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An einem Herbstnachmittag befand sich Gervaise, die Wäsche zu einer Kundschaft in die Rue des Portes-Blanches getragen hatte, am Ende der Rue des Poissonniers, als die Nacht einbrach. Es hatte am Vormittag geregnet; die Luft war warm und vom schmutzigen Pflaster stiegen Gerüche auf. Die Büglerin wurde etwas benommen; gehindert durch ihren großen Korb, verlangsamte sie ihren Schritt, gab ihrem müden Leibe nach und einem unbestimmten Gefühl, einem aus ihrer Müdigkeit entstehenden Wunsch: sie hätte gern etwas Gutes gegessen. Dann sah sie auf und erblickte das Schild der Rue Marcadet. Da kam ihr der Gedanke, Goujet in seiner Schmiede aufzusuchen. Schon zwanzigmal hatte er ihr gesagt, sie möchte eines Tages kommen, wenn sie Lust hätte, einmal das Eisen bearbeiten zu sehen. Sie könne ja vor den andern Arbeitern nach Etienne fragen, so habe es den Anschein, als käme sie nur seinetwegen.
Die Werkstatt der Bolzen und Hufnägel mußte da irgendwo sein in dieser Gegend der Rue Marcadet, sie wußte aber nicht recht wo; um so weniger, als die Nummern längs dieser Gebäude oft fehlten, die zuweilen leere Plätze voneinander trennten. Nein, in einer solchen Gasse hätte sie nicht um alles Gold der Welt wohnen mögen, in einer so weiten Gasse, die schmutzig war und schwarz vom Kohlenstaub der benachbarten Fabriken und ein höckriges Pflaster hatte, in dem sich das Wasser zu Pfützen staute. Zu beiden Seiten der Gasse waren Schuppen und graue Gebäude und alles sah so unfertig aus; Backsteinhaufen und aufgelöste Zimmerplätze gaben Unterbrechungen und Öffnungen nach dem Felde zu; und dann die finstern Kneipen und verdächtigen Garküchen. Sie erinnerte sich, daß die Schmiede in der Nähe eines Magazines mit Lumpen und Eisenwaren lag, einer Art Kloake auf ebener Erde, in dem für tausende Francs Waren schliefen, wie Goujet erzählte. Sie suchte sich mitten in dem werktägigen Lärm der Gasse zurechtzufinden. Ganz schmale Rohre auf den Dächern stießen lebhaften Dampf aus. Eine mechanische Sägemühle gab ein regelmäßiges Knirschen von sich, das sich wie das Zerreißen von Zeug anhörte. Knopffabriken ließen den Boden erdröhnen vom stampfenden Tack-Tack der Maschinen. Als sie sich dem Montmartre zukehrte, unschlüssig, ob sie weitergehen solle oder nicht, verpestete ein Windstoß die Gasse mit dem Rauch aus einem hohen Schlot; erstickt schloß sie die Augen. Da vernahm sie den regelmäßigen Takt von Hämmern: sie stand, ohne es zu wissen, der Schmiede gerade gegenüber, die sie an der Baracke mit den Lumpen nebenan erkannte.
Sie zögerte jedoch noch immer, unsicher, wo sie eintreten sollte. Eine verfallende Umzäunung ließ einen Durchgang sehen, der scheinbar mitten auf die Kalkschütte eines Baues führte, der im Abbruch war. Da Schmutzwasser den Weg versperrte, hatte man zwei Bretter darübergelegt. Sie wagte den Schritt über die Bretter, ging dann zur Linken und schien sich in einem sonderbaren Wald alter umgeworfener Wagen mit den Rädern in der Luft zu verlieren, zwischen baufälligem Gemäuer, dessen Gerippe noch stand. Im Hintergrunde durchbohrte den letzten Rest des Tages ein rotes Feuer. Das Hämmern hatte aufgehört. Vorsichtig schritt sie auf den roten Schein zu, als ein Arbeiter mit geschwärztem Gesicht neben ihr vorbeiging; ein berußter Bart lag unter dem gutmütigen Blick aus blassen Augen.
»Hier arbeitet doch ein Kind, das Etienne heißt, nicht wahr? Es ist mein Bub.« »Etienne, Etienne?« wiederholte der Arbeiter mit heißer Stimme, »Etienne, nein, kenne ich nicht.« Aus dem offenen Munde strömte Alkoholgeruch wie aus einem alten Schnapsfaß, dessen Spund man geöffnet hat. Da ihn aber die Begegnung mit einer Frau in diesem finstern Winkel etwas lustig machte, trat Gervaise zurück und sagte:
»Hier muß doch wohl Herr Goujet arbeiten?«
»Oh, Goujet, jawohl!« sagte der Arbeiter, »Goujet, den kenn ich. Wenn Sie wegen Goujet kommen ... kommen Sie nur mit bis da hinten.«
Sich umdrehend, schrie er mit einer blechernen Stimme: »Hör mal, Goldschnauze, hier ist eine Dame für dich.« Aber im Eisenlärm blieb der Ruf ungehört. Gervaise ging nach hinten. Sie kam an eine Türe und streckte den Kopf durch. Es war ein großer Saal, in dem sie vorerst nichts unterschied. Die Schmiede lag wie tot im Winkel, ein sternblasses Feuer, das die Dunkelheit noch stärker fühlbar machte. Große Schatten fielen. Von Zeit zu Zeit verstopfte Schwarzes diesen letzten leuchtenden Fleck, Männer, die unheimlich vergrößert schienen und deren mächtige Glieder man nur erraten konnte. Gervaise wagte sich nicht weiter; sie rief mit halber Stimme an der Türe:
»Herr Goujet, Herr Goujet ...«
Plötzlich wurde alles hell. Unter dem Schnaufen des Blasebalges brach eine Strahlenflamme hervor. Der ganze Schuppen wurde sichtbar samt seinen rohgemauerten Backsteinmauern. Der Kohlenruß zog in der Halle wie grauer Staub. Spinnwebe hingen an den Balken wie Lumpen, die da oben trockneten, beschwert von jahrelang angesammeltem Schmutz. Auf Gestellen, an Haken und Nägeln hängend oder in dunkle Ecken geworfen häufte sich ein Durcheinander von altem Eisen, allerlei verbeulten Gegenständen; großes Handwerkszeug lag herum, zeigte scharfes und hartes gebrochenes Profil. Und die weiße Flamme stieg immer höher, beleuchtete wie ein Sonnenstrahl den gestampften Boden, in den der polierte Stahl von vier Ambossen eingesenkt war und silbern glimmerte.
Nun erkannte Gervaise Goujet vor seiner Schmiede an seinem schweren gelben Barte. Etienne zog den Blasebalg. Zwei andere Arbeiter standen noch dabei. Sie sah nur Goujet, trat vor und stellte sich vor ihn.
»Schau, Frau Gervaise!« und sein Gesicht verklärte sich; »was für eine hübsche Überraschung!«
Aber als die Kameraden neugierige Gesichter machten, schob er Etienne seiner Mutter zu.
»Sie kommen, um Ihren Jungen zu sehen. Er ist ein braver Bursch und fängt an, Fäuste zu kriegen.«
»Mein Gott, es ist nicht sehr bequem, hierher zu finden. Ich glaubte mich am Ende der Welt.«
Sie erzählte von ihrer Reise. Dann fragte sie, warum man Etiennes Namen hier nicht kenne. Goujet lachte; erklärte ihr, daß alle ihn hier Zouzou nannten, weil er seine Haare so kurz geschoren trage, genau wie ein Zuave.
Während sie sich unterhielten, zog Etienne nicht mehr am Blasebalg und die Flamme in der Schmiede fiel zusammen; nur mehr ein blaßroter Schimmer war sichtbar mitten im schwarz gewordenen Schuppen. Der Grobschmied betrachtete gerührt die lächelnde Frau, die ganz frisch in diesem Schein aussah. Da nun keines mehr sprach in dieser Finsternis, schien er sich zu besinnen und sagte plötzlich:
»Erlauben Sie, Frau Gervaise, ich habe etwas fertigzumachen. Bleiben Sie da, nicht wahr? Sie genieren niemanden.«
Sie blieb. Etienne zog neuerdings am Balg. Die Schmiede leuchtete unter sprühenden Funken, um so mehr, als der Kleine, um seiner Mutter seine Kräfte zu zeigen, einen sturmartigen Atem entfesselte. Goujet überwachte stehend einen Eisenbarren, der erglühte; er wartete, die Zange in der Hand. Die große Helligkeit nahm ihm alle Schatten. Sein Hemd hatte er über die Ellbogen aufgestülpt; am Halse war es offen, zeigte seine nackten Arme und die Brust, eine rosige Haut wie die eines jungen Mädchens, auf der sich blonde Haare kräuselten; den Kopf trug er etwas vorgebeugt zwischen seinen breiten Schultern mit höckerigen Muskeln; das Gesicht aufmerksam mit seinen blaßblauen Augen, die ohne ein Zucken auf die Flamme gerichtet waren; er machte den Eindruck eines Zyklopen im Ausruhen, sicher in seiner Kraft. Als der Barren weiß war, packte er ihn mit seiner Zange und zerteilte ihn mit dem Hammer auf dem Amboß in regelmäßige Stücke, mit so leichten Schlägen, als hätte er Glas zerbrochen. Dann tat er die Stücke wieder ins Feuer, von wo er sie, eins nach dem andern, herausnahm, um sie zu formen.
Er schmiedete sechseckige Hufnägel. Er legte die Enden in ein Nageleisen, zerquetschte das Eisen, das den Kopf bildete, schlug die sechs abgestumpften Ecken flach, warf die noch glutroten fertigen Hufnägel auf den schwarzen Boden, wo der feurige Fleck erlosch; dabei klopfte er immerwährend, schwang einen fünf Pfund schweren Hammer in der Hand, jeder Schlag saß am rechten Fleck. Er drehte und handhabte das Eisen mit solcher Geschicklichkeit, daß er mit den Leuten plaudern und sie ansehen konnte. Silbern klang der Amboß. Die Stirn des Schmiedes blieb trocken, er fühlte sich sehr wohl und schlug lustig zu, ohne daß es ihm scheinbar mehr Anstrengung kostete, als wenn er abends zu Hause Bilder ausschnitt.
»Oh, das sind kleine Hufnägel, zwanzig Millimeter,« sagte er, um auf die Fragen Gervaise Bescheid zu geben. »Man kann dreihundert im Tage machen ... Aber man muß in der Übung bleiben, denn der Arm rostet schnell ein ...« Und als sie ihn fragte, ob sein Gelenk nicht am Ende des Tages steif würde, lachte er gutmütig. »Glauben Sie, ich bin ein kleines Mädchen?« Seine Faust habe viel durchgemacht seit fünfzehn Jahren; sie sei Eisen geworden, so sehr habe er sie am Werkzeug gerieben. Freilich habe sie recht; ein Herr, der niemals einen Hufnagel oder einen Bolzen geschmiedet habe und der mit seinem fünfpfündigen Hammer hätte spielen wollen, hätte sich eine schöne Verrenkung nach zwei Stunden zugezogen. Das sehe nach nichts aus, aber es putzt dies manchmal die strammsten Jungen in wenigen Jahren weg. Unterdessen hämmerten und schlugen die andern Arbeiter alle zu gleicher Zeit. Ihre großen Schatten tanzten in der Helligkeit, die roten Blitze des Eisens, das aus dem Feuerloch kam, durchschnitten die dunklen Ecken, Funken umsprühten die Hämmer und leuchteten wie Sonnen auf dem Amboß. Gervaise hegte sich im Getöse der Schmiede, war froh und ging nicht mehr fort. Sie machte einen Bogen, um zu Etienne zu gelangen, ohne dabei Gefahr zu laufen, sich ihre Hände zu verbrennen. Da sah sie den schmutzigen und bärtigen Arbeiter eintreten, an den sie sich im Hofe um Auskunft gewandt hatte.
»Ja, haben Sie es gefunden, Frau?« sagte er mit der lustigen Art des Betrunkenen. »Goldschnauze, ich habe der Dame den Weg zu dir gezeigt ...«
Er hieß »Salzfresse«, genannt »Immersuff«, ein ausgekochter Bursche von großem Schick, der sein Eisen täglich mit einem Liter Fusel begießt. Als er hörte, daß Zouzou Etienne hieße, fand er das sehr komisch; er lachte und zeigte seine schwarzen Zähne. Dann erkannte er Gervaise. Noch am vorhergehenden Abend habe er einen Schoppen mit Coupeau getrunken. Man brauche Coupeau nur die Salzfresse zu nennen, gleich würde er sagen: ›Das ist ein Kunde‹! »Ah, dieses Aas Coupeau! Er war sehr forsch und schmiß öfters eine Lage als nötig.«
»Das macht mir Spaß, daß Sie seine Frau sind,« wiederholte er. »Er verdient es, eine schöne Frau zu haben ... Was? Goldschnauze, die Dame ist eine schöne Frau?«
Er spielte den Schwerenöter, stieß die Waschfrau an, die ihren Korb wieder hochhob und ihn vorhielt, um sich den Mann vom Leibe zu schaffen. Goujet wurde ärgerlich, er sah wohl ein, daß der Kamerad Spaß machte über seine gute Freundschaft zu Gervaise, und rief ihm zu:
»Na, du fauler Kopf! Wie wird's mit den vierzig Millimeter? ... Jetzt bist du wohl obenauf, wo du den Bauch voll hast, verfluchter Süffel?«
Der Schmied wollte von einer großen Bolzenbestellung, zu der man zwei Zuschläger am Amboß brauchte, sprechen.
»Sofort, wenn du willst, großer Säugling!« erwiderte Salzfresse. »Das nuckelt am Daumen und spielt den Mann! Wenn du auch dick bist, da hab ich schon ganz andere gewickelt.«
»Schon gut! Aber nun los und plötzlich!«
»Machen wir! Schlaukopf.«
Sie mißtrauten sich, entzündet durch Gervaises Anwesenheit. Goujet legte die im voraus geschnittenen Eisenstücke aufs Feuer; dann befestigte er eine große Nagelform auf einem Amboß. Der Kamerad holte zwei zwanzig Pfund schwere Treibhämmer von der Wand, die zwei großen Schwestern der Werkstatt, die von den Arbeitern Fifine und Dédèle genannt wurden. Er prahlte weiter, erzählte von einem halben Gros Nägel, die er für den Leuchtturm von Dünkirchen geschmiedet hatte, der reine Schmuck, wahre Museumsstücke, so schön und genau waren sie gearbeitet. Verflucht, nein! Er fürchtete die Konkurrenz nicht; ehe man wieder einen Jungen wie er fände, könnte man alle Löcher der Hauptstadt durchstöbern. Man würde schon lachen, man würde sehen, was man sehen würde.
»Die Dame wird urteilen«, sagte er und wandte sich an die junge Frau.
»Genug gequasselt!« rief Goujet. »Los jetzt, Zouzou! Das schafft nicht, mein Junge.« Aber die Salzfresse fragte nochmals:
»Dann schmieden wir zusammen?«
»Keine Spur! Jeder seinen Bolzen, mein Guter!«
Dieser Vorschlag kühlte ihn ab, plötzlich ging dem Kameraden der Speichel aus, trotz seines Mundwerks. Vierzig Millimeter große Bolzen von einem einzigen Manne ausgeführt, das war noch nie dagewesen; um so mehr, als die Bolzen runde Köpfe haben mußten, eine verdammt schwierige Arbeit, ein wahres Meisterstück. Die drei andern Werkstattarbeiter hatten ihre Arbeit verlassen, um zuzusehen; ein langer Hagerer wettete einen Liter, daß Goujet verlieren würde. Die beiden Schmiede griffen nun jeder mit geschlossenen Augen nach einem Hammer, weil Fifine ein halbes Pfund schwerer war als Dédèle. Die Salzfresse war im Vorteil, weil er die Hand auf Dédèle legte; Goldschnauze bekam Fifine. Und während er abwartete, bis das Eisen weißglühend war, stellte sich Salzfresse an den Amboß und warf der Wäscherin zärtliche Blicke zu; er streckte sich, wippte ungeduldig mit dem Fuße wie ein Herr, der in ein Duell geht, probierte den Schwung, mit dem er Dédèle gewaltig niedersausen lassen würde. Ah! Zum Teufel! Wohl war ihm; er hätte die Vendômesäule zu Eierkuchen geschlagen!
»Fang schon an!« rief Goujet, und legte in die Nagelform ein Eisenstück von der Größe einer Mädchenfaust. Salzfresse legte sich zurück und brachte mit beiden Händen Dédèle in Schwung. Klein, vertrocknet, mit seinem Bocksbart und seinen Wolfsaugen, glänzend unter seinem schlecht gekämmten Schopf, brachte er sich bei jedem Schlag um, sprang er vom Boden hoch, vom eigenen Schwung gerissen. Er war ein Wüterich, der sich mit seinem Eisen herumschlug aus Wut, weil es so hart war; er grunzte sogar, wenn er meinte, ihm einen tüchtigen Klaps versetzt zu haben. Vielleicht daß der Schnaps die Arme anderer verweichlicht, er aber brauchte Schnaps statt des Blutes in den Adern; der Tropfen von vorhin wärmte ihm das Gerippe wie einen Kessel, er spürte eine tolle Kraft in sich wie eine Dampfmaschine. Auch hatte das Eisen Angst vor ihm, diesen Abend; er klopfe es weicher wie einen Sandfloh. Und Dédèle walzte, so was muß man gesehen haben! Sie machte großes Ballett, Füßchen in der Luft, wie eine Tänzerin vom Elyseé Montmartre, die ihre Wäsche zeigt; denn man durfte nicht feiern, das Eisen ist so niederträchtig, gleich wird es wieder kalt. In dreißig Schlägen hat die Salzfresse den Bolzenkopf geformt. Aber er mußte schnaufen, die Augen traten ihm aus den Höhlen, eine Riesenwut packte ihn, als er seine Arme knacken hörte. Dann fortgerissen, gröhlend und tanzend schlug er noch zweimal zu, nur um sich für seinen Schmerz zu rächen. Als er den Bolzen vom Nagelformer zurückzog, war er formlos und der Kopf saß ihm wie einem Buckligen auf.
»Was? Das ist gefingert!« sagte er trotzdem frech und zeigte Gervaise die Arbeit.
»Ich kenne mich nicht aus, mein Herr«, erwiderte zurückhaltend die Wäscherin. Aber sie sah sehr wohl auf dem Bolzen die zwei letzten Schläge von Dédèles Absätzen, sie war sehr zufrieden, sie kniff die Lippen zusammen, um nicht zu lachen, weil Goujet jetzt durchaus im Vorteil war.
Jetzt kam die Goldschnauze an die Reihe. Ehe er anfing, warf er der Wäscherin einen Blick voll vertrauender Zärtlichkeit zu. Er übereilte sich nicht, nahm Abstand und ließ den Hammer von oben in regelmäßigen kräftigen Schlägen herabfallen. Er hatte die klassischen Bewegungen, korrekt, getragen und weich. Fifine tanzte in seinen beiden Händen keinen Kneipencancan, die Beine über den Röcken; sie erhob sich und fiel in Harmonie wieder nieder, wie wenn eine vornehme Dame mit ernstem Ausdruck singend ein altes Menuett exekutiert. Die Absätze Fifines schlugen feierlich den Takt; und sie drückten sich in das rote Eisen auf dem Bolzenkopf mit überlegener Wissenschaft ein, drückten das Metall in der Mitte erst nieder, um es dann durch einige Schläge rhythmischer Präzision zu formen. Das war kein Schnaps in den Adern der Goldschnauze, das war Blut, reines Blut, das mächtig bis in den Hammer hinein pulste und seine Arbeit regulierte. Ein herrlicher Mensch bei der Arbeit, dieser Junge! Die große Flamme der Schmiede übergoß ihn ganz. Seine kurzen Haare lockten sich über der niedrigen Stirn, sein schöner blonder Bart in fallenden Ringeln flammte auf und bestrahlte sein ganzes Gesicht mit seinen goldenen Fäden: es war ohne Lüge ein wahres Goldgesicht. Dabei einen Hals wie eine Säule, weiß wie ein Kinderhals; eine breite Brust, so breit, man hätte eine Frau quer darauf betten können; die Schultern und Arme gemeißelt wie die eines Riesen in einem Museum. Wenn er ausholte, sah man seine Muskeln sich schwellen. Berge von Fleisch rollend und unter der Haut sich härtend, seine Schultern, Hals und Brust schwollen an; er wurde licht, er wurde schön, allmächtig wie ein guter Gott. Zwanzigmal hatte er Fifine wieder fallen lassen, die Augen auf das Eisen geheftet, Atem holend bei jedem Schlag. Von beiden Schläfen nur rollten zwei Tropfen Schweiß herunter. Er zählte, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Fifine fuhr ruhig fort, wie eine große Dame sich zu verbeugen.
»Was für ein Fatzke!« murmelte lachend Salzfresse.
Und Gervaise, der Goldschnauze gegenüber, schaute mit gerührtem Lächeln zu. Mein Gott! Waren die Männer doch dumm. Schlugen diese beiden da nicht auf ihre Bolzen, um ihr den Hof zu machen! Oh, sie verstand es wohl, sie stritten um sie durch Hammerschläge; sie waren wie zwei rote Hähne, die sich vor einer kleinen weißen Henne prusten. Auf was man wohl alles verfällt? Das Herz wählt immerhin oft sonderbare Wege, sich auszudrücken. Ja, für sie donnerten Dédèle und Fifine auf dem Amboß. Für sie all das zerdrückte Eisen. Für sie diese Schmiede in Glut, sprühend wie eine Feuersbrunst, voll all der blinkenden Sternchen. Sie schmiedeten ihr da eine Liebe, sie stritten um sie, wer am besten schmiedete. Und wirklich, es machte ihr Vergnügen; denn die Frauen haben Komplimente gern. Besonders die Schläge der Goldschnauze klangen ihr im Herzen wider; sie schwangen darin wie auf dem Amboß, eine klare Musik, die das Klopfen ihres Blutes begleitete. Es schien eine Dummheit, aber sie spürte, daß ihr da etwas ins Herz stieß, etwas Kräftiges, ein wenig von dem Eisen des Bolzens. In der Dämmerung, ehe sie eintrat, hatte sie einen vagen Wunsch, als sie längs des feuchten Trottoirs ging, ein Verlangen, etwas Gutes zu essen; jetzt war sie befriedigt, als ob die Schläge der Goldschnauze sie genährt hätten. Oh, sie zweifelte nicht an seinem Sieg. Ihm würde sie angehören. Salzfresse war zu häßlich, in seinem schmutzigen Arbeitszeug herumhüpfend wie ein ausgekommener Affe. Sie wartete, sehr rot und doch glücklich über die große Hitze, freudig erregt, von den letzten Schlägen Fifines von Kopf zu Fuß erschüttert zu werden.
Goujet zählte noch immer.
»Und achtundzwanzig!« rief er endlich, den Hammer auf die Erde stellend. »Fertig, sehen Sie her.«
Der Kopf des Bolzens war poliert, glatt, ohne Delle, ein wahres Goldarbeiterstück, rund wie eine in der Form gegossene Kugel. Die Arbeiter schauten sie bewundernd an; es war unbestreitbar, um davor zu knien. Salzfresse versuchte zu scherzen, aber er stotterte, er ging begossen an seinen Amboß zurück. Gervaise hatte sich an Goujet gelehnt, wie um besser zu sehen. Etienne hatte den Blasebalg losgelassen, die Schmiede sank in Finsternis zurück, als ginge ein rotes Gestirn unter, das plötzlich in tiefe Nacht versinkt. Der Schmied und die Wäscherin empfanden die Süße, wie die Dunkelheit in diesem schwarzen Schuppen voll Ruß und Feilspänen und dem Geruch von altem Eisen sie einhüllte; sie hätten sich im Wald von Vincennes nicht einsamer fühlen können, wenn sie sich dort im tiefsten Grün ein Stelldichein gegeben hätten. Er griff ihre Hand, als hätte er sie erobert.
Dann, draußen, sprachen sie kein Wort. Nichts fiel ihm ein; er sagte nur, daß sie Etienne hätte mitnehmen können, wenn nicht noch eine halbe Stunde am Feierabend gefehlt hätte. Endlich wollte sie gehen, als er im Wunsche, sie noch etwas bei sich zu haben, sie zurückrief.
»Kommen Sie doch, Sie haben noch nicht alles gesehen ... Wirklich, es ist interessant.«
Er führte sie nach rechts in einen andern Schuppen, in dem sein Meister eine ganze mechanische Werkstätte eingerichtet hatte. Auf der Schwelle zögerte sie, von instinktiver Angst gepackt. Der große Saal, den die Maschinen erschütterten, zitterte; und in ihm tanzten große, von roter Glut durchfleckte Schatten. Er beruhigte sie lächelnd und schwur, es sei nichts zu fürchten dabei; sie solle nur acht geben, daß sie mit dem Rocke nicht zu nahe an die Treibriemen käme. Er schritt voraus, sie folgte ihm in diesen Höllenlärm, in das Pfeifen und Brummen aller möglichen Geräusche, mitten hinein in den Rauch, den unbestimmbare Wesen bevölkerten, schwarze schaffende Männer, Maschinen, die ihre Kolben stießen, die sie nicht voneinander unterscheiden konnte. Die Durchlässe waren eng, man mußte über Hindernisse springen, Löcher vermeiden, sich beiseite drücken, um einen Karren vorbeizulassen. Man verstand sein eigenes Wort nicht. Noch erfaßte sie nichts, alles tanzte. Als sie dann das Gefühl hatte, als ob über ihrem Kopfe große Flügel schlügen, schaute sie in die Höhe und blieb stehen, um den Riemen zuzusehen, diesen langen Bändern, die an der Decke sich wie ein ungeheures Spinnennetz ausbreiteten, von dem jeder Faden ins Unendliche ging; die Dampfmaschine war in einem Winkel hinter einer kleinen Backsteinmauer versteckt; die Riemen schienen ganz von allein zu laufen, die Erschütterung aus der Tiefe des Schattens mit sich zu bringen, in immerwährendem regelmäßigen Gleiten, zart wie der Flug eines Nachtvogels. Fast wäre sie gefallen, sie stieß an den Hahn eines Ventilators, der sich auf dem gestampften Boden verzweigte, um seinen Atem voll scharfen Windes in die kleinen Essen in der Nähe der Maschinen zu jagen. Erst zeigte er ihr dies. Er ließ den Wind auf ein Feuer blasen; die großen Flammen teilten sich nach vier Seiten wie ein Fächer, ein Kragen aus Feuerspitzen, strahlend, kaum wie mit ein wenig Lackfarbe gefärbt; das Licht war so grell, daß die kleinen Lampen der Arbeiter wie Schattentropfen in der Sonne erschienen. Dann hob er die Stimme, um seine Erklärung geben zu können, er ging zu den Maschinen über: die mechanische Schneidemaschine, die ganze Eisenbolzen fraß, mit jedem Biß ihrer Zähne ein Stück Eisen brach, jedes Stück hinten ausspeiend, eines nach dem andern; die hohen und komplizierten Maschinen für Bolzen und Hufnägel schmiedeten die Köpfe durch einen einzigen Druck ihrer mächtigen Schraube; die Schleißerinnen, mit Windmühlenflügeln aus Gußeisen, eine eiserne Walze, die bei jedem Stück, von dem sie die Gußnaht entfernte, die Luft furchtbar schlug. Die Gewindebohrer, von Frauen bedient, bohrten die Bolzen und ihre Gewinde im Tick-Tack der stählernen, unter glänzender Ölschicht laufenden Zahnräder.
So konnte sie die ganze Arbeit verfolgen, vom Eisenbarren an, der gegen die Mauer angelehnt stand, bis zu den fertigen Bolzen und Hufnägeln, die in allen Ecken die Kisten füllten. Das verstand sie und sie lächelte kopfschüttelnd. Trotzdem blieb ihr Hals ein wenig eingeschnürt, unruhig in ihrer Kleinheit und Zartheit zwischen all den stämmigen Metallarbeitern; erschreckt wandte sie sich beim dumpfen Fall der Schleißerin. Allmählig gewöhnte sie sich an die Dunkelheit, sah in Nischen unbewegliche Gestalten, die den unaufhörlichen Tanz der Ventilatoren regulierten, wenn in der Esse plötzlich ein Lichtstrahl aus dem Flammenkragen stieß. Und gegen ihren Willen wandte sie sich immer wieder der Decke zu, dem Leben, dem eigentlichen Blut der Maschinen, dem sanften Gang der Treibriemen, deren große Kraft sie mit den Augen verfolgte und die stumm in die dumpfe Nacht des Zimmerwerks ausliefen.
Goujet jedoch war vor einer Nagelmaschine stehengeblieben. Da blieb er, gedankenvoll, gesenkten Hauptes und starren Auges. Die Maschine schmiedete mit der Ruhe eines Riesen Vierzigmillimeternägel. Und nichts war wahrhaftig einfacher. Der Heizer nahm das Eisenstück aus dem Ofen; der Zuschläger legte es in die Nagelform, die von einem ständigen Wasserstrahl gekühlt wurde, um das Aufweichen des Stahls zu vermeiden; und das war alles. Die Schraube senkte sich, der Bolzen sprang auf den Boden mit seinem runden wie in der Form gegossenen Kopf. In zwölf Stunden schaffte diese verfluchte Maschine Hunderte von Kilogrammen. Goujet war nicht böse; aber mitunter hätte er gern seine Fifine ergriffen, um in all dies Eisenzeug hineinzuschlagen, aus Zorn darüber, daß es stärkere Arme hatte wie er. Das kränkte ihn tief, selbst wenn er sich klarmachte, daß Fleisch nicht gegen Eisen ankam. Eines Tages gewiß würde die Maschine den Arbeiter vernichten; schon war der Tagelohn von zwölf auf neun Francs gesunken und man sprach davon, ihn abermals herunterzusetzen; sie waren nicht heiter, diese dicken Tiere, die Nieten und Bolzen machten wie Wurst.
Er schaute sie gute drei Minuten an, ohne ein Wort zu sagen; seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sein schöner gelber Bart sträubte sich drohend. Nach und nach aber bekamen seine Züge wieder ein sanfteres Aussehen, voller Resignation. Er drehte sich zu Gervaise, die sich an ihn lehnte, und sagte mit traurigem Lächeln:
»Nun, das kotzt uns schön an! Aber vielleicht dient es später zum allgemeinen Wohl.«
Gervaise pfiff auf das allgemeine Wohl. Sie fand die Maschinenbolzen häßlich.
»Verstehen Sie,« rief sie lebhaft, »sie sind mir zu gut gemacht ... Die Ihrigen sind mir lieber. Da spürt man wenigstens die Hand des Künstlers.«
Diese Worte freuten ihn sehr, denn einen Augenblick lang hatte er geglaubt, daß sie ihn verachten würde, nachdem sie die Maschinen gesehen hätte. Teufel auch! War er auch kräftiger als Salzfresse, so waren doch die Maschinen noch stärker als er. Als er sich endlich im Hof von ihr verabschiedete, drückte er ihr fast die Knöchel entzwei, so groß war seine Freude.
Jeden Samstag kam die Wäscherin zu den Goujets, um ihnen die Wäsche zurückzubringen. Sie bewohnten immer noch das kleine Haus in der Rue Neuve de la Goutte d'Or. Im ersten Jahre hatte sie ihnen regelmäßig zwanzig Francs von den fünfhundert im Monat zurückgezahlt. Um die Rechnung zu vereinfachen, addierte man das Buch erst am Monatsende und sie zahlte das an zwanzig Francs Fehlende darauf, denn die Wäsche der Goujets machte für gewöhnlich nicht mehr wie sieben bis acht Francs im Monat. So hatte sie schon ungefähr die Hälfte der Summe abgezahlt, als sie an einem Mietstermin, da sie nicht mehr ein noch aus wußte, zu den Goujets laufen mußte, um den Zins zu borgen. Zwei weitere Male hatte sie sich ebenfalls an sie gewendet, um ihre Arbeiterinnen zu bezahlen, so daß ihre Schuld wieder auf vierhundertfünfundzwanzig Francs angewachsen war. Jetzt brachte sie keinen Sou mehr zurück, sie bezahlte nur noch mit dem Wäschepreis. Nicht daß sie weniger arbeitete oder daß die Geschäfte schlechter gingen. Im Gegenteil. Aber das Geld rann wie durch Löcher, so daß sie zufrieden sein mußte, wenn sie überhaupt zurecht kam. Mein Gott! Wenn man nur lebt, nicht wahr? darf man nicht klagen. Sie wurde fett und gab den kleinen Bequemlichkeiten der beginnenden Korpulenz nach, ohne die Kraft, mit Angst an die Zukunft zu denken. Um so schlimmer! Geld würde schon immer eingehen, es schimmelt, wenn man es auf die Seite legt. Frau Goujet indessen blieb Gervaise mütterlich gewogen. Manchmal machte sie ihr in zarter Weise Vorwürfe, nicht des Geldes wegen, sondern weil sie sie gern hatte und fürchtete, daß sie kopfheister ginge. Ihr Geld erwähnte sie nicht einmal. Kurz und gut, sie benahm sich sehr zartfühlend.
Gerade am Tage, nachdem Gervaise Goujet in der Schmiede besucht hatte, war der letzte Samstag im Monat. Als sie bei den Goujets ankam – sie legte Wert darauf, stets selbst hinzugehen – hatte ihr der Korb so sehr die Arme ermüdet, daß sie sich zwei Minuten lang verschnaufen mußte. Man weiß nicht, wie schwer die Wäsche wiegt, besonders wenn Laken dabei sind.
»Sie bringen doch wohl alles?« fragte Frau Goujet. Darin war sie sehr streng. Sie verlangte, daß man ihr die Wäsche zurückbrachte, ohne daß ein Stück fehlte, der Ordnung wegen, wie sie sagte. Weiter verlangte sie, daß die Wäscherin genau zum ausgemachten Tage und zur selben Stunde kommen sollte; auf diese Weise verliere niemand seine Zeit.
»Oh, es ist alles,« antwortete Gervaise lächelnd. »Sie wissen, ich vergesse nie etwas.«
»Das ist wahr,« gab Frau Goujet zu, »Sie gewöhnen sich zwar schon Fehler an, aber diesen haben sie noch nicht.«
Und während Gervaise ihren Korb leerte und die Wäsche auf dem Bett ausbreitete, lobte sie die alte Frau: sie verbrenne und zerreiße die Wäsche nicht, wie so viele andere, auch risse sie die Knöpfe nicht mit dem Eisen ab; nur gäbe sie zuviel Waschblau und Stärke an die Vorhemden.
»Sehen Sie, das ist die reine Pappe,« sagte sie und ließ ein Vorhemd krachen. »Mein Sohn beklagt sich nicht, aber es reibt ihm den Hals auf ... Morgen wird sein Hals ganz wund sein, wenn wir von Vincennes zurückkommen.«
»Nein, sagen Sie nur das nicht!« rief Gervaise verzweifelt. »Die Vorhemden für den Sonntagsrock müssen etwas steif sein, wenn sie nicht wie ein Lappen aussehen sollen. Sehen Sie sich doch die Herren an ... Ich besorge all Ihre Wäsche allein. Eine Arbeiterin darf nicht heran, ich versichere Ihnen, ich pflege sie, lieber würde ich zehnmal wieder von vorn anfangen, nur um Ihnen gefällig zu sein.«
Sie war leicht errötet, als sie diesen Satz zu Ende gesprochen hatte. Sie fürchtete, daß man es merken könnte, wie gern sie Goujets Hemden bügelte. Gewiß, sie hatte keine schmutzigen Gedanken dabei; aber trotzdem schämte sie sich ein wenig.
»Oh, ich sage nichts gegen Ihre Arbeit, bewahre, Sie arbeiten vorzüglich, das weiß ich,« sagte Frau Goujet. »Dieses Häubchen ist wie eine Perlschnur. Nur Sie verstehen es, die Spitzen so herauszuarbeiten und die Falbeln in der Reihenfolge zu halten. Ich erkenne Ihre Hand sofort. Sobald Sie Ihren Arbeiterinnen nur einen Scheuerlappen geben, merkt man es... Nicht? In Zukunft werden Sie etwas weniger Stärke verwenden, das ist alles! Es liegt Goujet nicht daran, wie ein feiner Herr auszusehen.«
Sie nahm das Wäschebuch und strich mit einem Strich die gelieferten Stücke aus. Es stimmte alles. Als sie die einzelnen Posten durchsah, fand sie, daß Gervaise für eine Haube sechs Sous gerechnet hatte; sie sträubte sich erst, mußte dann aber selbst zugeben, daß es für die geleistete Arbeit nicht zuviel war; nein, die Herrenhemden fünf Sous, Frauenhosen vier Sous, Kopfbezüge einundeinhalb Sous, Schürzen einen Sou, das war nicht teuer, denn einige Wäscherinnen nehmen für jedes Stück zwei Liard und selbst einen Sous mehr. Als Gervaise dann die schmutzige Wäsche gezählt, die die alte Frau aufnotierte und sie in ihren Korb hineingepackt hatte, blieb sie noch unschlüssig stehen; sie hatte eine Bitte auf der Zunge, die sie nur schwer vorbrachte.
»Frau Goujet,« sagte sie endlich, »wenn es Ihnen nichts ausmachte, würde ich für diesen Monat um das Geld für die Wäsche bitten.«
Gerade in diesem Monat war die Rechnung groß; die Summe, die sie soeben zusammengezählt hatten, ergab zehn Francs und sieben Sous. Frau Goujet schaute sie einen Augenblick lang ernst an, dann antwortete sie:
»Mein Kind, wie Sie wollen! Ich will Ihnen das Geld nicht verweigern, wenn Sie es brauchen... Aber das ist nicht der Weg, Ihre Schulden loszuwerden; ich sage das nur in Ihrem Interesse, verstehen Sie. Wirklich, Sie sollten sich vorsehen.«
Gervaise hörte diesen Vorwurf gesenkten Kopfes an, dann stotterte sie: diese zehn Francs brauche sie, um einen Schuldschein einzulösen, den sie beim Kohlenhändler unterzeichnet hätte. Aber Frau Goujet wurde noch ernster, als sie von unterzeichnen hörte.
Sie führte sich als Beispiel an: seit das Einkommen Goujets sich von zwölf auf neun Francs vermindert habe, schränke sie sich eben im Haushalt ein. Wenn man in der Jugend nicht sorge, sterbe man Hungers im Alter. Aber sie hielt sich sehr zurück. Sie sagte Gervaise nicht, daß sie ihr nur deshalb die Wäsche gäbe, damit sie damit ihre Schuld abbezahlen könne; früher hatte sie stets selbst gewaschen, und sie wollte das auch jetzt wieder tun, wenn das Bügeln ihr soviel Geld aus der Tasche zog. Als Gervaise die zehn Francs und sieben Sous hatte, dankte sie und lief schnell hinaus. Auf der Treppe war ihr wieder wohl, sie spürte Lust zu tanzen, denn sie gewöhnte sich schon an die Scherereien und Schmutzereien mit Geld und fühlte nur mehr das Glück, bis zum nächsten Mal davongekommen zu sein.
Gerade an diesem Samstag hatte Gervaise eine eigentümliche Begegnung, als sie die Goujetsche Treppe herunter ging. Sie mußte sich mit ihrem Korbe gegen das Geländer drücken, um einer großen hochfrisierten Frau Platz zu machen, die in einem Stück Papier einen frischen Fisch mit blutigen Kiemen trug. Und da erkannte sie Virginie, das Mädchen, dem sie damals im Waschraum die Röcke hochgehoben hatte. Beide schauten sich ins Gesicht. Gervaise schloß einen Augenblick die Augen, denn sie glaubte, daß sie den Fisch ins Gesicht bekommen würde. Aber nein, Virginie lächelte dünn. Die Wäscherin, deren Korb die Treppe verstellte, wollte höflich tun.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie.
»Es ist Ihnen alles verziehen«, antwortete die große Braune.
Und sie blieben mitten auf der Treppe stehen, plauderten, ganz wieder ausgesöhnt, ohne mit einem Wort an das Vergangene anzuspielen. Virginie, nun neunundzwanzig Jahr alt, war eine prächtige, üppige Frau geworden, mit etwas länglichem Gesicht zwischen ihrem jadeschwarzen Haar. Sofort erzählte sie, um sich aufzuspielen ihre ganze Geschichte: sie war jetzt Frau, hatte im Frühjahr einen ehemaligen Elfenbeinarbeiter geheiratet, der kapituliert hatte und um einen Posten als Schutzmann eingekommen wäre, denn ein fester Posten sei sicherer und auch schicker. Sie habe soeben diesen Fisch für ihn gekauft.
»Fische sind sein Leibgericht,« sagte sie. »Man muß sie schon verwöhnen, diese bösen Männer, nicht wahr? ... Aber kommen Sie doch. Sie werden sehen, wie wir eingerichtet sind ... Hier stehen wir im Zug.«
Als Gervaise nun ihrerseits von ihrer Verheiratung berichtet und erzählt hatte, daß sie just in dieser Wohnung gelebt und in ihr sogar eine Tochter geboren hätte, drängte sie Virginie noch mehr, heraufzukommen. Das macht immer Spaß, die Orte wiederzusehen, wo man glücklich war. Sie habe fünf Jahre lang auf dem andern Flußufer in Gros-Caillon gelebt. Habe dort auch ihren Mann kennengelernt, als er diente. Aber sie langweilte sich, habe immer davon geträumt, wieder in das Viertel der Goutte d'Or zurückzukehren, wo sie jedermann kenne. Und seit vierzehn Tagen bewohne sie das Zimmer neben den Goujets. Aber all ihre Angelegenheiten wären noch sehr in Unordnung, nach und nach würde sich alles einrenken.
Endlich, auf dem Treppenabsatz, nannten sie ihre Namen.
»Frau Coupeau.«
»Frau Poisson.«
Und von da ab nannten sie sich nur noch umständlich Madame Poisson, Madame Coupeau, aus dem Vergnügen heraus, Damen zu sein; denn sie hatten sich früher in weniger katholischen Positionen gekannt. Gervaise blieb immer noch ein wenig mißtrauisch. Vielleicht wollte die große Braune sich deshalb nur mit ihr aussöhnen, um sich später um so eher für die im Waschhaus bezogenen Prügel rächen zu können, heckte irgendeinen Plan aus wie ein scheinheiliges und böses Tier. Gervaise wollte auf der Hut sein. Für den Augenblick war Virginie zu liebenswürdig, als daß sie es nicht auch sein mußte.
Oben im Zimmer saß Poisson, der Gatte, ein Mann von fünfunddreißig Jahren, mit erdfarbigem Gesicht, mit rotem Schnurr– und Spitzbart, und arbeitete an einem Tische in der Nähe des Fensters.
Er fertigte kleine Kasten. Als Handwerkszeug hatte er nur ein Taschenmesser, eine kleine Säge in der Größe einer Nagelfeile und einen Leimtopf. Er verwendete das Holz alter Zigarrenkisten, schmale Akajoubrettchen, die er in außergewöhnlich zarten Mustern aussagte. Den ganzen Tag über, von früh bis spät, machte er dieselben sechs Zentimeter großen Schachteln achtmal. Nur stattete er sie verschiedentlich aus, erfand neue Formen für die Deckel und machte Abteilungen hinein. Das zwecks Zeitvertreib und Unterhaltung bis zu seiner erfolgten Ernennung zum Schutzmann. Von seinem ehemaligen Gewerbe als Elfenbeinschnitzer blieb ihm nur diese Vorliebe für die kleinen Kästchen. Er verkaufte seine Arbeit nicht, er verschenkte sie an seine Bekannten.
Poisson stand auf und begrüßte Gervaise höflich, die seine Frau ihm als ehemalige Freundin vorstellte. Er war aber kein Schwätzer, sofort griff er wieder zu seiner kleinen Säge. Ab und zu nur schaute er nach dem Fisch, der auf dem Rande der Kommode lag.
Gervaise freute sich sehr, ihre alte Wohnung wiederzusehen; sie zeigte, wo ihre Möbel gestanden hatten, auch den Platz, wo sie auf dem Fußboden niedergekommen war. Wie sich das doch traf! Als sie sich aus den Augen verloren hatten, hätten sie beide nicht daran gedacht, sich so wiederzutreffen, in einem Zimmer, das sie eine nach der andern bewohnten. Virginie gab weitere Einzelheiten über sich und ihren Mann: er hatte von einer Tante eine kleine Erbschaft gemacht; später würden sie sie wahrscheinlich anlegen; für jetzt machte sie noch ein wenig Näharbeit, schneiderte hier und da einmal ein Kleid zurecht. Endlich, nach einer langen halben Stunde wollte die Wäscherin gehen. Poisson wandte sich kaum um. Virginie begleitete sie und versprach, sie bald zu besuchen; übrigens würde sie ihr ihre Kundschaft schicken, das sei ausgemacht. Und da sie sie noch auf dem Gange aufhielt, glaubte Gervaise, sie wolle ihr noch etwas über Lantier und ihre Schwester Adèle erzählen. Sie war innerlich darüber sehr aufgebracht. Aber diese langweiligen Dinge wurden mit keinem Wort erwähnt, sie schieden und sagten sich aufs liebenswürdigste Lebewohl.
»Auf Wiedersehen, Frau Coupeau.«
»Auf Wiedersehen, Frau Poisson.«
Das war der Beginn einer großen Freundschaft. Acht Tage später kam Virginie nicht mehr am Waschladen vorbei, ohne einzutreten; sie blieb zwei bis drei Stunden lang fort und schnitt Lätzchen, so daß Poisson schon glaubte, sie sei unter die Räder gekommen, und sie mit seinem stummen und erdfahlen Gesicht suchen kam. Als Gervaise die Näherin nun fast täglich sah, wurde sie eigentümlich unruhig: sobald diese einen Satz anfing, glaubte sie, daß sie nun etwas von Lantier erzählen würde; solange sie da war, dachte sie unabläßlich an Lantier. Das war schließlich albern, denn sie pfiff auf Lantier und Adèle und was aus beiden geworden war; sie fragte nie; war auch gar nicht neugierig, etwas über sie zu hören. Nein, das beschäftigte sie gegen ihren Willen. Diese Gedanken hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt, so wie man einen törichten Refrain im Munde hat, der einen nicht mehr losläßt. Auch trug sie es Virginie nicht nach, denn es war gewiß nicht ihre Schuld. Sie gefiel ihr und hielt sie zehnmal zurück, bevor sie sie gehen ließ.
Der Winter kam, es war der vierte, den die Coupeaus in der Rue de la Goutte d'Or verbrachten. In diesem Jahre waren der Dezember und Januar ganz besonders hart. Es fror zum Steinerweichen. Nach dem Neuen Jahr blieb der Schnee drei Wochen lang liegen, ohne zu schmelzen. Das tat der Arbeit nicht Abbruch, im Gegenteil, denn der Winter ist eine gute Jahreszeit für die Wäscherinnen. Es war sehr mollig im Laden! Man sah nie Eisblumen an den Fenstern wie beim Grünkram- oder Mischwarenhändler gegenüber. Der Ofen war voll Koks und unterhielt die Wärme einer Badestube; die Wasche dampfte, man hätte meinen können, mitten im Sommer zu sein; man fühlte sich wohl bei geschlossener Türe, war ganz durchwärmt, so durchwärmt, daß man mit offenen Augen hätte schlafen können. Gervaise sagte lachend, ihr käme es vor, als lebte sie auf dem Lande. Und wirklich machten die Wagen auch keinen Lärm mehr auf der schneeigen Straße draußen; kaum hörte man das Stapfen der Fußgänger; im großen Schweigen dieser Kälte hörte man nur Kinderstimmen, den Lärm einer Bande Gassenbuben, die eine große Schleife längs des Schmiedebaches in Betrieb gesetzt hatten. Mitunter schritt sie zur Türe, wischte den Beschlag ab, um zu sehen, was bei dieser Temperatur aus dem Viertel geworden war; aber keiner wagte die Nase aus den benachbarten Geschäften zu stecken, die ganz in Schnee gehüllt wie breite Rücken aussahen; sie begrüßte nur durch Kopfnicken ihre Nachbarin, die Kohlenhändlerin, die barhäuptig spazierenging, den Mund geschlitzt von einem Ohr zum andern, seitdem es so friert.
Eine besondere Annehmlichkeit in dieser kalten Zeit war es, Mittags den Kaffee recht heiß zu trinken. Die Arbeiterinnen hatten sich nicht zu beklagen; die Meisterin braute ihn sehr stark und tat kein Gran Zichorie hinein; anders wie der von Frau Fauconnier, der der reine Lurch war. Nur wenn Mama Coupeau das Aufgießen übernahm, nahm es kein Ende, weil sie vor Wärme einschlief. Dann bügelten die Arbeiterinnen noch nach dem Frühstück, während sie auf den Kaffee warteten. Gerade am Tage nach den Heiligen drei Königen schlug es halb eins und der Kaffee war nicht fertig. Er wollte um keinen Preis durchlaufen. Mama Coupeau klopfte mit einem kleinen Löffel auf den Filter und man hörte Tropfen für Tropfen herunterfallen, langsam, langsam, ohne Eile.
»Lassen Sie ihn doch,« sagte die große Clementine. »Das macht ihn trübe ... Wir werden schon noch heute zum Essen und zum Trinken kommen.«
Die große Clementine machte gerade ein Herrenhemd fertig, dessen Fältchen sie mit ihrem Nagel ordnete. Sie hatte einen Riesenschnupfen, geschwollene Augen, den Hals verschwollen von Hustenanfällen, bei denen sie sich über den Arbeitstisch krümmte. Dabei hatte sie nicht einmal ein Halstuch um und trug ein dünnes Wollkleid zu achtzehn Sous, in dem sie schlotterte. Neben ihr bügelte Frau Putois, ganz in Flanell bis zu den Ohren hinauf gepolstert, einen Unterrock, den sie über dem Bügelbrett drehte, dessen schmales Ende auf einem Stuhle auflag; am Boden war ein Leintuch ausgebreitet, um zu verhindern, daß der herabhängende Teil schmutzig würde. Gervaise nahm für sich allein die Hälfte des Arbeitstisches ein, mit Plätten gestickter Musselinvorhänge beschäftigt, auf die sie ihr Eisen ganz gerade mit ausgestrecktem Arm aufstellte, um keine Falten zu bügeln. Plötzlich ließ sie das Geräusch des laut durchlaufenden Kaffees aufschauen; es war dieser Schielebock von Augustine, die mit einem Löffel ein Loch in den Kaffeefilter gestoßen hatte.
»Willst du Ruhe geben!« schrie Gervaise. »Was fällt dir denn ein? Jetzt werden wir Dreck trinken.«
Mama Coupeau hatte fünf Gläser auf einer freien Ecke des Tisches aufgestellt. Nun ließen die Arbeiterinnen ihre Arbeit liegen. Die Prinzipalin schenkte den Kaffee immer selbst ein, nachdem sie zwei Stück Zucker in jedes Glas getan hatte. Das war die lang erwartete Stunde des Tages. Heute, als jede ihr Glas genommen hatte und sich auf ein kleines Bänkchen vor dem Ofen gekauert hatte, ging die Türe auf und Virginie trat ganz erfroren ein.
»Ach, Kinder, das zerschneidet einen! Ich spüre meine Ohren nicht mehr; welche Hundekälte!«
»Sieh da, Madame Poisson!« rief Gervaise. »Sie kommen gerade recht ... Sie werden ein Glas Kaffee mit uns trinken.«
»Ah! da sage ich nicht nein ... Wenn man nur über die Straße geht, spürt man die Kälte schon in allen Knochen.«
Glücklicherweise blieb noch Kaffee übrig. Mama Coupeau holte ein sechstes Glas, und Gervaise bot aus Höflichkeit Zucker an. Die Arbeiterinnen rückten zusammen und machten beim Ofen ein wenig Platz. Sie schudderte einen Augenblick, mit roter Nase, legte die steifen Hände um das Glas, um sie aufzuwärmen. Sie kam vom Spezereihändler, wo man schon in der Zeit, in der man auf ein Viertel Käse wartete, fast erfror. Sie war entzückt über die Wärme im Geschäft: wahrhaftig, wenn man hereinkam, glaubte man in einen Backofen zu treten, es genügt, einen Toten aufzuwecken, so angenehm kitzelte es einem die Haut. Warm werdend, streckte sie ihre langen Beine aus. Dann löffelten alle sechs langsam ihren Kaffee während der unterbrochenen Arbeit, mitten im Wasen der dampfenden Wäsche. Nur Mama Coupeau und Virginie saßen auf Stühlen; die andern auf dem Bänkchen schienen am Boden zu sitzen; selbst der Schielebock Augustine hatte ein Stück Leinwand unter den Unterrock gezogen, um sich darauf zu setzen. Zunächst sprach man nichts und schlürfte, die Nase im Glase, den Kaffee.
»Er ist trotzdem gut«, erklärte Clementine. Aber sie wäre fast erstickt, ein Hustenanfall packte sie, sie mußte den Kopf gegen die Wand legen, um besser husten zu können.
»Sie sind aber schön hergenommen,« sagte Virginie. »Wo haben Sie sich das geholt?«
»Weiß man das?« erwiderte Clementine, indem sie das Gesicht mit dem Ärmel abwischte. »Das muß von neulich sein. Zwei balgten sich am Eingang vom »Großen Balkon«. Ich wollte das sehen und bin im Schnee stehen geblieben. Ah! das war eine Wälzerei! Es war zum Totlachen. Die eine hatte eine abgerissene Nase; das Blut floß am Boden. Als die andere das Blut sah, eine große Latte wie ich, nahm sie Reißaus ... Dann fing ich in der Nacht an zu husten. Dann muß man auch sagen, daß die Männer von einer Dummheit sind! Wenn sie bei einer schlafen, decken sie sie immer auf ... «
»Ein schönes Betragen,« brummte Frau Putois. »Sie werden krepieren, meine Kleine.«
»Und wenn es mir recht ist, wenn ich krepiere ... Weil das Leben so lustig ist. Sich die ganze Woche hindurch schinden, um fünfundfünfzig Sous zu verdienen, das Blut von früh bis abends verbrennen vor dem Ofen, nein, wissen Sie, das habe ich satt! ... Gehen Sie, dieser Schnupfen wird mir diesen Dienst nicht tun, mich wegzuputzen; er wird gehen wie er gekommen ist.«
Und darauf wurde es still. Dieser Nichtsnutz Clementine, die in den Kneipen ein Leben führte und wie ein Sperling schrie, machte die Leute immer traurig im Laden durch ihre Ideen vom Krepieren. Gervaise kannte sie und sagte nur: »Sie sind am Tage nach einer solchen Hochzeit nie lustig, Sie!«
In Wirklichkeit hatte es Gervaise nicht gern, wenn man von Schlägereien unter Frauen erzählte. Es langweilte sie wegen der Schläge, die sie im Waschhaus ausgeteilt hatte, wenn man vor ihr und Virginie von Raufereien und Schlägen mit Holzpantoffeln und dergleichen sprach. Gerade schaute sie Virginie lächelnd an.
»Oh,« sagte sie, »gestern sah ich ein Zerzupfen von Haarbeuteln. Das flog nur so.«
»Wer denn?« fragte Frau Putois.
»Die Hebamme und ihr Mädchen, am Ende der Straße, Sie wissen, eine kleine Blonde ... eine Lästerzunge, dieses Mädchen! Sie schrie die andere an: ›Ja ja, du hast der Obsthändlerin ein Kind umgebracht, ich gehe zum Kommissär, wenn du mich nicht bezahlst.‹ Und da fielen sie übereinander her, das mußte man sehen! Die Hebamme hat ihr darauf eine gute Ohrfeige versetzt, mitten ins Gesicht. Dann flog das verfluchte Nichtswürdige der Bourgeoise in die Augen und kratzte und zerfederte sie, oh! wie Hackfleisch; der Wursthändler mußte sie ihr aus den Klauen reißen.«
Die Arbeiterinnen lachten ergötzt. Dann tranken sie wieder einen Schluck Kaffee mit gefräßiger Miene.
»Glauben Sie das, daß sie das Kind umgebracht hat?« fragte Clementine.
»Nun, so hat man sich das im Viertel erzählt,« antwortete Virginie. »Sie verstehen, ich war ja nicht dabei ... Das geht ins Handwerk übrigens. Alle machen es so.«
»Ja,« sagte Frau Putois, »man ist eben so dumm, sich ihnen anzuvertrauen. Ich würde mich bedanken, von so einer erdrückt zu werden. Sehen Sie, es gibt ein unfehlbares Mittel. Alle Abend trinkt man ein Glas Weihwasser, indem man sich mit dem Daumen drei Kreuze auf den Leib zeichnet. Das geht dann wie der Wind weg.«
Frau Coupeau, von der man glaubte, sie schlafe, schüttelte den Kopf. Sie kannte ein anderes unfehlbares Mittel. Man müßte alle zwei Stunden ein hartes Ei essen und grüne Spinatblätter auf die Hüften legen. Die andern Frauen blieben ernst. Aber die schielende Augustine, deren Heiterkeiten ganz von selbst kamen, man wußte nie woher, stieß ihr eigenes Gekreisch aus, das wie das Gackern einer Henne war. Man hatte sie vergessen. Gervaise hob den Unterrock hoch und sah sie auf dem Leintuch liegen wie ein Schmutzfink eingerollt, die Füße in der Luft. Sie zog sie hervor und stellte sie mit einer Watschen auf die Beine. Was hatte denn diese Gans zu lachen? Hatte sie zuzuhorchen, wenn die Erwachsenen sich unterhielten! Jetzt solle sie die Wäsche einer Freundin der Frau Lerat forttragen, nach Batignolles. Im Sprechen schob ihr die Meisterin den Korb an den Arm und schob sie zur Türe hinaus. Die Schielende sträubte sich, heulte und ging dann, die Füße im Schnee nachziehend.
Mama Coupeau, Frau Putois und Clementine sprachen über die Wirksamkeit der harten Eier und des Spinats. Dann sagte Virginie, träumerisch, das Glas Kaffee in der Hand dasitzend, leise zu Gervaise:
»Mein Gott, man schlägt sich, man küßt sich, es geht immer wieder, wenn man nur ein gutes Herz hat.«
Sich dann ganz nahe zu Gervaise beugend, sagte sie unter Lachen:
»Nein, gewiß nicht, diese Angelegenheit im Waschhaus, Sie wissen, ich trage es Ihnen nicht nach.«
Die Büglerin war sehr verlegen. Das hatte sie befürchtet. Jetzt erriet sie, daß auf Lantier und Adèle die Rede kommen würde. Der Ofen surrte, eine erneute Glutwelle strömte vom roten Rohre aus. In dieser Pause, die die Arbeiterinnen solange wie möglich mit ihrem Kaffee ausdehnten, um möglichst spät wieder zur Arbeit zu greifen, schauten sie in den Schnee hinaus mit verschlafenen und gefräßigen Gesichtern. Sie waren bei Geständnissen angekommen; sie teilten sich mit, was sie alles tun würden, wenn sie zweitausend Francs Rente hätten; sie hätten gar nichts gemacht, ganze Nachmittage wären sie so sitzengeblieben, um sich zu erwärmen, und hätten von der Ferne auf die Arbeit gespuckt. Virginie hatte sich Gervaise noch mehr genähert, um von den andern nicht gehört zu werden. Und Gervaise war so feige, sicherlich wegen der allzu großen Hitze, feige und nachgiebig, so daß sie nicht die Kraft fand, die Unterhaltung abzuwenden; sie wartete vielmehr auf die Worte der großen Braunen, das Herz voller Bewegtheit und Freude, ohne es sich eingestehen zu wollen.
»Ich tue Ihnen doch nicht weh?« nahm die Näherin die Unterhaltung auf. »Zwanzigmal lag es mir schon auf der Zunge. Endlich, weil wir gerade dabei sind ... nur um zu sagen, nicht wahr? ... Nein, wirklich, ich trage Ihnen das Vergangene nicht nach. Mein Ehrenwort! nicht so viel Rachegefühl habe ich gegen Sie bewahrt.«
Sie drehte nochmals den Rest des Kaffees um, um all den Zucker herauszubekommen, trank wieder einige Tropfen unter Schnalzen mit der Zunge.
Gervaise wartete mit zugezogenem Halse immer noch, sie fragte sich, ob auch Virginie wirklich ihr die Schläge verziehen hätte; denn sie sah gelbe Sterne in ihren schwarzen Augen aufleuchten. Diese große Teufelin hat sicherlich ihre Rache in die Tasche gesteckt und das Taschentuch obenauf gelegt.
»Sie hatten eine Entschuldigung«, fuhr sie fort. »Man hatte Ihnen eine schmutzige Sache gemacht, eine Abscheulichkeit ... Oh, ich bin gerecht, wie Sie wissen! Ich hätte ein Messer genommen.« Wieder trank sie drei Schluck, über den Rand des Glases pfeifend. Dann verließ sie ihre gezogene Stimme und sagte schnell, ohne aufzuhören:
»Auch hat ihnen das kein Glück gebracht, ach mein Gott, gar kein Glück! ... Sie wohnten beim Teufel weit draußen neben dem Glacière, in einer schmutzigen Straße, wo immer bis zu den Knien Kot ist. Zwei Tage nachher bin ich zu ihnen eines Morgens gegangen, um mit ihnen zu frühstücken; eine lange Omnibusfahrt dahin, ich versichere Sie! Aber, meine Liebe, ich fand sie schon sich zankend. Als ich eintrat, gaben sie sich Ohrfeigen. Nun, sind das Liebende? ... Sie wissen, Adèle ist nicht den Strick wert, daran aufgehängt zu werden. Es ist meine Schwester, aber das hindert mich nicht, von ihr zu sagen, daß sie in einer schmutzigen Haut steckt. Sie hat mir viel Schweinereien gemacht; es wäre zu lang, das alles zu erzählen, dann sind das auch Dinge, die wir untereinander auszumachen haben ... Lantier, nun Sie kennen ihn ja, er ist auch nicht gut. Ein kleiner Herr, nicht wahr?, der Ihnen alles wegnimmt für ein Ja oder Nein! Und er schließt die Faust, wenn er zuschlägt ... Dann haben sie sich gegenseitig schlecht gemacht. Wenn man die Treppe herauf kam, konnte man schon hören, wie sie sich schlugen. Eines Tages kam sogar die Polizei. Lantier hatte eine Ölsuppe verlangt, eine greuliche Sache, die sie da unten essen; und als Adèle das stinkend fand, da haben sie sich die Ölflasche ins Gesicht geworfen, die Kasserolle, die Suppenschüssel und alles andere; also eine Szene, um ein ganzes Quartier in Revolution zu versetzen.«
Sie erzählte noch andere Schlägereien, sie verschwieg nichts über diesen Haushalt, sie wußte Dinge, bei deren Erzählung einem die Haare zu Berge stiegen. Gervaise hörte diese ganze Geschichte an, blaß, ohne ein Wort zu sagen, mit einer kleinen nervösen Falte um die Lippen, was fast wie ein Lächeln aussah. Seit bald sieben Jahren hatte sie nicht mehr von Lantier erzählen hören. Nie hätte sie geglaubt, daß der Name Lantiers, so in ihr Ohr hineingeflüstert, ihr eine solche Hitze in die Magengrube versetzen würde. Nein, sie wußte sich frei von jeder Neugierde darüber, was aus ihm geworden war, der sich so schlecht gegen sie benommen hatte. Sie konnte jetzt nicht mehr eifersüchtig auf Adèle sein; aber innerlich lachte sie über diesen Haushalt, sie sah den Körper des Mädchens voller blauer Flecke, das rächte sie und belustigte sie zugleich. So wäre sie bis zum nächsten Morgen gesessen und hätte den Geschichten Virginies zugehört. Sie stellte keine Fragen, weil sie sich nicht so interessiert zeigen wollte. Jetzt war es, als fülle sich plötzlich ein Loch für sie; ihre Vergangenheit bis zu dieser Stunde war eine Linie bis zur Gegenwart.
Virginie steckte nun wieder ihre Nase in das Glas; sie zog an dem Zucker mit halb geschlossenen Augen. Gervaise fand, daß sie endlich etwas sagen mußte, nahm nun eine gleichgültige Miene an und fragte:
»Und sie leben immer noch in der Glacière?«
»Aber nein!« antwortete die andere; »habe ich Ihnen denn nicht erzählt? ... Seit acht Tagen sind sie nicht mehr beieinander. Eines schönen Morgens packte Adèle ihre Lumpen und ist gegangen, und Lantier ist ihr nicht nachgezogen, wie Sie sich denken können.«
Die Büglerin ließ einen leisen Schrei hören, immer wiederholend:
»Sie sind nicht mehr zusammen?«
»Wer denn?« fragte Clementine, ihre Unterhaltung mit Mama Coupeau und Frau Putois unterbrechend.
»Niemand,« sagte Virginie; »Leute, die Sie nicht kennen.«
Sie schaute auf Gervaise und fand sie sehr gerührt. Sie näherte sich, schien einen bösen Spaß daran zu finden, ihre Geschichten zu wiederholen. Plötzlich fragte sie, was sie tun würde, wenn Lantier wieder zu ihr zurücklaufen würde; denn, die Männer sind doch so komisch, Lantier wäre imstande, zu seiner ersten Liebe zurückzukehren. Gervaise flog zurück, zeigte sich ehrbar und würdig. Sie sei verheiratet und würde Lantier hinaussetzen, das ist alles. Es konnte nichts mehr zwischen ihnen stattfinden, nicht einmal ein Händedruck. Wirklich, sie müßte kein Herz haben, wenn sie diesem Manne eines Tages wieder ins Gesicht sehen würde.
»Ich weiß wohl,« sagte sie, »Etienne ist von ihm, es ist ein Band, das ich nicht zerreißen kann. Wenn Lantier den Wunsch hat, Etienne zu umarmen, würde ich ihn ihm schicken, denn man kann keinen Vater daran hindern, sein Kind gern zu haben. Was mich aber anbelangt, sehen Sie Frau Poisson, ich ließe mich lieber in kleine Stücke hacken, ehe ich ihm erlaubte, mich mit dem kleinen Finger anzurühren ... Das ist aus.«
Indem sie dies sagte, zeichnete sie ein Kreuz in die Luft, um so auf ewig ihren Schwur zu bekräftigen. Sie wollte diese Unterhaltung nun abbrechen, sie schien aufzuwachen und rief aufstehend ihren Arbeiterinnen zu:
»Sagt einmal, ihr da, glaubt ihr, daß sich die Wäsche allein bügelt? ... Das sind Faulenzer! ... Schnell, an die Arbeit!«
Die Arbeiterinnen die von ihrer Faulheit befallen waren, beeilten sich nicht, die Arme hingen an den Röcken herab, immer noch hielten sie mit der einen Hand das leere Glas, worin noch etwas Kaffeesatz blieb. Sie sprachen weiter.
»Es war die kleine Celestine,« sagte Clementine. »Ich habe sie gekannt. Sie hatte die Narrheit der Katzenhaare ... Sie wissen, sie sah überall Katzenhaare, sie drehte immer ihre Zunge so heraus, weil sie glaubte, den ganzen Mund voller Katzenhaare zu haben.«
»Ich,« erwiderte Frau Putois, »hatte eine Freundin, eine Frau, die hatte einen Wurm ... Oh, diese Tiere haben Kaprizen! ... Er drehte ihr den Leib um, wenn sie ihm kein Hühnerfleisch gab. Sie können sich denken, der Mann verdiente keine sieben Francs, das ging alles auf Schleckereien für den Wurm.«
»Den hätte ich schnell kuriert,« sagte Mama Coupeau. »Mein Gott! ja, man schluckt eine gebratene Maus. Das vergiftet den Wurm sofort.«
Gervaise war auch wieder in eine glückliche Träumerei versunken. Aber sie schüttelte sie ab, stand auf. Aber, was für ein Nachmittag, wie die Waschlappen hinzubringen! Das fülle die Geldbeutel nicht! Als erste ging sie zu ihren Vorhängen zurück; sie fand einen Kaffeefleck darauf und sie mußte ihn mit einem feuchten Tuch ausputzen, ehe sie wieder das Eisen daraufstellte. Die Arbeiterinnen streckten sich vor dem Ofen, ihre Gelenke krachten. Sobald Clementine sich bewegte, fing sie wieder an zu husten und auszuspucken; dann machte sie ihr Herrenhemd fertig, die Manschetten und den Kragen daranheftend. Frau Putois machte sich wieder an ihren Unterrock.
»Nun denn, auf Wiedersehen,« sagte Virginie. »Ich war heruntergekommen, um ein Viertel Käse zu holen. Poisson wird glauben, daß ich erfroren bin.«
Als sie drei Schritte auf dem Gehweg gemacht hatte, kam sie an die Türe zurück und sagte, daß sie Augustine am Ende der Straße sehe, sie schlitterte mit den Gassenbuben. Diese Kröte war schon zwei lange Stunden fort. Sie kam dahergesprungen, rot, ohne Atem, den Korb am Arm, die Haare von einem Schneeball verfilzt; sie ließ sich zerknirscht auszanken, erzählend, man könne nicht gehen vor lauter Glatteis. Einige Taugenichtse mußten ihr Eis in die Taschen gesteckt haben aus Bosheit; denn nach einer Viertelstunde goß es aus ihren Taschen herunter auf den Boden des Ladens wie aus einem Trichter.
Jetzt verliefen fast alle Nachmittage gleich. Der Laden wurde zum Zufluchtsort für alle erfrorenen Leute. Die ganze Rue de la Goutte d'Or wußte, daß es da warm war. Immerfort waren schwatzhafte Frauen da, vom Feuer des Ofens zehrend, die Kleider bis zu den Knien aufgehoben, um sich zu wärmen. Gervaise war stolz auf diese Wärme, sie zog Leute an, sie hielt Salon, wie böswillig die Lorilleux' und Boches sagten. In Wahrheit blieb sie hilfsbereit und gütig, sie ging so weit und ließ Arme eintreten, wenn sie sie draußen frieren sah. Sie machte Freundschaft mit einem ehemaligen Maler, einem Greis von siebzig Jahren, der im Hause ein Loch bewohnte, worin er vor Hunger und Kälte fast umkam; er hatte in der Krim seine drei Söhne verloren, er lebte von Unterstützung seit zwei Jahren, seitdem er keinen Pinsel mehr halten konnte. Sobald Gervaise den Vater Bru sah, wenn er im Schnee stampfte, um sich zu erwärmen, rief sie ihn und machte ihm einen Platz neben dem Ofen frei; oft zwang sie ihn, ein Stück Brot mit Käse zu essen. Vater Bru blieb nun stundenlang sitzen, er hatte einen weißen Bart, die Haut so verwelkt wie bei einem alten Apfel, er horchte auf das Fallen des Kokses im Ofen und sagte kein Wort. Vielleicht dachte er an die fünfzig Jahre, in denen er auf den Leitern herumtanzte, dieses halbe Jahrhundert, in dem er an allen Enden von Paris Türen strich und Plafonds weißte.
»Nun, Vater Bru, an was denken Sie denn?« fragte ihn Gervaise manchmal.
»An nichts, an alles Mögliche«, antwortete er mit erschrockener Stimme.
Die Arbeiterinnen spotteten manchmal, er habe Herzenskummer. Aber er gab keine Antwort darauf und verfiel wieder in Schweigen, in der Haltung eines Überlegenden und Abgestumpften.
Von dieser Zeit ab sprach Virginie oft mit Gervaise über Lantier. Es schien, als ob sie selbst Freude daran hatte, sie über ihren alten Liebhaber zu unterhalten, des Vergnügens willen sie plötzlich in Verlegenheit zu sehen, wenn sie irgendwelche Vermutungen aussprach. Eines Tages sagte sie, daß sie ihm begegnet wäre; und als die Büglerin stumm blieb, fügte sie nichts weiter hinzu; am nächsten Tage aber sagte sie, daß er lange von ihr mit ihr gesprochen habe, und das mit viel Zärtlichkeit. Gervaise war durch diese Unterhaltungen, die in einem Winkel der Boutique geführt wurde, sehr erregt. Lantiers Name gab ihr immer einen Stich in den Magen, als ob dieser Mann etwas von sich unter ihrer Haut zurückgelassen hätte. Ja, sicherlich wollte sie wie eine ehrliche Frau leben, weil die Ehrlichkeit doch das halbe Glück ausmacht. Sie dachte bei all dem gar nicht an Coupeau in dieser Angelegenheit, denn sie hatte sich ihrem Manne gegenüber gar nichts vorzuwerfen, nicht einmal in Gedanken. Sie dachte an den Schmied mit krankem und zögerndem Herzen. Fast erschien es ihr, als wäre die Erinnerung an Lantier, in die sie nun wieder eingesponnen wurde, eine Untreue an Goujet, an ihre uneingestandene Liebe und zarte Freundschaft. Sie erlebte traurige Tage, in denen sie an Goujet dachte und sich schuldig fand. Sie hätte außerhalb ihres Haushaltes nur Freundschaft für ihn empfinden mögen. Das stand alles sehr hoch in ihrem Gefühl, außerhalb jeder Gemeinheit, die Virginie in ihrem Gesicht suchte.
Als der Frühling kam, flüchtete Gervaise zu Goujet. Sie konnte an nichts anderes mehr denken; auf einem Stuhle sitzend, dachte sie immer an ihren ersten Geliebten. Sie sah immer, wie er Adèle verließ, seine Wäsche in den alten Koffer packte, wieder zu ihr zurückkehrte, den Koffer auf dem Wagen. An den Tagen, an denen sie ausging, war sie immer voller Entsetzen und von Furcht ergriffen in der Straße; sie glaubte stets Lantiers Schritt hinter sich zu hören, zitternd, wagte sie es nicht, sich umzudrehen; sie fühlte seine Hand um ihre Taille. Gewiß beobachtete er sie; eines Nachmittags wird er sie ansprechen; und diese Gedanken verursachten ihr kalten Schweiß, denn er würde sie in die Ohren küssen, wie er es früher getan hatte. Gerade dieser Kuß entsetzte sie, schon im voraus, er betäubte und versetzte ihr ein Sausen, in dem sie nur noch den Schlag ihres heftig klopfenden Herzens verspürte. Wenn sie jetzt diese Angst packte, war die Schmiede ihr einziger Zufluchtsort; dort wurde sie ruhig und lustig, unter Goujets Schutz, dessen tiefer Hammerschlag alle bösen Träume verscheuchte.
Welch glückliche Jahreszeit! Die Büglerin pflegte ganz besonders gut die Kundschaft aus der Rue-Portes des Manches; stets brachte sie ihr die Wäsche selbst, weil dieser Gang jeden Freitag ihr einen Vorwand gab, durch die Rue Marcadet zu gehen und in die Schmiede einzutreten. Sobald sie um die Straßenecke herum war, fühlte sie sich erleichtert, lustig, als wenn sie eine Landpartie machen würde, mitten unter diesen verlorenen Liegenschaften voller grauer Fabriken; die Gehwege schwarz von Kohlenstaub, die Helme der Abzugsrohre auf den Dächern, das alles belustigte sie ebenso, als wäre sie auf grünen Wegen auf dem Lande und ginge in lauter grüne Wälder hinein; sie liebte den fahlen Himmel, der voll lauter großer Fabrikskamine wie gestreift war; der Hügel von Montmartre, der den Himmel verdeckte, mit seinen kreidigen Häusern, von den regelmäßigen Löchern der Fenster durchbohrt. Dann verlangsamte sie den Schritt im Näherkommen, sprang über die Wasserpfützen, machte sich eine Freude daraus, durch die verlassenen Winkel zu gehen, die durch den Abbruch der Schuppen verursacht wurden. Im Hintergrund leuchtete die Schmiede, selbst am hellen Mittag. Ihr Herz hüpfte mit dem Hammerschlag im Takt. Als sie eintrat, war sie ganz rot, ihr blondes Haar im Genick zerzaust wie bei einer Frau, die von einem Stelldichein kommt. Goujet erwartete sie, mit nackten Armen, nackter Brust, noch stärker an diesen Tagen auf den Amboß klopfend, damit man ihn von weitem höre. Er witterte sie, empfing sie mit einem schweigenden guten Lachen zwischen seinem gelben Bart. Sie wollte aber nicht, daß er sich bei der Arbeit stören ließ, sie bat ihn, den Hammer wieder aufzunehmen, weil sie ihn noch lieber habe, wenn er ihn mit seinem starken Arme hob, der ganz buckelig vor lauter Muskeln war. Sie gab Etienne, der am Blasebalg hing, einen leisen Schlag auf die Wange, und so blieb sie etwa eine Stunde lang und betrachtete die Bolzen. Nicht zehn Worte wechselten sie. In keinem Zimmer, doppelt verschlossen, hätten sie ihre Liebe besser befriedigen können. Die Späße der Salzfresse störten sie nicht, sie hörten sie gar nicht. Nach einer Viertelstunde etwa fing sie an, das Gefühl der Erstickung zu bekommen; die Hitze, der starke Geruch, der aufsteigende Rauch betäubte sie, während die dumpfen Schläge sie von der Ferse bis zum Hals erschütterten. Dann hatte sie keinen Wunsch mehr, das war ihr Vergnügen. Hätte sie Goujet in seine Arme gepreßt, es wäre ihr auch keine größere Erschütterung gewesen. Sie näherte sich ihm, um den Wind seines Hammers auf ihrer Wange zu spüren, um unter dem Schlag zu sein, den er führte. Wenn die sprühenden Funken ihr die zarte Haut ihrer Hände traf, zog sie sie nicht zurück, sie freute sich über diesen Feuerregen, der ihr die Haut prickelte. Er erriet wohl, welch ein Vergnügen ihr das bereitete; er hob die diffizilen Arbeiten immer für diesen Tag auf, um ihr den Hof zu machen, wenn er all seine Kraft und Geschicklichkeit zeigte; er schonte sich nicht, und wenn er auch den Amboß entzweigeschlagen hätte; er schnaufte und zitterte in den Hüften, vor Freude, die er an ihr hatte. Im Frühling erfüllte ihre Liebe die Schmiede wie ein donnerndes Gewitter. Es war eine Idylle in dieser Beschäftigung des Riesen, mitten in den Flammen der Schmiedehöhle, der Erschütterung des Schuppens und dem schwarzen Kienruß im Holzwerk, das krachte. All das zerstampfte Eisen wie geschmolzenes rotes Wachs, das alles trug die rohen Zeichen ihrer Zärtlichkeit. Am Freitag, wenn die Büglerin die Goldschnauze verließ, ging sie wieder langsam die Rue des Poissonniers zurück, zufrieden, müde, Geist und Fleisch beruhigt.
Nach und nach verließ sie diese Angst vor Lantier, sie wurde wieder vernünftig. Zu dieser Zeit wäre sie noch sehr glücklich gewesen ohne Coupeau, der entschieden schlecht wurde. Eines Tages, als sie gerade aus der Schmiede heimkam, glaubte sie Coupeau im »Totschläger« beim Vater Colombe zu erkennen, der mit Mes-Bottes, Bibi-la-Grillade und der Salzfresse Runden Vitriol trank. Sie ging schnell vorüber, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, daß sie ihn ausspioniere. Sie schaute aber doch zurück; ja, das war Coupeau, der sich sein kleines Glas Schnaps hinter die Kehle goß, ganz schon daran gewöhnt. Er log also, er war schon beim Schnaps angelangt! Sie ging rasch heim, ganz entsetzt: ihre große Angst vor dem Schnaps kam wieder über sie. Den Wein, ja, das verzieh sie, weil der Wein den Arbeiter ernährt; Schnäpse aber waren Schweinereien, Gift, das dem Arbeiter die Lust zum Brot nimmt. Ah! die Regierung könnte wohl verhindern, daß solche Gemeinheiten hergestellt werden dürfen!
Als sie in die Rue de la Goutte d'Or kam, fand sie das ganze Haus in heller Bestürzung. Ihre Arbeiterinnen hatten den Werktisch verlassen, standen im Hofe und schauten in die Luft. Sie fragte Clementine.
»Es ist Vater Bijard, der seine Frau schlägt,« erwiderte die Büglerin. »Er stand unter der Türe, betrunken wie ein Pole, und wartete auf sie, bis sie aus dem Waschhaus kam ... Unter Faustschlägen mußte sie die Treppen hinaufsteigen und jetzt bringt er sie da oben um in ihrem Zimmer... Hören Sie dies Geschrei?«
Gervaise ging schnell hinauf. Sie hatte ein Freundschaftsgefühl für Frau Bijard, ihre Wäscherin, die eine sehr mutige Frau war. Sie hoffte, Einhalt zu tun. Oben, im sechsten Stock, war die Türe offen geblieben, einige Mieter riefen auf dem Gang und Frau Boche vor der Türe schrie:
»Wollt ihr aufhören! Man wird die Polizei holen, hört ihr?«
Niemand wagte sich ins Zimmer hinein, weil man Bijard kannte, ein brutales Tier, wenn er betrunken war. Übrigens war er niemals nüchtern. Die seltenen Tage, an denen er überhaupt arbeitete, stellte er eine Literflasche mit Schnaps neben seine Werkstelle in der Schlosserei, alle halbe Stunden ein tüchtigen Trunk machend. Er konnte nicht mehr anders gehen, es hätte sich entzündet, wenn man ein Streichholz vor seinen Mund gehalten hätte.
»Aber man kann sie doch nicht sich umbringen lassen!« sagte Gervaise zitternd.
Und sie ging hinein. Das Mansardenzimmer war sehr sauber, aber kahl und kalt, ausgeleert durch die Trunksucht des Mannes, der die Bettücher forttrug, um sie zu vertrinken. Im Kampf war der Tisch bis zum Fenster gerollt, umgefallen, mit den Beinen in der Luft lag er da. Auf dem Boden Frau Bijard, die Röcke noch ganz naß vom Waschhaus, sie klebten an ihren Beinen, die Haare waren ausgerissen und blutig, sie keuchte unter heftigem Atem, bei jedem Fußtritt Bijards ließ sie einen langgedehnten Klagelaut hören. Erst hatte er sie mit beiden Fäusten niedergeschlagen, jetzt behandelte er sie mit Fußtritten.
»Ah! Dirne ... ah! Dirne ... ah! Dirne ...« rief er mit erstickter Stimme und begleitete mit jedem Wort den Stoß, erschöpfte sich vollständig in der Wiederholung; je mehr, desto härter schlug er zu.
Dann ging ihm die Stimme aus, er schlug immer noch ganz blind darauf los, steif in seiner blauen Leinenhose und zerlumpten Jacke, das Gesicht blau unter dem schmutzigen Bart und seine Glatze gesteckt voll großer roter Punkte. Auf dem Gang erzählten sie, er schlüge sie, weil sie ihm nicht zwanzig Sous geben wollte am Morgen. Unten an der Treppe hörte man Boches Stimme, die rief:
»Komm herunter, laß sie sich totschlagen, das macht eine Kanaille weniger!«
Doch auch Vater Bru war Gervaise ins Zimmer gefolgt. Zu zweien nun versuchten sie den Schlosser zu beruhigen und ihn gegen die Türe zu stoßen. Aber er drehte sich um, stumm, mit Schaum vor dem Mund; in seinen blassen Augen, worin der Alkohol leuchtete, war eine Mordflamme entfacht. Die Büglerin bekam das Gelenk verletzt; der alte Arbeiter fiel fast auf den Tisch.
Am Boden schnaufte Frau Bijard stärker, den Mund weit offen, die Augen geschlossen. Jetzt hatte sie Bijard verfehlt; er kam zurück, schlug nach allen Seiten, sich selbst, blind und wütend traf er sich und die Luft. Während dieser ganzen Schlägerei sah Gervaise die kleine Lalie in einer Ecke sitzen, sie war jetzt vier Jahre alt und sah zu, wie der Vater die Mutter umbrachte. Das Kind hielt seine kleine Schwester Henriette gegen sich gedrückt, wie um sie zu schützen; sie war erst seit gestern der Muttermilch entwöhnt. Sie stand, den Kopf in einen indischen Kopfputz gewickelt, blaß und ernst. Sie hatte einen offenen schwarzen Blick, von einem Ausdruck voller Gedanken, ohne Tränen.
Als Bijard auf einen Stuhl sank und zu schnarchen anfing, half Vater Bru Gervaise, Frau Bijard aufzuheben. Jetzt fing sie an zu weinen; Lalie, die nähergekommen war, sah ihr zu, gewöhnt an solche Szenen und schon resigniert. Die Büglerin sah im Hinuntergehen, im jetzt ruhig gewordenen Hause, immer noch diesen Kindesblick von vier Jahren, der mutig und ernst war wie ein Frauenblick.
»Herr Coupeau ist drüben auf dem Gehweg gegenüber,« rief ihr Clementine zu, sobald sie sie erblickte. »Der sieht auch voll genug aus!«
Coupeau kam gerade über die Straße herüber, fast hätte er eine Scheibe mit der Schulter eingedrückt, als er die Türe verfehlte. Er war stark betrunken, die Zähne hielt er aufeinandergepreßt mit eingezogener Nase. Und Gervaise erkannte sofort den Schnaps aus dem »Totschläger« in diesem vergifteten Blut, das die Haut weiß macht. Sie wollte lachen, ihn zu Bette legen, wie stets an den Tagen, wo er Wein getrunken hatte und ein gutes Kind war. Aber er stieß sie weg, ohne die Zähne auseinanderzubringen; nur im Vorbeigehen, da er selbst sein Bett aufsuchen ging, hob er die Faust gegen sie auf. Er sah dem andern so ähnlich, dem Trunkenbold, der da oben schnarchte, müde vom Schlagen. Da wurde ihr ganz kalt, sie dachte an die Männer, ihren Mann, an Goujet, Lantier, mit brechendem Herzen, verzweifelt darüber, nie glücklich sein zu können.