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Verzweifelt ersehnte er sich oft einen kleinen Zuschuß an Verzückung und Irrsinn, der ihn zum Dichter machte, ihn hinaushob über die Verlegenheit seiner irgendwie sündhaften, mit dem Makel der Lüge gezeichneten Betätigung. Niemand, dem es nicht gegeben ist, erlangt die Befähigung zu der schöpferischen Ekstase, die wie ein Abendhimmel kühl von nicht mehr gegenwärtigen Sonnen glüht. Ihm mangelte es an der Kraft der Gefühle, die nicht hinreichten, die Welt emporzuheben, wie es der dichterische Angriff tut, und so war es denn wieder das Herz, sein unzulängliches Herz, das im Grunde nicht zu ihm hielt, anderswohin horchte, aus der Gegenwart in eine stets ausbleibende Zukunft hinüberverlangte, so entsetzlich beiläufig schlug und, statt die Dinge in sich aufbrennen zu lassen, alle Eindrücke verwarf und trübte. Er lauerte diesem Herzen wie einem Feind auf, als wäre ihm beizukommen gewesen, dem hinterlistigen Feigling, der, in eine Nische seiner Brust gedrückt, sich ihm angehängt hatte, ihn behinderte und foppte, ihn dann noch zum Narren hielt, wenn er sich eines Tages mit dem verhaßten Peiniger in irgendeinen Abgrund hinabwarf.
Saß er trauernd am See, so kam die Leise, Imago, und ließ sich bei ihm nieder. Der Duft gestärkter Wäsche wehte von ihrem Kleide, wenn sie es mit den Händen glättete. Sie sprach ihn sogar an:
»Was bedrückt dich, Lieber?«
Nach einer Weile senkte er das Gesicht in die Hände. »O mußtest du kommen und mir solche Qualen bereiten!« murrte er und saß dann wieder da, an ihr vorbeiblickend, heimlich aber voll sehnlicher Aufmerksamkeit für sie, für ihre Stille und Anmut. Pagenkinder und Greise, sonntägliche Mütter, Junggesellen mit Hunden und die stutzerliche Jugend der Großstadt strömten vorüber. Die Versammlung all der Menschen, die hierher gekommen waren, um ein bißchen der Spätsommersonne zu genießen, ein bißchen zu kokettieren, ein bißchen begreifliches wollüstiges Verlangen schweifen zu lassen, besänftigte wie ein Bad, aus dem man mit neuer Begierde aufs Dasein, hungrig und kindlich heraussteigt. Wendel genoß den Zustand, wo er, in alles verliebt, auch alles entzückend fand, die Unbedeutung der Lustwandler, ihren Frohsinn, ihr Geträller, die Einfachheit ihrer Kleidung, den Tumult auf dem Wasser, die Parke, die Türme und den Berg, der alles das blau überdämmerte.
Plötzlich war es dem Blonden, Maja gesehen zu haben.
Er glaubte, das Herz würde sich ihm aus der Brust hinausbäumen.
Die Flimmerluft blendete. Unversehens hatte er das Mädchen bei der Hand erfaßt und zog es zum Ufer.
Wie schlank sie herausgewachsen war!
Soviel er von ihr in verdunkelte Augen erwischte, leuchtete sie sonnig und lieblich.
Also ruderte, ruderte er!
Anfangs, wenn er sie flüchtig musterte, sah er sie in Betrachtung seiner Bewegungen; endlich erlebte er es, daß sie vergnügt auch die Berge, die Wasserflut und sogar die Wolken beguckte.
Und dieserart auserkoren, ihr mit seinen Leibeskräften Behagen zu bereiten, wuchs er in einen unbändigen Mut hinein, in welchem es ihn versuchte, den Kahn in die weichen Lüfte und zu den Schneegemächern der Ferne hinaufzuziehen. Die Bläue umwallte sie beide beinahe lautlos, mit lichten Toren, welche aufwärts und in ein besonntes Meer hinausführten. Jeder Ruderzug schmiegte die liebe Gestalt in Wasserluft und in ein Lächeln zurück. Die entschwebende Stadt hing ihr zierlich ums Haupt. Maja schleppte nun ihr Händchen im Wasser, die neuen Gestade schwankten mit Laubkränzen wunderlich grün und nahe heran; erschrocken lenkte Wendel ins Perlmutterfarbene, auf das hohe Gewoge, das in den Himmel taute.
Die Riesenkraft, die ihn unvermindert belebte, scheuerte sich übel am Holze.
Maja, hochherrlich schaukelnd, betrachtete ihn mit ihren schwarzen, schwarzen Augen. Auf einmal rief sie: »Aber Sie bluten ja!«
»Blute ich?« erwiderte er und besah seine Finger.
»Wozu hätten wir denn diese schöne große Wasserschüssel zur Hand,« lachte er und griff in den See.
Die Wasserabgründe erschienen ihm himmelstief. Ein eigenartiges Grauen stieg über Bord herein und belastete den Kahn. Man glaubte die Sockel der Berge in den Wellen zu sehen, ein melancholisches, altes Reich.
Es trieb den Blonden, sein heiteres Gut anderswohin zu flüchten, und sonderbarerweise wieder menschenwärts. Aber die Hand blieb ihm am Ruder kleben; die stechende Art der Schmerzen, die sich zusammen mit seiner Friedenswonne prickelnd auf das Herz schlug, vertiefte nur das Bewußtsein dieser ihm vom Himmel gefallenen abseitigen Stunde, in der er sich selbst und die Welt nicht wieder erkannte. Das Jungfräulein saß so wohlgewachsen vor der blauen Höhe, lächelte mitunter so warm aus ihrer vielbemerkten stolzen Scheu, daß es ihm beinah Tränen heraustrieb. Eigentlich wunderte er sich, daß sie nicht anders aussah als die Erinnerung sie ihm aufbewahrt hatte, und daß sie doch gewachsen, in junge Brüste und in die Formen gewachsen war, die einige Wochen lang ungewiß solche kindhaften Frauen beflaumen. In Nachdenken versunken saßen sie einander gegenüber; er dachte darüber nach, was sie wohl sinnen mochte in ihrem lieblichen dummen Haupte, von dem er noch gar nie vermutet hatte, daß auch es, nach der Beschaffenheit seines Geistes, souveräne Gedanken zu fassen vermöchte, Gedanken vielleicht, die ihn in sich einbezogen, ungeduldige Fragegedanken, welche es nicht verstanden, aus welcher Ursache er sie so lange sich selbst überließ. Dergleichen konnte in ihren Minen stehen, ebenso möglich war ihre völlige Arglosigkeit; jedenfalls täuschte er sich darüber nicht, daß ihn noch graue Unendlichkeiten von dem Erfordernis trennten, in diesen Dingen Gewißheit zu suchen. Der See erschien ihm auf einmal zu weit, sein Licht auf einmal müde. Mendels Gehobenheit erlahmte; es war eine plumpe Neugier, die ihn flüchtig nach dem ihm ausgelieferten Mädchenleib hinstarren ließ. Dieses letzte Gefühl nahm, veredelt, einen weitläufigen Besitz in ihm, als er Maja an seiner Hand durch die Parkbäume heimwärts geleitete. Auch ihr Griff hatte sich sehr selbstbewußt gekräftigt; es kamen wohl Augenblicke, wo er seine ganze Rechtschaffenheit gegen das Verlangen aufbot, stehenzubleiben, sie langsam in die Arme zu nehmen und seine Tränen an ihr auszupressen. Sie zeigten einander die späten Zugvögel, welche auf ihrer Reise die Stadt überflogen. Zumeist schwiegen sie, wenngleich ganz fröhlich. Er hatte nicht gewußt, daß es so beglückend sein würde, einfach mit ihr zu wandern. Sic reichte ihm knapp an die Schulter; nach üblicher Gepflogenheit maßen sie einander mit den Augen, wenn ihre Ellenbogen sich berührten.
»Halt!« sagte er. »Ich glaube gar, du fühlst dich mir überlegen. Das ist doch unerhört.«
»Kleiner bin ich jedenfalls nicht.«
»Doch, du bist kleiner.«
»Was gilt die Wette?«
Wettest du mit mir, Liebling? dachte er, auf ihren Mund blickend; und du willst meine Pfänder sehen? Ihr schöner Mund lächelte; er sah ihn an wie eine unerschwingliche kostbare Sache. »Doch, du bist kleiner,« sagte er und fügte sich der Probe.
Hernach blieb sie vor ihm in der Dunkelheit stehen, umgittert von den tausend zierlichen Zweigen des Apfelgartens; der Mond ließ ihn bläulich erscheinen. Warum verweilst du da und versperrst mir den Weg wie eine ganze Welt? klagte er sie an. Bezeigst du deinen Dank, indem du mich nicht fürchtest, oder willst du nichts davon bemerken, daß mein Herz seinen blühenden Inhalt um dich verschüttet, du bewegliches dunkles Wesen, atmendes Geheimnis –
Auf der Höhe verabschiedete er sich von ihr und wanderte den Weg zurück weder verzweifelt noch überschwenglich. Er schlief nicht weniger oder besser in der ihn umhüllenden Gegenwart der Geliebten. Morgens wusch er sich ihre Berührung kummervoll von den Händen, seufzte, nahm die Einöden des Alltags über sich, voll Besorgnis, sein Seelengeschmeide vorzeitig zu verlieren.
Die sanften Vorstellungen, mit denen Elisabeth ihn im Lauf der Monate umgeben hatte, wirkten sich unheilvoll an ihm aus, sobald er soweit gekommen war, sie nicht mehr als einen Gegenstand der Debatte mit dem Kopf abzutun, sondern sie auf die Welt anzuwenden. Wo er dann hinblickte, sah er die Ergebnisse menschlicher Irrtümer an dem kranken, halbwertigen Geschlecht, dem er angehörte; wo er hinauslief, gähnten ihm Abgründe entgegen.
Bei Elisabeth saßen verzückte Apostel, die ungleich mehr davon wußten – er aber lehnte sich noch immer auf gegen ihre gedämpften Gespräche; Kerzen, weiße Gewänder, das ganze Prophetengebaren bereitete ihm nichts als Entsetzen. Weihrauch und Weizen duftete aus dem Gewand der Freundin, wenn sie ihn scherzend umarmte. Ohne Verständnis sah er sie Brote backen, fade Hebräermatze, Azyma, was sie lächelnd mit ihrem modernen Munde fraß. Sie sang Lieder, in denen ein altersdunkler, assyrischer Gott seine unverdiente Oberherrlichkeit über die Zeit antrat. Die Tränen konnten ihm kommen vor Jammer.
»Ist es nicht genug daran, daß uns die kleinen Besitztümer des Daseins Stück für Stück verloren gehen, sollen wir auch noch die Grundlagen unserer seelischen Existenz einbüßen? Grauenhaft ist die Verwandlung, die durch die Welt geht? Was haben wir nicht schon alles aufgegeben, nun sollen wir uns weiterhin demütigen, die Errungenschaften der Kultur preisgeben und lernen, vor Kerzenleuchtern Hosianna zu singen – Dinge zu üben, vor denen jahrtausendealter Abscheu uns zurückhält. Mir graut vor euch und euren Beglückungen! Ihr seid herzlos, nichts ist euch heilig, ihr Heiligen!«
»Im Sinne der Unsterblichkeit gibt es nichts Heiliges.«
Es hätte ihn weniger gequält, wenn es ihm gelungen wäre, das Ganze als eine greifbare körperliche und geistige Quacksalberei abzutun; allein, da war so manches daran, was ihm Eindruck machte. Schließlich war er der letzte, die Berechtigung von etwas Mystik im Jahrhundert der Nüchternheit zu verkennen, er war der letzte, der gegen die Ekstase auftrat; eine Kirche ohne Geheimnis war in seinen Augen ein Unding. Davon abgesehen, enthielt die neue Lehre verblüffende Lösungen uralter Schöpfungsrätsel; ihre Anwendung schied Krankheit, Unrecht, Krieg, Ahrimans Schattenreich auf wunderlich selbsttätige und umfängliche Weise aus; sie gab anwendbare Maßnahmen gegen die Verderbnis des Leibes, zur Befreiung der Seele, des ganzen verschütteten und behinderten Menschen. Dem Blonden klang das vertraut ans Ohr; seine etwas nebulosen eigenen Aussetzungen an der Welt erfuhren nicht nur Anerkennung, Klärung, Sinn und Begründung, es zeigte sich für sie unversehens wenn auch noch so unwahrscheinliche Hoffnung. Vorerst bekam freilich nur das Vernichtende der Heilsbotschaft Macht über ihn; wo er hinsah, erblickte er Trümmer und Mißbildung, die Erde kam ihm wie eine Brandstätte vor. Er selbst, wenn er sich den Gottesstreitern verglich, sah sich auf einmal im Hintertreffen, gar nicht geschickt in den allein maßgeblichen Eifern der Religion. Die Ersten werden die Letzten sein, dachte er traurig, mit einer etwas verächtlichen Bitterkeit auf die Frommen. Deren demütiger Fleiß, sich zu waschen und zu kasteien hatte demnach besser vermocht, sie voranzubringen als ihn seine Melancholien. Verse, Ruhm und Talente galten auf einmal nichts mehr; Gott war ein Gott der Banausen, die Kunst eine Bemühung von Gauklern.
Solchermaßen verarmt, ohne Mut, ohne Ehrgeiz lebte er reichlich ein Jahr dahin. Maja verließ die Schule und trat in einen Beruf ein, ohne daß zu so bedeutungsvollen Veränderungen seine, des Träumers Hilfe vonnöten wurde. Er hatte begonnen, sich in die Kümmerlichkeit der Jahreszeiten zu schicken; sie waren ihm nie so träge erschienen, obwohl sie, rückwärts besehen, eine Menge Einöde hinter sich brachten. Zuweilen beunruhigte ihn von fern eine Art Gewissen, das er sich machte, wenn nunmehr die Märchenzukunft, in der er sich ja aufhielt, so wenig von dem erfüllte, was er ihr zugewiesen, damals in den Paradiesen des Anfangs. Deren süße Gewalt bestand, wie immer auch verändert, durch alle Zeiten fort; noch immer beseligte ihn schmerzlich ihre Erinnerung von Wasserbreiten, Laub und Königskerzen, deren Land unwirklich und sonderbar wie eine ferne Berghöhe blaute.
Im übrigen duldete er sich in den Lebensumständen eines bewußt gleichgültigen Spießers, der er nun war. Was blieb ihm auch anderes, nachdem, sich ihm alles zerschlagen, woran zu glauben er sich wahrlich bereitgefunden hatte. Noch war er so weit nicht gekommen, gutwillig den Tausch gegen unverlangte, obendrein widerwärtige und ihm in keiner Weise angepaßte Werte anzunehmen. So ein Poet steckt allzu tief in seinen Naseweisheiten und ist in der Welt das widersetzlichste Kind Gottes.