Bewegungen tat. Es wollte kein Ende nehmen und steigerte noch die Ungeduld des Priesters und der vier Nachbarn, die bis zum offenen Grabe mitgekommen waren, man wußte nicht weshalb. Die Lokomotive auf dem Bahndamm oben hatte ihre Tätigkeit wieder aufgenommen, fuhr heulend hin und wieder mit offenem Rachen, einen Funkenregen in den düstern Tag hinausspeiend.

Endlich war die Grube leer, der Sarg wurde hinabgelassen, der Weihwedel wanderte von Hand zu Hand. Es war zu Ende. Der kleine Vetter mit seiner vornehmen, liebenswürdigen Haltung dankte im Namen der leidtragenden Familie dem Leichengefolge und drückte allen diesen Leuten die Hand, die er niemals gesehen hatte, – zur Erinnerung an diesen Verwandten, dessen Name ihm gestern noch unbekannt gewesen.

»Der Ladenschwengel benimmt sich sehr artig,« sagte Bongrand, seine Tränen verschluckend.

»Ja, sehr artig,« erwiderte Sandoz schluchzend.

Alle entfernten sich; die Chorhemden des Priesters und des Knaben verschwanden zwischen den grünen Bäumen; die Nachbarn zerstreuten sich zwischen den Gräberreihen und lasen die Aufschriften.

Sandoz entschloß sich, das schon halbgefüllte Grab zu verlassen.

»Wir allein haben ihn gekannt,« sagte er ... »Nichts ist von ihm übrig geblieben, nicht einmal ein Name!«

»Er ist glücklich,« sagte Bongrand; »in der Erde, wo er schläft, quält ihn kein unfertiges Gemälde ... Besser von hinnen gehen, als sich – wie wir es tun – damit abmühen, ungesunde Kinder zu zeugen, denen immer einzelne Teile fehlen, bald der Kopf und bald die Beine, und die niemals lebensfähig sind.«

»Ja, wahrhaftig, man muß nicht stolz sein, sich mit dem Ungefähr begnügen und mit dem Leben ein wenig falsch spielen ... Ich, der ich meine Bücher bis ans Ende fertig bringen will, verachte mich selbst, weil ich fühle, daß sie trotz aller Anstrengungen unvollständig und lügenhaft sind.«

Mit bleichen Gesichtern gingen sie langsam Seite an Seite neben den Kindergräbern dahin, der Romanschriftsteller zu jener Zeit auf der Höhe seines Schaffens und seiner Berühmtheit, der Maler ruhmbedeckt, aber im Rückgang begriffen.

»Das war wenigstens einer, der Logik und Mut hatte,« fuhr Sandoz fort. »Er hat sein Unvermögen eingestanden und sich getötet.«

»Das ist wahr,« sagte Bongrand. »Wäre uns unsere Haut nicht gar so teuer, wir alle würden ein Gleiches tun ... Nicht wahr?«

»Gewiß. Da wir nichts schaffen können, nur schwächliche Nachahmer sind, wäre es geradeso gut, wir rennten uns sogleich die Köpfe ein.«

Jetzt waren sie wieder vor dem brennenden Haufen alter, verfaulter Särge; diese hatten endlich Feuer gefangen und brannten schwitzend und krachend; aber man sah noch immer keine Flammen; der Rauch allein hatte zugenommen, ein dichter, scharfer Rauch, den der Wind in dichten Ballen emporjagte und der jetzt wie eine Trauerwolke den ganzen Leichenacker bedeckte.

»Alle Wetter, schon elf Uhr!« sagte Bongrand die Uhr ziehend. »Ich muß nach Hause.«

»Wie, schon elf Uhr!« rief Sandoz überrascht.

Er warf einen langen, verzweifelten, von Tränen umflorten Blick auf die niedrigen Gräber, auf das weite, perlenblühende, so regelmäßige, kalte Feld. Dann fügte er hinzu:

»Gehen wir an die Arbeit!«


 << zurück