Heinrich Zschokke
Der Flüchtling im Jura
Heinrich Zschokke

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1.
Die Flucht.

Nachdem sich die französische Regierung im Jahre 1798 in die bürgerlichen Unruhen der Schweizer eingemischt, den alten Bund der Eidgenossen aufgelöst und das ganze Gebirgsland mit ihrem Kriegsvolk überschwemmt hatte, wurden mehrere der achtbarsten Männer des Landes von den Siegern in's Innere Frankreichs fortgeschleppt, um entweder als Geiseln für die Summen zu dienen, welche den sogenannten oligarchischen Städten zu zahlen auferlegt waren, oder um die zu entfernen, deren Einfluß und Ansehen beim Volke man kannte, und deren entschiedenen Haß gegen die neue Ordnung der Dinge man fürchtete.

Für einen solchen hätte man auch einen jungen Schweizer halten können, der, sorgfältig bewacht, in der letzten Maiwoche 1799 über Lausanne und Yverdon nach Besançon geführt wurde, wenn er nicht zu jung geschienen hätte, um bei seinem Volke eine bedeutende obrigkeitliche Würde haben bekleiden zu können, da er wohl kaum dreißig Jahre zählen mochte. Auch im Aeußern verrieth er nicht Reichthum genug, um Bürge für irgend eine gebrandschatzte Stadt zu sein. Er fuhr auf einem elenden Leiterwagen und saß zwischen zwei französischen Soldaten, deren geladene Gewehre vor ihnen an ein Strohbund lehnten, das einem Bauer zum Sitze diente, der vermuthlich der Eigenthümer des Fuhrwerks war.

Bei dem allen erregte der Gefangene die Theilnahme jedes Vorübergehenden. Eine schlanke Gestalt und geistvolle Gesichtsbildung, ein stolzer, durchdringender Blick seiner großen blauen Augen und eine würdevolle Haltung schienen zu verrathen, daß er von guter Erziehung sei. Noch mehr zog ihm der Anblick seines blassen Antlitzes das Mitleiden zu, da man seinen grauen, vorn eingeknöpften Frack und den grünen Sammetkragen am Halse überall von Blutflecken besprengt sah, welche man für sein eigenes, vielleicht im Kampfe für's Vaterland vergossene Blut halten mußte; um so mehr, da er etwas Schmerzhaftes in seinen Bewegungen, eine große Entkräftung verrieth und mit schwacher Stimme redete.

Die kriegerischen Begleiter, ein Korporal und ein Gemeiner, behandelten ihn mit einer gewissen Höflichkeit und Schonung, und suchten ihm sein Loos so viel als möglich zu erleichtern. Seine Freigebigkeit mochte auch etwas dazu beitragen, denn, wo angehalten wurde, sorgte er immer dafür, sie mit einem Glase guten Weines zu erquicken.

Als sie ihn in der Frühe des Morgens im Dorfe Balaigues, wo sie unweit der französischen Grenze übernachtet hatten, zum Leiterwagen führten, wurde er so schwach, daß er ohnmächtig zwischen ihnen zu Boden sank. Lasset mich hier sterben, wenigstens auf Schweizerboden sterben, sagte er mit gebrochener Stimme; denn lebend bringt Ihr mich doch nicht nach Besançon.

Die Soldaten trugen ihn in die Wirthsstube zurück und schienen in Verlegenheit darüber, was sie thun sollten; denn sie fürchteten, er möchte unter ihren Händen den Geist aufgeben. Alle Bewohner des Hauses eilten herbei und umringten den Unglücklichen. Man wollte zu einem entfernt wohnenden Arzte schicken; doch die Soldaten verbaten sich dieses und meinten, er werde sich schon erholen.

Wahrhaftig, sagte der Korporal, es thut mir leid; aber fort muß er, heute wenigstens nach Pontarlier, lebendig oder todt. Er ist mir übergeben, ich habe meine Verhaltungsbefehle; also vorwärts! Nehmt ihn und legt ihn auf den Wagen!

Der Gefangene schlug die Augen auf, sah den Korporal finster von der Seite an und begehrte Kirschwasser und Brod. Er aß einige Bissen, steckte den Ueberrest zu sich und stürzte drei bis vier Gläser des stärksten Getränks hinunter, ohne eine Miene zu verziehen.

Alle Wetter! rief der Korporal, der den Kirschgeist ebenfalls versucht hatte, das thue ich ihm nicht nach, obschon ich kerngesund bin. Er säuft noch wie ein Russe. – Die gesammte Gesellschaft des Wirthshauses, welche den Gefangenen umgab, gerieth nicht minder in Erstaunen über die Trinklust des Todtkranken. Er aber bezahlte den Wirth, stand auf und bat, daß man ihn unterstützen möge, um zum Wagen zu gelangen. Man hob ihn auf den Sitz des Karrens; die Soldaten setzten sich zu beiden Seiten neben ihn und fort ging es über die Grenze in's französische Gebiet.

Nach einigen Stunden erreichte man Chaux-de-Joux, wo sich die Berge und Felsen zum Engpasse von La Cluse zusammenziehen. Hier stöhnte der Gefangene heftiger und schien nicht mehr Kraft genug zu haben, um sich zwischen den Wächtern aufrecht halten zu können. Er schlang seine Arme um ihre Achseln, um sich auf diese Weise zu halten.

Aber plötzlich fuhr er den erschrockenen Soldaten wie mit Riesenkrallen in den Nacken, drehte gewaltsam ihre Köpfe gegen einander und schmetterte deren Gesichter zu wiederholten Malen mit so fürchterlicher Kraft zusammen, daß ihnen das Blut stromweise von Stirn und Nase rann und Beide betäubt und besinnungslos vor sich niederstürzten. Als der Bauer aus dem Strohbund, hinter sich blickend, die Soldaten im Blute schwimmend, den Gefangenen vom Wagen gesprungen und im Begriff sah, die Gewehre der Soldaten zu ergreifen, sprang er ebenfalls, mit Grausen, vom Sitze herab und floh. Er hörte hinter sich ein Krachen und sah, wie der Gefangene die Kolben beider Gewehre am Boden zerschlug, sie hinwarf und erst eine weite Strecke auf der Landstraße, dann plötzlich seitwärts bergan davon eilte und wie eine Gemse über Fels und Klippen setzte. Als hätte er Flügel, so ging es mit ihm die steilsten Felsen hinauf, wo vor ihm gewiß nie der Fuß eines Menschen gestanden hatte. Dann verschwand er im Gebüsch zwischen den Steinblöcken.

Weder der verblüffte Fuhrmann, welcher glauben mochte, der halbtodte Gefangene sei vom Teufel besessen, noch die beiden Krieger, welche lange nicht zur Besinnung kamen, dachten daran, den Entsprungenen zu verfolgen. Um so mehr ist's unsere Pflicht, ihm nachzugehen, damit wir wissen, wohin er kam.

Der junge Mann, welcher wahrscheinlich schon längst Pläne zu seiner Befreiung gemacht haben mochte, hatte seine Rolle, als Sterbenskranker, um den Argwohn und die Wachsamkeit der Hüter einzuschläfern, meisterhaft gespielt; denn jetzt wanderte er mit großen, leichten Schritten bergauf, bergab, immer nordwärts, den wilderen, höheren Bergen des Jura zu. Er wich nicht von der einmal angenommenen geraden Richtung, als wenn ihn diese irgend einer einsamen Berghütte oder einer fernen menschlichen Gestalt zu nahe brachte. Gebahnte Wege waren nicht seine Wege. Er schöpfte erst Athem, als er nach zwei oder drei Stunden den steilen Rücken eines der höheren Berge erreicht hatte, von wo er die umliegende Gegend zu durchmustern gedachte.

Hier, hoch über den Thälern und Wohnsitzen der Menschen, in der lautlosen Wildniß, die nur der einsiedlerische Adler liebt, stand er still. Er trank in tiefen Zügen eine reinere Luft, deren kühler Strom den Schweiß seiner Stirn trocknete, und wohlthuend das helle Gold seiner Locken durchfloß. Unter seinen Füßen schwankten die Wipfel der Tannen am Abgrunde. Morgenwärts strichen die langen waldigen Bergrücken hin, welche den einförmigen grünen Teppich der Thäler einschlossen. Abendwärts stufte sich das Gebirge in die französischen grau erscheinenden Ebenen nieder, über welche Waldstreifen, wie dunkle Schatten, gelagert waren. Im Mittag glänzten weit hinter den Seen und Ländern die silbernen Spitzen der Alpen am Horizont hervor, wie aus Strahlenduft gewoben, gleich erstarrten zackigen Wolken. Dahin wandte der Flüchtling lange die Augen, ernst und düster. Dann durchirrte sein Blick noch einmal die näheren Niederungen, um sich für die Fortsetzung seines Weges zurecht zu finden.

Nachdem er sich erfrischt, ging er den scharfen verwitterten Grath des Gebirges entlang, um einen Felskopf desselben zu erreichen, welcher eine noch freiere Aussicht über einzelne Bäume verhieß, die ihm hier entgegenstanden.


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