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Von Wundern und einem veritablen Wunderhelfer geht allerdings schon seit einiger Zeit in New Hampshire verworrenes Raunen und Reden: ein Arzt namens Phineas Pankhurst Quimby soll zauberhafte und unvergleichliche Kuren vollbringen, und zwar dank einer neuen und geheimnisvollen Methode. Dieser Heilhelfer wende weder Massage noch Medikamente noch Magnetismus noch Elektrizität an, und dennoch gelange er, wo die andern Ärzte und ihre Mittel versagten, spielend zum Ziel. Aus dem Gerücht wird Gerede, aus dem Gerede Gewißheit. So dauert es nicht lang, und von allen Seiten des Landes strömen Patienten zu diesem Wunderdoktor nach Portland.
Dieser sagenhafte Doktor Quimby nun, dies sei zunächst festgestellt, ist durchaus kein Doktor, kein gelernter Lateiner und graduierter Mediziner, sondern nur ein ehemaliger Uhrmacher aus Belfast, Sohn eines armen Eisenschmieds. Fleißiger, kluger, tüchtiger Handwerker, hat er, weiß Gott wieviel Uhren schon geduldig verfertigt, da kommt im Jahre 1838 auf seinen Wandervorträgen ein Dr. Poyen nach Belfast und zeigt zum erstenmal öffentlich hypnotische Experimente. Dieser französische Arzt, ein Schüler Mesmers (überall in der Welt begegnet man den Spuren dieses außerordentlichen Mannes), hat mit seinen hypnotischen Vorführungen ganz Amerika in Bewegung gesetzt, und den unvergänglichen Niederschlag jener Neugier nach der »Nachtseite der Natur« finden wir in den aufregenden Novellen Edgar Allan Poes. Denn der amerikanische Boden, scheinbar nüchtern und dürr, wird eben, weil ganz ungepflügt, ausgezeichnetes Saatfeld für alle übersinnlichen Bestrebungen. Hier erklären nicht wie im skeptischen Europa zu Mesmers Zeit gelehrte Akademieen und königliche Gesellschaften auch die augenfälligsten suggestiven Übertragungsphänomene hochmütig ablehnend als bloße »Einbildung«, und der naiv optimistische Sinn der Amerikaner, denen von vornherein nichts unmöglich scheint, öffnet sich neugierig diesen unvermuteten Anregungen. Eine ungeheure spiritualistische (und bald spiritistische) Welle läuft hinter den Vorträgen des französischen Mesmeristen her, in allen Städten, allen Dörfern werden seine Vorführungen besucht und leidenschaftlich erörtert. Auch der kleine Uhrmacher Quimby gehört zu den vollkommen Faszinierten. Er besucht jeden Vortrag, kann sich nicht satt sehen an diesen Bezauberungen durch Hypnose, in seinem Wissensdrang reist er dem Doktor Poyen von Ort zu Ort nach, bis schließlich dieser breitschulterige, sympathische Mensch mit seinen harten und klugen amerikanischen Augen dem Doktor Poyen unter allen Zuhörern besonders auffällt. Er untersucht ihn und stellt sofort eine unverkennbare aktiv hypnotische Begabung fest. Mehrmals verwendet er ihn, um Medien in Schlaf zu versetzen, und erstaunt erkennt Quimby bei dieser Gelegenheit seine eigene, bisher unbekannte Fähigkeit zur Willensübertragung. Entschlossen läßt der energische Handwerker die Uhrmacherei und verwandelt seine suggestiven Fähigkeiten in ein Gewerbe. In einem fünfzehnjährigen Deutschen namens Lucius Burgmayr entdeckt er ein ideales Medium; die beiden, er als aktiver Magnetiseur, Burgmayr als fügsam funktionierendes Suggestionsobjekt, tun sich zusammen. Und von nun ab zieht der neue Doktor mit seinem Burgmayr im Lande herum wie ein Wahrsager mit seinem Affen oder seinem Papagei und übt mit ihm in Dörfern, Weilern und Städten eine sonderliche Art von Medizinkur, nämlich hypnotisch-hellseherische Therapie.
Diese neue Heilmethode des Uhrmachers Quimby beruht in ihrem Anfang auf jenem längst überwundenen Wahn des frühen Mesmerismus von der angeblichen Fähigkeit der Somnambulen zur Introspektion, zum Einblick in ihr eigenes Inneres. Bekanntlich war gleich nach der Entdeckung des Wachschlafes die Meinung aufgekommen, jeder Hypnotisierte vermöge hellsichtig alles zu beantworten, was man von ihm erfrage, Zukunft oder Vergangenheit, Sichtbares und Unsichtbares – warum sollte er da nicht auch die unsichtbar in einem andern verborgene Krankheit wahrnehmen und ihre Heilmöglichkeiten bestimmen können? Statt einer klinischen Diagnose, wie sie sonst jeder Behandlung vorausgeht, setzt der von seiner medialen Kraft überzeugte Quimby die hellseherische Diagnostik ein. Seine Methode ist eigentlich sehr einfach. Er schläfert zunächst vor dem Publikum seinen Lucius Burgmayr ein. Sobald dieser sich in Trance befindet, wird ihm der Kranke vorgeführt, und aus seinem Traumschlaf heraus weissagt Burgmayr mit geschlossenen Augen das Leiden und verordnet, gleichfalls aus seinem Traumschlaf heraus, die richtige Medizin. Mag uns diese Art der Diagnostik auch etwas heiter anmuten und weniger verläßlich erscheinen als Blutuntersuchungen und Röntgenbilder, immerhin, es ist nicht zu leugnen, viele Kranke werden merkwürdig berührt, aus dem Munde eines Traumsprechers ihr Leiden und dessen Heilmittel gewissermaßen vom Jenseits her bestimmt zu hören. Überall finden sich Patienten in Menge, und die Limited Company Quimby & Burgmayr macht ausgezeichnete Geschäfte.
Nun also brauchte der gute »Doktor«, nachdem er einen so famosen Trick gefunden, nur weiter an seiner Karre zu ziehen und weiterhin auf Teilung mit seinem wackern Medium zu medizinieren. Aber dieser Quimby, wenn auch ungebildet und wissenschaftlich mit Verantwortlichkeit nicht belastet, ist im Grunde seiner Natur durchaus kein Schwindler, sondern ein ehrlicher und redlich suchender Mensch voll übersinnlicher Neugier. Ihm genügt es nicht, jetzt weiterhin Dollars einzuscheffeln mit dieser grotesken Methode; der alte Uhrmacher, der gelernte Mechanikus in ihm gibt nicht Ruhe, ehe er nicht herauskriegt, wo eigentlich das innerste Triebrad dieser verblüffenden Heilwirkungen steckt. Endlich gewährt ihm ein Zufall hilfreichen Wink. Wieder einmal hat sein Burgmayr in der Trance einem Patienten Arznei verordnet, aber der Kranke ist ein so armer Teufel, daß für ihn das geweissagte Mittel zu kostspielig wäre: so unterschiebt Quimby ein billigeres als das von Burgmayr prophezeite. Und siehe da: es gibt gleiche Heilwirkung. Damals überkommt Quimby zum erstenmal der schöpferische Verdacht, es seien gar nicht die Trance und die hypnotische Weissagung und nicht die Pillen und Tränke, welche die Heilung vollbrächten, sondern einzig der Glaube der Kranken an diese Pillen und Tränke – die Suggestion oder die Autosuggestion ganz allein verübe die Gesundheitszauberei, kurzum, er macht die gleiche Erfahrung wie Mesmer seinerzeit beim Mineralmagneten. Genau wie jener schaltet er zunächst einmal versuchsweise das Zwischenglied aus; wie jener auf den Mineralmagneten, so verzichtet er auf die Hypnose. Er löst den Vertrag mit seinem Medium Burgmayr, läßt die ganze hellseherische Schlafkunst beiseite und gründet seine Behandlung einzig auf bewußt suggestive Einwirkung. Seine Heilmethode, die sogenannte Mind Cure (die Mary Baker später zur Christian Science umformt und als ihre eigene von Gott inspirierte Entdeckung ausgibt), ist im Grunde sehr einfach. Quimby ist bei seinen eigenen Hellsehererlebnissen zur Erkenntnis gelangt, daß viele Krankheiten auf Einbildung beruhen und man das Leiden am besten beseitige, indem man den Glauben des Kranken an seine Krankheit zerstöre. Die Natur muß sich selber helfen, und der Seelenarzt ist nur da, um sie in dieser Selbsthilfe zu bestärken. Deshalb behandelt Quimby von nun ab seine Patienten nicht mehr nach dem normal üblichen Verfahren, welches Leiden mit medizinischen Mitteln bekämpft, sondern indem er die Krankheitsvorstellung seelisch ausschaltet, das heißt: indem er seinen Patienten die Krankheit einfach ausredet. In Quimbys gedrucktem Geschäftszirkular heißt es wörtlich: »Da meine Praxis verschieden ist von aller andern medizinischen Praxis, will ich betonen, daß ich keine Medizinen gebe und nicht äußerlich behandle, sondern mich zu dem Patienten setze, ihm erkläre, was ich von seiner Krankheit halte, und diese meine Erklärung bedeutet bereits die Kur. Wenn es mir gelingt, die irrige Einstellung zu verändern, so verändere ich auch das Fluidum in seinem Körpersystem und stelle die Wahrheit wieder her. Meine Kur ist die Wahrheit.« Der naive und doch nachdenkliche Mann ist sich natürlich vollkommen bewußt, daß er mit dieser Heilmethode die Grenzen der Wissenschaft verlassen und sich in die Sphäre der religiösen Wirkung begeben habe. »Sie fragen mich«, schreibt er, »ob meine Praxis zu irgendeiner bekannten Wissenschaft gehöre. Darauf antworte ich: nein! Sie gehört zu einer Weisheit, die über den Menschen selbst steht, die vor achtzehn Jahrhunderten gelehrt wurde. Seither hat sie niemals mehr einen Platz im Herzen der Menschen gehabt, aber sie ist in der Welt, und die Welt weiß es nur nicht.« Auch diesen Hinweis auf Jesus, als den ersten »healer«, den ersten Seelenarzt, hat also Quimby schon vor der Christian Science formuliert, mit dem Unterschied freilich (dies merken die feindseligen Kritiker Mary Bakers nicht), daß Quimby nur eine Individualbehandlung ausübte, die zum Untergrund die sympathische und suggestive Macht seiner Person hatte, während Mary Baker, weit kühner und absurder, die Leugnung des Krankseins und die Allmacht des Glaubens über den Schmerz zu einem System ausbaut, das die ganze Welt zu erklären und zu verbessern sich unterfängt.
Die neue Praxis Phineas Quimbys, obwohl oft zauberhaft in der Wirkung, hat in sich nichts von Zauberei. Der gute, grauhaarige Mann mit den vertrauenswürdig klaren und doch festen Pupillen setzt sich dem Kranken gegenüber, nimmt dessen Kniee kräftig zwischen die seinen, streift und reibt ihm mit angefeuchteten Fingern den Kopf (letzte Reste magnetisch-hypnotischer Einflußnahme zu Konzentrationszwecken), dann läßt er sich das Leiden schildern und redet es dem Patienten auf das beharrlichste aus. Er untersucht die Symptome nicht wissenschaftlich, sondern schiebt sie durch Leugnung einfach weg, er schaltet das Schmerzempfinden nicht mit Linderungsmitteln aus dem Körper, sondern suggestiv aus dem Gefühl. Etwas billig, etwas primitiv wird man sagen, dieses Heilen bloß durch die Behauptung: es tut nicht weh. Sehr bequem, die Krankheit zu leugnen, statt sie zu behandeln; aber tatsächlich liegt zwischen der Methode des Uhrmachers von 1860 und jener wissenschaftlich hochanerkannten des Apothekers Coué von 1920 doch nur ein Schritt. Und an Erfolgen fehlt es dem unbekannten Quimby so wenig wie seinem berühmten Nachfolger: Tausende von Patienten drängen sich zu Quimbys »Mind Cure«, schließlich muß er sogar Fernkuren, sogenannte »absent treatments«, mit Briefen und Zirkularen einführen, weil sein Sprechzimmer den Andrang der Besucher nicht mehr faßt und der Ruf des Allheildoktors sich über den ganzen Bezirk zu verbreiten beginnt.
Auch zu dem Ehepaar Patterson in ihrem kleinen Dorfe in New Hampshire war schon vor Jahren Nachricht von dieser wunderbaren Science of Health des Exuhrmachers Quimby gedrungen, und im Jahre 1861, knapp vor seiner Abreise in die Südstaaten, schreibt der »Doktor« (oder vielmehr gleichfalls Nichtdoktor) Patterson am 14. Oktober an den Wunderarzt, ob er nicht einmal nach Concord herüberkommen könnte. »Meine Frau ist seit einer Reihe von Jahren infolge einer Rückenmarkslähmung ein Krüppel, sie kann nur halbseits aufsitzen, und wir möchten in diesem Falle Ihre wunderbare Kraft erproben.« Aber die riesige Praxis erlaubt dem Wundertäter derartige Reisen nicht: er lehnt höflich ab. Doch Mary Baker klammert sich verzweifelt an diese letzte Genesungshoffnung. Ein Jahr später – Patterson sitzt damals schon bei der Südarmee im Gefängnis – sendet die Bettlägerige noch fanatischer, noch inbrünstiger ihren SOS-Ruf. ob er nicht kommen könne, »sie zu retten«. Wörtlich schreibt sie (dieselbe, die später den Namen Quimbys aus allen ihren Schriften gestrichen hat): »Ich muß Sie vor allem persönlich sehen! Ich habe volles Vertrauen in Ihre Philosophie, wie sie in Ihren Zirkularen dargestellt ist. Können, wollen Sie mich besuchen? Ich muß sterben, wenn Sie mich nicht retten können. Meine Krankheit ist chronisch, ich kann mich nicht mehr umwenden und von niemand bewegt werden als von meinem Mann. Ich bin jetzt die Beute fürchterlichster Qualen, bitte, helfen Sie mir! Verzeihen Sie alle Fehler dieses Briefes, ich schreibe im Bett und ohne Umstände.« Abermals kann Quimby nicht kommen, und zum drittenmal schreibt ihm die Verzweifelte, diesmal aus ihrer Wasserheilanstalt, ob er meine, daß sie die Reise zu ihm wagen dürfe. »Nehmen Sie an, ich hätte genug Vertrauen, um zu Ihnen zu fahren, meinen Sie, daß ich Sie erreichen könnte, ohne an den Folgen dieser Reise zugrunde zu gehen? Ich bin so erregt, daß ich hoffe, ich könnte Sie noch lebendig erreichen. Aber die Frage ist, würde Ihre Hilfe dann ausreichend sein, um mich wieder aufzurichten?« Auf diesen erschütternden Appell antwortet Quimby, sie solle nur ohne Bedenken die Reise wagen.
Nun fehlt noch eins: das Geld für die Reise. Abigail, die sonst allbereite Schwester, bringt nicht das geringste Zutrauen zu diesem obskuren Doktor Eisenbart auf, der ohne Eingriffe und Behandlung einzig »by mind«, also durch den Geist, heilt. Sie ist dieser ewig neuen Narreteien ihrer Schwester endgültig müde. Streng erklärt sie, für einen solchen ausgekochten Schwindel gebe sie keinen Penny. Aber wenn Mary Baker, dieser eiserne Kopf, etwas will, dann zerbricht und zertrümmert sie jeden Widerstand. Einzeln pumpt sie sich die Handvoll Dollars von Freunden, von Bekannten, von Fremden, Stück um Stück. Endlich ist das Löse-, das Erlösegeld beisammen, endlich kann sie Ende Oktober 1862 ein Billett kaufen und nach Portland fahren. Von dieser Reise weiß man nichts Näheres als dies: vollkommen ausgelaugt und zerbrochen langt die Lahme in der fremden Stadt an. Das logisch Natürlichste wäre nun, vor der ärztlichen Befragung ein wenig zu rasten. Aber diese wilde Seele gönnt sich keine Ruhe, unermeßliche Energieen strömen ja immer dieser großen Fanatikerin zu, wenn ihr Wille etwas wirklich will. Geradeswegs vom Bahnhof, müde, erschöpft, verstaubt, schleppt sie sich sofort zum International Hotel, wo Dr. Quimby seine Doktorei eingerichtet hat, und tatsächlich, bis zum ersten Treppenabsatz reicht noch ihre Kraft. Dann kann die Gelähmte nicht mehr weiter. So tragen, so stützen sie die Hausdiener und andere zufällige Helfer. Sie schleifen, sie heben die blasse, dürre Frau Stufe um Stufe empor. Die Zimmertür wird aufgerissen, der hilflose Körper hineingeschoben; machtlos sinkt sie in den Sessel, ein Krüppel, ein zerstörter, zerbrochener Rest eines Menschen. Und flehend wendet sich ihr geängstigter Blick dem milden grauhaarigen Manne entgegen, der sich zu ihr setzt, ihre Hände, ihre Schläfen streichelt und sanft Trost zuzusprechen beginnt.
Und eine Woche später – o Wunder! – ist eben dieselbe Mary Baker, dieser von allen Ärzten mit Achselzucken aufgegebene Krüppel, vollkommen gesund. Locker und frisch gehorchen ihr die Muskeln, die Sehnen, die Glieder. Sie kann wieder gehen und laufen, sie klettert die hundertzehn Stufen des Stadtturms von Portland in leichten Sprüngen hinauf, sie spricht, sie fragt, sie jauchzt, sie jubelt, sie glüht, eine strahlende, verjüngte, beinahe schöne Frau, bebend von Tätigkeitsdrang und erfüllt von einer neuen Energie, – einer Energie ohnegleichen selbst in ihrem Vaterlande Amerika. Einer Energie, die bald selbst Millionen Menschen bezwingen und sich hörig machen wird.