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In denselben Tagen aber begab sich ein großes Unglück im benachbarten Dorfe Ferkelhausen, wo am hellen Tage eine Feuersbrunst ausbrach, während die Leute dort auf dem Felde gearbeitet hatten. Zwar aus Goldenthal, wie aus andern naheliegenden Ortschaften, war man sogleich zur Hülfe dahin geeilt. Allein binnen wenigen Stunde lagen sechs Wohnhäuser von den Flammen in Schutt und Asche verwandelt und einige Stücke Viehs blieben in den Ställe lebendig verbrannt. Solches Unheil war durch Unvorsichtigkeit von Kindern gestiftet worden, die in einem der Häuser zurückgelassen worden waren, als sich die Erwachsenen zur Arbeit auf ihre Aecker und Wiesen begeben hatten. Die Kinder hatten in der Küche mit der Kohlenglut auf dem Herde gespielt. – Ein Unglück kömmt selten allein, sagt man. Und diesmal war's der Fall.
Als Abends die Goldenthaler vom Löschen heimkamen, sahen sie vor der Hausthür des Adlerwirths Kreidenmann einen Haufen Weiber, Knechte, Mägde versammelt. Einige trockneten sich die Thränen vom Auge, Andere seufzten mitleidig; Alle standen ernst und niedergeschlagen da. Aus dem Hause aber erschollen Stimmen lauten Jammers und Wehklagens. Denn das jüngste vierjährige Töchterlein hatte auf entsetzliche Weise sein junges Leben eingebüßt. Es war hinter dem Hause, beim Stalle, in die Mistjauche gefallen, und elendiglich in der stinkenden Pfütze ertrunken. Jedermann hatte das Kind lieb gehabt, denn es war artig und hübsch, wie ein kleiner Engel, gewesen. Darum sah man überall so großes Herzeleid.
Als Herr Pfarrer Roderich zwei Tage nachher beim Begräbniß des Mägdleins rührende Worte des Trostes gesprochen hatte, begab er sich zu seinem Freunde Oswald und sagte: »Lieber Freund, gute Worte sind allerdings löblich; aber gute Thaten viel löblicher. Es ist besser, Unglück verhüten, als darüber trösten. Es ist unverantwortlich, daß Leute zur Feldarbeit gehen und ihre unmündigen Kleinen ohne Aufsicht zu Hause sich selbst überlassen! Es ist unverantwortlich, weil unverständig, gegen alle Aelternpflichten gesündigt, und gefahrvoll für sie selbst und Andre. Warum richtet man bei uns kein Bewahrhaus der Unmündigen ein, keine sogenannte Kleinkinderschule, wie man in vielen Städten und Ortschaften hat? Das ist ja gar nicht kostspielig; erspart den Aeltern Angst und Sorge, wenn sie, um Geld zu verdienen, von Hause sich entfernen müssen, und beugt manchem Jammer und Elend vor.«
Oswald schüttelte den Kopf. Er gestand, er habe von dergleichen Bewahrhäusern, oder Kleinkinderschulen nie gehört, noch weniger solche gesehen. Dessen verwunderte sich der Herr Pfarrer sehr. Er ertheilte ihm darüber Auskunft und sagte: man gebe die Kinder, welche noch nicht alt genug wären die Schulen zu besuchen, der Aufsicht einer verständigen Frau. Diese hüte und besorge die Kleinen den ganzen Tag über, während die Aeltern außer Hauses in der Arbeit wären; spiele mit ihnen in der Stube, oder, bei gutem Wetter, im Freien; gewöhne sie zur Reinlichkeit und zum Gehorsam; lehre sie im Spielen mancherlei Nützliches; und gebe ihnen zu essen, was man Morgens für sie geschickt hätte.
Es hörte Oswald die Worte des Pfarrers mit großer Aufmerksamkeit; schüttelte dann aber mit bedenklicher Miene den Kopf, und sprach: »Die Bauern hier zu Lande sind noch etwas rohes Volk. Viele Aeltern sind gewissenlose Menschen, die sich um ihre Schweine, Ziegen und Kühe weit mehr, als um ihre eignen armen Kinder bekümmern. Ich fürchte, sie würden, wenn sie ihre Kleine anderswo aufgehoben wissen, ihre Aelternpflicht noch mehr vergessen lernen! – Dann aber, glaube ich auch, taugt es nicht, daß man die kleinen Geschöpfe, ehe sie das sechste Jahr zurückgelegt haben, schon zum Lernen anhalte. Es ist zu früh. Man muß, in so zartem Alter, vor allen Dingen nur für Pflege ihrer Gesundheit, und für Stärkung ihrer schwachen Kräfte Sorge tragen.«
Der Herr Pfarrer konnte diesen Einwürfen des vorsichtigen Gemeinde-Vorstehers nicht ganz Unrecht geben; doch that er die Gegenfrage: Ob sich denn die Aeltern von ihrem Pflichtgefühl und ihren Kindern wohl mehr entwöhnten, wenn sie diese, statt ohne alle Aufsicht, den ganzen Tag unter guter Obhut und Aufsicht ließen? Und, fügte er hinzu: auch ist keine Rede davon, daß die jungen Geschöpfe dort schon Lesen, Schreiben, Rechnen lernen, oder was sonst in der Schule gelehrt wird; sondern sie sollen beim Spielen nur allerlei Dinge erfahren, nennen und kennen lernen, die auch ihrer zarten Jugend nützlich sind, und neben Uebung ihrer geringen Leibeskräfte auch zur Vorübung ihrer Verstandeskräfte dienen können. Dazu führte der würdige Pfarrer manche Beispiele aus Bewahrhäusern an, die er selber gesehen, und bewies die Wohlthat solcher Anstalten so sonnenklar und deutlich, daß Oswald ihm endlich ganz überzeugt Hand und Wort darauf gab, der Plan müsse ausgeführt werden.
Und von Stund' an überlegte und sann Oswald, wie die Sache am besten anzustellen sei? Er besprach sich mit dem braven Schullehrer Johannes Heiter, der neulich geheirathet hatte, und dessen junge Frau geneigt schien, unter Elsbeths und ihres Mannes Rath und Beistand, die Aufsicht zu übernehmen. Er sprach mit dem Adlerwirth Kreidemann, der in seinem Hause einen großen Saal besaß, welcher allsonntäglich sonst mit Trinkern und Karten und Würfelspielern gefüllt war, jetzt aber leer stand; dazu befand sich auch hinter dessen Hause ein geräumiger Baumgarten, der zum Tummelplatz für Kinder dienen konnte. Er sprach mit den Beisitzern des Gemeinderaths; mit den zweiunddreißig geheimen Bundesgenossen, und vielen Andern im Dorfe. Er nicht allein, sondern überall war ihm auch der thätige Seelsorger in der Gemeinde mit Rath und That und Zuspruch zur Hülfe.
Nachdem nun Alles und Jedes bedächtig eingeleitet und vorbereitet war, trat Oswald an einem Sonntag-Nachmittag vor der versammelten Gemeinde auf, redete und sprach: »Ihr Männer, liebe Mitbürger, vor wenigen Wochen haben die Rauchsäulen und Feuerflammen von Ferkelhausen uns schreckhaft gewarnt, junge Kinder, welche noch nicht zur Schule geschickt werden können, tagelang ohne Beaufsichtigung zu lassen. Gedenket des gräßlichen Todes, welchen das Töchterlein eines unserer Mitbürger sterben mußte, als es im unbedeckten Jauchebehälter ertrank! Viele andere ähnliche Unglücksfälle könnten angeführt werden und können wohl gar Euch selbst noch bevorstehen. Ich habe gelesen, wie eine Frau, die, um einige Stunden außer dem Hause zu arbeiten, ihr zweijähriges Kind in der Wiege festband, und in Koth und Unflath liegen und schreien ließ, bis es einschlief. Als aber die Rabenmutter zurückkam, stürzte ihr durch die Stubenthür des Nachbars Schwein entgegen. Sie fand die Wiege blutig; das arme Kind todt darin, und halb aufgefressen.
»Deshalb laßt uns thun, um ähnliches Unglück zu vermeiden, wie anderer Orten geschieht. Da schicken die Leute, welche bei ihren Geschäften im Hause, oder im Felde, oder in den Fabriken nicht selber auf die Kinder Acht haben können, dieselben zu einer verständigen Person im Dorfe. Die gibt ihnen die Nahrung, welche von den Aeltern mitgeschickt worden ist. Die hütet und bewacht die unruhigen Kleinen; hegt und pflegt sie, spielt mit ihnen, und hält sie säuberlich bis der Abend kömmt.«
Oswald schilderte das Alles ausführlich, also, daß der Vorschlag Vielen einleuchtete. Besonders waren sämmtliche Bauern in dem Punkt wohl zufrieden damit, daß es ihnen gar nichts kosten solle, außer was sie den Kindern jeden Tag zum Essen mitgeben würden. Denn der Adlerwirth sei bereit, um billigen Zins seinen großen Saal und den Baumgarten herzuleihen; und die junge Frau des Schulmeisters Heiter willig, um mäßigen Lohn die Aufsicht zu übernehmen. Zins und Lohn werden aus der Gemeindekasse, und Beiträgen einiger hablichen Leute bestritten werden. Man solle es doch nur wenigstens auf einen Versuch ankommen lassen.
Auch der Herr Pfarrer sprach dann sein lehrreiches und frommes Wort dazu: daß man die Kindlein, mit welchen Gott die Aeltern gesegnet und erfreut habe, nicht schon von der Wiege an wie unvernünftige Thiere, in Koth und Unflath solle verwildern, sondern frühzeitig an Zucht und Gehorsam, Liebe und Gottesfurcht gewöhnen lassen. Darum habe schon Christus der Herr gerufen: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht.«
Nach diesen Reden, zu denen auch einige andere verständige Männer ihren Beifall vernehmen ließen, und sagten, man läßt ja Pferde, Ochsen und Schafe hüten, daß sie nicht Schaden nehmen und Schaden stiften: warum denn nicht unsre armen lieben Kinder? willigten die Versammelten in den Vorschlag ein; doch blieb jedem überlassen, wer Lust dazu habe, sich, für seine Kleinen, beim Schulmeister Heiter zu melden und einschreiben zu lassen.
In den ersten Wochen war die Anzahl der Unmündigen gering, welche man dieser neuen Anstalt anvertraute. Allein das Beispiel der Einen zog bald die Andern nach, zumal da selbst bemittelte Haushaltungen keinen Anstand nahmen, ihre Allerjüngsten dahin zu geben. Frau Heiter war sogar endlich genöthigt, Gehülfinnen anzunehmen, die sich freiwillig dazu erboten und abwechselnd Beistand leisteten. Auch Elsbeth und Oswald zeigten sich dabei sehr thätig, bis Alles im rechten Gang war; nicht minder der gute Pfarrer und mancher rechtschaffene Hausvater im Dorfe. Anfangs liefen viele Mütter neugierig dahin, das fröhliche Leben in der Bewahrschule zu schauen, und sie konnten die artige Einrichtung nicht laut genug loben und rühmen.
Aber es war recht lustig, das muntere Getümmel und Treiben der Heerde von Kindern zu sehen; wie die Einen mit einander spielten, die Andern beisammen plauderten; Andre umherhüpften und tanzten; Andre zankten; Andre schliefen; Andre aßen; Andre um die Aufseherin standen, kleine Geschichten zu hören, die sie ganz kindlich erzählte.
Gab dann die junge Frau Heiter mit einem Glöckchen das Zeichen, ward Alles still. Mädchen und Bübchen nahmen durcheinander auf niedrigen, langen Bänken ihren Sitz. Dann zeigte ihnen ein Lehrer, oder die Lehrerin, allerlei Dinge vor, einen Vogel im Käfig, ein Kleidungsstück, eine Kugel, einen Degen, eine Feldfrucht und dergleichen, und fragte um den Namen solcher Dinge, oder sprach den Namen vor, und alle sprachen ihn nach. So lernten sie vielerlei Sachen kennen und nennen; das heißt, sie lernten reden. Auch hörten sie gern, wozu man dies und das gebrauche, wozu es nützen oder schaden könne, und wovon es verfertigt sei.
Recht erbaulich war es zum Beispiel mit anzuhören, wenn sich, während die Kleinern Spiele machten, die Größern um die Lehrerin stellten; diese dann einen Bogen Papier in die Höhe hielt und fragte: wo das Papier wachse? und Alle gar altklug über die Frage lachten und riefen: »Nein, Papier wächst nicht auf den Aeckern; es wird von Menschen gemacht.« Dann aber ward ein Lumpen von Linnenzeug vorgewiesen und erzählt, wie daraus auf der Papiermühle Papier bereitet werde; dann wie Flachs und Hanf auf den Aeckern wachse, gebrecht, gehechelt, gesponnen und zu Leinwand gewoben, und wenn diese verbraucht wäre, zu Papier benutzt würde. Das unterhielt und belustigte die wißbegierigen Kleinen sehr; sie bekamen dabei noch allerlei zu sehen, wie Samen, Pflanze, Flachs, Zwirn u. s. w.
War's Wetter irgend leidlich, trieb sich die jugendliche Horde lärmend, schwärmend, singend, springend im Garten umher, oder ward in Reih' und Glied aufgestellt, Soldaten zu spielen. Die Schulmeisterin ward General; machte Hauptleute aus denen, die schon bis 10 und 20 abzählen und anführen konnten; ließ sie marschiren, links und rechts schwenken, und mit ihren einzelnen Reihen bald ein Dreieck, bald ein Viereck, bald einen Kreis u. s. w. bilden. Das gab immer Jubel; und immer neuen Wechsel der Spiele. Niemand war dabei besser mit Rath und That zur Hand, als der würdige Pfarrer.
Seitdem ist in Goldenthal allezeit eine Bewahrschule der unmündigen Kleinen beibehalten worden. Schon nach Jahr und Tag gaben die Aeltern gern einen geringen Beitrag zum Wochenlohn der Lehrerinnen, oder Abwärterinnen. In Ferkelhausen und andern benachbarten Dörfern folgte man dem Vorgang der Goldenthaler bald nach; denn man sah, wie dort die Kinder, auch die ärmsten, viel reinlicher, gehorsamer, gesünder und verständiger wurden, als anderswo.
So mußte das Unglück einer Feuersbrunst und eines ertrunkenen Mägdleins, zum großen Glück und Segen vieler Haushaltungen gereichen.