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10

Die neue Wohnung der Coupeaus lag im sechsten Stock, Treppe B. Wenn man an der Wohnung von Fräulein Remanjou vorbei war, mußte man den Korridor links heruntergehen. Dann mußte man sich noch einmal wenden. Die erste Türe führte zu den Bijards, dieser Tür gegenüber schlief Vater Bru in einem Loch unter der Treppe, die zum Dach ging. Zwei Wohnungen weiter, und man war bei Bazouge. Dann nach Bazouge kamen die Coupeaus mit einem Zimmer und einem Kabinett, die beide nach dem Hofe zu gingen. Noch zwei Familien wohnten auf diesem Gang, ehe man zu den Lorilleux' kam, die ganz am Ende waren.

Ein Zimmer und ein Kabinett, mehr nicht – da waren die Coupeaus jetzt allein. Das Zimmer war auch nicht größer als eine Handfläche. Alles mußte man darin tun, schlafen, essen, alles andere; in das Kabinett ging kaum das Bett für Nana. Sie zog sich bei den Eltern aus, die Türe mußte die ganze Nacht hindurch offen bleiben, damit sie nicht erstickte. Es war so wenig Platz, daß Gervaise eine Menge Sachen Poissons überlassen mußte, als sie den Laden verließ. Das Bett, der Tisch und vier Stühle füllten die ganze Wohnung aus. Doch von der Kommode wollte sich Gervaise nicht trennen, sie mußte dieses große Möbelstück so an die Pfeilerwand stellen, daß es die Hälfte des Fensters verstellte. Die Hälfte des Fensters konnte nicht geöffnet werden, was dem Zimmer Luft und Freundlichkeit nahm. Da Gervaise immer dicker wurde, so hatte sie kaum Platz für ihre Ellbogen, wenn sie aus dem Fenster schauen wollte, sie mußte sich ganz schiefbiegen und den Hals verrenken, wenn sie etwas sehen wollte.

In den ersten Tagen saß die Büglerin immer und weinte. Es war ihr zu schwer, sich so gar nicht rühren zu können, die an weite und hohe Räume gewohnt war. Die Enge bedrückte sie sehr; stundenlang blieb sie am Fenster, eingezwängt zwischen Wand und Kommode, daß sie in Gefahr war, Gliederschmerzen zu bekommen, und doch konnte sie nur hier etwas Atem holen. Aber der Hof brachte sie auch auf traurige Gedanken. Ihr gegenüber, an der Sonnenseite, sah sie ihren früheren Traum, das Fenster im fünften Stock mit den spanischen Bohnen. Jedes Frühjahr rollten sie ihre schlanken Schößlinge um das Netz von Bindfäden. Ihr Zimmer lag an der Schattenseite, Resedatöpfe würden da schon nach acht Tagen sterben. Mein Gott, das Leben hatte sich für sie schlecht gewendet, das hatte sie sich nicht für' die Zukunft gewünscht. Ihre alten Tage hätten Blumen umblühen sollen – sie war in recht unsaubere Dinge verwickelt worden. Eines Tages hatte sie ein merkwürdiges Gesicht. Als sie sich zum Fenster hinausbeugte, glaubte sie sich unten unter dem Portal stehen zu sehen, wie sie damals bei der Hausmeisterloge stand und mit hochgehobenem Kopfe zum ersten Male das Haus betrachtete. Und das gab ihr einen Stoß ins Herz. Der Hof hatte sich gar nicht verändert in den dreizehn Jahren, die nackten Wände waren kaum schwärzer und rissiger geworden als damals; von den bleiernen Gossen, die der Rost zerfraß, stieg immer noch der Gestank empor; auf den Stricken vor den Fenstern trocknete noch immer Wäsche und beschmutzte Kindermatratzen lagen ausgebreitet; das Pflaster war noch immer schadhaft; die Kohlenschlacken aus der Schlosserwerkstatt, die Hobelspäne des Tischlers lagen noch darauf zerstreut herum, auch in der feuchten Ecke des Brunnens war eine Pfütze, die von der Färberei herkam, und deren Wasser war noch genau so zartblau wie damals. Nur sie selbst kam sich sehr verändert vor. Nicht mehr wie damals, mit nach dem Himmel gewandten Gesicht, zufrieden und mutig, von keinem größeren Ehrgeiz besessen, als ein hübsches Zimmer zu haben. Nun saß sie unter dem Dach, ohne jeden Sonnenstrahl, in einem finstern Loch. Und über ihr Schicksal bekümmert, fing sie an zu weinen.

Aber allmählich gewöhnte sich Gervaise an die neuen Verhältnisse. Manches zeigte sich auch weniger schlecht. Der Winter war fast vorüber, das Geld, das Virginie für die Möbel bezahlt hatte, half über die ersten Sorgen hinweg. Mit den ersten Frühlingstagen kam auch ein Hoffnungsstrahl. Coupeau wurde für die Provinz angeworben, für Arbeiten in Etampes; dort blieb er drei Monate ohne sich zu betrinken, denn die frische Landluft hatte ihn geheilt. Es ist seltsam, wie solcher Luftwechsel beruhigend auf Säufer wirkt, denn die Luft in Paris ist in den Straßen geschwängert vom Rauch des Branntweins und Weins. Als er zurückkam, blühte er wie eine Rose und brachte vierhundert Francs mit, wovon die beiden rückständigen Mietsraten an die Poissons und andere kleine drückende Schulden im Viertel bezahlt werden konnten. So konnte sie wieder durch einige Straßen gehen, die sie bis jetzt vermieden hatte. Ja, Gervaise hatte wieder eine Anstellung als Büglerin bei Frau Fauconnier angenommen, die ganz gut bezahlte, wenn man ihr schmeichelte. Sie gab Gervaise, in Anbetracht ihrer früheren Stellung als Arbeitgeberin, sogar drei Francs im Tag. So schien die Wirtschaft wieder in Gang zu kommen. Gervaise sah auf diese Weise sogar die Möglichkeit, über kurz oder lang bei einiger Sparsamkeit alles bezahlen und sich ein erträgliches Leben schaffen zu können, wenigstens gelobte sie sich das in Anbetracht der großen Summe, die ihr Mann verdient hatte. Als es dann doch anders kam, nahm sie die Verhältnisse wie sie kamen und sagte, daß gute Dinge eben nicht von langer Dauer seien.

Am meisten Ärger bereitete es dann den Coupeaus, als sie sahen, wie die Poissons ihren Laden einrichteten. Sie waren nicht mißgünstig, aber man reizte sie von allen Seiten. Alle Leute waren entzückt über die schöne Einrichtung ihrer Nachfolger. Die Boches und Lorilleux' ersparten ihnen nichts; sie sagten, sie hätten noch nie einen schönern Laden gesehen. Dann sprachen sie vom schmutzigen Zustand, in dem die Poissons die Räume übernommen hätten; allein das Weißen der Wände und Decke habe gegen dreißig Francs gekostet. Virginie hatte sich nach einigem Schwanken für einen Handel mit seinen Kolonialwaren entschieden; sie verkaufte Kaffee, Tee, Zucker, hatte auch Bonbons und Schokolade. Lantier hatte ihr sehr dazu geraten, er meinte, damit waren große Summen zu verdienen, weil man die Naschhaftigkeit ausbeuten könne. Der Laden wurde schwarz gemalt und mit gelben Strichen abgesetzt, beides waren vornehme Farben. Drei Tischler arbeiteten acht Tage lang an der Ladeneinrichtung und der Schaufensterausstellung; sie machten einen Ladentisch mit großer Platte, um Pokale aufsetzen zu können, genau wie bei den Konfitürenhändlern. Die kleine Erbschaft, die Poisson immer noch im Hintergrund hatte, bekam ein großes Loch. Aber Virginie strahlte, und die Lorilleux' und Boches erzahlten von jedem Schrank, jedem Pokal und jeder Scheibe, und sie freuten sich, wenn sie sahen, wie Gervaise darunter litt. »Man hat gut nicht neidisch sein; aber wenn ein anderer meine Schuhe anzieht und mir damit vor der Nase herumtanzt, so ärgere ich mich eben doch.«

Man besprach auch noch die Liebesgeschichte. So wurde behauptet, Lantier habe Gervaise verlassen. Im Viertel billigte man das. Die Moral war damit in der Straße gerettet. Die Ehre hatte dieser Schlaukopf Lantier, hinter dem die Frauen immer noch her waren. Sie sagten, er habe die Büglerin geschlagen, um sie von sich abzubringen. Niemand wußte die Wahrheit oder sprach sie aus. Die sie wußten, fanden sie zu einfach und nicht interessant genug. Wenn man wollte, hatte er sie wirklich verlassen, denn sie stand ihm nicht mehr Tag und Nacht zur Verfügung. Gewiß war, daß er in den sechsten Stock hinaufstieg, sooft ihn die Lust ankam, Gervaise zu besuchen; Fräulein Remanjou traf ihn öfter, zu ungewöhnlicher Stunde von den Coupeaus kommend. Die Beziehungen dauerten fort, ohne großes Vergnügen von der einen oder andern Seite; es war nur die Macht der Gewohnheit, gegenseitige Gefälligkeit, nichts mehr. Verwickelter war der Verdacht, daß Lantier auch mit Virginie ein Verhältnis haben solle. Auch darin hatte niemand recht. Gewiß versuchte Lantier die große Brünette für sich zu erwärmen, sie ersetzte doch Gervaise in der Wohnung in allem. Da bildete sich die lustige Geschichte, Lantier habe Gervaise im Bette des Nachbarn gesucht und Virginie gefunden und zu sich genommen, ohne sie in der Finsternis zu erkennen. Darüber lachte man; aber in Wirklichkeit war er nicht so weit; kaum erlaubte er sich, sie in den Hintern zu kneifen. Trotzdem sprachen die Lorilleux' in Gervaises Gegenwart von der rührenden Liebe Lantiers zu Virginie; sie hofften damit ihre Eifersucht zu erregen. Auch die Boches sagten, sie hatten niemals ein schöneres Paar gesehen. Das Komischste war, daß in der Rue de la Goutte d'Or niemand über diese neue Ehe zu dreien entrüstet war; nein, sie maßen nicht mit demselben Maß bei Virginie wie bei Gervaise. Vielleicht war diese Duldsamkeit deshalb gerechtfertigt, weil der betrogene Ehemann Polizist war.

Glücklicherweise wurde Gervaise nicht von Eifersucht gequält. Lantiers Untreue ließ sie kalt, weil ihr Herz gar nicht mehr mitsprach. Sie hatte soviel schmutzige Geschichten über Liebschaften mit allerlei Dirnen niedrigster Art in Erfahrung gebracht, die alle keinen besondern Eindruck auf sie machten, und blieb eben willig, weil sie zu kraftlos war, um mit ihm zu brechen. Doch mit Virginie war es etwas anderes. Man brachte dieses Gerücht auch nur auf, um sie zu quälen, aber in gewissen Dingen verstand sie keinen Spaß. Wenn Frau Lorilleux oder ein anderes boshaftes Tier in ihrer Gegenwart sagte, Poisson könne seiner Hörner wegen nicht mehr unter der Porte Saint-Denis durch, da wurde sie ganz blaß und ein wütender Schmerz brannte ihr auf der Seele. Sie kniff die Lippen zusammen und suchte ihren Ärger zu verbergen, weil sie diesen Feinden die Freude nicht machen wollte. Sie mußte doch mit Lautier einen Streit deshalb gehabt haben, denn Fräulein Remanjou behauptete, eines Nachmittags ein Geräusch wie von Ohrfeigen gehört zu haben.

Eine Verstimmung mußte doch geherrscht haben, denn vierzehn Tage lang sprach Lantier nicht mit ihr; dann kam er aber wieder als erster, alles kam wieder ins Geleise, als ob nichts vorgefallen wäre. Die Büglerin zog es vor, sich ruhig zu verhalten; sie ängstigte sich vor jeder Frauenschlägerei, wollte nicht mehr in diesen Schmutz hinein. Ja, sie war nicht mehr zwanzig Jahre alt und liebte auch die Männer nicht mehr so sehr, um deretwegen Schläge auszuteilen oder welche zu bekommen. Sie tat diese Erfahrung zu den übrigen.

Coupeau höhnte am meisten. Er, der so ein bequemer Ehemann war und seine eigenen Hörner durchaus nicht sah, war unerschöpflich im Witz über Poissons. Bei ihm rechnete er gar nicht damit, bei andern aber kam ihm das zu komisch vor; manchmal gab er sich wirklich Mühe, den Frauen aus der Nachbarschaft nachzuspüren, wenn er sie auf verbotenen Wegen glaubte. Dieser Poisson war ein Trottel in seinen Augen. Der trug den Säbel an der Seite und wollte die Menschen auf der Straße zurechtweisen! Coupeau fing an, Gervaise zu verspotten. Das war ja herrlich! Ihr Liebster habe sie sitzen lassen, sie hätte nun einmal kein Glück; auch der Schmied wäre nicht treu geblieben, nun ließe sie der Hutmacher sitzen. Das käme daher, weil sie nur mit leichtsinnigen Gewerben angebandelt hätte. Sie solle sich doch einmal einen Maurer suchen, einen Mann der Haltbarkeit, der seinen Mörtel fest anlegt! Das war ja alles nur im Scherz gesagt, aber Gervaise wurde manchmal ganz schwindelig davon, weil er sie dabei mit seinen kleinen grauen Augen so durchdringend anschaute, als wolle er sie sondieren. Kam er auf das Thema der schweinischen Reden, war sie nie sicher, ob er im Scherz oder Ernst redete. Ein Mann, der sich das ganze Jahr hindurch betrinkt, hat seinen Kopf nicht mehr in Ordnung; es gibt Ehemänner, die mit zwanzig Jahren sehr eifersüchtig sind und die das Trinken mit dreißig Jahren sehr nachsichtig über eheliche Treue macht.

Man mußte Coupeau in der Rue de la Goutte d'Or herumschreien hören! Er nannte Poisson einen Hahnrei. Das stopfte alle bösen Mäuler, denn er war es ja jetzt nicht mehr. Er wußte, was er wußte. Wenn es eine Zeitlang auch so ausgesehen hätte, als ob er nichts wüßte, so kam das daher, weil er solches Geschwätz nicht liebte. Jeder kratze sich da, wo es ihn jucket. Ihn juckte das nicht, also brauchte er sich auch nicht zu kratzen, bloß um den andern Vergnügen zu machen. Der Polizist, hörte der vielleicht? Und doch war es diesmal wahr; man hatte die Liebenden zusammen gesehen, es handelte sich nicht mehr um ein bloßes Gerücht. Er regte sich sogar auf, begriff nicht, wie ein Mann, ein Beamter der Regierung, einen solchen Skandal bei sich dulden konnte. Der Polizist hatte wahrscheinlich gern, was andere schon ausgesogen hatten, das war alles. Langweilte sich Coupeau am Abend allein mit seiner Frau, suchte er Lantier unten und holte ihn mit Gewalt nach oben. Er fand seine Häuslichkeit traurig, seit sein Kamerad darin fehlte. Er versöhnte ihn mit Gervaise, wenn er sah, daß sie kühl zueinander taten. Zum Donnerwetter! Soll sich die Welt zum Teufel scheren, ist es denn verboten, sich zu vergnügen, wie man eben kann?

Er hohnlachte, in seinen Trunkenboldaugen flackerten Blitze auf, die auf sehr weitgehende Ideen schließen ließen; er hatte das Bedürfnis, alles mit dem Hutmacher zu teilen, um das Leben zu verschönen. An solchen Abenden wußte Gervaise nicht, ob er im Scherz oder im Ernst sprach.

Mitten in diesen Geschichten verhielt sich Lantier so, als ob es ihn nichts anginge. Er benahm sich väterlich und würdig. Schon dreimal hatte er Streitigkeiten zwischen den Coupeaus und den Poissons verhindert. Das gute Verhältnis der beiden Familien gehörte zu seinem Wohlbefinden. Dank seinen teils zärtlichen, teils strengen Blicken heuchelten Gervaise und Virginie immer noch eine große Freundschaft füreinander. Lantier herrschte über Gervaise und Virginie mit der Würde eines Paschas und mästete sich an diesem Doppelverhältnis. Am Morgen verdaute er die Coupeaus, während er schon wieder an den Poissons zu essen anfing; das machte ihm keine Schwierigkeiten; einen Laden hatte er verschlungen, nun fing er mit dem zweiten an. Nur so geartete Männer haben soviel Glück.

Im Monat Juni desselben Jahres ging Nana zur Firmung. Sie ging in das dreizehnte Lebensjahr, war lang gewachsen wie ein Spargel und hatte ein freches Benehmen. Im vorhergehenden Jahre war sie ihrer schlechten Aufführung wegen aus dem Katechismusunterricht fortgeschickt worden. Der Pfarrer ließ sie jetzt wieder am Unterricht teilnehmen, weil er fürchtete, eine Heidin mehr auf die Straße zu treiben. Nana tanzte vor Freude, dachte nur noch an das weiße Kleid. Die Lorilleux' hatten dieses Kleid versprochen, als Firmpaten, doch erzählten sie von diesem Geschenk allen im Hause herum; Frau Lerat sollte den Schleier und das Häubchen beisteuern, Virginie das Geld für die Firmung, Lantier das Gebetbuch; so konnten die Coupeaus ohne große Sorge diesem Fest entgegensehen. Die Poissons benutzten diese Gelegenheit, ihr beabsichtigtes Eröffnungsfest zu geben, wozu ihnen wohl Lantier den Rat gab. Sie luden zu den Coupeaus noch die Boches ein, deren Kleine zum erstenmal zur Beichte ging. Man wollte am Abend eine Hammelkeule und noch anderes essen.

Am Abend vorher stand Nana gerade vor der Kommode und bewunderte die Geschenke, als Coupeau in einem bösen Zustand nach Hause kam. In der Pariser Luft war er wieder zum Säufer geworden. Er überfiel Frau und Tochter mit entsetzlichen Redensarten, doppelt unpassend im jetzigen Augenblick. Nicht zu verwundern, daß sich Nana in dieser Umgebung auch schon ein böses Mundwerk angewöhnt hatte. An solchen Tagen, an denen sich die Eltern zankten, sagte sie auch zu ihrer Mutter Kuh oder Kamel.

»Wo ist mein Essen?« brüllte der Zinkarbeiter. »Ich will meine Suppe, Weiberpack! ... Solches Volk mit all seinen Lappen. Ich setze mich darauf, wenn ich nicht sofort meine Suppe bekomme!«

»Was macht er für ein Wesen, wenn er betrunken ist«, sagte Gervaise leise und ungeduldig.

Und zu ihm gewandt:

»Sie ist schon warmgestellt, laß uns zufrieden.«

Nana spielte die Bescheidene, weil sie es für diesen Tag so richtig fand. Sie schaute immer noch ruhig auf all ihre Geschenke, schlug die Augen nieder und tat, als ob sie von all den Unflätigkeiten kein Wort verstünde. Aber der Zinkarbeiter war an solchen Tagen unermüdlich im Nörgeln und Reden. Ganz dicht bei ihrem Ohr sagte er:

»Jawohl, ich werde dir weiße Kleider geben, damit du dir wieder Papierkugeln in das Korsett steckst wie am vergangenen Sonntag! – Ja, warte, noch etwas! Du denkst wohl, ich sehe es nicht, wenn du den Hintern drehst und damit herumschwänzelst. Diese hübschen Sachen kitzeln dich wohl? Es steigt dir zu Kopf ... Willst du da weggehen, verdammte Nutte! Die Hände weg, stecke alles in die Schublade, oder ich putze mir die Hände daran ab.«

Nana stand mit gesenktem Kopfe da und antwortete nichts. Sie hatte das kleine Tüllhäubchen in der Hand, drehte es und fragte die Mutter, wieviel das wohl gekostet haben dürfte. Coupeau streckte die Hand darnach aus, doch Gervaise stieß ihn rasch zurück und rief:

»Laß mir doch das Kind in Ruh! Sie ist artig und tut nichts Böses.«

Nun packte er aus, er schrie:

»Diese Huren! Die Mutter und die Tochter, das ist ein schönes Paar. Ist das erlaubt, zur Firmung gehen und nach den Männern sich umdrehen? Wage zu sagen, daß es nicht wahr ist, du Dreckfink! Ich werde dir einen Sack anziehen, da will ich sehen, ob dich das kratzt. Soll ich dich zum Laster erziehen! Donnerwetter, wollt ihr gehorchen, alle beide?«

Plötzlich wandte sich Nana wütend um; Gervaise breitete ihre Arme aus, um die Sachen zu schützen, welche Coupeau zerreißen wollte. Das Kind blickte seinen Vater gerade an; alle Bescheidenheit, die der Pfarrer ihr empfohlen hatte, war verflogen:

»Schwein!« sagte sie mit zusammengepreßten Lippen.

Als der Zinkarbeiter gegessen hatte, legte er sich nieder und schnarchte sofort. Am nächsten Morgen wachte er gutgelaunt auf; er war sogar liebenswürdig. Er wohnte der Toilette seiner Tochter bei; das weiße Kleid rührte ihn; er fand, daß sie ganz das Aussehen eines kleinen Fräuleins habe. Er meinte auch, daß es nur natürlich wäre, wenn ein Vater auf seine Tochter stolz sei. Nana benahm sich wie eine kleine Braut. Sie stolzierte in ihrem zu kurzen Kleidchen umher. Beim Heruntergehen stand Pauline, die ebenso angezogen war, auf der Schwelle der Portiersloge. Nana blieb stehen und prüfte die andere von Kopf bis zu Fuß. Sie fand, daß Pauline schlechter gekleidet war als sie, was sie sehr freundlich und liebenswürdig zu ihr machte. Die beiden Familien gingen gemeinsam zur Kirche. Die Kinder gingen voraus mit ihren Gebetbüchern, sie mußten die Schleier halten, weil der Wind ging. Sie sprachen nicht, hatten aber viel Vergnügen daran, wenn die Leute aus den Läden traten, um sie anzusehen; auch machten sie fromme Gesichter, damit die Vorübergehenden sie für sehr artig und nett halten sollten. Frau Boche und Frau Lorilleur verspäteten sich etwas, weil sie zu sehr in ihr Gespräch über das Hinkebein vertieft waren; dieser Vielfraß, deren Tochter nicht hätte gefirmt werden können, wenn nicht die Familie alles dazu hergegeben hätte, sogar das Hemd, alles aus Achtung vor dem Altar. Frau Lorilleur besprach hauptsächlich das Kleid, das von ihr war; sie warf böse Blicke auf Nana und nannte sie Schmutzfink, jedesmal wenn sie im Vorbeigehen einem Laden zu nahe kam und dadurch Staub aufwirbelte.

In der Kirche weinte Coupeau die ganze Zeit. Es war schon dumm, aber er konnte nicht anders. Es ergriff ihn, wenn der Pfarrer die Arme ausbreitete, wenn die Kinder engelgleich mit gefalteten Händen gingen; auch die Orgelmusik ging ihm zu Herzen und der Geruch des Weihrauches erinnerte ihn an den Duft von Blumen. Mit einem Wort, alles schwamm vor seinen Augen, er war bis ins Innerste gerührt. Besonders eine Melodie gefiel ihm so gut; bei der Kommunion der Kinder liefen ihm leise Schauer den Rücken hinunter. Aber auch um ihn herum weinten die Leute. Es war ein schöner Tag, der schönste seines Lebens, schien ihm. Auf dem Heimweg trank er mit Lorilleur einen Schoppen, dieser neckte ihn wegen seiner Rührseligkeit, denn er war ganz trocken geblieben; nun wurde er wieder böse und beschuldigte die Geistlichen, daß sie Teufelskraut verbrennen, um die Leute weich zu stimmen. Übrigens schäme er sich nicht, seine Augen wären ihm übergelaufen, und das bewiese nur, daß er keinen Stein in der Brust hatte. Und er bestellte noch eine Runde.

Am Abend war das Gastmahl bei den Poissons sehr lustig. Es herrschte die beste Freundschaft während des Essens. Obwohl die schlechten Tage vorherrschten, gab es doch Abende, Stunden, wo man sich fast liebte, während man sich sonst verabscheute. Lantier, der Gervaise zur Linken und Virginie zur Rechten hatte, war zu beiden gleich liebenswürdig und voll Aufmerksamkeit, wie ein Hahn, der Frieden unter seinen Hennen haben will. Poisson saß gegenüber und behielt seine ruhige ernste Polizistenmiene bei, die ihm in seiner langen Dienstzeit auf der Straße und wo er für gewöhnlich nichts dachte, eigentümlich geworden war. Aber die Königinnen des Festes waren die beiden Kleinen, Nana und Pauline, denen man erlaubt hatte, ihre weißen Kleider anzubehalten. Sie saßen steif und aufrecht da vor Angst, sich zu beschmutzen; bei jedem Bissen rief man ihnen zu, das Kinn zu heben und acht zu geben. Nana war das langweilig und sie schüttete den Wein über ihre Bluse; das war eine Geschichte! Die Bluse wurde ausgezogen und man wusch sie in einem Glas Wasser aus.

Dann, beim Nachtisch, sprach man ernsthaft über die Zukunft der Kinder. Madame Boche hatte schon entschieden, Pauline sollte in ein Stickereigeschäft eintreten, wo Gold- und Silberstickereien angefertigt werden; damit waren fünf bis sechs Francs im Tage zu verdienen. Gervaise wußte noch nicht, was tun, Nana zeigte keinerlei besondere Neigung. Ja, sich umhertreiben, das war nach ihrem Geschmack; aber für alles andere hielt sie ihre Hände für zu zart.

»Aber an Ihrer Stelle«, sagte Frau Lerat, »würde ich sie Blumenmacherin werden lassen. Das ist ein hübsches und reinliches Geschäft.«

»Die Blumenarbeiterinnen,« brummte Lorilleur, »das sind auch so leichte Frauenzimmer.«

»So! Und ich?« sagte die Witwe mit gekniffenen Lippen. Wissen Sie, ich bin auch keine Hündin und lege mich nicht auf den Rücken, wenn man pfeift.«

Aber die ganze Versammlung tat entrüstet.

»Frau Lerat, aber Frau Lerat!«

Und man zeigte mit den Augen auf die beiden Mädels, die die Nasen ins Glas steckten, um das Lachen zu verbeißen. Bis dahin hatten sogar die Männer nur in gewählten Ausdrücken gesprochen. Aber Frau Lerat ließ die Zurechtweisung nicht gelten. Das, was sie eben gesagt hatte, habe sie in der besten Gesellschaft gehört. Übrigens schmeichle sie sich, ihre Sprache zu kennen, man hatte ihr oft Komplimente gemacht über die Art sich auszudrücken, sogar Kindern gegenüber, und daß sie niemals den Anstand verletze.

»Es gibt unter den Blumenmacherinnen sehr anständige Frauen, das laßt euch gesagt sein!« rief sie. »Sie sind ebenso gemacht wie andere Weibsbilder und ihre Haut reicht nicht überall zu, das ist sicher. Nur, sie halten sich zurück, sie wählen mit Geschmack, und wenn sie schon einen Fehler machen... Ja, das kommt von ihrem Umgang mit Blumen. Das war's, was auch mich erhalten hat ...«

»Ach Gott,« warf Gervaise ein, »ich habe keinen Widerwillen für die Blumen. Es braucht nur Nana zu gefallen, nicht mehr; man soll Kindern nicht einen Beruf gegen ihren Willen aufdrängen. Nun, Nana, stell dich nicht so an, gib Antwort. Würde es dir gefallen, die Blumen?«

Die Kleine dachte über ihren Teller gebeugt nach und suchte die Kuchenkrümel mit feuchtem Finger zusammen und schleckte sie ab. Sie beeilte sich nicht. Sie hatte ihr lasterhaftes Lachen.

»Aber ja, Mama, es gefällt mir«, erklärte sie schließlich.

Nun wurde die Sache gleich in Ordnung gebracht. Coupeau war es recht, daß Frau Lerat Nana schon am nächsten Morgen in ihr Atelier in der Rue du Caire mitnehme. Und die Gesellschaft sprach sehr ernsthaft über die Pflichten im Leben. Boche sagte, daß Nana und Pauline jetzt, Frauen geworden seien. Poisson fügte hinzu, daß sie kochen und Strümpfe stopfen lernen sollten, um einen Haushalt führen zu können. Man sprach sogar von ihrer Heirat und den Kindern, die sie bekommen sollten. Die Dirnchen spitzten die Ohren und kicherten heimlich, sie rieben sich eine an der andern vor Vergnügen, das Herz geschwellt, daß sie nun schon Frauen sein sollten; sie saßen rot und verlegen in ihren weißen Kleidern da. Am meisten machte ihnen die Frage Lantiers Freude, ob sie nicht schon kleine Männer hätten. Man erpreßte Nana das Geständnis, daß sie Victor, den Sohn der Frau Fauconnier, gern hätte.

Frau Lorilleur sagte auf dem Heimweg zu Frau Boche: »Nana ist unser Patenkind; wenn man sie aber Blumenmacherin werden läßt, wollen wir nichts mehr von ihr wissen. Das wird wieder so ein Fressen für die Boulevards werden... und keine sechs Monate mehr wird das dauern.«

Als die Coupeaus sich am Abend niederlegten, waren sie sehr zufrieden mit dem Ergebnis des Tages und kamen überein, daß die Poissons keine schlechten Menschen wären.

Auch Gervaise fand, daß der Laden recht hübsch und sauber hergerichtet sei. Sie war vorbereitet, innerlich leiden zu müssen, so einen ganzen Abend in ihrem alten Heim verbringen zu müssen, in dem nun andere Leute waren. Nun war sie selbst erstaunt darüber, sich gar nicht geärgert zu haben. Beim Ausziehen fragte Nana ihre Mutter, ob das Kleid der Dame aus dem zweiten Stock, die im vorigen Monat sich verheiratet hatte, auch aus Musselin gewesen wäre wie das ihrige.

Das war aber auch der letzte schöne Tag im Familienleben der Coupeaus. Es vergingen noch zwei Jahre, in denen sie immer mehr herunterkamen. Der Winter war besonders hart für sie. Solange das Wetter schön war, hatten sie noch Brot zu essen; mit dem Frost wurde es knapp. Der Speiseschrank war leer, kein Mittagessen in der Kälte ihres Zimmers. Der schreckliche Dezember kam durch Türe und Fenster herein mit all seinen Leiden; in den Werkstätten gab es keine Arbeit mehr, Müßiggang und Frost erschlafften die Glieder, das schwarze Elend der kalten Jahreszeit war da. Den ersten Winter konnten sie noch hin und wieder Feuer machen und um den Ofen herum kauern, es vorziehend, lieber nicht zu essen und dafür warm zu sitzen. Im zweiten Winter wurde der Ofen nicht mehr geheizt, das kahle Zimmer sah noch kälter aus. Was ihnen vollends den Hals brach, waren die zu zahlenden Mietsraten. Die Januarmiete war eine harte Sache, wenn Vater Boche mit der Quittung kam und auch keine Brotkrume mehr im Hause war. Das machte noch kälter. Am darauffolgenden Sonnabend kam Herr Marescot; er hatte einen warmen Paletot an und seine großen Pratzen staken in gestrickten wollenen Handschuhen; er sprach immer von Kündigung, während draußen der niederfallende Schnee ihnen Leinentücher auf das Pflaster zu breiten schien. Gern hätten sie Stücke von ihrem Fleisch verkauft, um nur die Miete bezahlen zu können. Im ganzen Hause hörte man Klagen. In allen Stockwerken hörte man Weinen, eine Musik voll Unglück kam aus den langen Korridoren und ertönte in dem hohen Treppenhaus. Wenn in jeder Wohnung ein Toter gelegen hätte, wäre der Lärm auch nicht gräßlicher gewesen. Es klang wie der Tag des letzten Gerichts, das Ende aller Dinge, ein unmögliches Leben, wie eine Zuchtrute für all diese unglücklichen Menschen. Eine Frau aus dem dritten Stock ging auf die Straße und verbrachte acht Tage an der Ecke der Rue Belhomme. Ein Arbeiter, ein Maurer aus dem fünften Stock, hatte seinen Meister bestohlen.

Die Coupeaus hatten nur sich selbst Vorwürfe zu machen. Mit Ordnung und Sparsamkeit kann man sich immer über Wasser halten; Lorilleux' lieferten den Beweis. Sie legten regelmäßig ihre Mietsrate in ein Stück schmutziges Papier. Aber sie führten auch ein Leben wie magere Spinnen, sie verekelten einem förmlich die Arbeit. Nana verdiente noch nichts als Blumenmacherin, ja, sie benötigte noch vieles für ihren Unterhalt. Gervaise war bei Frau Fauconnier nicht mehr gern gesehen. Von Tag zu Tag verlor sie etwas von ihrer Geschicklichkeit; sie hudelte nur noch ihre Arbeit so hin, so daß ihr Lohn schon auf vierzig Sous herabgemindert wurde. Bei alldem war sie hochmütig und empfindlich, jedem erzählte sie von ihrer frühern Stellung als Ladeninhaberin. Tagelang blieb sie fort; sobald sie etwas verdroß, verließ sie ihre Arbeit. Sie hatte es Frau Fauconnier sehr verübelt, daß sie Frau Putois aufgenommen hatte, und daß sie so Schulter an Schulter mit ihrer frühern Arbeiterin arbeiten mußte. Vierzehn Tage war sie weggeblieben; aus Mitleid nahm man sie wieder auf. Das verdroß sie immer noch mehr. So war auch am Ende der Woche der Lohn nicht allzu hoch; höhnisch sagte sie, es käme noch soweit, daß sie an einem Sonnabend noch etwas werde daraufbezahlen müssen. Möglich, daß Coupeau arbeitete; sicher war, daß Gervaise seit seiner Rückkehr von Etampes kein Geld mehr von ihm gesehen hatte. An den Zahltagen schaute sie erst gar nicht mehr auf seine Hände, wenn er nach Hause kam; er kam mit Armgeschlenker und leeren Taschen; oft fehlte ihm sogar das Taschentuch. Mein Gott, ja. Vielleicht hatte er es verloren oder ein Spitzbube hat es ihm gestohlen. Im Anfang brachte er immer neue Geschichten hervor; er erfand Unglücksfälle: zehn Francs habe er für eine Subskription hergegeben, zwanzig Francs habe er durch ein Loch in seiner Tasche verloren; er zeigte es. Und fünfzig Francs gingen auf Bezahlung irgendeiner eingebildeten Schuld. Dann schämte er sich gar nicht mehr. Das Geld flog einfach fort; so war es! Es war einfach nicht mehr in seiner Tasche, er hatte es im Bauch und brachte es auf diese Weise wieder seiner Frau heim. Auf Rat der Frau Boche ging die Büglerin an Zahltagen an die Werkstätte des Mannes und paßte ihn ab. Aber damit erreichte sie auch nichts, die Kameraden warnten dann Coupeau, und das Geld verschwand in die Schuhe oder an einen andern unsaubern Ort. Frau Boche war sehr gewitzt in diesen Dingen, Boche verbarg hin und wieder ein Zehnfrancsstück, um damit einer liebenswürdigen Dame einen Kaninchenbraten zu spendieren. Sie untersuchte alle Ecken seiner Kleidertaschen und fand dann das Geldstück irgendwo eingenäht, so in seiner Mütze zwischen Schirm und Futter.

Aber der Zinkarbeiter machte das sicherer. Er schaffte sein Geld unter sein Fleisch! Da konnte Gervaise die Schere nicht nehmen, um ihm die Haut des Bauches aufzutrennen.

Dies waren die Fehler in dieser Ehe, woran sie von Jahr zu Jahr mehr zusammenbrach. Diese Sache sagt man sich nie, wenn man im Elend steckt. Sie klagten nur ihr Mißgeschick und Gott an, der es böse mit ihnen meine. Ihr Heim war jetzt eine wahre Hölle. Den ganzen Tag stritten sie miteinander. Noch schlugen sie sich nicht, kaum ein Stoß aus Versehen beim heftigen Disput. Das traurigste war, daß sie die Türe des Käfigs der Freundschaft geöffnet hatten, und Sympathie und Liebe flogen davon wie ein Vogel. Die Wärme des Gefühls, die Vater, Mutter und Kinder auf einem Haufen zusammenhält, verließ sie, und sie blieben frierend jedes in seiner Ecke. Alle drei, Coupeau, Gervaise und Nana, gerieten sich jeden Augenblick in die Haare, und in ihren Streitereien sagten sie sich böse Worte und ihre Augen sprühten Funken voller Haß; es war, als ob etwas das Familienheiligtum zerstört hätte, das, was bei glücklichen Menschen die Herzen so warm füreinander schlagen laßt. Jetzt beunruhigte sich Gervaise nicht mehr, wenn sie Coupeau an den Rändern der Dächer hängen sah, die zwölf bis fünfzehn Meter über dem Pflaster waren. Hinabgestoßen hätte sie ihn nicht. Aber wenn er von selbst gefallen wäre! Die Erde wäre um einen Taugenichts ärmer gewesen; das ist alles. Es gab Tage, an denen er glühte wie eine Fackel; da schrie sie, man solle ihn ihr lieber auf der Tragbahre bringen. Wozu war denn noch ein solcher Säufer gut? Nur um alles aufzufressen und sie ins Elend zu stoßen, und damit sie weinen solle. Solche Männer solle man doch gleich in die Grube werfen und darauf tanzen! Sagte die Mutter: »Töte!« – antwortete die Tochter: »Schlag ihn nieder!« Nana las nun alle Unglücksfälle in der Zeitung durch und hatte so ihre eigenen Gefühle dabei. Aber ihr Vater hatte Glück; kürzlich stieß ihn ein Omnibus um und er wurde nicht einmal nüchtern dadurch. Wie lange wird denn das noch dauern, bis dieses Tier krepiert?

In all dem Elend, das Gervaise fast zur Verzweiflung trieb, litt sie sehr unter dem Hunger. In dieser Ecke des Hauses war die Not am größten. Drei bis vier Familien hatten nicht alle Tage Brot im Hause, selten kam aus einer Türe Küchengeruch heraus. In diesem Korridor herrschte das Schweigen des Elends und die Mauern klangen wie leere Bäuche. Manchmal hörte man noch Geschrei, Frauentränen und das Klagen hungernder Kinder. Familien fingen an zu zanken, um ihre Magen zu täuschen; die Brust zog sich einem zusammen, atmete man nur diese Luft ein, in der selbst Fliegen aus Mangel an Nahrung nicht hätten leben können. Das größte Mitleid erweckte bei Gervaise Vater Bru in seinem kleinen Loch unter der Bodentreppe. Er lag da zusammengerollt wie ein Murmeltier, um nicht zu erfrieren; tagelang blieb er so auf seinem Stroh liegen, ohne jede Bewegung zu machen. Wenn man ihn dann vier bis fünf Tage lang nicht gesehen hatte, stießen die Nachbarn wohl die Türe auf, um nachzusehen, ob er noch am Leben sei. Nein! er lebte trotz alledem immer noch, nicht gerade sehr, aber ein bißchen, mit einem Auge, denn der Tod schien ihn vergessen zu haben! So oft Gervaise Brot hatte, warf sie ihm die Rinden hin. Sie war jetzt schlecht geworden und verachtete die Männer Coupeaus wegen, aber für Tiere hatte sie immer noch ein weiches Herz; und Vater Bru, dieser arme Alte, den man da verrecken ließ, weil er nicht mehr arbeiten konnte, war für sie ein Hund, ein Tier, das selbst der Schinder nicht kaufen wollte. Es war ihr eine Last auf der Seele, ihn beständig auf der andern Seite des Korridors zu wissen, von Gott und Menschen verlassen, wie er sich aufzehrte und gleich wieder zum Kind wurde, auch an Gestalt; er war zusammengeschrumpft und vertrocknet wie eine Orange, die auf dem Kamin gedörrt wurde.

Fast ebensosehr litt Gervaise unter der Nachbarschaft des Vaters Bazouge. Nur eine dünne Bretterwand trennte ihr Zimmer von dem seinen, man konnte nicht den Finger in den Mund stecken, ohne von drüben gehört zu werden.

Wenn er abends nach Hause kam, verfolgte sie seine häuslichen Verrichtungen; der schwarze lederne Hut tönte dumpf auf der Kommode, als ob man eine Schaufel voll Erde hinwirft; hängte er den schwarzen Mantel auf, so machte das ein Geräusch, als ob ein Nachtvogel mit dem Flügel eine Mauer streift; seinen Frack warf er in die Mitte des Zimmers und entledigte sich so seiner Trauerattribute. Sie hörte ihn umhergehen und beunruhigte sich bei der geringsten Bewegung, die er machte, sie sprang in die Höhe, wenn er sich an einem Möbel stieß oder das Geschirr umherrückte. Dieser verfluchte Säufer beschäftigte sie immerfort, sie hatte eine dumpfe Angst vor ihm, in die sich unbezwingliche Neugierde mischte. Er war immer lustig, immer halb betrunken, hustete, spie und sang in einem Atem; sprach mit sich selber und schlug an allen Wänden herum, ehe er sein Bett fand. Ganz blaß geworden, hörte sie ihm zu und fragte sich, was er wohl treibe; sie hatte entsetzliche Vorstellungen, sie setzte sich in den Kopf, er habe einen Leichnam mitgebracht und verstecke ihn unter seinem Bett. Mein Gott, in den Zeitungen standen ja oft solche Dinge; ein Angestellter der Beerdigungsgesellschaft hatte eine Menge Kindersärge bei sich aufgestellt, um sich die Mühe zu ersparen, so oft nach dem Kirchhof gehen zu müssen. Das stand einmal fest, so oft Bazouge vorbeiging, roch es nach Leichen durch das Schlüsselloch. Man glaubte, man lebe beim Père-Lachaise, mitten im Reiche der Maulwürfe. Es war etwas Schreckliches um ihn, diesen Kerl, der immer so allein für sich lachte, als ob sein Beruf so aufheiternd wäre. Selbst wenn er mit seinem Hexentanz fertig war und schon auf dem Rücken lag, so schnarchte er auf so eigentümliche Weise, daß der Büglerin der Atem dabei ausging. Stundenlang horchte sie zu, weil sie glaubte, daß immerfort Leichenzüge bei ihm vorbeigingen.

Das Schlimmste dabei war, daß Gervaise sich davon so angezogen fühlte, daß sie ihr Ohr an die Wand drückte, um genauer zu hören, was vorging. Bazouge wirkte auf sie wie schöne Männer auf anständige Frauen; sie möchten sie gern anfassen, trauen sich aber nicht; ihre Erziehung hält sie davor zurück. Wenn die Furcht sie nicht zurückgehalten hatte, so hatte Gervaise gern einmal den Tod befühlt, um zu sehen, wie er eigentlich gemacht war. Sie war jetzt manchmal seltsam; mit angehaltenem Atem wartete sie auf ein Wort oder eine Bewegung von Bazouge, die ihr das Geheimnis offenbaren sollte, so daß Coupeau sie einmal höhnisch fragte, ob sie in den Leichenbesorger verliebt sei. Sie ekelte sich vor ihm, aber unwillkürlich, wenn der Alte mit seinem Kirchhofsgeruch nach Hause kam, verfiel sie wieder in ihre Betrachtungen und ihr Gesicht nahm den Ausdruck einer jungen Gattin an, die im Begriff ist, zum erstenmal ihre Ehe zu brechen. Hatte er ihr nicht schon zweimal angeboten, ihr den ewigen Schlaf zu bringen, dessen Seligkeit so groß sei, daß man dabei alles Elend vergißt? Wäre das nicht vielleicht doch das beste für sie? Die Versuchung wurde immer größer; einen Monat lang schlafen können, besonders den Mietsmonat im Winter, wenn sie unter der Last des Lebens zusammenbrach! Aber wenn man erst einmal angefangen hatte, mußte man ja immer weiterschlafen ... dieser Gedanke machte sie erstarren und ihre Liebe zum Tode verflog vor der ewigen und ernsten Freundschaft, welche die Erde verlangte.

Aber eines Abends im Januar schlug sie mit beiden Fäusten an die dünne Wand. Sie hatte eine qualvolle Woche durchgemacht, alle Welt hatte sie umhergestoßen; sie hatte keinen Sou mehr und war mit ihrem Mut zu Ende. Es war ihr nicht gut, sie zitterte vor Fieber und vor den Augen tanzten ihr Flammen. Statt sich aus dem Fenster zu stürzen, wie sie erst wollte, fing sie an zu klopfen und zu rufen:

»Vater Bazouge! Vater Bazouge!«

Der Leichenbesorger zog gerade seine Schuhe aus und sang dabei: »Es waren drei schöne Mädchen!«

»Vater Bazouge! Vater Bazouge!« schrie Gervaise mit ihrer ganzen Kraft.

Hörte er denn nicht? Er sollte sie gleich mitnehmen, er konnte sie beim Genick fassen und dahin bringen, wo er die andern Frauen auch hinbrachte, die armen und die reichen, die er tröstete. Sein Lied tat ihr weh, denn sie sah darin die Verachtung des Mannes, der zuviel Liebschaften hat.

»Was denn? Was denn?« stotterte Bazouge, »wem ist da schlecht? Komm schon, Mütterchen!« Aber bei der rauhen Stimme erwachte Gervaise wie aus einem Traume. Was hatte sie denn getan? Sie hatte an die Wand geschlagen, sicher. Das war für sie wie ein Schlag über die Beine, sie fühlte schon die großen Hände des Leichenbesorgers durch die Mauer kommen, um sie beim Schopf zu fassen. Nein, nein, sie wollte nicht, sie war noch nicht so weit. Hatte sie geklopft, so mußte das mit dem Ellenbogen gewesen sein, ohne daß sie sich dabei etwas dachte. Und ein Schauder lief ihr von den Knien bis zu den Schultern, wenn sie sich vorstellte, wie sie der Alte in den Armen halten würde, wenn sie schon steif wäre und das Gesicht wie ein Porzellanteller.

»Na, ist denn da niemand mehr?« fragte Bazouge in das Schweigen. »Wartet, gegen Damen ist man schon zuvorkommend.«

»Nichts, es ist nichts!« sagte endlich die Büglerin mit erstickter Stimme. »Ich brauche nichts. Danke.«

Während der Leichenbesorger einschlief und dabei noch brummte, blieb sie ängstlich wach und horchte; sie wagte nicht sich zu rühren, weil sie Angst hatte, er könnte glauben, sie hatte noch einmal nach ihm geklopft. Sie schwor sich, von jetzt an acht auf sich zu geben. Und wenn sie schon im Todesröcheln liege, würde sie ihn doch nicht holen lassen. Sie sagte es, um sich Mut zu machen, denn zu gewissen Stunden fühlte sie trotz ihrer Angst noch immer diese fürchterliche Neigung.

In ihrem elenden Winkel, inmitten eigener und fremder Sorgen, fand Gervaise ein schönes Vorbild des Mutes bei den Bijards. Die kleine Lalie, dieses achtjährige Kind, führte den Hausstand mit der Sauberkeit einer Erwachsenen; und das war nicht leicht, denn sie hatte für zwei kleine Kinder zu sorgen, ihren Bruder Jules und ihre Schwester Henriette, Rangen von drei und fünf Jahren, auf die sie den ganzen Tag aufpassen mußte, selbst beim Geschirrwaschen und Bodenreiben. Seit der Vater Bijard seine Frau durch einen Tritt in den Bauch getötet hatte, war Lalie die neue Mutter für die ganze Familie geworden. Ohne etwas zu sagen, nahm sie den Platz der Toten ein, und zwar so gründlich, daß diese Bestie von Vater, wahrscheinlich um die Greulichkeit vollkommen zu machen, jetzt die Tochter schlug, wie er früher die Mutter geschlagen hatte. Wenn er besoffen war, mußte er Frauen zum Niederschlagen haben. Er merkte es gar nicht, daß Lalie noch so klein war, er würde auf eine alte Haut auch nicht mehr gedroschen haben. Mit einem Schlag bedeckte er ihr Gesicht, und zwar derart, daß die fünf Finger noch zwei Tage lang zu sehen waren. Das waren ganz unberechtigte Züchtigungen, Schlage für ein »Ja« oder ein »Nein«; wie ein wütender Wolf über eine arme kleine Katze herfallt, die noch dazu so mager ist, daß man darüber weinen könnte. Wahrend dieser Unhold seine Tochter malträtierte, hielt sie still, ihre schönen Augen voll Ergebung und klagte nicht. Lalie widersetzte sich nie. Sie duckte sich höchstens ein wenig, um ihr Gesicht zu schützen; aber sie verbiß den Schmerz und schrie nicht, um das Haus nicht in Aufruhr zu bringen. Wenn ihr Vater müde war, sie noch länger mit Fußtritten in alle vier Ecken des Zimmers herumzustoßen, so wartete Lalie, bis sie wieder so viel Kraft hatte, sich aufzuraffen, und ging dann wieder an ihre Arbeit, wusch die Kinder, kochte das Essen und wischte allen Staub von den Möbeln. Es gehörte mit zu ihren täglichen Pflichten, sich schlagen zu lassen.

Gervaise faßte eine innige Freundschaft für ihre kleine Nachbarin. Sie behandelte sie wie eine Gleichstehende, wie eine Frau, die das Leben kennt. Nun muß man sagen, daß Lalie ein blasses ernstes Gesicht hatte mit dem Ausdruck einer alten Jungfer. Man konnte sie für dreißig Jahre halten, wenn man sie sprechen hörte. Sie verstand gut einzukaufen, ihr Heim auszubessern und in Ordnung zu halten; von den Kindern sprach sie, als hätte sie selbst mindestens schon zwei oder drei gehabt. Erst mußte man lachen, wenn man sie so reden hörte, aber dann wendeten sich die Leute ab, weil es ihnen die Kehle zuschnürte und sie nicht in ihrer Gegenwart weinen wollten. Gervaise bemühte sich sehr um sie und tat für sie auch sonst, was sie konnte, sie gab ihr Essen und alte Kleider. Eines Tages paßte sie ihr eine alte Taille von Nana an, da geriet sie außer sich, als sie den Rücken des Kindes sah, der ganz blau angelaufen war; der Ellenbogen war aufgerissen und blutig und das ganze unschuldige Fleisch ihres kleinen Körperchens war gepeinigt und hing nur noch an den Knochen. Da konnte der Vater Bazouge seine Kiste bereithalten, lange konnte es auf diese Art nicht mehr dauern. Aber die Kleine bat Gervaise, doch ja nichts davon zu sagen, sie wolle nicht, daß ihrem Vater deshalb Ungelegenheiten gemacht würden. Sie verteidigte ihn noch und sagte, er habe es nicht böse gemeint, er wäre eben betrunken gewesen. Und dann wäre er ganz unsinnig und verrückt und wüßte nicht, was er tue. Oh, sie verzeihe ihm das, denn den Verrückten müsse man alles verzeihen.

Von jetzt ab paßte Gervaise gut auf, um es zu verhindern, sobald sie Vater Bijard die Treppe heraufkommen hörte. Meistens bekam sie auch dabei ein paar Rippenstöße ab. Wenn sie am Tage eintrat, fand sie Lalie oft am Fußgestell des Bettes festgebunden. Das war so eine fixe Idee des Schlossers; ehe er fortging, band er dem Kinde Beine und den Bauch mit einem Stricke fest, man wußte nicht warum. Es war wohl die Verrücktheit, in dem durch Trunk zerstörten Hirn geboren, die Kleine auch in seiner Abwesenheit seine Macht fühlen zu lassen. So blieb Lalie oft tagelang, steif wie ein Pfahl, mit Ameisenbrummeln in den Beinen stehen, sogar einmal eine ganze Nacht hindurch, da Vater Bijard vergessen hatte, nach Hause zu kommen. Wollte sie Gervaise losbinden, bat die Kleine, die Stricke ja nicht in Unordnung zu bringen, Vater ärgert sich böse, wenn er dieselben Knoten nicht wiederfindet. Sie war nicht schlecht daran, sie ruhte sich aus, sagte sie lächelnd, und dabei waren ihre kleinen Engelsbeinchen geschwollen und wie abgestorben. Ihr größter Kummer war, daß sie dabei nichts arbeiten konnte und sie so die ganze Unordnung vor sich sehen mußte. Dabei überwachte sie die Kinder, zwang sie zur Folgsamkeit, Henriette und Jules rief sie zu sich, damit sie ihnen die Nasen putzen konnte; da ihre Hände frei waren, strickte sie, um nicht untätig zu bleiben. Die größte Pein erduldete sie, wenn Bijard sie losband; wohl eine Viertelstunde lang mußte sie sich auf dem Fußboden dahinschleppen, weil sie sich nicht aufrechterhalten konnte, da das Blut nicht zirkulierte.

Noch ein anderes kleines Spiel hatte sich der Schlosser ausgedacht. Er legte Sousstücke in den Ofen; wenn sie rotglühend waren, legte er sie auf die Kaminecke. Dann rief er Lalie und sagte ihr, sie solle zwei Pfund Brot holen. Die Kleine nahm das Geld ahnungslos herunter, schrie auf und ließ es fallen, ihre kleine verbrannte Hand schüttelnd. Da wurde er wütend. Wer hatte ihm denn ein solches Mistvieh ins Haus gebracht. Sie verlor wohl schon das Geld! Er drohte ihr die Röcke vom Leibe zu reißen, wenn sie das Geld nicht sofort aufhebe. Als sie es nicht sofort tat, bekam sie einen Schlag, daß ihr alles wie Lichter vor den Augen tanzte. Stumm, mit großen Tränen in den Augen, ging sie mit dem aufgehobenen Geld davon; sie warf die Stücke dann in der hohlen Hand hin und her, um sie abzukühlen.

Das ist nicht auszudenken, was so ein Säuferhirn alles erfinden kann. An einem Nachmittag hatte Lalie alles schön aufgeräumt und spielte mit den Kindern; das Fenster war weit offen und der Wind, der sich im Korridor verfangen hatte, stieß mehrere Male leicht gegen die Tür.

»Das ist Herr Frechling!« sagte die Kleine, »Herr Frechling, kommen Sie doch gefälligst herein, nehmen Sie Platz.«

Sie machte nach der Tür zu mehrere Verbeugungen und grüßte den Wind. Henriette und Jules traten hinter sie, grüßten mit und waren so entzückt von diesem Spiel, daß sie sich vor Lachen schüttelten, als ob sie gekitzelt würden. Lalie war gar rot vor Vergnügen, daß sie sich so gut unterhielten, was höchstens jeden sechsunddreißigsten des Monats vorkam.

»Guten Tag, Herr Frechling, wie geht es Ihnen, Herr Frechling?«

Da stieß eine rohe Hand die Türe auf und Vater Bijard trat ein. Nun veränderte sich die Szene auf einmal; Jules und Henriette fielen auf den Hintern gegen die Mauer vor Schrecken, Lalie blieb wie in einer Versteinerung mitten in der Verbeugung im Zimmer stehen. Der Schlosser hielt eine langstielige neue Fuhrmannspeitsche in der Hand, die lederne Schnur endete in einer seinen Schlinge. Er setzte die Peitsche in die Ecke neben das Bett; heute gab er der Kleinen nicht den gewohnten Fußtritt, den sie schon parierte, indem sie ihm die Hinterseite bot. Hohnlachend zeigte er all seine schwarzen Zähne, er war lustig und betrunken, sein versoffenes Kupfergesicht leuchtete vor Vergnügen über den neuen Scherz, den er sich ausgedacht hatte.

»Nun!« sagte er, »du Schmutzfink, bist ja sehr lustig heute. Schon unten habe ich dich tanzen hören ... Nun komm her! noch näher, Donnerwetter! sieh mich gerade an; ich hab es nicht nötig, deine Fratze zu suchen. Was tu' ich dir schon, daß du wie Espenlaub zitterst? ... Zieh mir die Schuhe aus.«

Lalie fühlte sich entsetzt, nicht ihre gewöhnliche Tracht Prügel zu bekommen, sie war jetzt ganz blaß geworden und zog ihm die Schuhe aus. Er saß am Rande des Bettes, legte sich jetzt mit allen Kleidern nieder und schaute jeder Bewegung der Kleinen im Zimmer zu. Sie drehte sich unter seinen Blicken so erschreckt herum, ihre Glieder waren ihr förmlich erstarrt, sie ließ plötzlich eine Tasse fallen. Ohne sich aufzurichten nahm er die Peitsche und zeigte sie ihr.

»Du, sieh mal her, kleines Kalb, sieh dir das an, das ist ein Geschenk für dich. Ja, sieh, da hab ich wieder fünfzig Sous für dich ausgegeben ... Mit diesem Spielzeug erspar ich mir das Gehen, wenn du dich in die Ecken verkriechst. Willst du es einmal ausprobieren? Ach, du zerschlägst Tassen? ... Nun denn, vorwärts! Holla, tanze doch! Mach doch deine Verbeugungen an Herrn Frechling!«

Er richtete sich nicht einmal auf; auf dem Rücken liegend, den Kopf in die Kissen gedrückt, ließ er die große Peitsche durch das Zimmer knallen und machte so einen Heidenlärm wie ein Postillon, der seine Pferde antreibt. Den Arm niedersenkend, erfaßte er Lalie in der Mitte des Körpers, rollte sie ein und ließ sie wieder los wie einen Kreisel; sie fiel und wollte auf allen Vieren flüchten, er fing sie aber wieder ein und setzte sie wieder auf die Füße.

»Hopp, Hopp!« heulte er, »das ist der Viehtreibertanz! Nicht wahr, das ist hübsch an so einem Wintermorgen; ich liege ruhig im Bett, hole mir keinen Schnupfen, ich treff meine kleinen Kälber, ohne mir ein Bein zu verrenken. In die Ecke willst du? Klapp! da hab ich dich! Jetzt in die andere Ecke! Klapp, da hab ich dich auch. Auch wenn du dich unter das Bett verkriechst, ich würde dich doch hervorpeitschen. Hopp, Hopp, Hopplala!«

Weißer Schaum kam ihm vor den Mund und seine gelben Augen traten aus den Höhlen. Lalie, schon ganz außer Atem, sprang heulend in allen vier Ecken des Zimmers umher, stürzte zu Boden, preßte sich an die Wände; aber die feine Schlinge der großen Peitsche erreichte sie überall und knallte um ihre Ohren wie ein abgeschossenes Geschütz und schnitt ihr lange blutende Striemen in das Fleisch. Es war ein wahrer Hexentanz, wie die Abrichtung eines Tieres. Die arme Katze sprang und schrie vor Schmerz; kaum atmen konnte sie mehr, da sie wie ein Gummiball auf und ab springen mußte. Sie ließ sich schlagen, ganz blind geworden, konnte sie sich nicht mehr abmühen, ein schützendes Asyl zu suchen. Diese Bestie von Vater triumphierte, er schimpfte sie Hurenbalg, und ob sie jetzt eingesehen habe, daß sie keine Hoffnung mehr hätte, ihm zu entkommen.

In dem Moment trat Gervaise ein, aufgeschreckt durch das Geheul der Kinder. Vor diesem Bilde wurde sie von wütender Entrüstung ergriffen:

»Ah! dieser infame Kerl!« schrie sie. »Wollt Ihr sie in Ruhe lassen! Ich zeige Euch der Polizei an, gleich werde ich das tun!«

Bijard brummte wie ein wildes Tier, das man gestört hat, er stotterte:

»Was wollten Sie denn, Hinkebein? Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten! Ich werde wohl Handschuhe anziehen müssen, wenn ich sie züchtige? ... Das mache ich ja nur, um sie munter zu machen, das sehen Sie doch, ihr nur zu zeigen, wie weit mein Arm reicht.«

Nun holte er nochmals aus und traf Lalie ins Gesicht. Die Oberlippe wurde gespalten, das Blut strömte. Gervaise hatte einen Stuhl ergriffen und wollte damit auf den Schlosser stürzen. Aber die Kleine streckte bittend ihre kleinen Arme aus und versicherte, daß ihr gar nichts fehle und nun wieder alles gut wäre. Sie wischte sich mit dem Zipfel ihrer Schürze das Blut ab und beruhigte die Kinder, die heftig weinten, als ob sie die Peitschenhiebe bekommen hatten.

Wenn Gervaise in Zukunft an Lalie dachte, wagte sie nicht mehr zu klagen. Gern hätte sie den Mut dieses achtjährigen Kindes gehabt, das ganz allein soviel zu erdulden hatte als soundso viel Frauen auf den verschiedenen Treppen. Sie hatte gesehen, wie sie während drei Monaten nur trockenes Brot zu essen hatte, wobei sie sich nicht an den Krusten sattessen konnte; sie war so mager und schwach, daß sie sich an den Wänden halten mußte, wenn sie ging; brachte sie ihr heimlich die Überreste einer Fleischmahlzeit, so brach ihr das Herz, wenn sie sie stumm mit nassen Augen das Essen hinunterwürgen sah, weil ihr Schlund kaum mehr die Nahrung durchließ. Trotzdem war sie immer zärtlich und ergeben; mit einer Vernunft, die über ihre Jahre ging, erfüllte sie die Pflichten einer Familienmutter, wobei sie ihr Leben opferte. An diesem lieben Geschöpf nahm sich Gervaise ein Beispiel, von ihr lernte sie, wie man Leiden tragen müsse.

Lalie behielt in ihren großen schwarzen Augen den stummen ergebenen Blick, auf dessen Grund man ahnt, daß ihr Leben eine ewige Nacht und immerwährender Todeskampf sei. Nie kam eine Klage über ihre Lippen, nur in ihren weit geöffneten schwarzen Augen las man die Geschichte ihres Elends.

Nun fing auch bei den Coupeaus das Gift des Totschlägers an zu wirken. Die Büglerin sah die Stunde kommen, wo auch ihr Mann zur Peitsche greifen würde, um sie tanzen zu lassen. Ihr eigenes Los machte sie natürlicherweise empfänglicher für das Schicksal der Kleinen. Ja, Coupeau ging zurück; die Zeit war vorüber, wo ihm der Trunk noch ein gesundes Aussehen gab. Er konnte sich jetzt nicht mehr auf den Bauch klopfen und lustig schreien, daß ihn der verdammte Suff fett mache, denn das erste ungesunde Fett der ersten Jahre war verschwunden, er wurde mager, sein Fleisch nahm die grünen Töne eines Aases an, das in einer Pfütze verfault. Er hatte allen Appetit verloren; auch der Geschmack am Brote verging ihm, er spie die Speisen an. Man hatte ihm das Essen noch so sorgfältig zubereiten können, der Magen versagte einfach den Dienst; auch die Zähne konnten nicht mehr kauen. Um sich auf den Beinen halten zu können, mußte er jeden Tag einen Schoppen Branntwein haben; das war seine Ration, sein Essen und Trinken, die einzige Nahrung, die er noch vertrug. In der Früh, wenn er aus dem Bette stieg, blieb er eine Viertelstunde lang am Bettrande sitzen, von Husten geschüttelt und mit den Zähnen klappernd; er mußte sich den Kopf halten, denn er spie Schleim und Galle, die ihm die Kehle zerkratzten. Das blieb nie aus, darauf konnte man wetten. Er fühlte sich auf den Beinen erst sicher, wenn er sein erstes Trostglas getrunken hatte; das war die beste Medizin, sie rann ihm wie Feuer durch die Gedärme. Aber im Laufe des Tages kamen die Krämpfe wieder. Zuerst spürte er ein gewisses Zucken und Hautprickeln an Händen und Füßen, er lachte und sagte, man habe ihm Bröseln ins Bett gestreut und die kitzelten ihn überall. Dann wurden ihm die Beine schwer, das Jucken verwandelte sich in schreckliche Krämpfe, die ihm die Glieder krumm zogen wie mit einem Schraubstock. Da lachte er nicht mehr, wenn er plötzlich mitten auf der Straße stehen bleiben mußte, weil er ganz betäubt war und ihm die Ohren sausten, während vor seinen Augen farbige Kreise tanzten. Dann wieder sah er alles gelb, die Häuser wackelten, er schwankte drei Sekunden voll Angst, hinzufallen. Ein andermal lief ihm bei Hellem Sonnenschein ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als wenn ihn jemand mit Eiswasser begossen hätte. Was ihn am meisten ärgerte war, daß seine beiden Hände leicht zitterten; besonders die Rechte mußte irgend etwas Schlimmes getan haben, sie zitterte am meisten. Herrgott! War er denn kein Mann mehr? Wurde er ein altes Weib? Wütend spannte er seine Muskel an, ergriff ein Glas und wettete, daß er es unbeweglich halten würde wie eine Marmorstatue; aber trotz aller Anstrengung tanzte das Glas in seiner Rechten eine rasche Polka, hopste nach rechts, sprang nach links und zitterte dabei immer ganz schnell und regelmäßig. Dann goß er es hinter die Binde und heulte wütend, wenn er erst ein Dutzend getrunken hatte, dann würde er eine Tonne tragen, ohne zu zittern. Gervaise sagte im Gegenteil, wenn er weniger trinke, würde es aufhören. Er hörte aber nicht auf sie, sondern trank den Branntwein literweise, um in Schwung zu kommen; er wütete und gab den vorbeifahrenden Omnibussen Schuld, wenn er schwankte.

Im Monat März kam Coupeau eines Abends bis auf die Knochen naß nach Hause; er kam mit Mes-Bottes von Montrouge, wo sie sich Aalsuppe geleistet hatten. Von der Barriere Poissonnier an waren sie im Sturzregen gelaufen, das war hübsch weit. In der Nacht bekam er einen verdammten Husten, er war sehr rot und bekam heftig Fieber, daß es ihn nur so schüttelte. Am Morgen schickten die Boches ihren Arzt, der ihn untersuchte und den Kopf schüttelte; er nahm Gervaise auf die Seite und riet ihr, ihren Mann gleich in ein Krankenhaus bringen zu lassen, er hätte Lungenentzündung.

Gervaise war nicht böse, das war sicher. Früher hätte sie sich lieber zerhacken lassen, als ihren Mann ins Lazarett zu geben. Aber bei dem Unglück in der Rue de la Nation waren ihre ganzen Ersparnisse draufgegangen, um ihn zu pflegen. Und diese schönen Gefühle waren nicht mehr am Platze, wenn die Männer in den Schmutz sanken. Nein, nein, jetzt machte es ihr kein Ohrensausen; sollten sie ihn ihr wegnehmen und nicht mehr wiederbringen, sie würde sich sogar noch bedanken.

Als aber der Krankenwagen kam und Coupeau wie ein Möbelstück aufgeladen wurde, kniff sie doch die Lippen zusammen und wurde ganz blaß; und wenn sie auch fand, daß es so ja doch am besten sei, ihr Herz war nicht dabei und sie hätte gern zehn Francs in der Kommode gehabt, um ihn nur dabehalten zu können. Sie begleitete ihn ins Hospital Lariboisiere und sah zu, wie die Krankenwärter ihn ins Bett brachten, am Ende eines Saales, wo die Kranken mit todbleichen Gesichtern lagen. Sie folgten dem Kameraden, den man da brachte, mit den Augen. Der Raum war wie eine Leichenhalle, voll Fieberdunst, daß man erstickte, und die Schwindsuchtsmusik machte einem fast die Lungen ausspeien; dabei hatte der Saal etwas Ähnlichkeit mit einem kleinen Père-Lachaise, die Reihen der weißen Betten sahen aus wie Gräber. Als Gervaise sah, daß ihr Mann ruhig auf dem Kissen lag, ging sie fort, ohne ein Abschiedswort zu finden, und unglücklich, nichts in der Tasche zu haben für ihn. Vor dem Hospital blickte sie sich um und warf einen Blick auf das Gebäude. Sie dachte daran, wie Coupeau früher über den Rand des Daches gebeugt da oben seine Zinkplatten legte und dabei in der Sonne sang. Damals trank er noch nicht und hatte eine Haut wie ein junges Mädchen. Von ihrem Fenster im Hotel Boncoeur aus hatte sie ihn mit den Augen gesucht und gefunden, er war ganz von blauem Himmel umgeben. Sie winkten sich dann immer mit ihren Taschentüchern und warfen sich lächelnd Kußhände zu. Aber jetzt war er nicht mehr auf den Dächern gleich munteren zwitschernden Sperlingen; jetzt hatte er sein Nest unter dem Dach gebaut und zehrte wohl von seinem letzten Speck. Mein Gott! Wie weit fort schien heute die Zeit ihrer Liebe!

Nach zwei Tagen kam Gervaise wieder, um sich nach Coupeau zu erkundigen, und fand sein Bett leer. Eine der Schwestern erklärte ihr, Coupeau sei ins Asyl Sainte-Anne überführt worden, weil er Tobsuchtsanfälle bekommen habe. Er hatte geheult und versucht, sich den Kopf an der Wand zu zerschlagen, so daß keiner der andern Kranken schlafen konnte. Die Büglerin ging ganz zerschmettert nach Hause. Also ihr Mann war verrückt! Das Leben war doch seltsam, wenn man's so gehen läßt. Nana schrie, er müsse im Spital bleiben, denn er würde sonst alle beide umbringen.

Erst am Sonntag konnte Gervaise nach Sainte-Anne gehen; das war eine wahre Reise. Glücklicherweise ging der Omnibus, der vom Boulevard Rochechouart nach la Glacière führte, am Asyl vorbei. Sie stieg in der Rue de la Santé ab und kaufte zwei Apfelsinen, um nicht ganz mit leeren Händen zu kommen. Das Asyl war auch so ein Gebäude mit grauen Höfen und unendlichen Korridoren; auch der Geruch von alten verdorbenen Arzneien brachte keine besonders heitere Stimmung hervor. Als man sie endlich bis in seine Zelle führte, war sie überrascht, Coupeau fast munter zu sehen. Er saß gerade auf dem Thron, einem sauberen Holzkasten, von dem gar kein Geruch ausging. Sie lachten darüber, sich so wiederzusehen, er in voller Tätigkeit. Nicht wahr? Benahm er sich als Kranker nicht ausgezeichnet? Er saß da wie ein Papst und sein Redestrom floß wie früher. Oh, jetzt geht es ihm besser, weil alles wieder in Ordnung war.

»Und die Entzündung?« fragte die Wäscherin?

»Rein weg!« antwortete er. »Im Handumdrehen haben sie mir das wieder weggeschafft! Ich huste noch ein wenig, aber das ist das letzte beim Auskehren.«

Als er seinen Thron verließ und wieder im Bett lag, scherzte er weiter:

»Du hast eine gute Nase, hast keine Angst vor einer Prise!«

Und sie lachten noch mehr. Im Grunde freute sie sich. Das war so ihre Art, ihre Zufriedenheit auszudrücken, daß sie keine Phrasen machten und nur auf nette Weise scherzten. Man muß einmal Kranke gepflegt haben, um zu sehen, was das für eine Freude ist, sie wieder nach jeder Richtung hin tätig zu sehen.

Dann gab sie ihm die beiden Apfelsinen, was ihn sehr rührte. Er wurde wieder liebenswürdig und anhänglich, seit er Tee trank und sein Herz nicht auf den Schanktischen der Kneipen lassen konnte. Sie sprach ihm endlich auch von seiner Geistesstörung und war überrascht, ihn so wie in alten Tagen vernünftig sprechen zu hören.

»Ja, ja,« sagte er, »ich habe einen schönen Unsinn zusammengeredet,« und machte sich über sich selbst lustig. »Denke dir, ich sah Ratten; ich lief ihnen auf allen Vieren nach, wollte ihnen Salz unter den Schwanz streuen, und du riefst nach mir, du warst von Männern bedroht, kurz, alle möglichen Dummheiten, ich sah Gespenster am Tage ... Ich habe alles ganz gut behalten, der Gedankenkasten ist also noch solide ... Jetzt ist das vorbei; ich träume wohl, wenn ich einschlafe, habe Albdrücken, aber das haben fast alle Leute!«

Gervaise blieb bis zum Abend bei ihm. Als um sechs Uhr der Unterarzt zur Visite kam, ließ er ihn die Hände ausstrecken; sie zitterten fast gar nicht mehr, nur an den Fingerspitzen ein wenig. Als die Nacht hereinbrach, wurde Coupeau unruhiger. Zweimal stand er von seinem Lager auf und schaute auf den Boden in die dunkeln Ecken des Raumes.

»Was siehst du denn?« fragte Gervaise erschrocken.

»Da sind schon wieder Ratten!« murmelte er. Nach kurzem Schweigen schien er einzuschlafen; aber er warf sich herum und sprach abgerissene Sätze.

»Heiliger Himmel! Sie fressen mir die Haut durch! ... Oh, die ekelhaften Tiere! ... Halt fest! Nimm deine Röcke zusammen! Paß doch auf, die Bande ist ja hinter dir. Donnerwetter! Da haben sie sie umgeworfen und sie lachen noch! ... Ekelhafte Bande! Haufen Ungeziefer! Räuberbande!«

Er schlug ins Leere, zog die Decke hoch, rollte sie über seiner Brust zusammen, als wolle er sie gegen den Überfall der Männer schützen, die ihr Gewalt antun wollten. Als nun ein Wärter kam, zog sich Gervaise ganz starr vor Entsetzen zurück. Als sie nach einigen Tagen wiederkam, fand sie Coupeau vollständig hergestellt. Selbst die Träume und das Albdrücken waren vergangen, er schlief wie ein Kind seine sechs Stunden, ohne ein Glied zu rühren. Man erlaubte seiner Frau, ihn mit nach Hause zu nehmen. Der Unterarzt gab ihr beim Hinausgehen noch gute Lehren auf den Weg und riet ihr, darüber nachzudenken. Wenn er wieder zu trinken anfängt, so verfällt er wieder in die Krankheit und muß dann unrettbar sterben. Ja, er hatte es jetzt ganz allein in der Hand. Er hat jetzt gesehen, wie frisch und munter man wird, wenn man sich nicht betrinkt. Nun denn! er solle zu Hause das mäßige Leben fortführen, das er in Saint-Anne führte, und denken, er wäre immer noch hinter Schloß und Riegel und es gäbe gar keine Wein- und Schnapsbudiken.

»Dieser Herr hat recht!« sagte Gervaise im Omnibus, der sie nach der Rue de la Goutte d'Or zurückbrachte.

»Gewiß hat er recht!« antwortete Coupeau. Als er dann nachgedacht hatte, sagte er einen Augenblick später:

»Oh, du weißt, ein kleines Glas hin und wieder, das kann ja keinen Menschen töten, das hilft verdauen!«

Noch an demselben Abend trank er ein kleines Glas Kümmel zur Verdauung. Acht Tags lang war er noch leidlich vernünftig. Eigentlich hatte er Angst, denn der Gedanke, in Vicêtre zu enden, hatte wenig Erfreuliches für ihn. Aber bald gewann die Leidenschaft zum Trunk wieder die Oberhand; dem ersten Glase Schnaps folgte ein zweites, drittes und viertes; sobald der Zahltag da war, war er wieder auf seiner gewohnten Ration, einem Schoppen Rachenputzer jeden Tag. Gervaise geriet so außer sich, daß sie ihm am liebsten den Schädel eingeschlagen hätte. Wie konnte sie nur so dumm sein und noch einmal von einem ehrbaren, anständigen Leben träumen, als sie ihn im Asyl wieder bei vollem Verstande gesehen hatte! Da war wieder eine freudige Stunde vorübergegangen, sicherlich die letzte. Oh, jetzt sah sie, daß nichts ihn heilen konnte, nicht einmal die Furcht vor einem elenden Ende! Jetzt schwur sie sich, keine Rücksichten mehr zu nehmen; nun mochte die Wirtschaft gehen wie sie wollte, sie kümmerte sich nicht mehr darum, sie gab sich das Wort, das Vergnügen zu suchen, wo es auch sei. Das Leben, das jetzt begann, war aber die Hölle. Tiefer und tiefer sank die Familie in Schmutz, ohne jeden Schimmer von Hoffnung, daß es je besser werden könnte. Wenn Nana von ihrem Vater Schläge bekam, fragte sie wütend, warum denn dieses Vieh nicht im Spital geblieben wäre? Sie sagte, sie warte nur darauf, bis sie Geld verdiente, um es ihm geben zu können, damit er sich Branntwein dafür kaufen sollte, damit er schneller verrecke.

Gervaise ihrerseits, als Coupeau ihre Heirat bereute, wurde böse. So? Sie hätte ihm gebracht, was andere nicht mehr wollten? Was? Sie hätte sich von der Straße auflesen lassen, ihn mit ihrer scheinheiligen Miene dazu verführt? An Unverschämtheit fehlte es ihm wirklich nicht! Zum Teufel! Soviel Worte, soviel Lügen! Sie wollte nichts von ihm wissen, das war die Wahrheit! Auf den Knien war er vor ihr herumgerutscht, um sie zur Entscheidung zu bewegen, während sie ihm den Rat gab, es sich gut zu überlegen. Wenn das noch einmal zu machen wäre, würde sie nein sagen! Sie würde sich eher den Arm abhacken lassen. Allerdings, sie hatte schon vor ihm einen gehabt; aber eine Frau, die nicht als Jungfer in die Ehe kommt und arbeitet, ist immer noch mehr wert als ein Faulenzer von Mann, der seine Ehre und die seiner Familie an den Schanktischen läßt. An diesem Tage gab es bei Coupeaus die erste Prügelei, es wurde so zugeschlagen, daß ein alter Regenschirm und ein Besen zerbrachen.

Gervaise hielt Wort. Sie vernachlässigte sich noch mehr; sie blieb immer öfter vom Atelier fort, vertrödelte ganze Tage und wurde schlapp bei der Arbeit. Wenn ihr etwas aus der Hand fiel, ließ sie es liegen, sie mochte sich nicht danach bücken. Auf diese Art setzte sie tüchtig Speck an, den wollte sie nicht wieder verlieren. Sie versank ganz in Faulheit und kehrte höchstens, wenn der Schmutz so hoch war, daß sie drüber stolperte. Gingen Lorilleux' bei ihrem Zimmer vorüber, taten sie, als hielten sie sich die Nase zu; das reinste Gift, sagten sie. Die lebten heimlich am Ende des Ganges und verschlossen die Ohren vor allem Elend, das in der andern Ecke des Hauses nistete; sie verschlossen die Tür, denn sie fürchteten, um zwanzig Sous angepumpt zu werden. Diese gutherzigen, hilfreichen Nachbarn! Man brauchte nur anklopfen und um Feuer bitten oder um eine Prise Salz oder ein Glas Wasser, da konnte man sicher sein, daß sie einem die Türe vor der Nase zuschlugen. Dabei hatten sie Zungen wie Vipern! Sie schrien, daß sie sich nie um andere kümmerten; nein, wenn es sich darum handelte, hilfreich zu sein, dann sicher nicht, aber vom Morgen bis Abend sich über andere das Maul zerreißen, das konnten sie! Die Tür verschlossen, das Schlüsselloch verstopft und vor dem Fenster eine dichte Decke, weideten sie sich an Klatschgeschichten, ohne eine Sekunde lang ihre Goldfäden loszulassen. Das Zugrundegehen des Hinkebeins gab ihnen Stoff für den ganzen Tag. In was für einer Klemme sie war, wie sie herunterkam! Sie paßten ihr auf, wenn sie einkaufen ging, und machten sich lustig über das kleine Stückchen Brot, das sie unter ihrer Schürze heimbrachte. Sie berechneten die Tage, wo sie vor dem leeren Speiseschrank stand; sie wußten, wie hoch der Staub dort lag und wieviel Teller vergeblich auf das Abwaschen warteten; jede dieser Versäumnisse schrie von Faulheit und Elend. Und erst ihre Kleider, so widerliche Lumpen würde nicht einmal eine Lumpensammlerin aufheben. Gott, o Gott! Der regnete es schon in die Bude, dieser schönen Blondine, dieser Hure, die ihren Hintern nicht genug drehen konnte, als sie noch den schönen blauen Laden hatte. Das kommt davon, wenn man Schnaps trinkt, naschhaft ist und Fressereien veranstaltet. Gervaise, die wohl wußte, wie man über sie loszog, schlich sich auf Strümpfen an die Tür und lauschte, aber sie konnte nichts verstehen. Nur einmal hörte sie, wie man sie »die dicke Hängebrust« nannte, wahrscheinlich, weil ihre Brust trotz der schlechten Nahrung auffallend stark blieb. Aber das ließ sie ziemlich kalt, sie hörte nicht auf, mit ihnen zu sprechen, um keinen Anlaß zum Gerede zu geben, aber sie wußte wohl, daß sie von diesen Leuten nichts anderes als Beschimpfungen und Beleidigungen zu erwarten hatte. Sie war zu schlaff, um zu antworten oder sie wie einen Haufen Torheit und Bosheit sich selbst zu überlassen. Wozu auch? Sie wollte ihr Vergnügen, stillsitzen und die Daumen drehen, mehr brauchte es nicht.

Eines Samstags hatte Coupeau versprochen, sie in den Zirkus zu führen. Damen auf Pferden galoppieren und durch papierbeklebte Reifen springen zu sehen, das stand schon dafür, sich vom Fleck zu rühren! Coupeau hatte gerade seinen vierzehntägigen Lohn ausbezahlt bekommen, er konnte also vierzig Sous dranwenden, sie wollten sogar außer Haus essen. Nana hatte an diesem Abend eines eiligen Auftrages wegen sehr lange zu arbeiten. Als es sieben Uhr war, kein Coupeau; um acht Uhr, immer noch niemand. Gervaise war wütend. Sicher verpraßte ihr Saufbold den ganzen Lohn mit seinen Kameraden beim Weinwirt des Viertels. Sie hatte sich eine Haube gewaschen und den ganzen Tag gequält, die Löcher ihres Kleides zu stopfen, um anständig auszusehen. Endlich, gegen neun Uhr, entschloß sie sich, rot vor Zorn und mit leerem Magen, Coupeau in der Umgebung zu suchen.

»Sie suchen Ihren Mann?« rief ihr Frau Boche zu, als sie sie so wütend vorbeigehen sah. »Er ist bei Vater Colombe. Boche hat eben mit ihm Kirschschnaps getrunken.«

Sie sagte danke. Sie ging gerade die Straße hinunter, um Coupeau unter die Augen zu treten. Es regnete ganz sein, das machte ihren Spaziergang noch unangenehmer. Als sie in die Nähe des Totschlägers kam, hatte sie plötzlich Angst, Coupeau möchte ihr eine Szene machen, wenn er sie sähe; das machte sie vorsichtig. Die Kneipe erstrahlte in sonnenhellen Flammen, worin sich das Glas spiegelte, Pokale und Flaschen blitzten an den Wanden, in farbigen Gläsern. Dort blieb sie einige Augenblicke vorgebeugt stehen und schaute durch die Scheiben zwischen zwei Flaschen auf dem Schaufensterbrett hindurch. Dort sah sie Coupeau mit Kameraden zusammen ganz hinten sitzen an einem eisernen Tisch; alle schwammen im blauen Tabaksdampf. Man konnte nicht hören, wie sehr sie schrien, da man sie nur lebhaft gestikulieren sah; so machten sie einen komischen Eindruck mit ihren vorgestreckten Köpfen und herausgequollenen Augen. Wie war es denn nur möglich, daß diese Männer ihre Frauen und ihr Heim verließen, um sich in ein solches Loch hineinzusetzen, in dem sie fast erstickten! Der Regen tropfte ihr in den Nacken; sie richtete sich wieder auf, ging auf den äußern Boulevard, um zu überlegen, was sie nun tun sollte, denn sie wagte es nicht, hineinzugehen. Ja, das schien doch kein Ort für eine ehrbare Frau zu sein. Ja, Coupeau würde ihr wohl keinen schönen Empfang bereitet haben, wenn man ihn da gestört hätte.

Als sie so zögernd in all der Nässe dahinging, fröstelte sie ordentlich, sie dachte, sie würde sich da eine unangenehme Krankheit zuziehen. Noch zweimal ging sie zurück und schaute immer wieder durch die Scheiben, stets saßen sie noch da, die verdammten Säufer, und tranken und grölten dazu. Der Lichtstrom aus dem Totschläger spiegelte sich in den Wasserpfützen auf der Straße, auf deren Oberfläche die Regentropfen eine fortwährende Bewegung hervorbrachten. Wieder ging sie fort und stapfte herum und schaute nach der Türe, die auf und zu fiel, wobei die kupfernen Beschläge klapperten. Endlich kam sie sich doch zu dumm vor, sie stieß plötzlich die Türe auf und ging gerade auf den Tisch zu, an dem Coupeau saß. Es war doch ihr Mann! Nach dem durfte sie doch fragen, gerade heute, da er ihr versprochen hatte, sie in den Zirkus zuführen. Um so schlimmer! Sie wollte nicht wie ein Stück Seife auf dem Trottoir schmelzen.

»Ah! sieh da! Du bist es, Alte!« schrie der Zinkarbeiter, und erstickte fast vor Lachen. »Nein, ist sie komisch! Nicht wahr, sie ist zu komisch!«

Alle lachten, Mes-Bottes, Bibi-la-Grillade, die Salzfresse. Ja, das kam allen komisch vor, obgleich sie nicht sagten, warum. Gervaise stand etwas betreten an dem Tisch. Coupeau kam ihr gut gelaunt vor, deshalb wagte sie zu sagen:

»Du weißt doch, wir wollen doch zusammen dahin gehen! Wenn wir uns ein wenig eilen, kommen wir noch zurecht, um etwas zu sehen!«

»Ich kann nicht aufstehen, ich bin festgeklebt! Ja, ohne Spaß,« fing Coupeau wieder aufs neue lachend an. »Versuche es einmal selbst, damit du dich überzeugen kannst, zieh an meinem Arm, so stark du kannst! Donnerwetter, stärker ... Holla! Zieh an! ... Du siehst, der Schuft, Vater Colombe, hat mich festgeschmiedet!«

Gervaise hatte sich zu diesem Spiel herbeigelassen; als sie endlich seinen Arm losließ, fanden sie alle diesen Spaß so komisch, daß sie sich schreiend auseinanderwarfen, sich die Schultern reibend wie Esel, wenn sie gestriegelt werden. Dem Zinkarbeiter konnte man in den Mund sehen, so weit riß er seinen Mund auf.

»Dummes Tier!« sagte er endlich, »setz dich für einen Moment daher! Es ist doch hier besser, als draußen herumzupatschen. Nun, ich bin nicht nach Hause gekommen, weil ich zu tun hatte. Auch wenn du ein Gesicht machst, das ändert doch nichts an der Sache. Macht mal Platz, ihr andern!«

»Wenn Madame auf meinem Schoß Platz nehmen will, da ist es weicher!« sagte der galante Mes-Bottes.

Gervaise wollte kein Aufsehen machen und nahm einen Stuhl und setzte sich in einiger Entfernung vom Tisch. Sie schaute, was die Männer tranken: »Rachenputzer«, das glänzte wie Gold in den Gläsern. Auf dem Tische war Schnaps übergelaufen, die Salzfresse tauchte seinen Finger hinein und schrieb einen Frauennamen – Eulalie – mit großen Buchstaben. Sie fand Bibi-la-Grillade sehr heruntergekommen, er war so mager wie eine Hopfenstange. Mes-Bottes' Nase blühte wie eine blaue Georgine. Alle vier waren sehr schmutzig, ihre struppigen, ungekämmten Bärte sahen wie Besen aus, ihre Blusen hingen in Fetzen um sie herum und ihre schwarzen Hände zeigten schwarze Trauerränder.

Wirklich, in der Gesellschaft konnte man sich schon sehen lassen. Trotzdem sie schon seit sechs Uhr zechten, waren sie erst gerade soweit, daß sie ihrer liebenswürdigen Laune die Zügel schießen ließen. Gervaise sah am Schanktisch zwei andere, die dabei waren, sich mit Trinken den letzten Rest zu geben; sie gossen sich den Schnaps unter dem Kinn aufs Hemd und glaubten, sie spülten sich die Kehle. Der dicke Colombe streckte seine starken Arme aus, die den Respekt im Lokal aufrechterhielten, und goß ruhig einen Satz nach dem andern ein. Es war sehr heiß und der Rauch wogte unter der Decke wie ein Nebel; unten hüllte er die Trinker in immer dickere Wolken ein, aus denen der betäubende Lärm der Stimmen, das Anstoßen der Gläser, die Flüche und Faustschläge auf die Tische wie Explosionen klangen. Gervaise machte ein merkwürdiges Gesicht, an so etwas nicht gewöhnt, war es gerade kein sehr aufmunternder Anblick; sie erstickte fast, die Augen schmerzten ihr und von all den Alkoholdünsten, die den ganzen Saal erfüllten, wurde ihr der Kopf schwer. Auf einmal empfand sie Unbehagen, als sei etwas hinter ihrem Rücken. Sie wendete sich um und sah den Destillierapparat. Diese Sufferzeugungsmaschine arbeitete auf dem mit Glas überdeckten engen Hof mit dumpfem Zittern ihrer teuflischen Eingeweide. Abends waren die Kupferkessel noch düsterer anzuschauen, weil nur auf der Höhe ihrer Rundungen ein leuchtendes Licht lag. Der Schatten, den die Maschine an die Mauer des Hofes warf, hatte bizarre Formen, Ungeheuer mit Schwänzen und aufgesperrten Rachen, um eine Welt damit zu verschlingen.

»Hör mal, Marie Süßschnabel, verzieh nicht dein Maul!« schrie Coupeau. »Du weißt, zum Teufel die Spielverderber! ... Was willst du trinken?«

»Nichts, gar nichts,« sagte die Büglerin. »Ich hab noch nichts gegessen.«

»Nun gut! Ein Grund mehr; ein Schluck davon hält dich aufrecht.«

Aber als sie sich nicht entschließen konnte, zeigte sich Mes-Bottes galant.

»Gnädige Frau lieben gewiß Süßigkeiten«, meinte er.

»Ich liebe Männer, die sich nicht betrinken,« antwortete sie geärgert. »Ja, ich liebe es, wenn man seinen Lohn nach Hause bringt und sein Wort hält, wenn man etwas versprochen hat.«

»Ach so, deshalb so kratzbürstig!« sagte der Zinkarbeiter und lachte weiter. »Du willst deinen Anteil? Also, du dummes Vieh, warum nimmst du dann nichts? ... Nimm, das ist ganz nützlich!«

Sie sah ihm sehr ernst gerade in die Augen und auf ihrer Stirn erschien eine Falte wie ein schwarzer Strich. Dann sagte sie langsam:

»Um so besser! Du hast recht, das ist eine gute Idee. Auf die Art vertrinken wir das Geld gemeinsam!«

Bibi-la-Grillade stand auf, um ihr ein Glas Anisette zu holen. Sie nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. Während sie so ihre Anisette ausschlürfte, kam ihr plötzlich eine Erinnerung; sie dachte an die Pflaume, die sie mit Coupeau da bei der Tür gegessen hatte, als er noch um sie warb. Damals rührte sie den Saft der eingelegten Frucht nicht an und jetzt saß sie hier und suchte im Likör ihr Heil. Oh, sie kannte sich, sie hatte nicht für zwei Sous Energie im Leibe. Man brauchte ihr nur einen kleinen Stoß zu geben und sie stürzte in den Abgrund des Trunkes. Gerade das schien ihr das richtige, die Anisette war nur etwas zu süß, zu weichlich. So schlürfte sie an ihrem Glas und hörte zu, wie die Salzfresse von seiner Liebschaft mit der großen Eulalie erzählte: sie war Fischverkäuferin und ein verdammt geriebenes Frauenzimmer, eine Person, die es förmlich roch, in welcher Kneipe er gerade saß, wenn sie ihren kleinen Wagen vor sich her über das Pflaster schob; seine Kameraden konnten ihn noch so zeitig warnen und verstecken, sie faßte ihn doch ab. Erst gestern abend hatte sie ihm eine mächtige Ohrfeige heruntergehauen, weil er seine Werkstatt geschwänzt hatte. Bibi-la-Grillade und Mes-Bottes hielten sich die Seiten vor Lachen und schlugen Gervaise freundschaftlich auf die Schultern, die gegen ihren Willen mitlachen mußte, als ob sie gekitzelt würde. Sie gaben ihr den Rat, es wie Eulalie zu machen, sie könne ja ihre Eisen mitbringen und Coupeau auf dem Schanktisch die Ohren ausbügeln.

»Danke schön!« schrie Coupeau, der das Glas Anisette seiner Frau umkehrte. »Du hast das gut ausgelutscht! Schaut her, die Nagelprobe, nicht ein Tropfen mehr drin!«

»Gnädigste verdoppeln?« fragte die Salzfresse.

Nein, sie hatte genug. Sie sagte es zögernd. Die Anisette machte ihr Übelkeiten. Sie hätte lieber etwas Scharfes gehabt, was ihr ordentlich den Magen auswärmte. Sie warf verstohlene Blicke auf die Trinkmaschine hinter ihr. Dieser verdammte Kochtopf war rund und dick wie ein großer Teekessel und seine verlängerte Nase wand sich, daß sie Gänsehaut bekam, zugleich auch eine sonderbare Furcht, in die sich eine gewisse Begierde mischte. Ja, man konnte sagen, es seien metallene Eingeweide einer Hexe, die Tropfen um Tropfen feurigen Giftes aus ihren Gedärmen ließen. Eine abscheuliche Quelle, eine Manipulation, die man im tiefsten Keller verbergen sollte, so frech und abscheulich war sie! Aber das macht nichts, sie wollte auch einmal da hineinstecken, den Duft einziehen und von der Schweinerei kosten, und wenn sie ihre Zunge daran verbrennen würde, daß sie sich schälte wie eine Orange.

»Was trinkt ihr denn da?« fragte sie heimlich die Männer, und ihre Augen leuchteten beim Anblick der schönen Goldfarbe in den Gläsern.

»Das, meine Alte,« antwortete Coupeau, »das ist Papa Colombes Kampfer ... Sei nicht dumm, wir werden dich davon kosten lassen.«

Als man ihr ein Glas von diesem Vitriol gebracht hatte und sich ihr nach dem ersten Schluck die Kinnbacken zusammenzogen, rief der Zinkarbeiter, indem er sich auf die Schenkel schlug:

»Da mußt du pfeifen, was! Das kuriert! ... Auf einen Zug mußt du das kippen. Jede Runde davon zieht dem Arzt sechs Francs aus der Tasche.«

Beim zweiten Glase spürte Gervaise den Hunger nicht mehr, der sie bis dahin gequält hatte. Jetzt war sie mit Coupeau ausgesöhnt, jetzt verzieh sie ihm, daß er ihr nicht Wort gehalten hatte. Sie konnten ein anderes Mal in den Zirkus gehen, es war auch nicht so lustig, diesen Faxenmachern zuzusehen, wie sie auf ihren Pferden herumgaloppierten. Es regnete nicht bei Vater Colombe, und wenn der Lohn auch zerrann wie Schnee an der Sonne, so wärmte er einem doch noch den Leib, man trank ihn wie flüssiges Gold. Ach, sie pfiff auf alle Welt. Das Leben bot ihr nicht viel Vergnügen; übrigens war es ihr ein Trost, daß sie nun ihre Hälfte mitvergeudete. Sie fühlte sich wohl hier, warum sollte sie nicht bleiben? Von ihr aus konnte man mit Kanonen schießen, sie würde sich jetzt nicht darum scheren. Sie schmorte vor Hitze und ihre Bluse klebte ihr an der Haut. Eine Wohligkeit durchströmte sie, die sie fast einschläferte. Sie lachte ohne jeden Grund, mit aufgestützten Ellbogen und schwimmenden Augen. Zwei Gäste amüsierten sie sehr, ein großer Dicker und ein Knirps, die an einem Nebentisch saßen, die so betrunken waren, daß sie sich umarmten und mitten ins Gesicht küßten. Ja, sie lachte im Totschläger über das Vollmondgesicht des Vaters Colombe, das wie eine gefüllte Schweinsblase aussah, über die Gäste, die ihre kurzen Tonpfeifen rauchten, schrien und spuckten; über die großen Gasflammen, die von den Spiegeln und Likörflaschen widerstrahlten. Auch der Geruch war ihr nicht mehr lästig, im Gegenteil, es kitzelte ihre Nase, sie fand, daß es gut roch. Ihre Wimpern schlossen sich zur Hälfte, sie atmete kurz, ohne Beschwerden, und genoß diese Glückseligkeit des Halbschlafes, der über sie kam. Als sie ihr drittes Glas getrunken hatte, ließ sie ihr Kinn auf die Hände sinken. Sie sah nur noch Coupeau und seine Kameraden; sie blieb nun Kopf an Kopf bei ihnen, ganz dicht, der heiße Atem machte ihre Backen erglühen, sie schaute ihnen so genau auf ihre schmutzigen Bärte, als ob sie alle Haare darin zahlen wollte. Und alle waren betrunken. Mes-Bottes lief der Speichel von der Pfeife im Munde herunter, und er sah dabei so ernst und würdig aus wie ein eingeschlafener Ochse. Bibi-la-Grillade erzählte, er könne einen Liter Wein auf einen Zug austrinken, indem er die Flasche austrinke, ohne sie mit den Lippen zu berühren. Inzwischen ging die Salzfresse an den Schanktisch, um das Drehspiel zu holen und mit Coupeau die Zeche auszuknobeln.

»Zweihundert! ... Du bist ein Spitzbube, du holst immer die großen Nummern heraus!«

Die Feder des Spiels knackte, das Bild der Fortuna, einer großen roten Frau, die hinter dem Glas an der Trommel angebracht war, drehte sich so schnell, daß sie nur mehr wie ein roter Fleck aussah, wie ein Weinfleck.

»Dreihundert! ... Bist du denn hineingetreten, verfluchter Schlingel? Ich spiele nicht mehr!«

Gervaise interessierte sich für dieses Spiel.

Sie trank jetzt in großen Zügen und nannte Mes-Bottes »mein lieber Junge«. Hinter ihr aber arbeitete die Schnapsmaschine wie das Murmeln eines Baches immer weiter; sie verzweifelte daran, sie anzuhalten und auszuschöpfen, ein dumpfer Zorn erfüllte sie gegen die Maschine, sie hatte die größte Lust, wie auf ein wildes Tier auf sie loszustürzen und ihr den Bauch mit Fußtritten zu bearbeiten. Alles ging ihr wirr durcheinander im Kopf, sie sah, wie die Maschine sich bewegte, und fühlte, wie ihre Kupferarme sie ergriffen, während der Bach jetzt mitten durch ihren Körper zu fließen schien.

Der Saal tanzte mit all seinen Gasflammen, sie schweiften wie Kometen umher. Gervaise war ganz erschöpft. Sie hörte nur noch einen wütenden Streit zwischen der Salzfresse und dem verdammten Vater Colombe. Das war ein Spitzbube, dieser Wirt, der aufschrieb, was er wollte! Man war doch nicht hier, um sich prellen zu lassen! Plötzlich entstand ein Stoßen, man hörte Heulen und Schreien und mehrere Tische wurden umgeworfen.

Vater Colombe setzte die ganze Gesellschaft einfach an die Luft; er machte das ohne jedes Aufsehen, nur so im Handumdrehen. Vor der Tür schimpften sie noch immerzu und nannten ihn einen Betrüger. Es regnete immer noch und ein feiner eisiger Wind wehte.

Gervaise verlor Coupeau, fand ihn wieder und verlor ihn noch einmal. Sie wollte nach Hause gehen, tastete die Läden ab, um sich zurechtzufinden. Sie war erstaunt, daß es ganz Nacht geworden war. An der Ecke der Rue des Poissoniers setzte sie sich in einen Rinnstein, sie glaubte in der Waschanstalt zu sein. Das fließende Wasser machte sie schwindelig, es wurde ihr sehr übel. Endlich fand sie ihr Haus, sie ging gerade an der Portierloge vorbei, in der sie die Lorilleur' und Poissons erkannte, die am Tisch saßen und angeekelte Gesichtet schnitten, als sie sie in solchem Zustand ankommen sahen.

Es ist ihr nie klar geworden, wie sie die sechs Treppen hinaufkam. Als sie oben ankam und in ihren Korridor einbog, kam ihr die kleine Lalie entgegen, die sie auf der Treppe gehört hatte. Sie breitete ihre Ärmchen aus und rief lachend:

»Frau Gervaise, Papa ist nicht nach Hause gekommen! Kommen Sie doch näher und schauen Sie, wie süß die Kinder schlafen ... Oh, sie sind so hübsch anzusehen!«

Als sie aber den stumpfen Gesichtsausdruck der Büglerin sah, wich sie zitternd zurück. Sie kannte diesen alkoholgetränkten Atem nur zu gut; diese erloschenen Augen und den zuckenden Mund. Gervaise stolperte ohne ein Wort zu sagen vorüber, die Kleine blieb auf der Schwelle ihrer Türe stehen und folgte ihr mit dem stummen Ausdruck ihrer schwarzen Augen.


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